Der Sprung aus dem Kopf

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Der vorliegende Band vereint ausgewählte Texte aus dreißig Jahren, die Tageschronik, aktuelles Zeitgeschehen und die Zeitläufte überdauert haben. Sie handeln zunächst von der Bodenseeregion und ihren Landschaften, der Wahlheimat des Autors Jochen Kelter, Einer Region, die zwar historisch existiert hat, die es aber als einheitliche Kulturregion schon lange nicht mehr gibt. Wie vor dreißig Jahren könne er heutzutage gar nicht mehr über die Gegend schreiben, heißt es sinngemäß in einem vor nicht langer Zeit entstandenen Text. Er habe den fremden Blick verloren wie die Gegend ihre Seele. Die neueren Texte beschäftigen sich daher zunehmend mit der gesellschaftlichen Situation und der Geschichte dieser Region im Süden Mitteleuropas. Dazu gesellen sich ein paar wenige Texte über Frankreich und Paris, Jochen Kelters zweiter Wahlheimat, etwa jener über die „Kelters aus Paris“. Eine literarische Bilanz aus dreißig Jahren.

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D er vorliegende Band enthält eine Auswahl von Texten, von denen angenommen werden darf, dass sie die Zeitläufte

überdauert haben. Sie beschränken sich zudem auf meine stän-dige geografische Lebenswelt: die Schweiz, das schweizerisch-deutsche Grenzgebiet, Paris sowie auf mein Herkunftsland Deutschland. Die Texte sind in verschiedenen Zeitungen, Zeit-schriften und Anthologien erschienen, oder es sind Erstdrucke wie Der Scheitel der Schweizer Geschichte, der Text zu einem Dokumentarfilm, und der Offene Brief an den Ministerpräsi-denten von Baden-Württemberg, für den sich im Sommer 2011 außer einem online-Magazin bezeichnenderweise kein Medium interessiert hat. J. K.

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Jochen Kelter

Der Sprung aus dem KopfEssays und Texte 1981–2011

Mit einem Nachwort von Stefan Keller

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Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter:www.allitera.de

März 2012Allitera VerlagEin Verlag der Buch&media GmbH, München© 2012 Buch&media GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: Kay Fretwurst, FreienbrinkPrinted in Germany · isbn 978-3-86906-299-0

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Inhalt

I Der See, das Dorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Fremde am See – 15 Fragmente für die Mohikaner . . . . . . . . . . . . 20Ein deutsches Lied, ein deutsches – Über Berufsverbote, Zeitgenossen und den Umgang mit sich selber . . . . . . . . . . . . . . . 38Von draußen und von drinnen – Über Zugfahrten, Heimaten, Sprache und einen fernen See . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47Ein Ort unterm Himmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59Kurze Einladung zum Verlassen der Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64Wiesen und Wasser, Wolken und Wind – Oder wie eine Gegend nun gar keine ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68Die Stadt, die keine ist, am Meer, das keines ist . . . . . . . . . . . . . . . .71Das süddeutsche Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75Reben und Reihengräber – Der Militärfriedhof von Sigolsheim im Elsass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84Mein Alemannien – Ein misslingender Versuch über die Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

II Vom Überschreiten kultureller Grenzen – Zur Eröffnung des Mare-Nostrum-Forums Europa II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .101Nachricht aus dem Zwischenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107Kein später Land – oder die Folgen des Rückzugs aus der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113Vom allmählichen Verschwinden der Gegend – Das Ende der Region, des Regionalismus und des sozialen und intellektuellen Austauschs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

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Literatur auf dem Land – Fünf Jahre Bodman-Literaturhaus in Gottlieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .127Die bleiernen Jahre sind verflogen – Die Schweiz in Europa zu Beginn des neuen Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134Rotes Schloss und Goldener Tropfen – La Goutte d’Or-Château Rouge: ein Problem-Viertel in der Stadt Paris . . . . . . . . . . . . . . . . 140Die Kelters aus Paris – Eine Geschichte der Migration aus früheren Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .145Mit dem Rücken zueinander – Österreicher, Schweizer und Deutsche trennt mehr als die Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151Die Entsorgung des Rütli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156Von der Militarisierung zur Pauperisierung – Ein paar Einwürfe zur Geschichte der BRD von den siebziger Jahren zur Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162Wie wir die Gegend wegwerfen – Stadt und Landschaft in der Bodenseeregion als Spiegel von Geschichte und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .172Unsere Identitäten – Über Migrationen in Räumen und Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .177Der Scheitel der Schweizer Geschichte – Mythos, Geschichte und Gegenwart der Gotthard-Region . . . . . . . . . . . . 183Bericht vom Bodensee – Rauchzeichen aus einer belagerten Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196Allmählicher Abgesang – Paris und die Frankophilie einer Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .200Offener Brief an den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208Werter Herr Verleger – Ein fiktiver Brief vor realem Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .213Stefan Keller: Sprünge aus dem Kopf und zurück – Ein Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

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Der See, das Dorf

Trauben und Birnen reichen sich glänzend herum … Der Föhn malt auf Goldgrund die Nähe der Unendlichkeit. Wer Möwen mochte, braucht nur an Brot zu denken, und sie machen für ihn Kunst-flugtag. Schwäne ziehen als andere Gedanken im Wasser die kurze Spur der Gegenwart.

Martin Walser: Heimatlob

I ch wohne auf dem Land. Wohne ich auf dem Land? Ja, damals habe ich wirklich auf dem Land gewohnt. Da waren Wiesen

Wiesen. Aufsteigend hinterm Haus. Vorne über die Straße fallend bis zum See. Da hörte man die Kirche aus dem Dorf, die Post war neben der Scheune, und im Winter waren auf dem Schulhof die Soldaten. Die ließen auch mal ein Maschinengewehr auf dem Trottoir, matt schimmerndes schwarzes Ding, und holten am Ki-osk mit dem roten Parsienne-Schild Zigaretten. Das Dorf blieb im Dorf und die Stadt zu sehen, musste man hinunter bis zum See laufen, vorbei an der Bootswerft, vorbei an der Bahnstation, durch die Wiesen, ins Ufergebüsch, sich an einer Weide halten und hinauslehnen. Da wusste man an manchen Tagen: da ist die Stadt. Im Winter schmolz der Schnee oft so schnell, wie er gekommen war. Meterhoch. Das Dorf lag auf dem Weg nach Österreich. Der Wind wehte. Unten auf der Straße fuhren die Autos. Oben auf der Straße durch den Ort fuhr niemand. Die Milka- und Suchard-Kühe bimmelten bimmelten. Die waren alle hellbraun. Im Dorf gab es Most. Im Dorf gab es Bier aus Flaschen. Die Nachbarn werden uns beäugelt und beohrt haben. Aber das ging uns nix an. In der Stadt waren unsere Bücher unsere Tische. Aber die waren auch nicht wirklich in der Stadt. Von der Stadt nahmen wir die hundertzwanzig Kilometer schnelle Straße. Im Dorf waren unsere Zelte aufgestellt. Die Straße nahmen wir nachts. Einer war aus Tirol. Einer aus Wien. Einer aus Worms. Und ich. Ich war nie in

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Worms. Aus den Seminarräumen hingen Fahnen und Spruchbän-der. Aus den Dorffenstern hing der Himmel. Nachts hing er von den Hügeln durch unser Haus in den See. Der Gemeindepolizist hatte ein Moped. Der Gemeindepolizist trank zum Besuch einen Schnaps. Waffen wollte er nicht dulden. Auch keine Tiroler Jagd-waffen an der Wand.Wenn ich den Namen des Dorfs denke: Altnau, denke ich: Blau. Blauer Himmel in grünen Hügeln. Das Dorf menschenleer. Auf einer Türschwelle streckt sich die Katze. Obst und Wiesen die Hülle und Fülle. Die Türklingel des Lebensmittelladens mit den hölzernen Wänden schlägt an, und aus dem Dämmerlicht neben der Theke schaut mir die Frau mit über dem Bauch gekreuzten Händen nach. Manchmal, wenn ich vorbeifahre, sehe ich dünnen Rauch aus den Kaminen des Dorfs aufsteigen.

Wohne ich auf dem Land? Ich wohne in der Nähe einer Stadt. Die Stadt geht in eine andere Stadt, eine kleinere Stadt, eine Klein-stadt über. Zwischen den beiden Städten ist eine Grenze. Wenn ich aus der kleinen Stadt hinausfahre, komme ich an Lagerhallen Werkhallen Tankstelle vorbei. Dann kommt die Chaussee. Die war früher gewölbt und führt immer noch unter Bäumen lang. Dann kommt mein Dorf. Ich fahre aus der Stadt hinaus in mein Dorf. Das Dorf liegt am Fuß des Seerückens. Im Dorf angelangt sehe ich ein wenig abwärts die Stadt. Ich wohne auf dem Land.

Die Grenze teilt die Stadt. Die Grenze teilt zwei Länder. Euch dies und uns jenes. Wir sind eine Grenze. Zwanzigmal in der Wo-che über den Äquator, von Währung nach Währung, von Som-mer- nach Winterzeit. Man gewöhnt sich. Die Grenze ist in mei-nem Kopf. Ich bin bald da und bald dort. Ich schwebe schräg überhalb der Grenze. Manchmal lasse ich ein Bein drüben stehen. Wenn die Leute aus dem Dorf sagen: Ich gehe in die Stadt, gehen sie gleich ins Ausland. Dann nehmen sie das Bähnlein und lassen sich zwei Stationen weiter den Abhang hinunter kutschieren. In acht Minuten sind sie mitten in Europa. Oder nehmen gleich den Weg durchs Moos. Die Grenze hat ihr Gutes. Ich sehe auf die Stadt hinab und bin sicher, dass sie nicht zu mir heransteigt. Ich sehe Winterstürme Sommerstürme. Ich seh den Föhn fetzen. Ich

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sehe Ziegeldächer, den Sturm sich ausladen und das Fernmelde-amt. Ich hab eine Perspektive.

Die Stadt draußen, in die die Bewohner des Dorfs fahren ge-hen laufen radeln spazieren, ist die Seestadt. Die Konzilstadt. Die Kongressstadt. Die Universitätsstadt. Darin laufen Welsche Türken Kuhschweizer Sauschwaben Ausländer und Studenten. Sie war römisch alemannisch fränkisch reichsfrei österreichisch badisch und hinter dem Mond. Die beiden letzten Farben sind am kräftigsten eingeschossen. Weil die Einwohner der Stadt vor bald sechshundert Jahren den Hus verbrannt haben, sind sie über die sechshundert Jahre Gegenwart erhaben. Geben sich nicht ab. Ha-ben ihre Sache gehabt bis ins neununddreißigste Glied. Rümpfen von herüben die Nasen. Lassen sich den Hus um die Nase wehn. Der stinkt fürchterlich aus den Kloaken. Besonders bei Föhn.

Die Stadt liegt am See, vorm See, hinterm See. Durch die Stadt fährt der Seerhein, über den Seerhein fahren zwei Brücken. Wenn man die eine nimmt (welche, sag ich nicht), landet man im Wirts-haus an der Grenze. Bestenfalls. Oder im Moos. Oder im Ried. Und hängt sich auf. Weil: Die Brücke ist ein Ärgernis. Der Ober-bürgermeister, die Bürgermeister und Dezernenten, die Amtsvor-steher, der Präsident der Elefanten, der Präsident der Giraffen, die Stadträte, die Herausgeber der Zeitung und der Polizeichef wachen über das Wohl der Stadt. Sie sind gut Feind. Und ver-wandt mit den Ladenbesitzern Boutiquenbesitzern Wirtshausbe-sitzern. Manchmal tanzt ein Cousin aus der Reihe. Wechselnde Mehrheiten bescheren Kurzweil. Wir sind eine Grenze. Vor lau-ter Akkuratesse setzt es Ohrfeigen und Gelächter. Bürgermeister geben einen Scheck für das Hurenhaus her. Dezernenten beren-nen mit Auto und drei Promille die Brückenpfeiler. Der Mond hat’s gesehen. Die Badische Polizei auch. Und sitzen am nächsten Morgen zum Frühschoppen am Narrentisch. In der Stadt kaufe ich Socken und Bücher. Nachts trinke ich in der Stadt weißen Wein.

Aber ich will vom Land reden. Mir gönd in d’Stadt. »Wo bisch gsi? Z’Züri? In dere Hurestadt?« Wir liegen irgendwo zwischen Stuttgart und Bern. Da, wo sich der Himmel über den alemanni-

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schen Reichtümern am höchsten wölbt. Die Luft am dünnsten ist. Wo alles verschwebt und verschwimmt. Wo man im Nebel seufzt. Wo die Fäden hinüber herüber ganz dünn sind. Wo die Luft weich und klar ist. Man steht an dem Schwäbischen Meer und geheim-nist Süden in die Gegend.

Ich beginne mir bewusst zu werden, dass ich im Dorf lebe. Ertaste seine Grenzen und Peripherien, erkenne Gesichter. Laufe durch die Wiesen, ein paar Ansichten von Leuten. Posthalter. Si-zilianer. Briefträger. Verkäuferin. Ich weiß, wo der Pfarrer wohnt, besuche den Friedhof, die Gasthäuser und den Gemeindeschrei-ber. Ich lebe im Dorf.

Wie aber bin ich hergeraten? Die Frage stellt sich, nun, da ich mich einhole hier im Dorf. Indem ich ihr nachgegangen bin. Ein denkbar schlechter Start. Sie aber ist gegangen. Aus dem Dorf, weil es zu dörflich war und nicht in der Stadt. Aus meinem Kopf beinahe. Die nächste dann war ausgestattet mit einem Bund fürs Leben. Ich bin im Dorf geblieben. Ich bin träge. Ich habe hier überlebt. Ich bin zäh. Ich habe Nachbarn, Kollegen, Landsleute überlebt. Hier faltet sich die Zeit, hier bekommt man Falten. Hier bleibt nur, wer sich’s anders überlegt. Hier zahle ich Steuern. Ich kenne hier niemanden. Das ist mein Dorf. Bei der Einladung, dem Gesangverein beizutre-ten, bekomme ich einen Schreck. Wenn ich nachts den Wagen in die Garage gefahren habe, schaue ich in den Himmel.

Ich sehe Kürbisse wachsen. Sie sitzen dick und rund wie eine Anzüglichkeit auf diesen züchtigen Feldern. Saubere Markierun-gen. Propere Fahrwege, befestigt, angeschüttet. Die Kohlblätter sind riesig. Die Natur ist üppig. Der muss man beischneiden. Die Gärten Türen Fenster der Häuser sind von roten, von gelben Blu-men vergattert. Blumen wie Kinderköpfe. Ich laufe durch herbst-liches Ried mit den Blumenfeldern. Oben durch die Wiesen zwi-schen Birnbäumen Kirschbäumen Apfelbäumen. Die Bäuerinnen schauen hinterdrein, die Kinder feixen, die Pioniere bosseln an den Befestigungsanlagen.

Oben im Wald warte ich auf die letzte Kurve. Der Wald tritt zurück. Auf der Straße durch den Wald warte ich auf diesen Moment. Auf dem Weg über den Seerücken, während der Fahrt

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durch heimelige Thurgaudörfer, Pfyn, Müllheim, der Abzweig. Auf der Autobahn. Auf den Kriechspuren zur Stadt hinaus. Wenn ich aus Zürich zurückkomme, komme ich heim. Oben zwischen der Kurve, bei der der Wald zurücktritt und der letzten Kehre, die die Straße endgültig hinunterführt, fühle ich mich, als würde der Liebe Gott pfundweise Balsam verteilen. Die graue Fläche des Wassers, durch die das Silber schießt. Braun das Ried, nicht Wasser nicht Land. Konturen der Stadt, Wasser abermals. Hin-eingezogen in den Untersee die Klosterinsel mit Kirchen und dem schmalen Pappelband. Wenn hier keine Wiege der Menschheit stand, Kulturwiege, Wiege des Gartenbaus. Hier versammle ich mich. Da unten denke ich meine Grenze.

Ich wohne auf dem Land. Die Maschinen der Familienfabrik dröhnen und hämmern. Im Traum lauere ich den Erben auf. Der Autoladen unten an der Straße hat eine neue Verkaufshalle auf- und einen Teil des Ausblicks abgestellt. Der Rebgarten des Gast-haus’ Waldhorn hat einer Terrasse mit unterirdischer Kegelhalle den Platz geräumt. Darauf verlieren sich die Arbeiter der Werk-zeugfabrik, und der Wind zieht ihnen das Hemd aus.

Die Frau aus dem Nebenhaus geht in den Coop als Kassiererin, die von gegenüber macht sich hinter der Fabrik an einen Gemüse-garten, der Abwart hat seinen Dienst im Bahnhof. Aus dem Holz-haus der Straße zu kläfft ein Hund.

Auf meiner alten Ansicht der Stadt hat sich »Tegerwilare« ver-schoben zu »Dägerweyler Dorf« da hinten am Berg. Den Trup-pen, die die Stadt berennen wollten, diente das Quartier. Den Bauern wird beim Herannahen der Trosse manches geschwant haben. Und ihre marodierenden Kollegen aus den Bergen ha-ben das eine, andere im Dorf wohl mitgehen lassen. Wenn sie im Winter zum Zündeln der Stadt anrückten, des bösen Worts Kuhschweizer wegen, Kuhplappart gar, beurkundet im Jahr des Herrn 1458. Ein stattlicher Flecken mit vierundsechzig Bauern-höfen, fetten Wiesen, strammen Bäumen und in der Stadt einem Zehntherrn. Dem werden wir’s auch noch brennen. Heute sind im Geschirr knapp dreißig, bauen Gemüse und allerlei Obst. Und das meiste davon besorgt die Biotta unter ihren gläsernen Brutkästen.

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Der Salat ist in der ganzen Gegend herum alternativ, Gespritztes wird gängig nicht verzehrt. Außer dem Schulhaus, aus dem die Geranien und die Kinder den Kreuzverkehr überblicken, haben wir das Gymnasium Hörnliberg. Das liegt am Berg. Die Kühe vom schiefen Hof nebenan schielen herein, und eine hohle Gasse führt abwärts. Da können die Bübchen aus der Stadt nachpauken. Ohne Gewähr. Das Schloss heißt der Einfachheit halber Castell, ist gotisch um neunzehnhundert und das Gemüse bestens. Wir schweißen spenglern veredeln und fahren Sie an gleich zwei Bahn-höfen vorbei. »Auch das kulturelle Leben kommt in Tägerwilen nicht zu kurz. Wir verfügen neben dem Musikverein noch über zwei Gesangvereine.«

Frank trank Bier aus Krügen. Er hatte nichts einzuwenden. Frank sprach nicht viel. »Bomb them where it hits them: in the pocket«, sagte Frank und verschwand in seinem Bierkrug. Eine Stimme hatte er, als wäre sie aufgeraut und geglättet. Einer dieser graublonden whiskytrinkenden Engel im Regen mit seiner Was-serstoffstimme.

Einer aß Kirschen den Baum herunter. Ein anderer suchte große blaue Blumen. Einer briet Fische. Der Wirt erzählte eine Zote nach der anderen. Ein Fernfahrer, der sein Ungetüm vor dem Haus schlafen gelegt hatte, erkundigte sich nach den Puffs jenseits der Grenze. Einer tat ihm Bescheid. Erzählt von Scharmützeln und Schwabenkrieg. Von gegen den Willen der Einwohner erzwun-gener Gegenreformation, die über Dienstadel und Vögte aufs Land ausgegriffen hat. Von der puritanischen Grundeinstellung der Landbewohner. Wie sie am Samstagabend über die Grenze huschen. Spielen. Huren. Die höchst indignierten Stadtbewoh-ner auf ein Bier ins Weiberhaus laden. Der Fernfahrer verlangt Auskünfte anderer Art. »Hit them«, sagt Frank und verschwin-det in seinem Bierkrug. Einer schweift in Ethnologie und Gram-matik aus. »Verrückte«, sagt der Fernfahrer und bleibt noch ein Stündchen. Die Bedienung trägt einen Rock so kurz, als wolle sie sichtbar nicht nur gegen die Mode, sondern gegen die Zeitläufte im Ganzen ein Zeichen setzen. Das dicke Mädchen, das nächste Woche zum Feminismus bekehrt wird, girrt. Der Fernfahrer ist

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unruhig in seinem Halbschlaf. »Im Dorf«, sagt der Wirt, »gibt’s sogar solche, die sind nur halb verrückt.«

In den Büschen flackert das Licht. Das Licht funkelt durchs Rebdach. Im Fischbecken springen die Fische. Kohl und Salat-köpfe tummeln sich. Die Kirschen hängen uns in den Mund. Durchs Rebdach rauscht der Wind und ist still. Das Licht ver-schwimmt.

Oben in den Wiesen liefern sich Frank und der Fernfahrer mit der Pfeife im Maul einen lautlosen Kampf. Auf Zehen und Bal-len. Mit Armen und Händen. Mit Schenkel und Bauch. Der mit der Pfeife ist größer. Der mit der Pfeife deckt den Engel zu. Der Engel aus Irland ist behände und schnell. Er springt dem Großen davon, immer höher. Die beiden werden von Nebelschwaden um-wogt. Springen zwischen Kirschbäumen Apfelbäumen Birnbäu-men. Immer höher. Bier und Most fließen in Strömen. Die Worte schwimmen schon lange im Traum. Frank und der Große ver-schwinden hinter Bäumen und Nebel. Ein letztes Mal sind sie zu sehen. Die Angehörigen bestellen Bier nein Most nein Wein. Die Bedienung hat einen durchsichtigen Nachtmantel übergeworfen. Durchs Rebdach funkeln die Sterne. Jemand sagt: Es ist Nacht. Wir wachsen zu.

Bäume und Sträucher sind reformiert, kugel- oder kegelförmig zugestutzt. Die Kirche liegt auf dem Hügel und ist ein Klotz. Un-ter der Vorhalle mit den Säulen und dem Blätterdach ringsum, mit Kies und Rasen, möchte ein Pionier in Hemdsärmeln und mit nach hinten in einen Zopf gebürsteten Haaren hervortreten. Drinnen atmet sich Sonntagsschule. Viereckig einschüchternd schmucklos. Am Hügel der Gottesacker, abgesäumt von Rho-dodendron und Buchsbaum, mit allzeit geharkten Wegen. Kies, Immergrün, Ordnung: Das ist der Tod. Ein wenig verwunschen sieht nur das Fachwerk beim Bach aus. Das bleibt unten vorm Eingang. Beidseitig des Kirchenschiffs sind die Kastanien zu Son-nenschirmen gestutzt. Darunter die Ruhestätten. Da ruhen bei ihren Lieben die Obersten Ammann, die von Stockar und Castell, denkbare Ausbürger der Stadt allemal. Drunter liegen reihum Eg-loffs, Dütschs und Kellers. Kein Platz für Hecke, Absonderung