Castor Zwieback - Lesestucke

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Castor Zwieback (Theodor W. Adorno und Carl Dreyfus, 1931–1933) Lesestücke Die Pendelwagen Ein berufstätiges junges Mädchen äußerte zu seiner Kollegin: Man hat keine Freude an der Trambahn. Selbst wenn ich morgens fünf Minuten früher wegfahre als notwendig, hilft es wenig. Zwar kann ich dann mit dem schwach besetzten Pendelwagen fahren, anstatt in der überfüllten Haupttram, aber ich komme kaum je früher zum Ziel. Die Pendelwagen haben nämlich die Gewohnheit, nicht, wie vorgesehen, in der Mitte des Zeitraumes zwischen zwei Hauptzügen zu verkehren, sondern unmittelbar vor dem darauffolgenden Hauptzuge abzugehen, weil Führer und Schaffner der Pendelwagen sich mit den Beamten der Hauptzüge an der Abgangsstation unterhalten. So erreiche ich an der Umsteigstelle nicht mehr den fahrplanmäßigen Anschlußwagen, sondern erst den nächsten -. Nicht genug damit, ich komme manchmal durch das lange Warten später an mein Ziel, als wenn ich den nächsten Hauptzug benutzt hätte. Denn er fährt weiter als der Pendelwagen und erreicht dann die zweite größere Umsteigestelle, von der mehrere Verbindungen abzweigen. Von dort ist es wohl in der Luftlinie weiter zum Ziel als von der ersten Umsteigestelle, aber man muß wegen der vielen Linien nie warten. Sitzung Es fanden sich nicht alle Herren des Vorstandes ein, nur fünf, weil es nachmittags sechs Uhr war. Sie berieten das Programm für das halbe Jahr. Die Programmgestaltung bot Schwierigkeiten, weil einige Herren des Vorstandes zugleich Vorständen anderer Gesellschaften ähnlicher Art angehörten. Die eine jener Gesellschaften müsse in dieser 1

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Castor Zwieback (Theodor W. Adorno und Carl Dreyfus), „Vier Surrealistische Lesestücke“, Frankfurter Zeitung, 17. XI 1931. Reprinted, ,Akzente, 1963; Castor Zwieback, Prosa, Siegen, Universität-Gesamthochschule, 1986; Lesestücke, von Theodor W. Adorno und Carl Dreyfus, Köln, Edition fundamental, 1994; T. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Band 20: Vermischte Schriften, IV. Miscellanea, Adorno und Carl Dreyfus: „Lesestücke“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Mein, 2003.

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Theodor W

Castor Zwieback(Theodor W. Adorno und Carl Dreyfus, 19311933)Lesestcke

Die Pendelwagen

Ein berufsttiges junges Mdchen uerte zu seiner Kollegin: Man hat keine Freude an der Trambahn. Selbst wenn ich morgens fnf Minuten frher wegfahre als notwendig, hilft es wenig. Zwar kann ich dann mit dem schwach besetzten Pendelwagen fahren, anstatt in der berfllten Haupttram, aber ich komme kaum je frher zum Ziel. Die Pendelwagen haben nmlich die Gewohnheit, nicht, wie vorgesehen, in der Mitte des Zeitraumes zwischen zwei Hauptzgen zu verkehren, sondern unmittelbar vor dem darauffolgenden Hauptzuge abzugehen, weil Fhrer und Schaffner der Pendelwagen sich mit den Beamten der Hauptzge an der Abgangsstation unterhalten. So erreiche ich an der Umsteigstelle nicht mehr den fahrplanmigen Anschluwagen, sondern erst den nchsten -. Nicht genug damit, ich komme manchmal durch das lange Warten spter an mein Ziel, als wenn ich den nchsten Hauptzug benutzt htte. Denn er fhrt weiter als der Pendelwagen und erreicht dann die zweite grere Umsteigestelle, von der mehrere Verbindungen abzweigen. Von dort ist es wohl in der Luftlinie weiter zum Ziel als von der ersten Umsteigestelle, aber man mu wegen der vielen Linien nie warten.Sitzung

Es fanden sich nicht alle Herren des Vorstandes ein, nur fnf, weil es nachmittags sechs Uhr war. Sie berieten das Programm fr das halbe Jahr. Die Programmgestaltung bot Schwierigkeiten, weil einige Herren des Vorstandes zugleich Vorstnden anderer Gesellschaften hnlicher Art angehrten. Die eine jener Gesellschaften msse in dieser aufgehen, da sonst ein Wettstreit entstehe, der fruchtbare Arbeit jeder einzelnen unmglich mache. Gestatten Sie den Hinweis auf unsere Schwestergesellschaft in Hamburg, widersprach ein Herr aus zwei Vorstnden. Ihr Halbjahres-Programm ist erheblich umfangreicher als die beiden der heute in Frage stehenden Gesellschaften zusammengenommen, obwohl sie wesentlich jnger ist als beide. Daraus folgt, da hier bei vernderten Umstnden beide Gesellschaften getrost nebeneinander leben knnen. Das bestreite ich, hie es dagegen, die Grundlagen sind vllig verschieden. In Hamburg sind die Mglichkeiten bei weitem nicht so erschpft wie bei uns. Man ist dort viel ursprnglicher. Ein Herr meldete sich. Ich mchte Ihnen einen Vorfall erzhlen, der zwar nicht zur Geschftsordnung, aber immerhin zur Sache gehrt. Ein Hamburger, den wir alle kennen, kam mit einem Anderen ins Gesprch: Ich hatte mir einen neuen Handkoffer gekauft zu einer Zeit, deren schwierige Verhltnisse jede solche Anschaffung zu einem Opfer machten. Eines Tages nahm ich ihn mit auf die Reise. Ich verlie das Abteil fr einige Augenblicke. Als ich zurckkehrte, war der Koffer verschwunden. Verzweifelt suchte ich ihn berall ohne Erfolg. Tage danach begab ich mich zur Dienststelle fr gefundene Gegenstnde. Dort fand ich meinen Koffer wieder. Es war der glcklichste Tag meines Lebens.Regent

Das schngelegene Sommerschlo des verstorbenen Regenten wurde viel besucht. Fhrungen fanden in Gruppen von je dreiig Personen statt. Die Teilnehmer warteten an der Drehtr. Wenn es dreiig waren, wurden sie eingelassen. Im Treppenhaus waren nur fnf berlebensgroe Statuen sehenswert, die am Aufgang der Freitreppen angeordnet waren. Sie seien allegorische Darstellungen der fnf Erdteile, Europa in der Mitte. Die Figuren seien jetzt Gips, htten aber Marmor werden sollen. Decken und Wnde des Jagdzimmers waren ausgefllt mit Schnitzerei von Jagdszenen: Jger, hetzende Hunde und viel tote Beute in Tlern. Die Krone, eine Kaiserjagd, sei auch aus Gips, htte Elfenbein werden sollen. Im Arbeitszimmer des Regenten stand ein groer Schreibtisch an der glsernen Flgeltr zur Parkaltane. Ihn zierte eine kunstvolle Uhr aus der Bltezeit in Bronce. Der Parkettboden unter dem Luferbelag sei von italienischen Holzknstlern in Labyrinthform angefertigt. Auch das Deckengemlde sei italienisch. Durch das Sterbezimmer kam man ins Prunkbad. Die Fresken seien durch Wasserdmpfe angegriffen und deshalb verhngt, ihr Kunstwert sei zum Glck nicht sehr erheblich. Die zahlreichen weiteren Rume seien zur Besichtigung nicht freigegeben. Sie wrden von den lebenden Herrschaften bewohnt.

Erwartung

Nach dem gemeinsamen Abendessen, ehe die Teilnehmer den Speisesaal verlieen, entnahm ein Herr Dr. Kntzel seinem Notizbuch den Ausschnitt aus einer illustrierten Zeitschrift: Ist das nicht eine schne Frau? Man reichte den Ausschnitt weiter. Um neun Uhr werde ich abgeholt, damit wir nicht nur Herren sind. Von dieser Dame? Nein, von ihrer Freundin, die auch am Chemnitzer Stadttheater verpflichtet war, jetzt aber hier wirkt. Bald danach begab man sich in die Hotelhalle. Die Herren nahmen an verschiedenen Rauchtischen zu Kaffee und Likren Platz, whrend Herr Dr. Kntzel im Vestibl, die Drehtr im Auge, auf- und niederging. Manchmal sah einer der Herren auf, ob die Erwartete schon erschienen sei. Eine Viertelstunde nach der verabredeten Zeit zahlten die Herren und begannen aufzubrechen, nicht ohne sich mit Herrn Dr. Kntzel ber die Fortsetzung des Abends verstndigt zu haben. Jener blieb unruhig zurck. Die Herren indessen schoben sich gruppenweise ber den groen schon stilleren Platz. Sie gedachten, um Zeitverlust zu vermeiden, ihrem Freund behilflich zu sein, begrten verschiedene fremde Damen und fragten sie, ob sie etwa mit Herrn Dr. Kntzel verabredet seien. Dabei whlten sie solche Damen, deren Aussehen und Kleidung auf Knstlertum hinzudeuten schien, jedoch vergebens. Erst kurz vor dem verabredeten Ort bemerkten die Herren eine schlanke Frau in weitem Pelzmantel und Abendtuch, das die Stirn offen lie. Sie kenne ihn. Es war die Dame vom Ausschnitt.

Der Mord

Ein Mdchen erzhlte: Ich war in einem feinen Haus in Kln. An einem Abend kam ein feiner Herr in Geh rock und Zylinder. Guten Abend sagte der Herr und legte die Hand an den Zylinder. Dann verlangte er bei Madame die Hilde. Sie sei oben. Er ging hinauf und blieb eine gute Stunde. Als er allein zurckkam, griff er wieder an den Zylinder und sagte nur guten Abend. Nicht viel spter erschien ein Schutzmann, grte auch mit der Hand und fragte nach Madame. Wenn das Mdchen nicht vom Fenster wegginge, msse er das Haus schlieen. An welchem Fenster? Im zweiten Stock. Madame schaute selbst nach, dann hrten wir, wie sie schrie, und liefen alle in den zweiten Stock. Im Bett lag nackt Hilde ohne Kopf. Der Kopf stand auf dem runden Tisch am Fenster, das Gesicht der Strae zugekehrt. Neben dem Kopf lag ein langes Messer und ein Tausendmarkschein. Seit diesem Abend mute jedes Mdchen seinen Herrn herunterbegleiten.

Eisenbahn

Ein Kaufmann hatte den ganzen Morgen mit Ttigkeit in der Hauptstadt zugebracht und stieg um zwei Uhr in den Schnellzug. Er verlie pnktlich um zwei Uhr sieben die Halle. Auf dem Tisch vor seinem Fensterplatz lag ein Zettel mit dem dreisprachigen Aufdruck: In diesem Zug befindet sich ein Speisewagen. Augenblicklich erschien ein Angestellter der Speisewagengesellschaft und forderte auf zum Kaffee Platz zu nehmen. Ob man noch etwas zu essen haben knne? Gewi, wenn auch nur la carte. Der Kaufmann stand auf, der nchste Wagen war der Speisewagen. Dort nahm er im Nichtraucher-Abteil Platz, in dem nur noch ein junges Ehepaar sa. Der Oberkellner fragte, ob er Kaffee oder Tee wnsche. Kann ich noch etwas zu essen haben? Selbstverstndlich, mein Herr, sogar noch das Men, das heute besonders schn ist. Selbstverstndlich ganz frisch. Sofort wurde serviert, und der Servierkellner entkorkte die schon auf dem Tisch stehende Flasche Rotwein. Auf dem Rckweg zum Abteil begegnete ihm die diensttuende Frau in Schrze und Hubchen. Sie rieb mit einem Leder die Messingstangen blank, auf dem anderen Arm trug sie einen Pack frischer Handtcher. Im Abteil las er eine Zeitschrift mit dem Aufdruck: Unseren Gsten gewidmet. Sie war von der Speisewagengesellschaft auf die Pltze gelegt worden. Bald kam auch der Schaffner und bat ohne einzutreten um die Fahrkarte. Haben wir Versptung? Nein, antwortete der Beamte, wir sind ganz fahrplanmig. Auf dieser Strecke gibt es berhaupt keine Versptung. Beim Aussteigen war der Mitreisende behilflich.Der Morgen

Ein Jngling verbrachte seinen Urlaub in einem sdlichen Kurhotel. Als er am Morgen, noch im Schlafanzug, zum Closet ging und ffnete, fand er auf dem Closet eine ltere Dame. Obwohl er sich beeilte, die Tr sogleich zu schlieen, mute er die Dame sehen. Sie trug ein schwarzes besticktes Kleid, unter dem hochgerafften Rock lange weie Unterhosen, schwarze Stiefel. Die Dame begann zu murmeln. Als sie mittags im schwarzen Kleid auf die Veranda kam, verbeugte sich der Jngling.Morning

A young man went on holiday in a spa hotel in the south. In the morning, still in his pyjamas, he went to the lavatory. Opening the door, he saw an elderly woman sitting on the seat. Although he hastened to shut the door, he could not avoid seeing the woman. She was wearing an embroidered black dress, and beneath the skirt, which was pulled up, long white knickers and black boots. The woman muttered something. When she appeared on the veranda in the black dress at lunchtime, the young man bowed.Erinnerung

Der magebende Vertreter eines groen Unternehmens erzhlte gelegentlich Folgendes: In Bezug auf Frauen habe ich ein sicheres Urteil. Ich bin darin sehr empfindlich, Blle besuche ich niemals. In Baden- Baden lernte ich eine amerikanische Knstlerin kennen und verbrachte eine Woche mit ihr, in dem gleichen Hotel. Die Tage verflogen wie Stunden. Niemand fragte nach Namen und Wesen. Als wir uns trennten, wuten wir nichts voneinander. So wurde das Erlebnis eine schne Erinnerung und ist es geblieben.Klage

Sogleich nach Anfang der Geschftszeit, als die Flgeltr geffnet worden war, betrat eine Frau, sorgfltig gekleidet, die Halle des Bankgebudes und ging rasch auf den gegenberliegenden Schalter fr Devisen zu. Nach ihrem Begehr gefragt, verlangte sie den Herrn Generaldirektor zu sprechen. Dann sei sie hier falsch, die Direktion liege im ersten Stockwerk. Man mchte sie oben melden. Das sei leider zwecklos, da der Herr Generaldirektor voraussichtlich noch nicht im Hause sich befinde und fr den ganzen Vormittag Besprechungen vorgemerkt seien. Jetzt begann die bislang ruhige Frau zu weinen: Sie msse bei dem Herrn Generaldirektor dringend vorstellig werden. Man bedaure tatschlich. Es ist darum, rief sie sehr laut aus, er will von meinem Jungen nichts mehr wissen, das ist traurig fr ihn. Der Portier und ein Page, herbeigelutet, entfernten die klagende Frau, in der Direktion wurde Meldung erstattet.

Die Reise

Beim Sohne eines Apothekers lutete der Provisor an: Ob er Herrn Baumann kenne. Weil Herr Baumann die gleiche Mittelmeerreise machen wolle wie der Provisor, und er sei ein Klassenkamerad des jungen Herrn. Er denke an dieselbe Route ab Genua: Malta, Gibraltar, Spanien, zum Schlu Marseille. Er msse sehr wohlhabend sein, er habe sich genau nach allen Preisen erkundigt. Auch Herr Baumann wolle drei Wochen fortbleiben, die Fahrten ins Land eingerechnet. Er habe mit dem jungen Herrn zusammen Abitur gemacht. Der junge Herr sei aber erst spter in die Oberprima eingetreten. Er habe seinen genauen Plan mit dem verglichen, den der Provisor schon ausfhrte, alle Hotels. Er habe brigens mit dem jungen Herrn gelegentlich musiziert. Er sei ein groer, schngewachsener, junger Mann. Der junge Herr msse sich an ihn erinnern knnen. Leider htten sie ja in den letzten Jahren fast jede Fhlung verloren. Das habe er ihm nur sagen wollen. Besten Dank.

Inkognito

Eine Tante Anna klagte: Seit ich siebzig Jahre alt geworden bin, habe ich es schwer. Um dem Ansturm der Ehrungen zu entgehen, bin ich mit meiner besten Freundin am Geburtstage nach Wiesbaden gefahren. Nun mu ich schon seit vierzehn Tagen zu Hause bleiben, um die Glckwnsche entgegenzunehmen. Ich kann den Gratulanten, die von meiner Abwesenheit wuten, nicht zumuten, vergebens zu kommen. Immer noch erwarte ich Besuche.

Seminarabend

Eine junge Dame, selbst immatrikuliert, nahm mit Studenten und Studentinnen an einem akademischen Seminar teil. Sie erschien kurz vor Beginn der Sitzung, zeitig genug, ihre nheren Bekannten zu begren. Nach dem zweiten Glockenzeichen kam der Seminarleiter, um alsbald einige Thesen der Besprechung zu berlassen. Es redeten zunchst die beiden Assistenten und vertraten lngere Zeit ihre abweichenden Meinungen. Dann wurde der zweite Assistent von einem Herrn sachlich bekmpft, der unmittelbar vor seiner Prfung stand. Ihm schien die Behauptung des zweiten Assistenten der Wirklichkeit allzusehr entfremdet, ohne doch die Ausgangsthese an Tiefe zu erreichen. Der Seminarleiter mochte auf Seiten des begabten Herrn stehen, hielt sich aber noch zurck. Die junge Dame hrte alle Meinungen an. Sie entschied sich einzugreifen und whlte die Meinung des zweiten Assistenten. Wenn ich Herrn Doktor richtig verstanden habe, fhrte sie aus, war seine Ansicht keineswegs wie behauptet wurde. Die Erfassung der Erkenntnis in diesem Bereich trifft fraglos auf ungeheure Schwierigkeiten. Allein bei grndlicher Untersuchung zeigt sich, da Endpunkt und Ausgangspunkt in Wahrheit die gleichen sind. Sehr schn, sagte der Seminarleiter. Ich frchte nur, da nicht alle Anwesenden den Sinn dessen voll erfat haben, was Frulein N. vortrug. Sie wollte sagen: Hier sei die Lsung nicht zufllig der Frage gleich; der Gegenstand fordere dies, um sie in sich aufzunehmen. Habe ich Ihre Auffassung richtig wiedergegeben, Frulein N.? Die junge Dame stimmte zu, ohne noch einmal das Wort zu ergreifen. Sie war nach der Seminarsitzung zum Abendessen geladen. Obschon sie nur ein kleines Abendkleid angezogen hatte, verbarg sie es unter ihrem Mantel, um von Studenten und Studentinnen nicht abzustechen. Als einzige jedoch in Hut und Mantel zog sie gleichwohl die Blicke der anderen auf sich. Eine halbe Stunde vor Seminarschlu war es fr sie Zeit zu gehen. Sie erhob sich leise, nickte dem Seminarleiter zu und entfernte sich aus der Sitzung.

Visite

Ein Chef kam in den Korrespondenzraum. Auf dem Schreibtisch des ersten Angestellten lagen zwei gleich hohe Ste von Korrespondenz. Der eine war erledigt, der andere sollte noch erledigt werden. Zwischen dem Telefon und der Telefonuhr befand sich ein Gestell mit zahlreichen Stempeln. Am Tisch des zweiten Angestellten, der ebenfalls einen Armsessel hatte und rauchte, wurden Dispositionen getroffen. Dort war eine grere Reihe von Handbchern angeordnet, die Rcken nach auen. An ihren Arbeitstischen saen vier Damen. Die erste Dame durchbltterte geruschvoll den Kurzschrift-Block. Die zweite Dame hmmerte mit allen Fingern auf der Maschine, whrend die dritte Dame hinter ihrer Maschine kaum zu sehen war und klingelte. Viele mit Papier gefllte Ablegemappen waren auf dem Tisch und unter dem Tisch der vierten Dame gehuft, das Mdchen war an seiner Maschine beschftigt. Es fiel dem Chef schwer festzustellen, was gearbeitet wurde. Er verlie wortlos das Zimmer.

Gegenbesuch

Zwei Freunde hatten sich zu einer Beerdigung verabredet. Der eine der beiden verkehrte gesellschaftlich im Hause der Tochter des Verschiedenen. Den anderen bestimmten vorwiegend berufliche Grnde an der Bestattung teilzunehmen, zumal er anschlieend an die erste einer zweiten auf dem gleichen Friedhofe beizuwohnen hatte. Das Berufsauto des zweiten Freundes holte den ersten an seiner im Vorort gelegenen Wohnung ab. Beim Zusammentreffen im Bro fand sich ein auswrtiger Geschftsfreund unerwartet ein. Die Herren fuhren gemeinsam weiter, die gekrmmte Pappelallee um die Peripherie. Alle drei hatten die Zylinder abgenommen, damit sie im niedrigen Auto nicht Schaden litten. Ich finde es rhrend, sagte der erste Freund zum Geschftsfreund, da Sie eigens aus Pirmasens herbeigeeilt sind, dies um so mehr, als Sie ja, soviel ich wei, zu dem Verstorbenen nur in uerst flchtigen Geschftsbeziehungen gestanden haben sollen. Das trifft nicht ganz zu, entgegnete der Angeredete, denn die Familien waren befreundet. Der Verstorbene kam ja anllich der Beisetzung meines seligen Vaters persnlich nach Pirmasens. Darum mu auch ich ihm die letzte Ehre erweisen.

Freitod

Frulein Lucie wute ber den Tod folgendes zu berichten: Nach drei Uhr nachts, als die gndige Frau vom Besuch bei dem Herrn Direktor zurckgekommen war, unterhielten wir uns beim Ausziehen. Sie erzhlte, er sei heute abend so nett gewesen wie noch nie seit der Scheidung. Gute Likre htten zur guten Stimmung beigetragen. Er habe sich nach Einzelheiten aus dem Leben der gndigen Frau erkundigt. Auch sei er berhaupt nicht mde gewesen. Als ich dann im Nebenzimmer nach der Kleinen schaute, hrte ich die gndige Frau. Ich ging hinein und fand sie auf dem Bett mit dem Apparat. Sie rief: Berti, mein Berti, und hngte ein. Der Diener hatte den Tod gemeldet. Sie war von der Nachricht sehr erschttert.

Lauter Lachen

Als der Schwank zu Ende war, kam der Theaterdiener in die Garderobe und suchte eine der Darstellerinnen. Sie hatte in dem Stck die Rolle eines jungen reichen Mdchens aus vornehmem Hause gespielt, das zur Beobachtung seines zuknftigen Gatten als Brofrulein in dessen Unternehmen wirkte. Nun wurde sie in das Zimmer des Direktors gerufen. Der Direktor bat sie doch Platz zu nehmen und sagte: Liebes Kind, warum sind Sie nicht lustiger? In einem Schwank im Sommer mu man vor allem frhlich sein. Haben Sie Kummer? Warum lachen Sie nicht lauter? Warum bewegen Sie sich nicht mehr? Das ist eine entzckende Rolle. Und dann, warum sprechen Sie nicht lebendiger? Das Beste geht verloren. Wenn man jung ist und so schn wie Sie, kann es einem nicht schwer fallen. Morgen wird es sicher gut werden.

Begegnung

In lebhaftem Gesprch kamen vier junge Mdchen in die Trambahn und setzten sich einander je zwei und zwei gegenber, die Mappen auf dem Scho. Ohne Pause fuhren sie zu sprechen fort. Da zeigte die eine nach der Strae und unterbrach sich: Meine Mutter. Alle drehten die Kpfe zum Fenster und sahen hinaus. Ein grauer offener Wagen berholte die Trambahn. Mehrere Personen befanden sich darin mit Decken; etwa drei Herren und eine Dame. Der Gru des Mdchens erreichte die Mutter nicht. Aber sie wute, da sicherlich Trambahn und Auto sich nochmals begegnen wrden, an der nchsten Haltestelle. Tatschlich wartete dort das Auto, bis die Fahrgste aus- und eingestiegen waren. Jetzt konnte das Winken des Mdchens nicht bersehen werden. Freundlich nickte die Mutter ihr zu.

Aussprache

Die Freunde waren bereingekommen, eine Aussprache mit Frau Hegemann herbeizufhren. Als sie die Wohnung betraten, dmmerte es schon ein wenig. Sie fanden Frau Hegemann im Musikzimmer; sie ruhte, auf dem Diwan. Scheinbar aufgeschreckt aus ihrem Traum, erhob sie sich, sie trug ein lichtblaues Kleidchen. Der ltere Freund sammelte sich und begann: Wir sind gekommen, um etwas sehr Ernstes zu besprechen. So, erwiderte Frau Hegemann. Er behauptet, es htten sich die Dinge zwischen euch doch nicht ganz so verhalten, wie du es darstelltest. Du mut einsehen, da von dieser Auseinandersetzung abhngt, ob die Freundschaft fortdauern kann. Allerdings, antwortete sie und reichte die Cigarettendose aus Jade. Gndige Frau, begann der jngere Freund seine Erklrung, ich bedauere es auerordentlich, Dinge zur Sprache bringen zu mssen, die sowohl Ihnen als auch mir zweifellos peinlich sind. Darf ich einige Fragen an Sie richten? Frau Hegemann kauerte auf dem chinesischen Taburett. Nach ihrem undeutlichen Kopfnicken fuhr er fort. Ich mute annehmen, da Sie von meinem Freunde innerlich bereits getrennt seien. An jenem Abend, als wir Sie zum Diner bei Professor Georgi begleiteten, flsterten Sie mir im Auto etwas zu, was ich allerdings nicht genau verstand. - Weiter erinnere ich mich an eine Unterhaltung, wenige Tage spter, hier oben bei Ihnen. Sie setzten mir auseinander, da ein Mann eigentlich schon in dem Augenblick fr Sie erledigt sei, in dem Sie sich ihm hingegeben htten. Die Anspielung auf meinen Freund war nicht zu berhren. - Auf den Brief an Gladys mchte ich gar nicht eingehen. Aber denken Sie an den Nachmittag, an dem Sie mir eine Reihe neuer Tanzplatten vorspielten. Sie glaubten nicht an Treue. Sie erzhlten mir pltzlich, Sie htten ein Verhltnis mit Herrn Dr. Tsian. Das ist gelogen, unterbrach Frau Hegemann, sprang auf, beugte sich ber den Rauchtisch, ihr Gesicht war nicht wiederzuerkennen. Und was Sie alles ber Ihren Freund gesagt haben. Was ich ber ihn gesagt habe, war lediglich durch Ihre Bemerkung hervorgerufen, gndige Frau. Oder wollen Sie etwa bestreiten, da Sie mir stets wieder durch unverhllte uerungen zeigten, eigentlich sei er Ihnen lcherlich? Sogar als ihm beim Umzug ein Marmoraschenbecher auf den Kopf gefallen war, fanden Sie nur Anla zum Lachen. Sie beschrieben mir am Telefon die Wunde. Leugnen Sie all das? Frau Hegemann war unfhig zu lgen. Nein, sagte sie. Ihr Gesicht hatte seine Ruhe wiedergewonnen. Sie lehnte am Fenster und blickte auf die Allee, deren Bume die letzten Lichtspuren bewahrten. Das gengt mir, sprach sich erhebend der ltere Freund. Die beiden Herren kten ihr nacheinander die Hand und gingen gemeinsam.

Cembalo

Schon zu Beginn des Chor-Konzertes brannte das Licht unregelmig. Als der heie Saal einmal sich verdsterte, ging ein erstaunter Laut durch die Zuhrer, um pltzlich abzubrechen. Es war wieder hell geworden, und der erste Teil des Werkes wurde noch durchgefhrt. Dem ernsten Anla gem uerte sich kein Beifall. Bei Beginn des zweiten Teiles setzte sogleich das Flackern des Lichtes ein. Diesmal handelte es sich um keine vorbergehende Strung. Die Lampen brannten immer schwcher. Das Publikum blieb ruhig, auch als sie rot glhten. Da wurde es dunkel. Der Kapellmeister legte den Stab nieder und wandte sich zum Saal. Die Notbeleuchtung an den Tren tat ihren Dienst. Die Orchestermusiker hrten auf. Der Chor allein sang weiter. Als allmhlich weniger Stimmen teilnahmen, drang der dnne Ton eines altertmlichen Klavieres durch, welches das ganze Werk begleitete, fast ohne je vernehmbar zu sein. Es spielte noch einige Takte. Bald darauf konnte das Konzert fortgesetzt werden.

Grabmal

Des schnen Wetters wegen war das Groauto der Fremdenrundfahrt voll besetzt. Man hatte das Dichterhaus, die Anlagen und die Reste der Befestigung bereits besichtigt, als das Groauto vor einer dichten Baumgruppe hielt. Das ist die englische Kirche, sagte der Erklrer. Sie wurde achtzehnhundertfnfundfnfzig im gotischen Stile erbaut. Seit 1905 ist sie aber nicht mehr in Benutzung, sondern dient dem berhmten englischen Grabmonument mit Amor und Psyche als Obdach. Die Besichtigung ist zweimal wchent lich frei, heute ist die Kirche geschlossen. Dann fuhr das Groauto weiter.

Vor 1933Castor Zwieback (Theodor W. Adorno und Carl Dreyfus), Vier Surrealistische Lesestcke, Frankfurter Zeitung, 17. XI 1931. Reprinted, ,Akzente, 1963; Castor Zwieback, Prosa, Siegen, Universitt-Gesamthochschule, 1986; Lesestcke, von Theodor W. Adorno und Carl Dreyfus, Kln, Edition fundamental, 1994; T. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Band 20: Vermischte Schriften, IV. Miscellanea, Adorno und Carl Dreyfus: Lesestcke, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Mein, 2003.PAGE 1