»Brain Drain«: Gibt es in Deutschland zu wenig ... · Stiftungsprofessuren oder Finanzbeiträge...

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61. Jahrgang – ifo Schnelldienst 4/2008 3 Rahmenbedingungen für Forscher an den Hochschulen verbessern Zweifellos braucht Deutschland mehr For- scherinnen und Forscher und möglichst die besten ihrer Zunft – weltweit. Dies gilt für die deutschen Universitäten und Fach- hochschulen, für die ich hier spreche, aber auch für die Wirtschaft und die außeruni- versitäre Forschung. Die EU-Kommission ging nach Verkün- dung der Lissabon-Strategie von einem zusätzlichen Bedarf von 700 000 Wis- senschaftlern in Europa bis zum Jahre 2010 aus: eine eindrucksvoll große Zahl, die angesichts des angestrebten Wachstums der Forschungsausgaben auf 3% des BSP durchaus nicht abwe- gig ist. Die Bundesregierung legte in der Meseberger Regierungsklausur im Sommer 2007 ihren Überlegungen zur Arbeitsmarktsentwicklung einen Bedarf von 90 000 zusätzlichen Forscherstel- len in Deutschland bis zum Ende dieses Jahrzehnts zugrunde. In der Tat zeigen die Forschungsinvestitionen der deut- schen Wirtschaft für das Jahr 2006 wie- der nach oben, was den Forscherbe- darf in den Entwicklungslabors laut ak- tueller Prognose des Stifterverbands für die deutsche Wissenschaft wachsen lässt. Der von Bund und Ländern bis 2010 finanzierte »Pakt für die For- schung« garantiert der außeruniversi- tären Forschung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ein Budgetwachstum, was sich vermittelt auch auf den Wissenschaftlerbedarf in den Universitäten auswirkt. Einen be- sonderen Impuls hat die Exzellenzini- tiative von Bund und Ländern für die deutschen Hochschulen gesetzt. In den gerade entstehenden Doktoranden- schulen und Exzellenzclustern der im Wettbewerb erfolgreichen Universitäten werden in den kommenden Jahren mehrere tausend junge und erfahrene Spitzenkräfte benötigt. Die neuen Möglichkeiten für Forscher in Deutschland werden auch im Ausland wahrgenommen. Davon konnte ich mich selbst bei Gesprächen mit deutschen Top- Nachwuchswissenschaftlern, die zurzeit in den Vereinigten Staaten arbeiten, über- zeugen. Viele stehen einer Rückkehr an deutsche Universitäten wieder offen ge- genüber. Heißt das, dass Deutschland sei- nen Bedarf im weltweiten »Kampf um die besten Köpfe« problemlos wird stillen kön- nen? Trotz unübersehbarer Fortschritte in den letzten Jahren sind hier Zweifel ange- bracht. Viele Rahmenbedingungen, die die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Hochschulen bestimmen, sind nicht so, dass wir die Besten gewinnen können. Insgesamt geht es hier um drei Zielset- zungen, die wir umsetzen, und verschie- dene Zielgruppen, denen wir uns widmen müssen: Spitzenkräfte halten und brachliegende Reserven in Deutschland heben Spitzenwissenschaftler müssen nicht nur nach Deutschland geholt werden, es geht auch darum, die, die hier sind, zu halten, wenn sie konkurrierende An- gebote bekommen. Dazu müssen nicht nur die finanziellen, sondern auch die fachlichen, familiären und andere Rah- menbedingungen stimmen. Außerdem müssen in Deutschland Begabungsre- serven mobilisiert werden. Dazu zähle ich insbesondere die weiblichen For- scher, die offensichtlich immer noch an der freien Entfaltung ihrer Talente in der Forschung gehindert werden. Der Frau- enanteil von 14% bei den Professuren zeigt zwar ein relatives Wachstum, ist aber im internationalen Vergleich wei- terhin ein sehr schlechtes Ergebnis. Die Vereinbarkeit von Kindern und Karriere ist angesichts der wenig familienfreund- lichen Rahmenbedingungen noch nicht Möglichkeiten für Spitzenforscher? »Brain Drain«: Gibt es in Deutschland zu wenig Gibt es einen Exodus des deutschen Forschernachwuchses vor allem in die Vereinigten Staaten? Falls ja, welche Maßnahmen sollten dagegen ergriffen werden? Margret Wintermantel* * Prof. Dr. Margret Wintermantel ist Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz (HRK).

Transcript of »Brain Drain«: Gibt es in Deutschland zu wenig ... · Stiftungsprofessuren oder Finanzbeiträge...

61. Jahrgang – i fo Schne l ld ienst 4/2008

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Rahmenbedingungen für Forscher an den Hochschulen verbessern

Zweifellos braucht Deutschland mehr For-scherinnen und Forscher und möglichstdie besten ihrer Zunft – weltweit. Dies giltfür die deutschen Universitäten und Fach-hochschulen, für die ich hier spreche, aberauch für die Wirtschaft und die außeruni-versitäre Forschung.

Die EU-Kommission ging nach Verkün-dung der Lissabon-Strategie von einemzusätzlichen Bedarf von 700 000 Wis-senschaftlern in Europa bis zum Jahre2010 aus: eine eindrucksvoll große Zahl,die angesichts des angestrebtenWachstums der Forschungsausgabenauf 3% des BSP durchaus nicht abwe-gig ist. Die Bundesregierung legte in derMeseberger Regierungsklausur imSommer 2007 ihren Überlegungen zurArbeitsmarktsentwicklung einen Bedarfvon 90 000 zusätzlichen Forscherstel-len in Deutschland bis zum Ende diesesJahrzehnts zugrunde. In der Tat zeigendie Forschungsinvestitionen der deut-schen Wirtschaft für das Jahr 2006 wie-der nach oben, was den Forscherbe-darf in den Entwicklungslabors laut ak-tueller Prognose des Stifterverbands fürdie deutsche Wissenschaft wachsenlässt. Der von Bund und Ländern bis2010 finanzierte »Pakt für die For-schung« garantiert der außeruniversi-tären Forschung und der DeutschenForschungsgemeinschaft (DFG) einBudgetwachstum, was sich vermitteltauch auf den Wissenschaftlerbedarf inden Universitäten auswirkt. Einen be-sonderen Impuls hat die Exzellenzini-tiative von Bund und Ländern für diedeutschen Hochschulen gesetzt. In dengerade entstehenden Doktoranden-schulen und Exzellenzclustern der imWettbewerb erfolgreichen Universitätenwerden in den kommenden Jahrenmehrere tausend junge und erfahreneSpitzenkräfte benötigt.

Die neuen Möglichkeiten für Forscher inDeutschland werden auch im Auslandwahrgenommen. Davon konnte ich michselbst bei Gesprächen mit deutschen Top-Nachwuchswissenschaftlern, die zurzeitin den Vereinigten Staaten arbeiten, über-zeugen. Viele stehen einer Rückkehr andeutsche Universitäten wieder offen ge-genüber. Heißt das, dass Deutschland sei-nen Bedarf im weltweiten »Kampf um diebesten Köpfe« problemlos wird stillen kön-nen? Trotz unübersehbarer Fortschritte inden letzten Jahren sind hier Zweifel ange-bracht. Viele Rahmenbedingungen, diedie Wettbewerbsfähigkeit der deutschenHochschulen bestimmen, sind nicht so,dass wir die Besten gewinnen können.Insgesamt geht es hier um drei Zielset-zungen, die wir umsetzen, und verschie-dene Zielgruppen, denen wir uns widmenmüssen:

Spitzenkräfte halten undbrachliegende Reserven inDeutschland heben

Spitzenwissenschaftler müssen nichtnur nach Deutschland geholt werden,es geht auch darum, die, die hier sind,zu halten, wenn sie konkurrierende An-gebote bekommen. Dazu müssen nichtnur die finanziellen, sondern auch diefachlichen, familiären und andere Rah-menbedingungen stimmen. Außerdemmüssen in Deutschland Begabungsre-serven mobilisiert werden. Dazu zähleich insbesondere die weiblichen For-scher, die offensichtlich immer noch ander freien Entfaltung ihrer Talente in derForschung gehindert werden. Der Frau-enanteil von 14% bei den Professurenzeigt zwar ein relatives Wachstum, istaber im internationalen Vergleich wei-terhin ein sehr schlechtes Ergebnis. DieVereinbarkeit von Kindern und Karriereist angesichts der wenig familienfreund-lichen Rahmenbedingungen noch nicht

Möglichkeiten für Spitzenforscher?»Brain Drain«: Gibt es in Deutschland zu wenig

Gibt es einen Exodus des deutschen Forschernachwuchses vor allem in die Vereinigten Staaten?

Falls ja, welche Maßnahmen sollten dagegen ergriffen werden?

Margret Wintermantel*

* Prof. Dr. Margret Wintermantel ist Präsidentin derHochschulrektorenkonferenz (HRK).

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gegeben. Es bleibt zu hoffen, dass die von Bund und Län-dern beschlossenen Verbesserungen der Betreuungs-angebote für Kleinkinder, aber auch unterstützende Maß-nahmen der Hochschulen mittelfristig dieses Leistungs-potential für die Forschung aktivieren werden.

Zu dieser Reserve sind aber auch die in Deutschland aus-gebildeten ausländischen Hochschulabsolventen und Dok-toranden aus Nicht-EU-Ländern zu zählen, die bis vor kur-zem nur eingeschränkte Möglichkeiten hatten, sich für eineForschungskarriere in Deutschland zu entscheiden. Auchwenn sie über hervorragende Abschlüsse und gute Deutsch-kenntnisse verfügten, hatten sie lediglich einen nachrangi-gen Zugang zum Arbeitsmarkt. Hier bieten die MesebergerRegierungsbeschlüsse mit dem Wegfall der so genanntenVorrangprüfung für deutsche Arbeitnehmer neue Möglich-keiten, an Forschung interessierte ausländische Absolven-ten und Promovierte z.B. für die privatwirtschaftliche For-schung und Entwicklung zu gewinnen.

International mobilen deutschen Wissenschaftlern attraktive Rückkehrmöglichkeiten bieten

In der letzten Zeit wird in der Öffentlichkeit intensiv überden verstärkten Abfluss von Spitzenkräften aus Deutsch-land durch Auswanderung diskutiert. Ein akademischer»Brain Drain« in die USA wird als Menetekel an die Wandgeschrieben. Unser Datenmaterial ist hier jedoch nichtausreichend. Ohne Zweifel sind viele hervorragende deut-sche Nachwuchswissenschaftler in die USA gegangen,und das ist gut so: Wir wollen mobile Wissenschaftler,die Erfahrungen an den Spitzeneinrichtungen der Weltsammeln. Die Frage ist jedoch, ob wir ihnen attraktiveAngebote machen können, die sie zu einer Rückkehr indie deutsche Forschung bewegen. Hier hat der Dialog,den die deutschen Wissenschaftsorganisationen mit denNachwuchsforschern in den USA im Rahmen des »Ger-man Academic International Network« (GAIN) und mitder »German Scholars Organisation« (GSO) führen, Er-kenntnisse auf beiden Seiten gebracht. Wir musstenlernen, dass amerikanische Universitäten gerade jun-gen Talenten aus dem Ausland hervorragende Arbeits-möglichkeiten verschaffen, und uns viel Kritik an dendeutschen Verhältnissen anhören. In den letzten zweiJahren beginnt aber auch die deutsche wissenschaftli-che Community in den USA anzuerkennen, dass sich inDeutschland etwas bewegt. Die Profilbildungsprozes-se, die Exzellenzinitiative, die Professionalisierung desManagements an den Universitäten werden positiv re-gistriert, und auch das offensive Werben der deutschenUniversitäten wird begrüßt. Dabei sind auch die spezifi-schen Förderprogramme für Rückkehrer der Bundeslän-der wie z.B. Nordrhein-Westfalen oder von Förderern wieder Krupp-Stiftung hilfreich.

Ausländische Spitzenforscher gewinnen

Ein Land, das einen Spitzenplatz in der Weltforschung fürsich beansprucht und um seinen Rang als Exportweltmeis-ter kämpft, ist auf eine international orientierte Ausbildungseiner Akademiker angewiesen. Die besten Hochschulleh-rer und -forscher finden sich heute in aller Welt, in Asien wiein Nordamerika, und nicht nur in Deutschland und Europa.Die deutschen Universitäten müssen bereit sein, um dieseSpitzenkräfte aus Nicht-EU-Staaten zu werben und ihnenAngebote zu machen. Internationalität und Offenheit für al-le Kulturen war und ist ein Wesensmerkmal der europäi-schen Universität und eine Grundvoraussetzung, um hier er-folgreich zu sein. Zu Recht fordert der neue Präsident desDeutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), Prof.Dr. Stefan Hormuth, dass die Anzahl ausländischer Hoch-schullehrer an deutschen Hochschulen von derzeit 2000Personen verdoppelt werden sollte. Auch sprachlich müs-sen wir gegebenenfalls ausländischen Spitzenbewerbernentgegenkommen, indem wir ihnen in einer längeren Ein-gewöhnungsphase die Unterrichtssprache Englisch gestat-ten sollten, was für die deutschen Studierenden ebenfallsvon Nutzen sein wird. Dies bedeutet kein Aufgeben vonDeutsch als Wissenschaftssprache, an der wir natürlich fest-halten wollen und werden. Deshalb sind Vergleiche mit dengrößeren Ausländeranteilen unter den Forschern nicht-uni-versitärer Einrichtungen in Deutschland, die sich auf die La-borsprache Englisch geeinigt haben, wenig hilfreich für diedeutschen Hochschulen.

Die Betreuungsangebote für ausländische Wissenschaftlerund ihre Familien werden inzwischen verbessert. Die No-velle des Zuwanderungsgesetzes von 2007 hat noch beste-hende aufenthaltsrechtliche Hindernisse beseitigt. Ehepart-ner von Forschern aus Drittstaaten erhalten nun das unein-geschränkte Recht auf Berufstätigkeit. Zu begrüßen ist auch,dass die Humboldt-Stiftung mit Mitteln des BMBF einen neu-en hoch dotierten Forschungspreis für ausländische Spit-zenforscher ausgelobt hat, der ihnen fünf Jahre lang hervor-ragende Bedingungen an deutschen Hochschulen bietet.Diese »Alexander von Humboldt-Professur« deutet politischin die richtige Richtung und unterstreicht, dass besonderefinanzielle Anstrengungen möglich und nötig sind, damit Uni-versitäten konkurrenzfähig bleiben. Auch die deutsche Wirt-schaft kann hier in Kooperation mit den Hochschulen durchStiftungsprofessuren oder Finanzbeiträge anderer Art zurGewinnung von Spitzenkräften beitragen, von denen sieebenfalls profitieren wird.

Rahmenbedingungen für Forscher an den Hochschulen verbessern – ein Fazit

Die Alexander von Humboldt-Stiftung hat im Sommer 2007einen Zehn-Punkte-Plan unter dem Titel »Deutschland in der

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internationalen Konkurrenz für Spitzenwissenschaftler at-traktiv machen« vorgelegt. In ihm werden viele Maßnah-men benannt: mehr Stellen für Forscher, mehr Planungssi-cherheit einer Forscherkarriere (tenure track), verbunden miteiner frühen Selbständigkeit für talentierte Wissenschaftler,eine verstärkte Karriereberatung und -betreuung sowie ei-ne Professionalisierung der Rekrutierung werden verlangt.Hier haben sich die Hochschulen, die mehr Autonomie fürdie eigene Profilierung erhalten haben und über die not-wendigen Mittel verfügen, sich bereits auf den Weg gemacht.Viele andere Punkte, wie die Sicherung einer internationalkonkurrenzfähigen Vergütung, die Schaffung wissenschafts-spezifischer tariflicher Regelungen und die Portabilität vonSozialleistungen, wie z.B. der Altersvorsorge, zur Erleichte-rung von Mobilität, sind Aufgaben, die die Regierungen desBundes und der Länder sowie die Tarifpartner des öffentli-chen Dienstes noch zu lösen haben. Ein Wissenschaftsta-rifvertrag, der die Spezifika des Wissenschaftlerberufs be-rücksichtigt, gehört seit langem zu den unerfüllten Forde-rungen der deutschen Hochschulen. Fortschritte auf denhier genannten Gebieten – und auf vielen anderen Gebie-ten haben wir uns nach vorne bewegt – werden dazu bei-tragen, attraktive Arbeitsumgebungen zu schaffen.

Sehr genau werden wir aber auch die Entwicklung des »Eu-ropäischen Forschungsrates« (ERC) verfolgen müssen, derwichtigsten Neuerung des Forschungsrahmenprogrammsder Europäischen Union. Die Fördermöglichkeiten für Ein-zelwissenschaftler am Anfang oder auf der Höhe ihrer Kar-riere stehen Bewerbern aus der ganzen Welt offen, voraus-gesetzt, sie forschen an einer europäischen Einrichtung. Siekönnen diese jedoch bei Bedarf auch wechseln. Dieses eu-ropäische Förderprogramm für Spitzenwissenschaftler istalso de facto auch ein Indikator für die Attraktivität der For-schungsstandorte in Europa. Hier werden sich die deutschenUniversitäten ebenfalls bewähren müssen. In der ersten Aus-schreibung hätten sie noch erfolgreicher sein können. Dochgerade durch die Exzellenzinitiative waren viele Personen inden deutschen Universitäten gebunden. In den kommen-den Jahren wird jedoch der Erfolg bei der Gewinnung ERC-geförderter Wissenschaftler als wichtiger Beleg für die At-traktivität eines Wissenschaftsstandortes im europäischenForschungsraum dienen. Hier können und müssen unsereUniversitäten an der Spitze dabei sein.

Die Möglichkeiten für Spitzenforscher inDeutschland sind so gut wie lange nicht– und müssen doch noch deutlich bes-ser werden

»Gibt es in Deutschland zu wenig Möglichkeiten für Spit-zenforscher?« – Vor nicht allzu langer Zeit hätte sich die-se Frage aus guten Gründen mit »Ja« beantworten las-sen. Die katastrophale Unterfinanzierung von Hochschu-len, Wissenschaft und Forschung; das immer engere bü-rokratisch-administrative Gängelband des Staates von au-ßen, die immer verkrusteter wirkenden Strukturen von in-nen; eine Politik, die die Wissenschaft nicht wertschätzteund die das Wenige, was sie ihr gab, mit der Gießkanneverteilte; eine Wissenschaft schließlich, die selbst der Fik-tion der Gleichheit anhing und so unter ihren Möglichkei-ten blieb – all dies schränkte bis über die Jahrtausendwen-de die Entfaltungsmöglichkeiten für Spitzenforscherinnenund Spitzenforscher mitunter arg ein. Dieses oder jenesauf finanziellen Rosen gebettete Forschungsinstitut, die-ses oder jenes entschlackte Landeshochschulgesetz, die-se oder jene reformbereite Universitätsleitung und andereAusnahmen bestätigten nur die betrübliche Regel. Be-sonders schlecht bestellt war es um die Möglichkeiten fürdie Spitzenforscher von morgen, bei denen noch eine sys-temimmanente Unselbständigkeit und unsichere Berufs-und Karrieremöglichkeiten hinzukamen. Mancher Nach-wuchsforscher sah so den Weg außer Landes als den ein-zig gangbaren an. Diesen Weg sind in der weltumspannen-den Wissenschaft seit jeher viele gegangen, ist er dochoft Voraussetzung und Grundstein für den Aufstieg an dieSpitze. Doch anders als zuvor führte dieser Weg nun vie-le der Weggegangenen nicht wieder zurück. Und so wur-de der »Brain Drain« zu einem immer bedrohlicheren Schre-ckensszenario.

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Matthias Kleiner*

* Prof. Dr. Matthias Kleiner ist Präsident der Deutschen Forschungsgemein-schaft (DFG).

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Positiver Wandel …

Vieles hiervon hat sich in jüngster Zeit zum Positiven gewan-delt. Die Möglichkeiten für Spitzenforscherinnen und Spit-zenforscher in Deutschland sind heute besser als noch vorwenigen Jahren, ja, sie sind so gut wie lange nicht.

Der jüngste und stärkste Ausdruck dieser Entwicklung istdie Exzellenzinitiative, die Politik und Wissenschaft vor nun-mehr fast drei Jahren gemeinsam ergriffen, um die Forschungan den deutschen Universitäten aus dem teils tatsächlichen,teils vermeintlichen Mittelmaß zurück an die Weltspitze zubringen, und die nach zwei Wettbewerbsrunden im ver-gangenen Herbst ihren vorläufigen Abschluss gefunden hat.Die Exzellenzinitiative hat nicht nur für einen Kulturwandelgesorgt, indem sie Abschied nahm von der lähmenden Fik-tion der Gleichheit aller Hochschulen und stattdessen aufden Wettbewerb der Ungleichheit und auf die Identifizierungund Förderung der lange verpönten wissenschaftlichen Eli-te setzte; sie hat auch nicht nur das weit verbreitete Bildder Hochschulen korrigiert, indem sie gerade die vermeint-lich »im Kern verrottete« Institution als besonders innovativoffenbarte; und sie hat auch nicht nur eine beeindruckendeFülle exzellenter Ideen und Konzepte zutage gefördert, diedie deutsche Wissenschaft und über sie das ganze Landweit voranbringen wird. Die Exzellenzinitiative hat über alldies hinaus die Arbeits- und Entfaltungsmöglichkeiten fürSpitzenforscherinnen und Spitzenforscher in Deutschlandganz konkret verbessert. In den beiden Wettbewerbsrun-den wurden insgesamt 85 Projekte und Einrichtungen aus-gezeichnet: 39 Graduiertenschulen, in denen Spitzenfor-scher von heute die Spitzenforscher von morgen auf inter-nationalem Niveau ausbilden; 37 Exzellenzcluster, in denenneue Kooperationen zwischen universitärer und außeruni-versitärer Forschung und zwischen Wissenschaft und Wirt-schaft erprobt werden; schließlich neun universitäre Zukunfts-konzepte, mit denen Universitäten ihr Profil und ihre For-schungsarbeit als Ganzes auf eine neue Grundlage stellen.So ergeben sich an mehr als jeder dritten deutschen Uni-versität für hoch qualifizierte Wissenschaftler neue attrakti-ve Arbeitsmöglichkeiten. Noch konkreter, nämlich in Geldund Stellen ausgedrückt: Die Exzellenzinitiative bringt bis En-de 2011 insgesamt 1,9 Mrd. € zusätzlich an die deutschenUniversitäten – und sie schafft bis zu 5 000 Arbeitsplätzefür Wissenschaftler aller Fachrichtungen und Qualifizierungs-stufen.

Andere Initiativen und Institutionen sorgen für weitere zu-sätzliche Mittel und Stellen, so der Pakt für Forschung undInnovation sowie der Hochschulpakt 2020, die beide vonBund und Ländern geschlossen worden sind, oder der imvergangenen Jahr etablierte European Research Council.Hinzu kommt der anstehende Generationenwechsel an denHochschulen. Allein an einer Universität wie Jena sind, wiederen Rektor neulich vorrechnete, bis 2015 mehr als 120 Pro-

fessorenstellen neu zu besetzen. Zählt man alles zusammen,so entstehen an den Hochschulen und Forschungseinrich-tungen in Deutschland in den kommenden Jahren rund10 000 zusätzliche wissenschaftliche Arbeitsplätze.

Auch die rechtlichen und administrativen Rahmenbedingun-gen haben sich verbessert. Verglichen mit der Detailsteue-rung früherer Zeiten hat sich der Staat bereits weit aus denHochschulen und Wissenschaftseinrichtungen zurückge-zogen; Hochschulen in neuen Rechtsformen mit größererUnabhängigkeit, die Stärkung der Leitungsstrukturen undnicht zuletzt die Einführung von Globalhaushalten erlaubenes heute weit stärker, wissenschaftliches Profil zu entwi-ckeln und Spitzenforscherinnen und Spitzenforscher geziel-ter zu fördern.

Und nicht zuletzt haben auch die großen Forschungsförder-organisationen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaftdazu beigetragen, dass sich die Möglichkeiten für Spitzen-forscher in Deutschland verbessert haben: sei es mit neu-en flexiblen Förderprogrammen, die den Bedürfnissen derSpitzenforscher von heute ebenso zu entsprechen versu-chen wie denen der Spitzenforscher von morgen, sei esmit hoch dotierten Förderpreisen für Wissenschaftler, die ausdem Ausland nach Deutschland zurückkehren wollen, seies mit der Einrichtung von dual-career-Programmen oderBetreuungsmöglichkeiten, die das immer wichtiger werden-de private und familiäre Umfeld von Forscherinnen und For-schern einbeziehen.

Angesichts dieser Verbesserungen nimmt es nicht wunder,dass der »Brain Drain« an Schrecken verliert. Die Zahl derWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Deutschlandverlassen und im Ausland, bevorzugt in Nordamerika, for-schen, mag insgesamt nicht geringer geworden sein – dieZahl der Rückkehrwilligen aber, die immer schon höher warals vielfach angenommen, ist jedoch gestiegen. Immer mehrWissenschaftler und nach den Wissenschaftsorganisatio-nen auch die Wissenschaftspolitik sehen einen Forschungs-aufenthalt im Ausland inzwischen (wieder) als das an, waser im Grunde immer war: als ebenso unerlässlichen wie ge-winnbringenden Baustein zur wissenschaftlichen Karriere,der den Forschernachwuchs zu den attraktivsten For-schungsstätten und in Kontakt mit anderen Ländern, Men-schen und Kulturen bringt – am Ende vielfach aber auch wie-der zurück in die heimische Wissenschaftslandschaft undGesellschaft. Aus dem »Brain Drain« wird (wieder) eine »BrainCirculation«. Dies wird nirgendwo so deutlich wird wie aufden Jahrestreffen der deutschen Nachwuchsforscher in denUSA und Kanada. Überwog dort in der Vergangenheit dieSkepsis vor einer Rückkehr nach Deutschland, so zeigtesich beim jüngsten Treffen in San Francisco im Herbst 2007:Die Botschaft von den besseren Arbeits- und Entfaltungs-möglichkeiten für Spitzenforscherinnen und Spitzenforscher

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in Deutschland kommt an, die Bereitschaft zur Rückkehrwächst weiter.

… muss fortgesetzt werden

Doch so sehr sich die Möglichkeiten für Spitzenforscher in-zwischen auch verbessert haben – sie sind noch lange nichtso gut, dass diese Forscher und mit ihnen die Wissenschaftin Deutschland im immer schärferen weltweiten wissen-schaftlichen Wettbewerb auf Dauer ganz vorne mitmischenkönnen. Wissenschaft und Forschung, Wissenschaftspoli-tik und Forschungsförderung in Deutschland sind auf demrichtigen Weg – doch dürfen sie nicht auf halber Strecke ste-hen bleiben. Die erfolgreich begonnenen Initiativen müssenausgebaut, die mit erheblicher Kraftanstrengung eingelei-teten Bemühungen intensiviert werden.

Allen voran muss die Exzellenzinitiative fortgesetzt werden.Der Wettbewerb der Ungleichheit, der die vielen neuenArbeits- und Entfaltungsmöglichkeiten für Spitzenforsche-rinnen und Spitzenforscher erst geschaffen hat, muss dau-erhaft werden. Die bislang ausgezeichneten Universitätenmit ihren Spitzenforschern dürfen sich nicht auf ihrer Ex-zellenz ausruhen, sie müssen sich weiter beweisen. Um-gekehrt müssen auch die noch nicht zum Zuge gekomme-nen Universitäten mit ihren Forscherinnen und Forscherndie Chance erhalten, ihre schon jetzt oftmals sehr gutenIdeen und Projekte zu optimieren. So können an immerneuen Orten, nicht zuletzt in den neuen Bundesländern,neue attraktive Möglichkeiten für Spitzenforscherinnen undSpitzenforscher entstehen. Nimmt man die Äußerungender Politiker aus Bund und Ländern, so stehen die Chan-cen für eine Fortsetzung und Weiterentwicklung der Ex-zellenzinitiative gut. Sie müssen freilich rasch genutzt wer-den und sollten noch im Laufe dieses Jahres zu konkre-ten Vereinbarungen führen.

Eine Fortsetzung der Exzellenzinitiative würde nicht zuletztweitere Milliarden Euro in das deutsche Hochschulsystembringen. Auch sie würden jedoch nicht ausreichen, um dieForschungsarbeit der Hochschulen und ihrer Spitzenfor-scher auf eine international auch nur halbwegs wettbewerbs-fähige Grundlage zu stellen. Die Grundausstattung muss,vor allem angesichts der schlechten Betreuungsrelationen,um mindestens 20% aufgestockt werden, wenn die deut-schen Universitäten mit den besten europäischen Hoch-schulen wie etwa der ETH Zürich mithalten wollen, von denamerikanischen Spitzenuniversitäten, und zwar nicht nur denprivaten, sondern auch den staatlichen, nicht zu reden. Hiersind, erst recht nach der Föderalismusreform, in erster Li-nie die Bundesländer in der Pflicht.

So wie die finanzielle Ausstattung der Hochschulen insge-samt muss auch die Bezahlung der einzelnen Wissenschaft-

lerinnen und Wissenschaftler deutlich besser werden. Hierhat sich, entgegen allen anderen Verbesserungen, die Si-tuation sogar verschlechtert: Die neue W-Besoldung fürHochschullehrer sowie die Vergütungssysteme TVÖD undTVL für sonstiges wissenschaftliches Personal gehen nochhinter die alte C-Besoldung und BAT-Bezahlung zurück; siesind in erster Linie Absenkungstarife, von leistungsgerech-ter Bezahlung weit entfernt, und machen eine wissenschaft-liche Karriere an den deutschen Hochschulen aus finanziel-ler Sicht alles andere als attraktiv, nicht nur verglichen mitvielen ausländischen Hochschulen, sondern auch und erstrecht mit der globalisierten Wirtschaft. Besonders schlechtist es erneut um die Spitzenforscherinnen und Spitzenfor-scher von morgen bestellt. Nachwuchsforscher müssen oh-nehin eine enorme Portion Idealismus aufbringen. Wennsie sich dann aber auch noch bei enormen Erfolgsdruck,einer Arbeitswoche von 60 Stunden und mehr und dennochoft brillanten Leistungen mit 3 000 € brutto im Monat zufrie-den geben müssen, ist dies ein Armutszeugnis für einesder wirtschaftsstärksten Länder der Welt. Auch andere fi-nanzielle Hemmnisse müssen beseitigt werden, so etwa derso genannte Vergaberahmen für Zulagen bei der Hochschul-lehrerbesoldung oder das Besserstellungsverbot im öffent-lichen Dienst, die beide dem Wesen der Wissenschaft wieder Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Wissenschaft-lerinnen und Wissenschaftler zutiefst zuwiderlaufen.

Weit mehr getan werden muss schließlich für die Wissen-schaftlerinnen in Deutschland, und hier wiederum vor al-lem für die Spitzenforscherinnen von morgen. Ihre Karrie-rewege sind in der Regel steiniger als die ihrer männlichenKollegen – und sie enden oftmals auch früher, nicht zuletztwegen des Spagats zwischen Beruf und Familie. So sinktder Anteil der Frauen über die akademischen Karrierepha-sen hinweg immer noch kontinuierlich, bis er bei den Pro-fessuren nur noch bei 15% liegt – und damit unter der Hälf-te des internationalen Durchschnitts. Die fehlende Gleich-stellung von Frauen und Männern in der Wissenschaft istnicht nur zutiefst ungerecht. Sie ist auch ein enormer Ver-lust für die Wissenschaft, eine Verschwendung intellektu-eller Ressourcen, die sich ein Land wie dieses nicht leistenkann und darf. Hier sind in erster Linie die Wissenschaftselbst und ihre Institutionen und Organisationen in der Ver-antwortung. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft stelltsich dieser Verantwortung, indem sie gemeinsam mit ihrenMitgliedern, den Hochschulen, Standards zur wissen-schaftsadäquaten Förderung von Frauen entwickeln undverbindlich machen will.

Bei allen Bemühungen um weitere Verbesserungen für Spit-zenforscherinnen und Spitzenforscher in Deutschland dür-fen Politik und Wissenschaft freilich den Blick hinaus in dieWelt nicht vernachlässigen. Im Gegenteil: Es muss nochmehr getan werden, um mehr ausländische Wissenschaft-lerinnen und Wissenschaftler nach Deutschland zu holen.

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Dafür wiederum muss das in jüngster Zeit Erreichte inter-national noch deutlicher sichtbar gemacht werden – und dieAnstrengungen, noch mehr zu erreichen, müssen intensi-viert werden.

Sollten die hier nur überblicksartig genannten Mängel nichtangegangen und beseitigt werden, sollten die dazu notwen-digen Initiativen nicht ergriffen werden oder sollten sie schei-tern, so blieben nicht nur die bereits etablierten Spitzenfor-scherinnen und Spitzenforscher in Deutschland gleichsamauf halbem Wege zurück an die internationale Spitze ste-cken. Es kämen auch und vor allem keine Spitzenforsche-rinnen und Spitzenforscher mehr nach. Schon jetzt lassensich in manchen Fächern nicht mehr genügend qualifizier-te Schulabgänger finden und für ein Studium oder gar eineKarriere in der Wissenschaft begeistern, schon jetzt ist inmanchen Branchen der Fachkräftemangel deutlich spürbar.Er könnte sich rasch verschärfen und für die Wissenschaftund damit auch für Wirtschaft und Gesellschaft zu einer enor-men Bedrohung werden. Wenn auch nicht zur einzigen:Die Wissenschaft in Deutschland mit ihren Spitzenforsche-rinnen und Spitzenforschern ist in den vergangenen Jahreninternational sichtbarer geworden. Vor allem seit der Exzel-lenzinitiative stehen die Headhunter auch vor den deutschenHochschultoren bereit, die Besten mit noch besseren Ar-beitsbedingungen und Entfaltungsmöglichkeiten zu locken.Und so könnte am Ende der »Brain Drain« abermals zu ei-nem Schreckensgespenst werden. Es liegt in der Hand vonPolitik und Wissenschaft, dieses zu verhindern und Spitzen-forscherinnen und Spitzenforschern in Deutschland alle Mög-lichkeiten zu geben, die sie brauchen und verdienen und mitdenen sie die Wissenschaft und das ganze Land weitervoranbringen können.

Wie dramatisch ist der »Brain Drain« wirklich?

»Die Besten wandern aus«, die »klügsten Köpfe bleibendrüben«, die Überschriften zum Thema Abwanderung vonHochqualifizierten in den großen Publikumsmedien klin-gen dramatisch. Sie suggerieren, dass hierzulande nurnoch die zweite Garde forscht und lehrt, während dieCreme de la Creme in die USA und in andere Länder ab-wandert und dort für immer bleiben wird. Das ist gleichdoppelt falsch. Zum einen arbeiten auch an deutschenUniversitäten und Forschungseinrichtungen internationalhoch angesehene Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler, zum andern fehlen zuverlässige Zahlen zum»Brain Drain«, es gibt nur Stichproben, Berichte über Ein-zelschicksale und Meinungen. Wir wissen nicht, wie vieltausend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufDauer ins Ausland gehen, und wir wissen nicht, wie vie-le Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler insgesamtaus dem Ausland nach Deutschland (zurück)kommen.Sicher aber ist: Die große Mehrzahl der im Ausland ar-beitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlerkommt nach einigen Jahren gern wieder zurück nachDeutschland.

Die Furcht vor einem »Brain Drain« ist dennoch berechtigt:Deutschland tut tatsächlich nicht genug dafür, um dem wis-senschaftlichen Nachwuchs verlässliche Perspektiven für ei-ne Karriere in der Wissenschaft zu öffnen. Auch gelingt esuns noch nicht im ausreichenden Maß, ausländische Wis-senschaftlerinnen und Wissenschaftler fest einzustellen.Denn immerhin bleiben auch Wissenschaftlerinnen und Wis-senschaftler auf Dauer im Ausland, und diese Lücke wirderst zögerlich durch Einwanderung hoch qualifizierter For-scher gefüllt.

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Jürgen Mlynek*

* Prof. Dr. Jürgen Mlynek ist Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft.

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Fakten

Austausch ist erwünscht

Die erste Feststellung: Wenn Nachwuchswissenschaftle-rinnen und -wissenschaftler nach ihrer Promotion für meh-rere Jahre ins Ausland gehen, um dort an Forschungsein-richtungen oder Universitäten zu arbeiten, dann ist dies na-türlich vor allem ein gutes Zeichen: a) für die Qualität der wis-senschaftlichen Ausbildung in Deutschland, denn deutscheAbsolventen sind international gefragt und b) für die Mobi-lität und Weltoffenheit unserer jungen Menschen. Gerade inder öffentlich finanzierten Forschung, die ja keine wirtschaft-lichen Verwertungsinteressen hat, ist Austausch ein wesent-licher Motor für den Wissenszuwachs.

Was wir wissen: DIW-SOEP-Stichprobe und die Teichler-Studie

Die zweite Feststellung lautet: Die wenigen Studien zum The-ma Abwanderung zeichnen ein differenziertes Bild. So ha-ben 2006 zwar 155 000 Deutsche ihr Land verlassen, aller-dings kehrten auch 103 000 Menschen wieder zurück. Ineiner ausführlichen Befragung durch das Deutsche Institutfür Wirtschaftsforschung (DIW Wochenbericht Nr. 5/2008)von 2000 Personen aus allen Schichten der Gesellschaft (Sozio-oekonomisches Panel SOEP) hatten knapp 2%(1,75% oder 35 Personen) die Absicht, im nächsten JahrDeutschland zu verlassen, darunter vor allem Selbständige.

Gerade bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ge-hören Auslandsaufenthalte unbedingt dazu. Im Vergleich mitden USA haben Nachwuchswissenschaftler an deutschenUniversitäten und Forschungseinrichtungen auch nichtdurchweg schlechtere Bedingungen. Dies zeigte eine Stu-die im Auftrag des German Academic International Net-work (GAIN), die ein Team um den Hochschulforscher Ul-rich Teichler an der Universität Kassel durchgeführt hat(www.gain-network.org). In beiden Ländern sind die Men-schen bei der Promotion rund 33 Jahre alt, die erste Pro-fessur wird mit 41 Jahren angetreten, wobei Hochschulleh-rer in den USA im Schnitt rund 85 000 US-$ verdienen, inDeutschland dagegen um die 80 000 €. In Deutschland, soTeichler weiter, sei rund die Hälfte der Doktoranden bei ih-rer Universität angestellt, während in den USA solche Dok-torandenstellen deutlich seltener seien, ein Teil der Dokto-randen zahle sogar Studiengebühren. Außerdem gebe esnach der Promotion in Deutschland auf allen Stufen derHochschulkarriere mehr unbefristete Stellen mit etwas hö-herer Bezahlung als in den USA.

Diese Studie wird allerdings heftig kritisiert, weil sie vonDurchschnittswerten ausgeht. Und während in Deutschlanddie Bedingungen fast überall ähnlich aussehen, gibt es in

den USA enorme Unterschiede zwischen den Hochschu-len, so dass Durchschnittswerte wenig Aussagekraft haben.Die besten deutschen Absolventen gehen vorzugsweisean die Spitzenhochschulen in den USA, die über ganz an-dere finanzielle Mittel verfügen. Wenn wir über einen »BrainDrain« reden, dann sprechen wir also vor allem über die Spit-ze, über die Menschen, deren Leistungsfähigkeit sehr deut-lich über dem Durchschnitt liegt.

ABER: Problem liegt bei den Spitzenkräften

Denn Spitzenkräften bietet die USA tatsächlich bessere Be-dingungen: Nicht nur eine wesentlich bessere Bezahlung,sondern auch oft mehr Freiheit, und zwar schon zu einemwesentlich früheren Zeitpunkt ihrer Karriere. Dies stellen wirauch immer wieder bei Gesprächen mit Wissenschaftlerin-nen und Wissenschaftlern fest, die in den USA dauerhaftePositionen eingenommen haben. Der Tenor lautet: Nirgend-wo anders wäre es möglich gewesen, schon gleich nachder Promotion die volle Verantwortung für eine Arbeitsgrup-pe, ein Budget zu übernehmen und wirklich die eigenen For-schungsideen zu verfolgen. An den hervorragenden Hoch-schulen der USA sind die Arbeitsbedingungen außerordent-lich gut, der Kontakt mit weltberühmten Kolleginnen undKollegen sorgt für ständige Inspiration, und statt Massen-lehrveranstaltungen findet die Lehre in einem persönlichenRahmen statt, der wesentlich effizienteres Lernen fördert.Diese Punkte sollten wir ernst nehmen.

Analyse der Barrieren

Habilitation

Eine wichtige Hürde ist die Habilitation, an der in Deutsch-land noch immer festgehalten wird. Viele Nachwuchswis-senschaftler verbringen ihre wissenschaftlich produktivstenLebensjahre nicht damit, ihre eigene Forschungsgruppe auf-zubauen, sondern arbeiten unter einem bereits etabliertenWissenschaftler an einer weiteren Qualifikationsarbeit, derHabilitation. Dies wird in allen angelsächsischen Ländern alsüberflüssig betrachtet, da auch das Publizieren der wis-senschaftlichen Ergebnisse in angesehenen Zeitschriften dieQualität der Forschung ausreichend belegt. Wenn nach derHabilitation eine Berufung ausbleibt, haben diese hoch qua-lifizierten und spezialisierten Wissenschaftler und Wissen-schaftlerinnen große Schwierigkeiten, sich auf dem Arbeits-markt zu behaupten. Die Habilitation ist eine Hürde, die nichtmehr zeitgemäß ist und die viele begabte Menschen, undinsbesondere Frauen, abschreckt.

TVÖD ist zu starr und zu begrenzt

Um Spitzenkräfte aus dem In- und Ausland zu gewinnen,müssen wir sie auch angemessen bezahlen können. Dabei

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handelt es sich um Menschen, die international gefragt sindund viele Optionen haben. Dies gelingt allerdings keines-wegs im Rahmen des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst(TVöD): Der TvÖD geht mit seinen starren Rahmenbedin-gungen nicht auf die Besonderheiten des Wissenschaftsbe-triebs ein und bestraft insbesondere die Mobilität, rechnetalso Zeiten in anderen Einrichtungen, in der freien Wirtschaftoder im Ausland nicht als Erfahrungszeiten an. Das ist ab-surd, da solche Zeiten eine klare Zusatzqualifikation be-deuten.

Dies gilt in gleicher Weise für wissenschaftliches wie nicht-wissenschaftliches Personal. Auch im administrativen Be-reich sind im Wissenschaftsbetrieb die Anforderungen be-sonders hoch: In der Helmholtz-Gemeinschaft geht es bei-spielsweise um den Aufbau und die Koordination großer For-schungsprojekte und Infrastrukturen mit tausenden von Mit-arbeitern und mit Budgets von mehreren hundert MillionenEuro. Im Verhältnis zu den geforderten Leistungen und zumhohen persönlichen Einsatz werden Mitarbeiterinnen undMitarbeiter in der öffentlich finanzierten Forschung nicht an-gemessen bezahlt.

Wir brauchen daher ein wissenschaftsspezifisches Vergü-tungssystem, das Spielräume nach oben hin zulässt unddas Mut zum Seitenwechsel honoriert, zum Beispiel zwi-schen Tätigkeiten in der freien Wirtschaft und der öffentlichfinanzierten Forschung.

Schließlich sollten wir auch besondere Leistungen hono-rieren können. Wissenschaftler passen nicht in ein ähnlichstrenges Laufbahn-Korsett wie Angestellte einer Behörde:Während sich Dienstaufgaben in einer klassischen Behör-de dauerhaft definieren lassen, schafft der Wissenschaftlermit jedem neuen Projekt, das er aus seinem Ideenreich-tum heraus definiert, eine neue, so noch nie da geweseneAufgabe.

Insbesondere für Leitungsfunktionen im Forschungsmana-gement kommen nur erfahrene Forschungsmanager in Fra-ge, die in der Industrie ein Vielfaches verdienen könnten. DieHelmholtz-Zentren haben meist mehrere tausend Mitarbei-ter und wirtschaften mit Budgets bis zu mehreren hundertMillionen Euro. Dies erfordert Managementfähigkeiten in Ver-bindung mit wissenschaftlichem Einblick, über die nur we-nige Kandidaten weltweit verfügen. Um die besten Köpfe fürdie Helmholtz-Gemeinschaft und den ForschungsstandortDeutschland zu gewinnen, müssen Vorstandsvergütungenauch im internationalen Vergleich attraktiv sein.

Arbeitsrecht

Das deutsche Arbeitsrecht ist streng und erzielt teilweise dasGegenteil dessen, was beabsichtigt wird. Zum Beispiel wirdin Deutschland der Kündigungsschutz von Arbeitsgerichten

sehr streng ausgelegt, so dass es für den Arbeitgeber äu-ßerst schwierig ist, einen unbefristeten Arbeitsvertrag zu kün-digen. Aus diesem Grund werden viele geeignete Nach-wuchswissenschaftler gar nicht oder nur befristet eingestellt.Denn zu viele unbefristete Anstellungen nehmen dem For-schungszentrum die Möglichkeit, bei Bedarf neue Projektezu beginnen und andere zu beenden.

Deswegen wurden vor einigen Jahren weitere Regelungeneingeführt, die befristete Anstellungen im öffentlichen Dienstauf zwölf Jahre begrenzen. Auch diese Regelung hatte wi-dersinnige Wirkung: So mussten wertvolle Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter entlassen werden, allein aus dem Grund,weil keine einzige feste Stelle frei war, sie aber auch nichtweiter befristet arbeiten durften. Die Gesetzgebung hierzuhat sich glücklicherweise nun geändert. Die Helmholtz-Ge-meinschaft begrüßt deshalb ausdrücklich die Gesetzesini-tiative des BMBF zur Änderung arbeitsrechtlicher Vorschrif-ten in der Wissenschaft.

Gleichstellung

Wenn wir über den »Brain Drain« sprechen, sollten wir aucherwähnen, dass in Deutschland noch immer viele gut aus-gebildete Frauen für die Wissenschaft »verloren« gehen. DerAnteil von Frauen in wissenschaftlichen Führungspositionenan Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrich-tungen wächst nur sehr langsam. Die Daten des Statisti-schen Bundesamtes zeigen, dass von den knapp38 000 Professuren in Deutschland 2007 nur 14,9% mitFrauen besetzt gewesen sind. Das entspricht gegenüberdem Vorjahr einer Steigerung von gut einem halbem Pro-zentpunkt. In dieser Größenordnung liegen an deutschenHochschulen die Zuwächse seit Mitte der neunziger Jahre,damals lag der Frauenanteil bei 8,5%. In diesem Tempo wirdes länger als ein halbes Jahrhundert dauern, bis beide Ge-schlechter in den Spitzenpositionen an den Hochschulenausgewogen repräsentiert sind. Im europäischen Vergleichnimmt Deutschland vor den Niederlanden den vorletztenPlatz ein.

An außeruniversitären Forschungseinrichtungen sieht die Si-tuation noch schlechter aus. Frauen in Führungspositionensind selten. 2004 lag der Anteil leitender Wissenschaftlerin-nen in der MPG bei 10,6%, in der Helmholtz-Gemeinschaftbei 6,5% und bei der Fraunhofer-Gesellschaft bei 2,7%. Da-bei ist der Anteil von Frauen am gesamten wissenschaftli-chen Qualifikationsverlauf in Deutschland mittlerweile rechthoch. Damit ist die Annahme, dass es nach wie vor nichtgenügend qualifizierte Wissenschaftlerinnen gäbe und derAnteil von Frauen im Wissenschaftssystem auf fehlendesPotential zurückgeführt werden könnte, nicht mehr haltbar.In allen Fächergruppen, ausgenommen die Ingenieurwis-senschaften, ist inzwischen ein Pool an potentiellen Wissen-schaftlerinnen entstanden, der jedoch nicht genutzt wurde.

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Heute liegt der Anteil von Studienanfängerinnen bei rund50%. Der Frauenanteil bei Studienabschlüssen, Promotio-nen und Habilitationen hat sich im Zeitraum von 1992 bis2004 um rund 10 Prozentpunkte erhöht. Diesen Frauen denAufstieg zu ermöglichen, ist nicht nur eine Frage der Gerech-tigkeit und der ökonomischen Notwendigkeit, sondern auchein klares Bekenntnis zur Qualität.

Fazit: Wege, Barrieren abzubauen

Die Handlungsoptionen sind klar: Wir müssen mehr Frau-en für eine Karriere in der Wissenschaft gewinnen. Wir müs-sen insgesamt mehr Jugendliche in naturwissenschaftlich-technischen Fächern ausbilden und durch gute Lehre auchdafür sorgen, dass nicht mehr jeder Dritte das Studiumabbricht. Und wir müssen den promovierten Nachwuchs-wissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern verlässlichePerspektiven aufzeigen, damit sie eine Karriere in der Wis-senschaft wagen. Dafür sollten wir das Habilitationsver-fahren abschaffen und stattdessen mehr Juniorprofessu-ren schaffen. Solange es beide Möglichkeiten gibt, ma-chen auch viele Juniorprofessoren zusätzlich eine Habili-tation. Die Juniorprofessuren sollten wir ausbauen, weil sie– ähnlich wie ein Assistant Professor in den USA – schonfrüh das selbständige Forschen und Leiten einer Arbeits-gruppe ermöglichen.

Die Helmholtz-Gemeinschaft ist bereits sehr aktiv bei derFörderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. So för-dern wir jetzt 81 Helmholtz-Nachwuchsgruppen, deren Lei-terinnen und Leiter schon kurz nach ihrer Promotion fünfJahre lang eine eigene Arbeitsgruppe aufbauen können. DasBesondere: Bei positiver Evaluation nach drei Jahren kön-nen diese Stellen entfristet werden. Viele Nachwuchsgrup-penleiter sind aus renommierten Universitäten und For-schungseinrichtungen aus dem Ausland gekommen. Die-se Stellen sind sehr attraktiv: Die Nachwuchsgruppenleiterkönnen bis zu vier Mitarbeiter einstellen und ihre Forschungs-ziele selbst bestimmen. In Kooperation mit anliegendenHochschulen qualifizieren sich die Nachwuchsgruppenlei-ter auch für eine Professur.

Fazit

Der TVÖD muss durch einen Wissenschaftstarifvertrag er-setzt werden, der sowohl Mobilität als auch Erfahrungen inanderen Einrichtungen honoriert und es erlaubt, individuel-le Leistungen stärker zu würdigen. Insbesondere brauchenWissenschaftseinrichtungen die Möglichkeit, sich auch imEinvernehmen von Mitarbeitern zu trennen, damit sie hand-lungsfähig bleiben. Mit einem Wissenschaftsfreiheitsgesetz,wie es zurzeit im BMBF in Vorbereitung ist, werden diesePunkte aufgenommen. Insbesondere aber müssen wir aucheinen »Brain Gain« ermöglichen: Zum Beispiel ist es schwie-

rig, hervorragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-ler aus dem Ausland zu gewinnen, solange wir ihnen wederdauerhaften Aufenthalt noch Arbeitsrecht für ihre Partner zu-sichern können. Selbst an Dual-Career-Optionen und tat-kräftige Unterstützung bei der Wohnungssuche und derSchulsuche für die Kinder müssen wir denken. Dann kön-nen wir anstelle eines »Brain Drain« von einer »Brain Circu-lation« sprechen, die eine große Bereicherung für die Wis-sensgesellschaft Deutschland sein wird.

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Ausmaß und mögliche Ursachen der Abwanderungspläne Hochqualifizierter

In den vergangenen Jahren hat sich in Deutschland einerege Debatte über die Abwanderung Deutscher ins Auslandentwickelt. Es wird befürchtet, dass immer mehr hoch qua-lifizierte Personen auf der Suche nach höherer Bezahlung,besseren Arbeitsbedingungen und AufstiegschancenDeutschland verlassen. Trotz dieses breiten Interesses ist je-doch die Frage, ob die Abwanderung deutscher Hochqua-lifizierter in den vergangenen Jahren zugenommen hat, wei-terhin ungeklärt. Es fehlt bisher eine ausreichende Daten-grundlage.

Die Abwanderungszahlen, die immer wieder in den Medienaufgegriffen werden, sind der deutschen Wanderungssta-tistik entnommen. Sie zeigen, dass die Dynamik der Wan-derungen in den vergangenen 30 Jahren stark zugenom-men hat. Wanderten Mitte der 1970er Jahre im Durchschnittrund 50 000 Deutsche pro Jahr aus, hat sich diese Zahl bisin die vergangenen Jahre auf fast das Dreifache erhöht: Sowurden im Jahr 2006 ca. 155 000 Fortzüge deutscherStaatsbürger registriert (für einen Überblick siehe bei Sauerund Ette 2007). Die Wanderungsstatistik basiert auf den An-und Abmeldungen bei den kommunalen Meldeämtern. Dochnicht jeder, der ins Ausland abwandert, meldet sich auch ab.Demzufolge können zu diesen Personen keine statistischenAussagen getroffen werden. Bei denjenigen, die sich abmel-den, werden zwar bestimmte sozio-demographische Merk-male (Geschlecht, Alter, Familienstand, Herkunftsregion inDeutschland und Zielland) erfasst, doch Aussagen zur Qua-lifikation und Erwerbstätigkeit sowie zu den Motiven der Aus-wanderung können nicht abgeleitet werden. Datengrund-lagen, die einen umfassenden Überblick über das deut-sche Auswanderungsgeschehen liefern und insbesondere

die Emigration von Hochqualifizierten erfassen, gibt es dem-nach nicht. Es besteht aber die Möglichkeit, sich diesemThema auf Umwegen zu nähern. Der folgende Beitrag zeigtdaher auf, was bisher überhaupt an Daten und Informatio-nen über das Ausmaß der Emigration gut ausgebildeter Per-sonen vorliegt.

Bestandszahlen in den Zielländern deutscher Auswanderer

In den Zielländern deutscher Auswanderer können über Aus-wertungen der dortigen Zensen und Haushaltsbefragun-gen Informationen über die im Land lebenden Ausländer ge-wonnen werden. So hat z.B. die OECD für ihre Mitgliedstaa-ten Angaben zur Auslandsbevölkerung in anderen OECD-Staaten erhoben. Diese Daten beruhen auf Volkszählungen,die um das Jahr 2000 herum im OECD-Raum durchgeführtwurden (vgl. Dumont und Lemaître 2005). Die auf diese Wei-se bestimmten Migrantenpopulationen wurden über alleOECD-Staaten aggregiert, um auf diese Weise die Anzahlder Auswanderer eines bestimmten OECD-Landes in dieübrigen OECD-Mitgliedstaaten zu berechnen. Danach leb-ten zum Erhebungszeitraum mehr als 3,1 Millionen über15-jährige Personen, die in Deutschland geboren wurden,in einem anderen OECD-Land. Etwa 28% dieser Personenwerden dabei als hoch qualifiziert (d.h. mit einem weiter-führenden Abschluss) identifiziert. Im Vergleich dazu wei-sen nur 20% der deutschen Wohnbevölkerung dieses Bil-dungsniveau auf. Allerdings sind diese Angaben mit Vorsichtzu interpretieren. Neben uneinheitlichen Definitionen (z.B.wer ist Migrant?) kann diesen Angaben nicht entnommenwerden, ob ein lang- oder kurzfristiger Auslandsaufenthaltvorliegt. Zeitvergleiche sind nicht möglich, da nur Informa-tionen für das Jahr 2000 vorliegen.

Informationen zum Bildungsstand der im EU-Ausland le-benden Deutschen im Zeitverlauf können auch aus der Ana-lyse des European Labour Force Survey (ELFS) gewonnenwerden. Der ELFS ist eine in der EU und der EFTA regel-mäßig durchgeführte Stichprobenbefragung von Privathaus-halten, in der die zentralen demographischen, sozialen undwirtschaftlichen Merkmale für Erwerbstätige, Arbeitsloseund Nicht-Erwerbspersonen abgefragt werden. Mytzek undBrzinsky (2004) konnten in ihren Untersuchungen des ELFSnachweisen, dass die Mobilitätsrate von Deutschen zwi-schen 1992 und 2000 von 0,35 auf 0,58% gestiegen ist,d.h. im Jahr 1992 lebten von 1 000 Deutschen 3,5 im EU-Ausland, während es im Jahr 2000 bereits 5,8 waren. ImVergleich der EU-14-Staaten ist die Mobilität deutscherStaatsbürger damit deutlich geringer: So lebten im Jahr2000 1,75 von 100 EU-Bürgern nicht in ihrem Heimatland,sondern im EU-Ausland. Werden diese Ergebnisse nachdem Bildungsniveau differenziert, zeigt sich, dass Deutschemit mittlerer Bildung in allen beobachteten Jahren die ver-

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Leonore Sauer*

* Dr. Lenore Sauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesinstitut fürBevölkerungsforschung, Wiesbaden.

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gleichsweise geringsten, wenn auch steigende Mobilitäts-raten aufweisen. 1992 lebten von 1 000 Deutschen 1,3 mitmittlerer Bildung im EU-Ausland, im Jahr 2000 waren es4,1. Für Personen mit niedriger und hoher Bildung liegendie Werte dagegen deutlich über dem Durchschnitt allermobilen Deutschen. Allerdings ist bei niedrigem Bildungs-niveau eine deutliche Abnahme der Mobilität im Jahr 2000zu beobachten, während bei höherem Bildungsniveau einstetiger Anstieg der Mobilitätsrate zu erkennen ist. Lebten1992 erst 2,6 von 1 000 Deutschen mit höherem Bildungs-niveau im EU-Ausland, waren es im Jahr 2000 bereits 1,02von 100 Deutschen.

Befragungen von Subpopulationen

Neben Bestandsdaten in den Zielländern können zur Ana-lyse der Auswanderung Hochqualifizierter auch Befragun-gen verschiedener Untergruppen herangezogen werden.Diese ergeben ein widersprüchliches Bild. So zeigen Befra-gungen promovierter deutscher Wissenschaftler, dass essich bei der Abwanderung von Promovierten zumeist umzwischenzeitliche Auslandstätigkeiten und seltener um ei-nen langfristigen Verbleib im Ausland handelt. Der überwie-gende Teil der Promovierten kehrt nach Deutschland zurück.Befürchtungen eines zunehmenden »Brain Drain« durch Ab-wanderung konnten durch diese Studie nicht bestätigt wer-den, denn der Anteil der international mobilen Promovier-ten hat sich (im Kohortenvergleich) nicht oder kaum erhöht(vgl. Enders und Bornmann 2002, 70).

Auch die Daten der Förderinstitutionen über geförderte Wis-senschaftler deuten eher in die Richtung, dass deren Aus-landsaufenthalte zeitlich befristet sind: Etwa vier Fünftel derWissenschaftler halten sich nicht länger als ein Jahr im Aus-land auf, ein Drittel sogar nur bis zu drei Monaten. Die durch-schnittlich längsten Auslandsaufenthalte absolvieren Post-Docs, von denen gut ein Viertel länger als ein Jahr im Aus-land bleibt (vgl. Deutscher Akademischer Austausch Dienst2006). Nicht alle längeren Studien- oder Forschungsauf-enthalte erfolgen über ein deutsches Stipendium. Die Ge-samtzahl deutscher Wissenschaftler im Ausland wird ausdiesen Gründen von den Förderstatistiken der Stipendien-institutionen unterschätzt. Die Obergrenze deutscher Wis-senschaftler in den USA – berechnet mit Hilfe des CurrentPopulation Survey – lag zwischen 15 000 und 20 000. Jekürzer die Zuwanderung in die USA zurücklag, desto höherwar dabei das formale Bildungsniveau. Von der jüngsten Zu-wanderungskohorte, die zwischen 1990 und 1998 in dieUSA migrierte, besaß annähernd jeder zweite einen Ba-chelor's Degree oder höheren Studienabschluss (vgl. Buechtemann 2001, 40). Bei dieser Studie zeigt sich einegeringe Rückkehrbereitschaft der Befragten: So beträgt die-ser Anteil der Personen, die nicht nach Deutschland zurück-kehren wollen, rund 60% und weist seit 1980 einen starken

Zuwachs auf (von 40% 1980 auf rund 66% 1998) (vgl. Buechtemann 2001, 44).

Eine weitere Studie, die sich ebenfalls mit der internatio-nalen Mobilität deutscher Wissenschaftler auseinanderge-setzt hat, basiert auf einer schriftlichen Befragung von ehe-maligen Stipendiaten der DFG, welche während der För-derjahre 1986/87, 1991/92 oder 1996/97 am Postdokto-randen-, Habilitanden-Programm oder dem Forschungs-stipendium teilgenommen haben (vgl. Enders und Muga-bushaka 2004). Danach lebten 72% der Befragten wäh-rend der Zeit ihrer DFG-Förderung im Ausland. Dabei dau-erte der erste Auslandsaufenthalt im Durchschnitt 16,4 Mo-nate für Postdoktoranden, 16,5 für Forschungsstipendia-ten und 10,3 Monate für Habilitanden (vgl. Enders und Mu-gabushaka 2004, 41). Hinsichtlich der Frage, welche Mo-tive für den Auslandsaufenthalt wichtig waren, spielt dasRenommee der ausländischen Institution für über 80% ei-ne wichtige Rolle. Weitere wichtige Motive waren die Mög-lichkeit, mit anderen Wissenschaftlern in Kontakt zu tre-ten (81,7%), und die Absicht, die Arbeitsmarktchancen inDeutschland durch einen Auslandsaufenthalt zu verbes-sern (72,9%). Für 67% der Befragten war der Auslands-aufenthalt auch durch die Fachgepflogenheit motiviert (»weiles eben dazu gehört, in dem Fach im Ausland gearbeitetzu haben«). Abschließend wurde auch der Verbleib der ehe-maligen Stipendiaten im Ausland untersucht. Dabei stell-te die Studie fest, dass insgesamt 15% der Gefördertennoch zum Befragungszeitpunkt im Ausland lebten (vgl.Enders und Mugabushaka 2004, 43).

Befragungen zu Wanderungsabsichten

Weitere Anhaltspunkte können Befragungen zu den Wan-derungsabsichten liefern. Zur Ermittlung zukünftiger Abwan-derungstendenzen deutscher Staatsangehöriger stehen da-bei das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), aber auch eu-ropaweite Befragungen wie z.B. verschiedene Eurobarome-ter zur Verfügung. Aus diesen können nicht nur Informatio-nen über Wanderungsabsichten, sondern auch Informatio-nen über die soziodemographischen Merkmale der poten-tiellen Emigranten gewonnen werden. Eine aktuelle Befra-gung von Deutschen mit zwei Sondererhebungen des SO-EP im Jahr 2007 zeigt, dass sich fast jeder Vierte vorstellenkann, einmal für eine längere Zeit oder sogar für immer imAusland zu leben. Zwischen allgemein formulierten Auswan-derungswünschen und der tatsächlich stattfindenden Emi-gration bestehen jedoch erhebliche Diskrepanzen. Konkre-te Auswanderungspläne haben nur sehr wenige Befragte,ebenso wie nur ein sehr geringer Anteil bisher konkrete Aus-wanderungsvorbereitungen getroffen hat (vgl. Diehl, Mauund Schupp 2008, 51). Die entscheidende Rolle bei der Ent-stehung und Konkretisierung von Wanderungsgedankenspielen nach dieser Studie in der Vergangenheit erworbene

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Auslandserfahrungen und -kontakte und weniger (ökono-mische) Chancenlosigkeit in Deutschland. Für viele qualifi-zierte Schüler, Studierende und Arbeitnehmerinnen ist eintemporärer Auslandsaufenthalt heute ein Bestandteil derAusbildungs- oder Erwerbsbiographie. Dies zeigt der hoheAnteil derjenigen mit konkreten Auswanderungsplänen, diebereits einmal im Ausland gelebt haben. Weiterhin kann imRahmen dieser Analyse gezeigt werden, dass die befrag-ten Hochschulabsolventen sich nur selten für einen dauer-haften Auslandsaufenthalt entscheiden. Diese Gruppe zeich-net sich vielmehr durch ein generell hohes Ausmaß an Fle-xibilität und Mobilität aus. Diehl, Mau und Schupp (2008, 55)schlussfolgern daraus, dass die zu beobachtenden Wande-rungen dieser Gruppe weniger »Brain Drain« als vielmehr»Brain Circulation« darstellen. Da ein Großteil von ihnen nachDeutschland zurückkehrt, seien von diesen Wanderungenlangfristig sogar positive Effekte zu erwarten.

Fazit

Trotz des breiten Interesses an der Frage, ob die Auswan-derung Hochqualifizierter zugenommen hat, scheitern Ana-lysen bislang an der fehlenden Datenbasis. Eine umfassen-de Beschäftigung mit dieser Thematik ist entweder nur fürbestimmte Zielländer oder bestimmte Bevölkerungsgrup-pen möglich. Die in diesem Beitrag präsentierten Studienzeigen nicht nur die steigende Mobilität Deutscher im All-gemeinen, sondern lassen zudem eine Zunahme der inter-nationalen Migration hoch qualifizierter Deutscher vermuten.Die Gründe für eine Wanderung sind dabei individuell sehrverschieden. Neben Netzwerkeffekten durch vorherige Aus-landsaufenthalte spielen sicherlich Arbeitsbedingungen imAusland sowie die Internationalisierung der Ausbildungs-und Erwerbsbiographien eine Rolle. Die Ergebnisse weisenaber auch in die Richtung, dass trotz der Erhöhung der in-ternationalen Mobilität diese einen weiterhin temporärenCharakter hat.

Literatur

Buechtemann, C. F. (2001), »Deutsche Nachwuchswissenschaftler in denUSA: Ergebnisse der Vorstudie«, in: Bundesministerium für Bildung und For-schung (Hrsg.), Deutsche Nachwuchswissenschaftler in den USA. Perspek-tiven der Hochschul- und Wissenschaftspolitik, Bundesminister für Bildungund Forschung, Bonn, 19–89.Deutscher Akademischer Austausch Dienst (Hrsg., 2006), Wissenschaft welt-offen 2006. Daten und Fakten zur Internationalität von Studium und Forschungin Deutschland, W. Bertelsmann Verlag, Bielefeld.Diehl, C., S. Mau und J. Schupp (2008), »Auswanderung von Deutschen:kein dauerhafter Verlust von Hochschulabsolventen«, DIW Wochenbe-richt (5), 49–55.Dumont, J.-C. und G. Lemaître (2005), »Counting Immigrants and Expatria-tes in OECD Countries: A New Perspective«, OECD Social Employment andMigration Working Papers, No. 25, OECD, Paris.Enders, J. und L: Bornmann (2002), »Internationale Mobilität bundesdeut-scher Promovierter – Eine Sekundäranalyse der Kasseler Promoviertenstu-die«, Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 35(1), 60–73.

Enders, J. und A.-M. Mugabushaka (2004), Wissenschaft und Karriere. Er-fahrungen und Werdegänge ehemaliger Stipendiaten der DFG, Deutsche For-schungsgemeinschaft, Bonn.Mytzek, R. und C: Brzinsky (2004), »Struktur und Ausmaß grenzüberschrei-tender Mobilität von Deutschen in Europa«, in: R. Mytzek und K. Schömann(Hrsg.), Transparenz von Bildungsabschlüssen in Europa. Sektorale Studienzu Mobilität von Arbeitskräften, edition sigma, Berlin, 49–58.Sauer, L. und A. Ette (2007), Auswanderung aus Deutschland. Stand der For-schung und erste Ergebnisse zur internationalen Migration deutscher Staats-bürger, Materialien zur Bevölkerungswissenschaft, Heft 123, Bundesinstitutfür Bevölkerungswissenschaft, Wiesbaden.

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Leidet Deutschland unter einem »Brain Drain«?

Seit dem Jahr 2005 verzeichnet Deutschland eine Netto-abwanderung von deutschen Staatsbürgern in das Ausland.Hinter diesen Zahlen verbirgt sich ein längerfristiger Trend,der während der vergangenen Dekade durch eine inzwi-schen deutlich gesunkene Zuwanderung von Spätaussied-lern verdeckt worden ist: Es wandern mehr Deutsche in dieStaaten der OECD aus, als Deutsche aus diesen Staatennach Deutschland einwandern, und diese Nettoauswan-derung nimmt zu. Deutsche emigrieren vor allem nach Ös-terreich und in die Schweiz, gefolgt von den USA.

Nun wandern keineswegs nur hoch qualifizierte Deutscheaus. Der Großteil der im Ausland lebenden Deutschen ver-fügt über mittlere Bildungsabschlüsse, also eine abgeschlos-sene Berufsausbildung. Allerdings ist das Qualifikationsni-veau von deutschen Staatsbürgern, die in andere Mitglied-staaten der EU und den USA leben, im Durchschnitt höherals das Qualifikationsniveau der in Deutschland verbliebe-nen Bevölkerung. Insbesondere der Anteil der Hochschul-absolventen ist unter den deutschen Auswanderern über-durchschnittlich hoch. Für das Segment der Wissenschaft-ler liegen mir keine Zahlen vor, aber auch hier dürfte derAnteil der deutschen Auswanderer deutlich über dem Durch-schnitt der deutschen Bevölkerung liegen. Diese Entwick-lung hat eine Debatte ausgelöst, ob Deutschland unter ei-nem »Brain Drain« leidet.

Die deutsche Humankapitalbilanz

Für eine Analyse des Phänomens des »Brain Drain« ist esnicht ausreichend, die Wanderungsbilanz der Deutschen in

dem Segment der Hochqualifizierten zu betrachten. In al-len OECD-Ländern nimmt die Wanderungsbereitschaft derBevölkerung zu, und dies insbesondere unter der Bevölke-rung mit einer abgeschlossenen Hochschulausbildung undunter den Studenten. Deshalb dürften in den meisten OECD-Staaten genauso wie in Deutschland mehr Staatsbürger desjeweiligen Landes mit höheren Bildungsabschlüssen aus-als einwandern. Der Nettoabwanderung von hoch qualifi-zierten Deutschen steht jedoch eine Nettozuwanderung vonhoch qualifizierten Ausländern gegenüber. Diese Bilanz istpositiv: Es leben mehr Hochschulabsolventen aus der EUund der übrigen OECD in Deutschland, als deutsche Hoch-schulabsolventen in diese Region ausgewandert sind. Welt-weit liegen zwar keine Zahlen vor, aber es dürften insgesamtmehr ausländische Staatsbürger mit einem Hochschulab-schluss in Deutschland leben als deutsche Staatsbürger miteinem Hochschulabschluss im Ausland. Insofern ist Deutsch-land ein Nettoimporteur von Humankapital.

Aus diesem Umstand darf jedoch nicht die Schlussfolge-rung gezogen werden, dass Migration die Qualifikations-struktur der deutschen Bevölkerung erhöht. Deutschlandist auch ein Nettoimporteur von Arbeit mit mittleren undgeringen Qualifikationen. Die durchschnittliche Qualifikati-onsstruktur der ausländischen Bevölkerung ist vergleichs-weise ungünstig: Die vorliegenden Daten sprechen dafür,dass die in Deutschland lebenden Ausländer nicht nur ge-ringer qualifiziert sind als die deutsche Bevölkerung, son-dern auch geringer qualifiziert sind als der Durchschnittder Bevölkerungen in den Herkunftsländern (vgl. Brückerund Ringer 2008). Insofern spricht die Migrationsliteraturvon einer »negativen (Selbst-)Selektion« der ausländischenBevölkerung im Hinblick auf ihre Humankapitalausstattungin Deutschland.

Produktivitätsgewinne durch Arbeitsmobilität vonHochqualifizierten

Die Nettoauswanderung von deutschen Studenten undHochschulabsolventen ist also kein Problem, sondern Aus-druck der gestiegenen Arbeitsmobilität gerade der besserausgebildeten Bevölkerung in allen entwickelten Volkswirt-schaften. Diese höhere Arbeitsmobilität von Hochqualifizier-ten erhöht die Arbeitsproduktivität: Arbeit wandert nicht nurdort hin, wo sie am produktivsten eingesetzt werden kann,sondern immer mehr Personen wandern auch dort hin, wosie die beste Ausbildung bekommen. Dies erhöht nicht nurdie Humankapitalausstattung des Einzelnen, sondern in glo-baler Perspektive auch die Humankapitalausstattung desFaktors Arbeit.

Es ist auch zu berücksichtigen, dass der überwiegende Teilder Migration einen temporären Charakter hat. Die Evidenzaus Mikrodatensätzen wie dem Sozio-oekonomischen

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Herbert Brücker*

* Dr. Herbert Brücker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ar-beitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg.

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Panel in Deutschland spricht dafür, dass 70 bis 80% der inDeutschland lebenden Ausländer vor ihrem Lebensende wie-der in ihre Heimatländer zurückkehren oder in andere Län-der weiter wandern. Im Segment der Hochqualifizierten dürf-te diese Mobilität noch höher sein. Ein Großteil der im Aus-land lebenden Deutschen dürfte folglich wieder zurückkeh-ren, so dass das im Ausland erworbene Humankapital füreinen Teil des Arbeitslebens in Deutschland produktiv ein-gesetzt werden kann.

Es ist aus ökonomischer Perspektive folglich wenig sinn-voll, Wanderungsrestriktionen zu errichten oder spezifischeAnreize zu schaffen, um die Auswanderung von hoch qua-lifizierten Arbeitskräften zu verhindern. Im Gegenteil, durcheinen Abbau von Wanderungsbarrieren sollte versucht wer-den, die Arbeitsmobilität gerade im Segment der Hochqua-lifizierten zu erhöhen, um die Produktivität von Humankapi-talinvestitionen zu steigern. Die Frage ist jedoch, wie esDeutschland gelingen kann, mehr Zuwanderer mit einer ho-hen Humankapitalausstattung zu gewinnen, und wie dieHumankapitalausstattung der in Deutschland lebenden aus-ländischen Bevölkerung erhöht werden kann.

Wanderungsanreize und Humankapital-investitionen

Aus ökonomischer Perspektive hängt die (Selbst-)Selekti-on der Zuwanderer im Hinblick auf ihre Humankapitalaus-stattung von den relativen Erträgen des Humankapitals inden jeweiligen Ländern ab. Nach dem Roy-Borjas-Modell1

ergibt sich eine positive Selbstselektion der Zuwanderer,wenn die Einkommensungleichheit in dem Zielland höher istals in dem Herkunftsland, und umgekehrt. Da in entwickel-ten Ländern die Einkommen in der Regel gleicher verteiltsind als in den Herkunftsländern der Migration, ist folglicheine negative Selbstselektion der Zuwanderer zu erwarten.Tatsächlich beobachten wir jedoch, dass im Durchschnittder OECD die Zuwanderer besser qualifiziert sind als die Be-völkerungen in den Herkunftsländern. Das gilt allerdings nichtfür kontinentaleuropäische Länder wie Deutschland undFrankreich (vgl. z.B. die Datensätze von Docquier und Mar-fouk 2007).

Der Umstand, dass Migranten eine positive Selbstselektionim Hinblick auf ihre Humankapitalausstattung aufweisen, ob-wohl die relativen Erträge für Humankapitalinvestitionen inden Zielländern geringer als in den Herkunftsländern sind,kann im Wesentlichen auf drei Umstände zurückgeführt wer-den: Erstens kann die Einwanderungspolitik die Qualifikati-onsstruktur der Zuwanderer erheblich beeinflussen. Länder,die beispielsweise die Zuwanderung durch ein Punktesys-tem steuern, erreichen eine deutlich höhere Qualifikations-

struktur der ausländischen Bevölkerung als Länder, die ei-ne restriktive Einwanderungspolitik verfolgen und auf eineSteuerung der Zuwanderung nach Humankapitalkriterienverzichten. So weist die ausländische Bevölkerung in Ka-nada den höchsten Anteil an Hochschulabsolventen in derOECD aus, obwohl die Einkommen dort ähnlich gleich ver-teilt sind wie in Deutschland.

Zweitens spielen Wanderungskosten eine erhebliche Rollefür die Wanderung. Der Anteil der Wanderungskosten amEinkommen ist für höher qualifizierte Migranten geringer alsfür Migranten mit einem niedrigen Qualifikationsniveau, sodass sich eine positive Selbstselektion der Migranten auchdann ergibt, wenn die relativen Erträge des Humankapitalsin den Zielländern geringer als in den Herkunftsländern sind.So zeigen empirische Untersuchungen, dass mit zunehmen-der Distanz zwischen Ziel- und Herkunftsland die Qualifika-tionsstruktur der ausländischen Bevölkerung steigt (vgl. Brücker und Defoort 2007).

Drittens schließlich verfügen höher qualifizierte Migrantenhäufig über spezifische Qualifikationen wie Sprachkenntnis-se, die die Wanderungskosten senken. Mit der Internatio-nalisierung der Arbeitsmärkte werden vor allem für Hoch-qualifizierte die Wanderungsbarrieren gesenkt. So ist in-zwischen in vielen Forschungs- und Entwicklungseinrich-tungen die englische Sprache auch in Ländern zur Arbeits-sprache geworden, die nicht zum angelsächsischen Kul-turkreis gehören. Ähnliches gilt für den Finanzsektor. Gera-de kleinere Länder öffnen ihre Arbeitsmärkte zunehmendfür Hochqualifizierte, indem sie administrative und informel-le Wanderungsbarrieren abbauen. Dies führt wiederum zueiner höheren Wanderungsbereitschaft der Höherqualifizier-ten im Vergleich zur Bevölkerung mit mittleren und gerin-geren Qualifikationen.

Wie kann Deutschland einen »Brain Gain« erreichen?

Wenn die Qualifikationsstruktur der in Deutschland leben-den Bevölkerung verbessert werden soll, geht es folglichdarum, die administrativen und ökonomischen Voraus-setzungen für einen »Brain Gain« zu verbessern. Aus derPerspektive des Roy-Borjas-Modells wäre es nahe lie-gend, an der Einkommensverteilung anzusetzen. Die Ein-kommensverteilung kann jedoch nur sehr begrenzt be-einflusst werden. Zudem ist eine ungleichere Einkom-mensverteilung unter wohlfahrtsökonomischen Kriteriennur dann wünschenswert, wenn durch sie auch die Ein-kommen der geringer Qualifizierten erhöht würden.Schließlich zeigt das kanadische Beispiel, dass ein »BrainGain« durch Zuwanderung auch bei einer aus internatio-naler Perspektive recht gleichen Einkommensverteilungerreicht werden kann.

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1 Vgl. Borjas (1987), der sich auf das Selbstselektionsmodell von Roy (1951)bezieht.

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Die deutschen Einkommen für Hochqualifizierte, beispiels-weise für Wissenschaftler in Universitäten und öffentlichenForschungseinrichtungen, dürften im europäischen Durch-schnitt liegen. So sind die Einkommen für Hochschullehrerin Deutschland zwar deutlich geringer als in den USA, aberbeispielsweise genauso hoch oder höher als in den skandi-navischen Ländern. Die Einkommen in den nicht-öffentli-chen Forschungseinrichtungen richten sich nach der Ar-beitsproduktivität, sie entziehen sich der politischen Beein-flussung. Allerdings kann der Staat durch das Steuer- undTransfersystem die Nettoerträge von Humankapital beein-flussen. Dabei dürfte in Deutschland das umlagefinanzierteRentensystem, das gegen kurze Beitragszeiten diskriminiert,de facto wie eine Steuer auf Zuwanderer wirken.2 Davondürften hoch qualifizierte Zuwanderer deutlich stärker als ge-ring und mittel qualifizierte Zuwanderer betroffen sein. Ähn-liches gilt für jüngere Zuwanderer im Vergleich zu Älteren.Hier könnte angesetzt werden, wenn die monetären Wan-derungsanreize insbesondere für hoch qualifizierte Zuwan-derer beeinflusst werden sollen.

Ein größeres Gewicht als die monetären Wanderungsanrei-ze dürften die Arbeitsbedingungen haben. Die Arbeitsbedin-gungen in den privaten Forschungs- und Entwicklungsein-richtungen Deutschlands dürften sich nicht maßgeblich vondenen in anderen Ländern unterscheiden. Möglicherweiseist in Deutschland aufgrund der Größe des Landes, aberauch spezifischer berufsständischer Traditionen die Interna-tionalisierung in privaten Forschungs- und Entwicklungsein-richtungen noch nicht so weit vorangeschritten wie in an-deren Ländern. Auch die Regulation des Bankensektors,insbesondere das System der Sparkassen und Landesban-ken, dürfte der Internationalisierung der Arbeitsmärkte imdeutschen Finanzsektor entgegenwirken.

In den öffentlichen Universitäten dürften die Arbeitsbe-dingungen schlechter als in vielen anderen OECD-Staa-ten sein. Der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoin-landsprodukt liegt in Deutschland deutlich unter demOECD-Durchschnitt. Dies bewirkt wiederum eine höhereLehrbelastung und höhere Studentenzahlen für den ein-zelnen Wissenschaftler und damit geringere Spielräumefür Forschung und Lehre. Zudem ist der Verwaltungsauf-wand sehr viel höher als beispielsweise an skandinavi-schen und angelsächsischen Universitäten. Allerdings ver-fügt Deutschland auch über eine im internationalen Ver-gleich einzigartige Infrastruktur von außeruniversitären For-schungseinrichtungen wie die Max-Planck-Institute unddie Forschungseinrichtungen der Leibniz-Gmeinschaft, diesowohl in der Grundlagenforschung wie auch der ange-wandten empirischen Forschung günstige Arbeitsbedin-gungen schaffen. Diese Aspekte dürften stärker als Ein-kommensanreize die Attraktivität von deutschen For-

schungseinrichtungen für Wissenschaftler im internatio-nalen Vergleich beeinflussen.

Neben den Arbeitsbedingungen dürften die Zutrittsbarrie-ren zum Arbeitsmarkt für Hochqualifizierte die Humankapi-talausstattung in Deutschland beeinflussen. Dies beginntmit dem Einwanderungsrecht in Deutschland. Die Freizü-gigkeit in der EU und die günstigen Zutrittsbedingungenfür Staatsbürger aus entwickelten OECD-Staaten spiegelnsich in einer vergleichsweise günstigen Qualifikationsstruk-tur der Zuwanderer aus diesen Ländern. Das deutsche Ein-wanderungsrecht gegenüber Bürgern aus anderen Staa-ten ist jedoch sehr restriktiv, dies gilt auch für Hochqualifi-zierte. Die Einkommensgrenze in Höhe des doppelten Jah-reseinkommens der Bemessungsgrenze für die gesetzlicheKrankenversicherung wird von den meisten Hochqualifizier-ten nicht erreicht. Zwar lässt das deutsche Einwanderungs-recht darüber hinaus auch die Zuwanderung von Wissen-schaftlern mit besonderen Kenntnissen und Lehrpersonenin herausgehobener Stellung zu, aber auch hier ist der Zu-tritt an zahlreiche Bedingungen geknüpft. Das Potential fürdie Zuwanderung liegt künftig jedoch gerade in Ländern au-ßerhalb der EU, vor allem in Osteuropa. Auch in den USAkommt der größte Zustrom Hochqualifizierter nicht aus ent-wickelten Ländern mit einem hohen Pro-Kopf-Einkommen,sondern aus China und anderen Schwellenländern Asiens.Der Umfang des Zuflusses von Humankapital wird inDeutschland wie auch anderen entwickelten Ländern künf-tig im Wesentlichen davon abhängen, inwieweit es gelingthoch qualifizierte Zuwanderer aus Ländern mit einem mitt-leren und niedrigen Einkommen zu gewinnen, weil der über-wiegende Teil der Wanderungsströme aus diesen Regionenstammen wird.

Wichtiger als das Einwanderungsrecht sind jedoch die Zu-gangsbedingungen zum Arbeitsmarkt für Hochqualifizierte.Die Markteintrittsbarrieren sind in öffentlichen Universitätenund Forschungseinrichtungen vergleichsweise hoch. Zwarnimmt die Internationalisierung und die Rekrutierung vonausländischen Wissenschaftlern und deutschen Wissen-schaftlern, die einen Teil ihrer Ausbildung im Ausland er-worben oder einen Teil ihrer Karriere dort verbracht haben,zu. Die Organisationsprinzipien deutscher Hochschulen wiedas Lehrstuhlprinzip, fehlende »Tenure Track«-Verfahren unddas Beamtenrecht verringern die Mobilität zwischen dem In-und Ausland. Sie wirken häufig diskriminierend gegenüberAusländern mit anderen Erwerbs- und Bildungsverläufen.Dies erhöht die Markteintrittskosten und senkt die Erträgevon Humankapitalinvestitionen in Deutschland im Vergleichzu vielen anderen Ländern in Europa oder den USA.

Deutschland leidet also unter keinem »Brain Drain«, aber,gemessen an der durchschnittlichen Qualifikation der Zu-wanderer, an einem unzureichendem »Brain Gain«. Nebeneiner Reform des Einwanderungsrechts, das die Zuwande-

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2 Dies ergibt sich z.B. aus den Analysen des Beitrags von Migranten zurfiskalischen Bilanz des Wohlfahrtsstaats (vgl. Bonin 2002).

Zur Diskussion gestellt

rung aus Drittstaaten nach Humankapitalkriterien steuernmüsste, muss Deutschland vor allem die Markteintrittsbar-rieren für hoch qualifizierte Ausländer senken. Darüber hin-aus leidet das deutsche Wissenschaftssystem unter ungüns-tigen Arbeitsbedingungen, die im Wesentlichen, aber nichtallein, auf unzureichende öffentliche und private Bildungs-investitionen zurückzuführen sind.

Literatur

Bonin, H. (2002), »Eine fiskalische Gesamtbilanz der Zuwanderung nachDeutschland«, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 71(2), 215–229.Borjas, G.J. (1987), »Self-Selection and the Earnings of Immigrants«, Ame-rican Economic Review 77(4), 531–553.Brücker, H. und C. Defoort (2007), »Inequality and the (Self-)Selection of In-ternational Migrants: Theory and Novel Evidence«, IAB Diskussionspapier26/2007.Brücker, H. und S. Ringer (2008), Vergleichsweise schlecht qualifiziert, IAB-Kurzbericht 1/2008.Docquier, F. und A. Marfouk (2007), »The Brain Drain Data Base«, Weltbank,http://econ.worldbank.org/.Roy, A.D. (1951), »Some thoughts on the distribution of earnings«, OxfordEconomic Papers 3, 135–146.

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