Bestimmte Unbestimmbarkeit Zweite Natur

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DZPhil, Akademie Verlag, 59 (2011) 3, 419–438 Bestimmte Unbestimmbarkeit Über die zweite Natur in der ersten und die erste Natur in der zweiten Von PHILIP HOGH (Frankfurt/M.) und JULIA KÖNIG (Frankfurt/M.) Die Auffassung, dass der Geist unabhängig von der Materie existiere, bildete eine der wenigen Konstanten in der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte des Abendlandes. Je mehr das Wissen des Geistes über die Materie anwuchs, desto schwieriger wurde es im Laufe der Zeit, die einstmals absolute Differenz beider noch aufrechtzuerhalten. Wies die Freudsche Psycho- analyse zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts entsprechend darauf hin, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause sei, dass das als immateriell erlebte wie auch vorgestellte menschliche Seelenleben in hohem Maße von materiellen Faktoren bestimmt sei, so scheinen heute die Neurowissenschaften die letzten Reste idealistischer Illusionen mit naturwissenschaftlichen Methoden zu beseitigen. Zweifellos ist es der neurowissenschaftlichen Forschung als Ver- dienst anzurechnen, dass sie die Bedeutung der neuronalen Verschaltungen im Gehirn für den menschlichen Geist experimentell herausgearbeitet und darin einen Wirkungszusammenhang nachgewiesen hat. Dass es ohne Gehirn keinen Geist gäbe, dass der Geist ohne Natur inexis- tent wäre, ist eine Erkenntnis, die nicht mehr bezweifelt werden kann. Dabei handelt es sich nicht um eine neue Erkenntnis, wie ein Blick etwa auf Spinozas antidualistisches Verständ- nis des menschlichen Körpers 1 und besonders die Tradition des Historischen Materialismus 2 zeigt. Neu sind nur die technischen Möglichkeiten der Erschließung und Darstellung dieser Zusammenhänge auf der Ebene experimenteller Laborversuche. Fraglich ist jedoch, ob und inwiefern die gesetzeswissenschaftliche Bestimmung der Natur im Menschen, wie sie von den Neurowissenschaften vorgenommen wird, eben dem gerecht zu werden vermag, was diese Natur gerade als spezifisch menschliche auszeichnet. Diese Frage stellt sich als eine der Methodologie und Erkenntnistheorie, denn nicht nur der Zugang zum Untersuchungsgegenstand Mensch ist vielfach vermittelt – beispielsweise durch die institutionelle Organisation der Wissenschaften –, auch der Gegenstand selbst ist nur in sich geschichtlich verändernden Verhältnissen auffindbar und daher kontingent. Insofern also von einer der Grundüberzeugungen des neurowissenschaftlichen Monismus ausgegangen wird, nach der auch bewusst gefällte Entscheidungen menschlicher Subjekte aus neuronalen 1 Vgl. M. Saar, Affektpolitik. Spinozas politische Theorie der Gefühle, unveröffentlichtes Manuskript, Goethe- Universität, Frankfurt/M. 2009. 2 Vgl. zum Beispiel A. Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt/M. 1974.

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Un buon articolo sulla seconda natura

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DZPhil, Akademie Verlag, 59 (2011) 3, 419–438

Bestimmte Unbestimmbarkeit

Über die zweite Natur in der ersten und die erste Natur in der zweiten

Von PhiliP hogh (Frankfurt/M.) und Julia König (Frankfurt/M.)

Die Auffassung, dass der Geist unabhängig von der Materie existiere, bildete eine der wenigen Konstanten in der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte des Abendlandes. Je mehr das Wissen des Geistes über die Materie anwuchs, desto schwieriger wurde es im Laufe der Zeit, die einstmals absolute Differenz beider noch aufrechtzuerhalten. Wies die Freudsche Psycho-analyse zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts entsprechend darauf hin, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause sei, dass das als immateriell erlebte wie auch vorgestellte menschliche Seelenleben in hohem Maße von materiellen Faktoren bestimmt sei, so scheinen heute die Neurowissenschaften die letzten Reste idealistischer Illusionen mit naturwissenschaftlichen Methoden zu beseitigen. Zweifellos ist es der neurowissenschaftlichen Forschung als Ver-dienst anzurechnen, dass sie die Bedeutung der neuronalen Verschaltungen im Gehirn für den menschlichen Geist experimentell herausgearbeitet und darin einen Wirkungszusammenhang nachgewiesen hat. Dass es ohne Gehirn keinen Geist gäbe, dass der Geist ohne Natur inexis-tent wäre, ist eine Erkenntnis, die nicht mehr bezweifelt werden kann. Dabei handelt es sich nicht um eine neue Erkenntnis, wie ein Blick etwa auf Spinozas antidualistisches Verständ-nis des menschlichen Körpers1 und besonders die Tradition des Historischen Materialismus2 zeigt. Neu sind nur die technischen Möglichkeiten der Erschließung und Darstellung dieser Zusammenhänge auf der Ebene experimenteller Laborversuche. Fraglich ist jedoch, ob und inwiefern die gesetzeswissenschaftliche Bestimmung der Natur im Menschen, wie sie von den Neurowissenschaften vorgenommen wird, eben dem gerecht zu werden vermag, was diese Natur gerade als spezifisch menschliche auszeichnet. Diese Frage stellt sich als eine der Methodologie und Erkenntnistheorie, denn nicht nur der Zugang zum Untersuchungsgegenstand Mensch ist vielfach vermittelt – beispielsweise durch die institutionelle Organisation der Wissenschaften –, auch der Gegenstand selbst ist nur in sich geschichtlich verändernden Verhältnissen auffindbar und daher kontingent. Insofern also von einer der Grundüberzeugungen des neurowissenschaftlichen Monismus ausgegangen wird, nach der auch bewusst gefällte Entscheidungen menschlicher Subjekte aus neuronalen

1 Vgl. M. Saar, Affektpolitik. Spinozas politische Theorie der Gefühle, unveröffentlichtes Manuskript, Goethe- Universität, Frankfurt/M. 2009.

2 Vgl. zum Beispiel A. Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt/M. 1974.

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Verschaltungen resultieren, präjudiziert diese Setzung bereits den epistemologischen Rah-men, innerhalb dessen das Forschungsergebnis begriffen werden kann. Was mir aus der Per-spektive der 1. Person als bewusst gefällte Entscheidung erscheint, ist in Wahrheit nur die mir bewusst zugängige Seite eines neuronalen Determinationsgeschehens3, das selbst wiederum nur aus der Perspektive der 3. Person betrachtet und analysiert werden kann. Die Perspektive der 1. Person ist so für das, was im Subjekt tatsächlich und neurowissenschaftlich nachprüfbar geschieht, irrelevant, wohingegen die Perspektive der 3. Person in neurowissenschaftlicher Forschung einen direkten Zugriff auf das dann zum Ansichsein des Menschen bestimmte neu-ronale Geschehen ermöglicht.4 Unter diesen Voraussetzungen resultieren alle Handlungen, die menschliche Subjekte in Gesellschaften vollziehen, aus einem nur neurowissenschaftlich aufzuklärenden natürlichen Prozess.5 Menschliche Geschichte sowie die Entwicklung einer bewussten, das heißt aus der Per-spektive der 1. Person zugängigen Entscheidungsebene, mit der nach Wolf Singer all die Illusionen über menschliche Freiheit verknüpft sind, wird insofern folgerichtig als Teil der Evolution natürlichen Lebens, „als evolutionärer Prozess“� verstanden. Zwar wird auch in den Neurowissenschaften anerkannt, dass „kulturelle Verabredungen und soziale Interakti-onen Hirnfunktionen im gleichen Maße wie alle anderen Faktoren, die auf neuronale Ver-schaltungen und die auf ihnen beruhenden Erregungsmuster einwirken“7, beeinflussen; die solchermaßen gesellschaftlich geformte Natur bleibt darin aber Gegenstand einer auf die For-mulierung von Naturgesetzen ausgerichteten Wissenschaft. Folglich bleibt es für die neuro-wissenschaftliche Betrachtung der menschlichen Natur auch zweitrangig, in welchen gesell-schaftlichen Formen sich der vorab ins „realm of law“ verlegte Gegenstand herausgebildet hat. Der so vollzogenen Naturalisierung des Geistes korrespondiert dann eine Naturalisie-rung von Gesellschaft, sodass die moralische Anweisung, die aus neurowissenschaftlicher Perspektive an die Gesellschaft ergeht, nicht darauf abzielt, die Autonomie und Freiheit der Mitglieder der Gesellschaft zu fördern und zu schützen, sondern darauf, „durch Erziehung, Belohnung und Sanktionen Entscheidungsprozesse so zu beeinflussen, dass unerwünschte Entscheidungen unwahrscheinlicher werden“.8 Wie es zu Stande kommt, dass eine bestimmte Entscheidung erwünscht ist und eine bestimmte andere nicht, spielt hier für das, was eine Gesellschaft von ihren Mitgliedern ver-langen soll, keine Rolle. Die bestehende normative Ordnung ist dann, weil sie letztlich Aus-fluss neuronaler Verschaltungen ist, selbst Natur. Was nur durch bewusst und planvoll ausge-führte Handlungen existiert und unter bestimmten geschichtlichen Voraussetzungen geworden

3 Zu diesem Begriff vgl. P. Hogh, Auf der Suche nach dem verlorenen Ersten. Gesellschaftsverges-senheit und Metaphysik in der Hirnforschung, in: M. Gerhard u. Ch. Zunke (Hg.), „Wir müssen die Wissenschaft wieder menschlich machen“. Aspekte und Perspektiven der Naturphilosophie, Würz-burg 2010, 45–�5.

4 Vgl. A. Wellmer, „Bald frei, bald unfrei“ – Reflexionen über die Natur im Geist, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 5.2 (2008), 7.

5 Entsprechend sagt Wolf Singer, dass „sich jede Komponente des von außen beobachtbaren, mess-baren und objektivierbaren Verhaltens als Folge von Prozessen darstellen lassen [muss], die im Rah-men naturwissenschaftlicher Beschreibungssysteme fassbar sind“ (W. Singer, Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, in: Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, hg. v. Ch. Geyer, Frankfurt/M. 2004, 30–�5).

� W. Singer, Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen, in: M. Kerner (Hg.), Eine Welt, eine Geschichte? 43. Deutscher Historikertag in Aachen, Berichtsband, München 2001, 27.

7 W. Singer, Verschaltungen legen uns fest, a. a. O., 55.8 Ebd., �4.

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ist: die Gesellschaft, wird in neurowissenschaftlicher Perspektive als Natur präsentiert. Die Reflexion, dass aber diese Natur an ihr selbst nicht nach Naturgesetzen, sondern nach sozial ausgehandelten Regeln und Normen funktioniert, kommt in den Neurowissenschaften somit systematisch zu kurz. Dass die Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften in der aka-demischen und nichtakademischen Öffentlichkeit dennoch so breit diskutiert wurden, dürfte maßgeblich daran liegen, dass die Frage, wie die Natur des Menschen richtig einzuschätzen sei, endlich eine eindeutige und klare Antwort zu erhalten versprach. Speziell die bereits eingangs erwähnte Frage, inwiefern Menschen als geistige Wesen etwas anderes als bloß natürliche Wesen sein sollen, konnte nun mit gesetzeswissenschaftlichen Mitteln klar als falsch gestellt zurückgewiesen werden. Allerdings, und das ist vielleicht der positive Effekt der neurowissenschaftlichen Herausforderung, wendeten sich auch die hermeneutischen Wissenschaften in der Folgezeit wieder vermehrt der Frage zu, wie die materielle Natur des Menschen im Verhältnis zu seinen kognitiven Fähigkeiten und sozialen Bestimmungen ange-messen zu bestimmen sei. Der Begriff der zweiten Natur scheint uns für den Versuch hilfreich zu sein, die mensch-liche Natur als soziale zu begreifen, sie aber dennoch nicht vollkommen zu entnaturalisieren. Der Begriff hat im Wesentlichen zwei Bedeutungsmomente, die sich beide bereits bei Hegel finden lassen, ein subjektives und ein objektives.9 Das subjektive Moment bezeichnet darin die leibliche und geistige Konstitution des Menschen, wie er sie in Sozialisationsprozessen erworben hat. Sprechen, Denken und Handeln zu können, sind danach zwar keine natürlichen Eigenschaften des Menschen wie der Herzschlag oder die Verdauung; sie sind aber, einmal erworben, konstitutive Eigenschaften leiblicher menschlicher Wesen.10 Gegenüber der neuro-wissenschaftlichen Verdrängung der Perspektive der 1. Person lässt sich mit dem Begriff der subjektiven zweiten Natur an dieser Perspektive festhalten, da dieser Begriff nicht nur den Niederschlag sozialer Praktiken im Subjekt, sondern auch dessen Erfahrung der Teilnahme an sozialen Praktiken zu thematisieren erlaubt. Mit objektiver zweiter Natur wird dagegen die Eigengesetzlichkeit des sozialen Lebens und seiner Institutionen bezeichnet, die zwar selbst nichts Natürliches sind, aber für das Funk-tionieren des sozialen Lebens in ähnlichem Maße konstitutiv sind wie Naturgesetze für die erste Natur.11 Im Unterschied zu Naturgesetzen sind die Gesetze sozialer Praktiken jedoch

9 Zu dieser Unterscheidung vgl. F. Ranchio, Autonomie und zweite Natur in der Rechtsphilosophie Hegels, unveröffentlichtes Manuskript, Goethe-Universität, Frankfurt/M. 2011, 1.

10 Dieses Moment taucht bei Hegel unter dem Begriff der „Gewohnheit“ auf: „Die Gewohnheit ist mit Recht eine zweite Natur genannt worden, – Natur, denn sie ist ein unmittelbares Sein der Seele, – eine zweite, denn sie ist eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit, eine Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit, die den Gefühlsbestimmungen als solchen und den Vorstellungs- und Willens-bestimmungen als verleiblichten zukommt.“ (G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830]. Dritter Teil: Die Philosophie des Geistes, in: ders. Werke in 20 Bänden (WW), Bd. 10, Frankfurt/M. 198�, 184) John McDowell hat dieses Moment, allerdings ohne genauer auf Hegel Bezug zu nehmen, in seinem Gehalt wieder prominent gemacht. In Geist und Welt verwendet McDowell es entsprechend, um den neuzeitlichen Dualismus von Geist und Natur zu überwinden, indem er die menschliche Natur als immer schon zweite Natur begreift. Geist und Rationalität sind der menschlichen Natur danach nicht äußerlich, sondern deren konstitutive Bestandteile (vgl. J. McDowell, Geist und Welt, Frankfurt/M. 2001, 91–111 und 135–153).

11 Entsprechend sagt Hegel über die Verfassung: „Überhaupt aber ist es schlechthin wesentlich, daß die Verfassung, obgleich in der Zeit hervorgegangen, nicht als ein Gemachtes angesehen werde; denn sie ist vielmehr das schlechthin an und für sich Seiende, das darum als das Göttliche und Beharrende und als über der Sphäre dessen, was gemacht wird, zu betrachten ist.“ (G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, WW, Bd. 7, 439) Speziell Adorno hat im Anschluss an Lukács vor allem

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selbst historisch kontingent. Die zweite Natur im subjektiven Sinne hat als etwas, das von menschlichen Subjekten erworben oder angeeignet wird, die zweite Natur im objektiven Sinne zur Voraussetzung, deren Regeln und Normen von den Subjekten internalisiert wer-den müssen. Die Fragen, die sich für uns hier ergeben, lauten darum: Lässt die zweite Natur von der ersten Natur des Menschen noch etwas übrig? Gibt es in den Menschen als sozialen Wesen ein vor-, a- oder antisoziales Moment, das von keiner zweiten Natur zum Verschwin-den gebracht werden kann und insofern auch in der zweiten Natur des Menschen noch fort-wirkt? Und lässt sich dieses Naturmoment im Menschen anders thematisieren, als es der neurowissenschaftliche Szientismus tut? Wir diskutieren zunächst das Problem, inwiefern im menschlichen Subjekt ein vorsozialer Kern angenommen werden muss, um Konflikte zwischen Subjekt und Gesellschaft zu erklä-ren. Dieser Frage liegen bestimmte, paradigmatische Auffassungen über die Natürlichkeit und Gesellschaftlichkeit des Menschen zu Grunde, welche wir im ersten Schritt herausarbeiten wollen. Dabei interessiert uns besonders die jeweilige Bestimmung des Verhältnisses von erster Natur und subjektiver wie objektiver zweiter Natur. Den Anknüpfungspunkt unserer Überlegungen bildet eine Diskussion, die vor einigen Jahren zwischen Axel Honneth und Joel Whitebook geführt wurde (I). Diese Debatte bedarf einer Ergänzung. Daher schlagen wir im folgenden Abschnitt eine Relektüre des Begriffs des Hinzutretenden aus Theodor W. Adornos Negativer Dialektik vor, um das Verhältnis von Natur und Vernunft im Subjekt genauer zu bestimmen (II). Um diesen Begriff nun jedoch konkreter auf die Streitfrage der Debatte zwi-schen Honneth und Whitebook beziehen und ihn darüber hinaus in ein deutlicheres Verhält-nis zur neurowissenschaftlichen Forschung setzen zu können, führen wir sodann die psycho-analytische Interaktionsformentheorie Alfred Lorenzers ein. Anhand dieser schlagen wir eine sozialisationstheoretische Konkretisierung des Adornoschen Begriffs vor, die uns im Hinblick auf die in der Diskussion zwischen Honneth und Whitebook leitende Frage weiterzuführen scheint (III). In einem ethisch-ästhetischen Epilog wollen wir am Beispiel von Siri Hustvedts autobiographischem und wissenschaftsgeschichtlichem Text Die zitternde Frau zeigen, wie ein anderer Umgang mit dem Naturmoment im Menschen möglich sein könnte (IV).

I. Natur und Gesellschaft

Die Psychoanalyse scheint nicht ohne die Annahme eines vorsozialen Kerns im Menschen auszukommen. Es stellt sich jedoch die Frage, wie diese Annahme im Einzelnen zu deuten ist. Kontroverse Antworten darauf wurden in einer Diskussion zwischen Axel Honneth und Joel Whitebook skizziert, die sich an Honneths anerkennungstheoretischer Revision der Psychoa-nalyse entzündete, deren kritisches Potenzial er nicht mehr in der triebtheoretisch fundierten konstitutionellen Unangepasstheit des Individuums an die Gesellschaft verstanden wissen will.12 Deswegen grenzt er sich bereits in seiner Begründung der theoretischen Angewiesen-

dieses Moment des Begriffs der objektiven zweiten Natur hervorgehoben, um damit die Negativi-tät einer verselbständigten Gesellschaft zu bestimmen (vgl. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. �, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt/M. 1997, 347–353).

12 Die Positionen von Honneth und Whitebook finden sich in folgenden Texten: A. Honneth, Objekt­beziehungstheorie und postmoderne Identität. Über das vermeintliche Veralten der Psychoanalyse, in: Psyche, 54.11 (2000), 1087–1109; ders., Das Werk der Negativität. Eine anerkennungstheoreti-sche Revision der Psychoanalyse [2001], in: ders., Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheo-rie, Berlin 2010, 251–260; ders., Facetten des vorsozialen Selbst. Eine Erwiderung auf Joel White-

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heit der Kritischen Theorie auf die Psychoanalyse von Horkheimer, Adorno und Marcuse ab: Die Verbindung von kritischer Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse sei notwendig, da durch die Psychoanalyse auch die reflexionsentzogenen Motive menschlichen Handelns in den Blick gerückt werden könnten, wodurch in normativer Hinsicht die Gefahr eines „mora-lischen Idealismus“13 gemindert werde und in explanatorischer Hinsicht das Subjekt eben nicht nur als rationaler Akteur beschrieben werden müsse.14 Honneth plädiert für die Aufgabe der vormals so zentralen Triebtheorie zu Gunsten der mit der Anerkennungstheorie besser vermittelbaren Objektbeziehungstheorie, „deren Grundbegriffe eine relativ nahtlose Überset-zung in gesellschaftstheoretische Kategorien erlauben“.15 Zum Beweis der Überlegenheit der Objektbeziehungstheorie führt Honneth vor allem die empirische Säuglingsforschung1� ins Feld, welche die orthodoxe Freudsche Konzeption der Entwicklung des kindlichen Trieberlebens „als eine Abfolge von Organisationsformen des ,monologischen‘ Verhältnisses zwischen libidinösen Trieben und Ich-Fähigkeit“17 revidiert habe. Vermittlungsmöglichkeiten mit der Anerkennungstheorie sieht Honneth in der konsti-tutiven Rolle der Intersubjektivität für die Konstitution des Selbst, wodurch das Selbst von Anfang an sozial bestimmt sei. Die subjektive zweite Natur des Subjekts entsteht nach Hon-neth folglich in sozialen Anerkennungsprozessen, ohne dass eine diesem Konstitutionspro-zess vorhergehende erste Natur für die dann im Subjekt stattfindenden Konflikte noch größere Relevanz besäße. Die „psychische Tendenz der Überschreitung, die psychische Gebrochen-heit des Menschen“18, als welche Honneth den psychoanalytischen Stachel der Negativität verstanden wissen will, sei so nicht mehr notwendiger Bestandteil der Triebausstattung, son-dern so zu verstehen, „daß sich selbst die intrapsychische Organisation des Triebpotentials als ein Prozeß der Ausdifferenzierung auffassen läßt, der sich entlang von Stufen einer Erweite-rung der kindlichen Interaktionsbeziehungen vollzieht“19 und somit aus der „sich als Interna-lisierung vollziehenden Sozialisation“20 resultiert. In dieser tiefgreifenden Revision psychoanalytischer Theorie erkennt Joel Whitebook eine das Verhältnis von Natur und Gesellschaft im Subjekt harmonisierende Figur, die er als paradigmatisch für die Philosophie des „intersubjective turn“ einschätzt. Seine Kritik daran

book [2001], in: M. Altmeyer u. H. Thomä (Hg.), Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, Stuttgart 2006, 314–333; J. Whitebook, Wechselseitige Anerkennung und die Arbeit des Negativen [2001], in: ders., Der gefesselte Odysseus. Studien zur Kritischen Theorie und Psychoanalyse, Frankfurt/M. 2009, 169–202; ders., Die Arbeit des Negativen und die Grenzen des ‚intersubjective turn‘. Eine Erwiderung auf Axel Honneth [2003], in: M. Altmeyer u. H. Thomä (Hg.), Die vernetzte Seele, a. a. O., 334–352.

13 A. Honneth, Das Werk der Negativität, a. a. O., 253.14 Ebd., 254.15 Ebd., 255. Unter Objektbeziehungstheorie versteht Honneth diejenige Form psychoanalytischer

Theorie, „in der die Organisation der libidinösen Triebe in systematischer Verschränkung mit den frühkindlichen Beziehungen zu anderen Personen betrachtet wurde, um zu einer komplexeren und differenzierteren Sicht der Ich-Entwicklung zu gelangen“ (A. Honneth, Objektbeziehungstheorie, a. a. O., 1094).

1� Honneth bezieht sich hier vor allem auf die Arbeiten von René Spitz über John Bowlby bis hin zu Daniel Stern; zusammenfassend dazu M. Dornes, Der kompetente Säugling. Die präverbale Ent-wicklung des Menschen, Frankfurt/M. 1993.

17 A. Honneth, Das Werk der Negativität, a. a. O., 257.18 Ebd., 259.19 A. Honneth, Objektbeziehungstheorie, a. a. O., 1093.20 Ders., Das Werk der Negativität, a. a. O., 259.

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formuliert er gleichzeitig als Gegenentwurf: als sein eigenes Projekt, „die Kritische Theorie auf eine psychoanalytisch orientierte Anthropologie zurückzuführen“.21 Wesentlich beharrt er darauf, dass im Programm des Intersubjektivismus der „Wahrheitsgehalt des Hobbesianis-mus“22 dadurch verlorengehe, dass dabei das Werk des Negativen, als welches Whitebook im Rekurs auf André Green die aggressiv-verzehrende Begierde des Selbstbewusstseins nach Allmacht und Abschließung fasst, vorab soziologisiert werde.23 Für Whitebook ist es dem-nach gerade das Fortwirken einer nicht vollkommen domestizierbaren ersten Natur in der sub-jektiven zweiten Natur, das für menschliche Kreativität und Destruktivität und damit für die Konflikte im Subjekt und zwischen Subjekt und objektiver zweiter Natur verantwortlich ist; nach Whitebook verliere Honneth paradoxerweise das in dem von ihm analysierten Kampf um Anerkennung virulente Konfliktmoment aus den Augen. Dagegen gingen die Subjekte Aner-kennungsbeziehungen primär aus Not ein, weil sie durch die Selbständigkeit des Anderen dazu gezwungen seien, ihre eigenen Allmachtsbedürfnisse wechselseitig einzuschränken.24

Einig sind Honneth und Whitebook sich also darin, dass die subjektive zweite Natur sich durch eine Aneignung der objektiven zweiten Natur – wozu die intersubjektiven Bezie-hungen ebenfalls zählen – bildet. Ebenfalls stimmen sie darin überein, dass die subjektiven Allmachtsbedürfnisse – die erste Natur – intersubjektiv, das heißt durch die objektive zweite Natur, begrenzt werden. Strittig ist dagegen, ob es zur Erklärung der Negativität, und das heißt auch zur Erklärung der Konflikthaftigkeit zwischen Subjekt und Gesellschaft, nötig ist, auf ein nicht in die subjektive zweite Natur integrierbares Naturmoment zurückzugreifen. Die Argumente lassen sich an der Diskussion der Säuglingsforschung konkretisieren, die sich als Gegenstand gut eignet, weil Honneth wie Whitebook hier ihrem Anspruch nachkom-men, die Ergebnisse empirischer Forschung mit philosophischer Reflexion zu verbinden; eben dieser Anspruch liegt auch der Diskussion zwischen Neurowissenschaften und Philosophie zu Grunde und ist insofern für unsere Diskussion relevant.25 Der Streit geht hier konkret um die Einschätzung des primären Narzissmus, den Honneth insgesamt bestreitet und dessen Bedeu-tung Whitebook verteidigt. Beide beziehen sich hier auf die Theorie der Momente, welche der Säuglingsforscher Fred Pine auf der Basis seiner klinischen Forschungen entwickelte.2� So beobachtete er bei Säuglingen durch den Tag hindurch sehr verschiedene Zustände, von denen einige eine verschmelzende und andere eher eine abgegrenzte Qualität aufwiesen; die-se Ergebnisse veranlassten ihn zur Reformulierung der Theorie vom primären Narzissmus, welche von totaler Unabgegrenztheit und daraus folgenden ursprünglichen Allmachtsphanta-sien des Säuglings ausgeht.27

21 J. Whitebook, Wechselseitige Anerkennung, a. a. O., 1�9/70. 22 Ebd., 1�9. 23 Whitebook bezieht sich hier auf: A Green, Le travail du negatif, Paris 1993; vgl. J. Whitebook,

Wechselseitige Anerkennung, a. a. O., 178 ff. 24 Vgl. J. Whitebook, Wechselseitige Anerkennung, a. a. O., 172 f., 179 f.; ders., Die Arbeit des Nega-

tiven, a. a. O., 33�, 349 f.25 Dass dieser Anspruch in vielen der neurowissenschaftlichen Angriffe auf das, was dort unter aktu-

eller Philosophie verstanden wird, allerdings oft um ein Vielfaches verfehlt wird, zeigt: Ch. Zunke, Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit, Berlin 2008.

2� F. Pine, Infant research, the symbiotic phase, and clinical work. A case study of a concept, in: ders., Device, ego, object and self. A synthesis for clinical work, New York 1990.

27 A. Honneth, Facetten des vorsozialen Selbst, a. a. O., 326 ff.; vgl. auch M. Dornes, Die Seele des Kindes. Entstehung und Entwicklung, Frankfurt/M. 200�, 58 ff.

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Nun erkennt Honneth in Pines „Episoden der Verschmelzung“28 ein im Kern intersubjek-tives Erleben. Darum begreift Honneth die psychoanalytische These frühkindlicher Allmachts-phantasien als irreführend29, da sie frühe Selbstempfindungen systematisch ausblende. So sei es schließlich einzig das tief im Subjekt verankerte Erwartungsschema, das sich in primärer Inter-subjektivität als „,Nullpunkt‘ aller Erfahrungen von Anerkennung“30 konstituiere, über welches sich die konstitutive Ansprechbarkeit noch des erwachsenen Menschen für Verschmelzungs-erfahrungen sowohl in Liebesbeziehungen als auch in der Dimension von Massenpsychologie erklären ließe. Dasjenige, was die menschliche Natur demnach in intersubjektivistischer Per-spektive wesentlich auszeichnet, ist dann ihre elementare Sozialität. Die erste Natur des Säug-lings lebt demnach, indem sie sich intersubjektiv zur subjektiven zweiten Natur formt. Die erste Natur hat jenseits dieser angeeigneten Formen der zweiten Natur kein relevantes Eigenleben. Diese Neutralisierung der Arbeit des Negativen wird der Sache der menschlichen Natur nach Whitebook jedoch nicht gerecht. Dies begründet er damit, dass der Psychoanalyse als Theorie der Subjektgenese andere Konzeptionen von Zeitlichkeit und Erleben zu Grunde liegen als der expe-rimentellen Säuglingsforschung31, welche Honneth zur Begründung seiner intersubjektivistischen Revision heranzieht. Allerdings impliziert bereits der von Freud geprägte und später durch Lacan und Laplanche wieder aufgegriffene Begriff der Nachträglichkeit32, was dem experimentellen For-schungssetting notwendig entgehen muss: Danach liegt das für die Subjektkonstitution wirksame Moment erstens in der (subjektiv) erlebten Intensität und nicht in der Dauer einer Erfahrung, und zweitens konstituiert sich die (subjektive) Bedeutung erst nachträglich, indem hinzukom-mende bedeutsame Szenen das zuvor Erlebte in einem lebenslänglichen Prozess rekonfigurie-ren und verändern. Die experimentellen Untersuchungsbedingungen sind hingegen gebunden an die Gegenwart des Untersuchungszeitpunkts und zudem auch noch abhängig von den kurzen Phasen, in welchen die Säuglinge überhaupt aufmerksam genug sind, um an den Experimenten teilzunehmen – ein Umstand, den Pine in seiner Theorie der Momente selbst problematisierte.33

Während Whitebook insgesamt an der primärnarzisstischen Antisozialität der mensch-lichen Natur als der in der (Lebens-)Not geborenen Arbeit des Negativen festhält, kann sich Honneth zwar einen asozialen leiblichen Anfangszustand des Subjekts wie auch ein in der menschlichen Subjektivität tief verankertes antisoziales Streben vorstellen. Ein solches resul-tiert nach Honneth jedoch nicht aus einer Triebdynamik im Freudschen Sinne, sondern ist durch die im Sozialisationsprozess notwendige, aber eben in „nachträgliche[r] Adaption“ 34 entstehende Frustrationsenergie motiviert; die spezifisch menschliche Natur, das Selbst, kon-stituiere sich aber in primärer Intersubjektivität – dem „,Nullpunkt‘ aller Erfahrungen von Anerkennung“35 –, fundamental sozial.

28 Vgl. A. Honneth Facetten des vorsozialen Selbst, a. a. O., 327, kursiv im Original. 29 Honneth bezieht sich hier vor allem auf die Arbeiten Daniel Sterns zu der Herausbildung eines ele-

mentaren Selbstgefühls; vgl. D. N. Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart 1992; und: A. Honneth, Facetten des vorsozialen Selbst, a. a. O., 321 f.

30 Ebd., 330. 31 So seien die Ergebnisse empirischer Säuglingsforschung epistemologisch nicht zu vereinbaren mit

den Erfahrungen klinischer Psychoanalyse; vgl. A. Green, Science and Science­Fiction in der Säug-lingsforschung, in: Zeitschrift Psychoanalytische Theorie und Praxis, 15 (2000), 438–4��.

32 Zu diesem Begriff Freuds vgl. ausführlich Ch. Kirchhoff, Das psychoanalytische Konzept der Nach-träglichkeit. Zeit, Bedeutung und die Anfänge des Psychischen, Gießen 2009.

33 Vgl. J. Whitebook, Wechselseitige Anerkennung, a. a. O., 339.34 A. Honneth, Facetten des vorsozialen Selbst, a. a. O., 327.35 Ebd., 330.

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Wie unschwer zu erkennen ist, bleibt die Debatte zwischen Honneth und Whitebook offen und führt in der Bestimmung und Einschätzung der vorsozialen Natur die theoretischen Diffe-renzen zwischen Anerkennungstheorie und Triebtheorie vor. Während die menschliche Natur anerkennungstheoretisch wesentlich intersubjektiv und damit sozial bestimmt ist, schließt sie in triebtheoretischer Perspektive die erste Natur als das Werk des Negativen nicht als Resul-tat, sondern als Begründungsmoment menschlicher Natur ein, aus dessen Unangepasstheit an die sozialen Verhältnisse sowohl das aggressive als auch das kreative Potenzial des Menschen resultiert. Whitebooks Verweis auf die der ersten Natur inhärente Kreativität und Destruk-tivität impliziert die Möglichkeit des Individuums, sich von gesellschaftlicher Normalität und den geltenden Moralvorstellungen distanzieren zu können, sei es im Hinblick auf Kör-pernormen, Denkweisen oder sozialen Regeln. Dieses Potenzial der ersten Natur begründet schließlich auch die Möglichkeit der Emanzipation; darin ist die erste Natur als ein Moment von Unbeherrschtheit bestimmt. In Honneths anerkennungstheoretischer Perspektive hingegen werden tendenziell Dimen-sionen der Herrschaft, der Disziplinierung und der Asymmetrie innerhalb der für die sub-jektive zweite Natur konstitutiven primären Intersubjektivität abgeschwächt. Obwohl die objektive zweite Natur für die Entwicklung subjektiver zweiter Natur als viel wichtiger einge-schätzt wird als die erste Natur, und obwohl diese objektive zweite Natur durchaus als wider-sprüchlich und Gewaltverhältnis denkbar ist, konstituiert sich die subjektive zweite Natur zwar notwendig gebrochen, aber nicht aus dem herrschaftsförmigen Antagonismus zwischen natürlichen Ansprüchen und gesellschaftlichen Regeln. Durch die Betonung der primären Inter-Subjektivität als „,Nullpunkt‘ aller Erfahrungen“3�, welche Honneth nur durch die Hin-zunahme der Beobachterperspektive der 3. Person in Anschlag bringen kann, erscheint das noch werdende Selbst bereits als Subjekt und als ebenso handlungsmächtig, wie es die expe-rimentelle Forschung für die „kompetenten Säuglinge“37 nachweisen konnte. Die erste Natur fügt sich dem Sozialen in dieser Konzeptualisierung widerstandslos ein und ist darin merk-würdig qualitätslos. Die Frage nach dem Naturmoment in der Subjektkonstitution bleibt damit auf halber Strecke liegen. Während in Honneths Modell alle Motive zum Handeln und Leben immer schon im intersubjektiven Zirkel entstehen, argumentiert Whitebook orthodox freudianisch für ein solipsistisch und primärnarzisstisch jeglicher Sozialität trotzendes Individuum. Zu Recht merkt Hans-Joachim Busch an, dass es doch aber „auch Bedürfnisse geben [müsste], die nicht ausschließlich intersubjektiv bedingt sind, sondern durch etwas darüber Hinausge-hendes hervorgerufen werden. Umgekehrt gefragt: Wie kann etwas darüber Hinausgehendes immer nur durch etwas bestehendes Intersubjektives erklärt werden? Wenn ein Individuum auf die Welt kommt, bringt es nicht etwas neues hinzu? Und wenn ja, was?“38 Diese Fragen weisen in die richtige Richtung, da sie angesichts der unüberbrückbaren Gegensätze in den Positionen gewissermaßen den Finger darauf legen, dass keine der beiden Positionen die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Gesellschaft im Subjekt adäquat beantwortet. Um die Vermittlung in diesem Verhältnis genauer in den Blick zu bekommen, schlagen wir eine Relektüre des Adornoschen Begriffs des Hinzutretenden vor.

3� Ebd.37 Vgl. M. Dornes, Der kompetente Säugling, a. a. O. 38 H.-J. Busch, Intersubjektivität als Kampf und die Anerkennung des Nicht-Intersubjektiven, 2002, http://

www.psyche.de/forum_psyche_whitebook.phpseite=Z_DET&Z_LFNR=025�175001030344849 (letzter Zugriff 13.03.2011).

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II. Vernunft, Natur und das Hinzutretende bei Adorno

Im Rahmen seiner Metakritik der praktischen Vernunft39 nimmt Adorno einige handlungs-theoretische Bestimmungen vor, die für die skizzierte Diskussion von Bedeutung sind. Den Hintergrund dieser Bestimmungen bildet die Kritik Adornos an der mit der kantischen Moral-philosophie identifizierten Theorie der Gesetzesmoral. Die Fassung der Moral als Gesetz, das heißt als abstrakte Form von Moralität, verunmöglicht Adorno zufolge gerade das, was sie begründen können soll: freie Handlungen. Denn wird die Moral als Gesetz gefasst, so wird sie von einer „Entpraktizierung“ und „Entgegenständlichung“ betroffen: „[E]rst als ent-gegenständlichte wird sie zu jenem absolut Souveränen, das in der Empirie ohne Rücksicht auf diese, und auf den Sprung zwischen Handeln und Tun, soll wirken können.“40 Damit Hand-lungen gemäß der Gesetzesmoral vollzogen werden können, reicht die vernünftige Einsicht nicht aus. „Um zur Praxis zu kommen, muß sich die als Gesetzgebungsvermögen bestimmte Vernunft des Nichtvernünftigen bedienen: vernunftferner Motive oder ebenso vernunftferner Autoritäten.“41 Das ist für Adorno die paradoxe Situation der kantischen Moralphilosophie: Damit Vernunft in der Praxis wirksam sein beziehungsweise praktisch werden kann, ist sie notwendig auf etwas Außervernünftiges angewiesen, da der „Eingriff von reinem Geist“42 in die Praxis schlicht nicht vorstellbar ist. Ausdrücklich gegen diese Äußerlichkeit von Vernunft und Natur wendet Adorno sich nun in seinen handlungstheoretischen Erwägungen. Solange ein menschliches Wesen noch keine der Fähigkeiten erworben hat, die es dazu in die Lage versetzen, seine eigenen Bedürfnisse dem moralischen Gesetz zu unterwerfen, ist es unfrei. Es folgt lediglich seinen, noch durch keine Internalisierung gesellschaftlich gültiger Normen unterbrochenen natürlichen Antrie-ben. Freiheit von der Fremdbestimmung durch natürliche Antriebe kann nur erreicht werden, wenn ein Subjekt diese Antriebe einem Gesetz unterstellt, das es sich als Ausdruck seiner Freiheit selbst gegeben hat.43 Freiheit in diesem Sinne, das heißt als Autonomie, hat als ihr konstitutives Moment dann die Herrschaft über die innere und zu diesem Zeitpunkt noch erste Natur des Subjekts. Erst sobald das Subjekt seine innere Natur den Gesetzen unterworfen hat, die es sich selbst gibt, richtet es sie auch gemäß diesen Gesetzen aus, wodurch die erste Natur des Subjekts zu einer zweiten wird. Diese Verwandlung der ersten in eine zweite Natur wird selbstredend nicht durch eine einmalige Entscheidung in Gang gesetzt. Sie vollzieht sich viel-mehr als Sozialisationsprozess, und insofern gibt sich das Subjekt nicht seine ihm ureigenen Gesetze – genauso wenig wie es sich seine eigene, also eine Privatsprache gibt –, sondern es erwirbt auf seine ihm eigene Weise die gesellschaftlich gültigen Gesetze. Das führt nun zu einer veränderten Betrachtungsweise dessen, was Terry Pinkard als „Para-dox der Autonomie“ bestimmt hat: „The paradox arises from Kant’s demand that, if we are to impose a principle (a maxim, the moral law) on ourselves, then presumably we must have a reason to do so; but, if there was an antecedent reason to adopt that principle, then that reason

39 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., 211–294.40 Ebd., 235.41 Ch. Menke, Modell 1: Freiheit. Zur Metakritik der praktischen Vernunft II. Kritik der abstrakten

Moralität, in: A. Honneth u. Ch. Menke (Hg.), Theodor W. Adorno. Negative Dialektik, Berlin 200�, 159.

42 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., 22�.43 Vgl. Ch. Menke, Autonomie und Befreiung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 58 (2010),

�77.

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would not itself be self­imposed; yet for to be binding on us, it had to be […] self­imposed.“44 Danach kann es ja eben auch kein bereits unter einem Gesetz stehendes Subjekt sein, das sich durch Selbstgesetzgebung erst zu einem Subjekt macht, denn dann wäre jenes Gesetz, das sich das Subjekt gibt, von einem anderen, ihm vorausgesetzten Gesetz erst eingesetzt worden. Wird das Gesetz aber von einem „lawless agent“45 eingesetzt, so stammt es nicht aus Freiheit, denn erst durch das Gesetz gibt es Freiheit. Soll diese Figur mit dem Verhandlungsgegenstand der Debatte zwischen Honneth und Whitebook vermittelt werden, ergibt sich in ontogenetischer Perspektive ein Bild des Säug-lings als das, was Pinkard „lawless“ nennt. Aber nicht nur als das, denn die Gesetze, unter denen das Subjekt stehen wird, zu welchem sich der Säugling in der Sozialisation entwickelt, gibt sich der Säugling nicht selbst. Sie bestehen ja schon in den sozialen Beziehungsprakti-ken, an denen der Säugling teilhat. Er verfügt nur über eine elementare Selbstempfindung, kann sich kein Gesetz geben und die Beziehungen, in denen er zu einem Subjekt wird, sind selbst noch asymmetrisch, das heißt, auch in ihnen ist er heteronomer Herrschaft unterworfen. Der Säugling ist so in doppelter Hinsicht unfrei: gegenüber den eigenen natürlichen Antrie-ben und gegenüber den Gesetzen, mit denen er von seinen Bezugspersonen konfrontiert wird. Die Freiheit, die ein Subjekt in der Sozialisation als seine Autonomie erwirbt, überwindet dann den Zwang der ersten inneren Natur durch die Übernahme von gesellschaftlich gültigen Gesetzen. Die Freiheit von der ersten Natur, das heißt die Ausbildung einer subjektiven zwei-ten Natur, erfolgt somit als Unterwerfung unter die objektive zweite Natur gesellschaftlicher Praktiken. Nur ein Subjekt, das diesen Prozess durchlaufen hat, kann sich dann frei nennen. Damit ein Subjekt gemäß seinen vernünftigen Einsichten handeln kann, reichen diese alleine jedoch nicht aus. „Bewußtsein, vernünftige Einsicht ist nicht einfach dasselbe wie freies Handeln, nicht blank dem Willen gleichzusetzen.“4� Zur vernünftigen Einsicht muss ein sinnlich-körperliches Moment dazukommen. Dieses darf aber der vernünftigen Einsicht nicht äußerlich sein, denn sonst würde die von Adorno kritisierte Paradoxie reproduziert. Im handelnden Subjekt muss die Vernunft vielmehr selbst materiell realisiert sein. Jenen materiel-len Aspekt, der der Vernunft immer schon zukommen muss, wenn Subjekte gemäß vernünf-tigen Einsichten handeln können sollen, versieht Adorno nun mit dem auf den ersten Blick irritierenden Begriff des Hinzutretenden. Irritierend ist dies deswegen, weil dieser Begriff den Eindruck erzeugt, der mit ihm gemeinte materielle Aspekt träte zur vernünftigen Einsicht tatsächlich von außen hinzu. Adorno ist sich dieses Problems durchaus bewusst und sieht seine Wortwahl noch der Position geschuldet, die er zu kritisieren versucht.47 Da Vernunft und Natur im handelnden Subjekt jedoch nicht einander äußerlich sein können, müssen sie in dem, was der Begriff des Hinzutretenden meint, als in sich unterschiedene Einheit verstan-den werden. „Das Hinzutretende ist Impuls, Rudiment einer Phase, in der der Dualismus des Extra- und Intramentalen noch nicht durchaus verfestigt war, weder willentlich zu überbrük-ken noch ein ontologisch Letztes.“48 Entscheidend für unsere Diskussion ist hieran, dass die Einheit, die zwischen Vernunft und Natur im Hinzutretenden herrschen soll, von Adorno als evolutionäres Rudiment verstan-den wird. Die Phase, aus der jenes Rudiment herstammt, ist nun keine andere als diejenige der

44 T. Pinkard, German Philosophy 1760–1860. The Legacy of Idealism, Cambridge 2002, 59 f.; vgl. dazu Ch. Menke, Autonomie und Befreiung, a. a. O., �75.

45 T. Pinkard, German Philosophy, a. a. O., 59.4� Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., 22�.47 Vgl. ebd., 228.48 Ebd., 227 f.

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frühkindlichen Entwicklung, in der zwischen Selbst und Anderem noch keine dauerhafte und strikte Differenz bestand. Aus dieser Phase dauert demnach nicht nur in jedem erwachsenen Subjekt etwas fort, sondern dieses Fortdauern ist notwendig, damit Handlungen überhaupt möglich sind. Zwar hat die Vernunft sich „genetisch aus der Triebenergie als deren Diffe-renzierung“49 entwickelt, diese Differenzierung geht aber nicht so weit, dass die Vernunft sich darin von ihrem somatischen Grund vollkommen ablöst, auch wenn sie mit ihm nicht identisch ist. Der hinzutretende Impuls darf nun aber nicht als etwas rein Körperliches verstanden wer-den. Er bezeichnet vielmehr die Einheit von Vernunft und Natur in jedem Subjekt, das eine Handlung vollzieht, und ist somit kein schlicht natürlicher Impuls im Sinne einer ersten Natur, sondern seinerseits zweite Natur. Von einer Handlung ist weiter auch nur dann zu reden, wenn das betreffende Subjekt sich selbst als Subjekt der Handlung weiß, wenn es die Handlung also bewusst vollzieht, sonst wäre allenfalls von Reflexen oder Verhalten zu reden. Das heißt für das Hinzutretende, dass es „intramental und somatisch in eins“50 sein muss; intramental: weil das Subjekt sonst nichts von dem wüsste, was es tut, somatisch: weil kein Subjekt ohne Körper handeln kann. Da Handlungen jedoch nie in einem luftleeren Raum stattfinden, darf auch die philosophische Reflexion auf die Bedingungen von Handlungen diese nicht ihrer situativen Eingebundenheit entheben, sie eben gerade nicht „entpraktizieren“.51 Die Einheit von Vernunft und Natur im Hinzutretenden ist somit eine Einheit, die in bestimmten Subjekten in bestimmten sozialen Situationen besteht. Wenn das Hinzutretende als Impuls verstanden wird, den ein Subjekt in einer bestimmten Situation hat, so ist dieser Impuls einerseits eine Reaktion des Subjekts auf diese bestimmte Situation, er ist aber ande-rerseits nicht aus dieser Situation ableitbar. Singers oben bereits erläuterte Vorstellung, dass auch bewusste Handlungsentscheidungen stets aus neuronalen Verschaltungen resultieren, die uns nicht bewusst werden können, weswegen die Entscheidung eines Subjekts in einer bestimmten Situation nicht auf dessen Freiheit, sondern auf die neuronalen Abwägungspro-zesse zurückzuführen ist, die dem Subjekt gar nicht bewusst werden können52, macht dagegen aus dem Bestimmtsein des Subjekts durch eine Situation einen kausalen Determinationszu-sammenhang. Gerade gegen eine solche Reduktion des Zusammenhangs von Entscheidung und Handlung auf einen körperlichen, das heißt rein natürlichen Prozess, ist die genannte Fassung des Impulses als „intramental und somatisch in eins“53 gerichtet. Die Entscheidung, die zur Handlung führt, ist zwar zunächst als moralische Erkenntnis zu begreifen, dass es richtig ist, in dieser oder jener Situation dieses oder jenes zu tun, aber diese Entscheidung braucht, damit sie zur Handlung führt, keinen Impuls, der ihr als vernünftiger Einsicht noch äußerlich wäre. Als Einheit von Vernunft und Natur treibt der Impuls „über die Bewußtseins-sphäre hinaus, der er doch auch angehört“.54 Die Erkenntnis, die zur Handlung führt, ist somit selbst schon Impuls, dieser muss nicht erst noch zu ihr dazukommen. Zu dieser Erkenntnis kommt ein Subjekt eben in einer bestimmten Situation, von der es geistig und körperlich so

49 Ebd., 229.50 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., 228.51 Daraus motiviert sich Adornos Kritik an moralischen Experimenten. Weil in solchen stets von der

affektiven und somatischen Betroffenheit der handelnden Person abstrahiert werden muss, eignen diese sich nicht, um die Freiheit der Handlung zu beweisen (vgl. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., 222–225).

52 Vgl. W. Singer, Verschaltungen legen uns fest, a. a. O., 52. 53 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., 228.54 Ebd.

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affiziert wird, dass der rationale Prozess des Abwägens von Argumenten für oder gegen eine bestimmte Entscheidung in der Erkenntnis, die Impuls ist, sein Ende und seinen Ausdruck findet.55 Adornos Begriff des Hinzutretenden scheint somit als subjektive zweite Natur, die die objektive zweite Natur mit der ersten Natur des Menschen vereint, eine Versöhnung von Ver-nunft und Natur darzustellen. Ganz so, eben als Versöhnung, hatte auch McDowell den Begriff der zweiten Natur konzipiert.5� Obgleich auch er die subjektive zweite Natur als etwas Erwor-benes begreift, worin eine „gediegene Erziehung“ mündet, in der sich der „ethische Charakter geformt“57 hat, versteht er den Prozess, der dazu geführt hat, im Unterschied zu Adorno als herrschaftsfreien.58 Die erste Natur des Menschen geht demzufolge in seiner zweiten Natur ohne Rest auf. Zwischen dem Subjekt, das sich die objektive zweite Natur angeeignet hat, und eben jener besteht kein Konflikt mehr.59 Im gesellschaftlich konstituierten Subjekt wäre somit die „konstitutionelle Unangepaßtheit des Menschen“�0, um deren richtige begriffliche Fassung sich die Debatte zwischen Honneth und Whitebook drehte, aufgehoben. Wenn in der subjektiven zweiten Natur Vernunft und Natur versöhnt sind und dort kein Konflikt mehr besteht, so ist das Subjekt auch mit der objektiven zweiten Natur versöhnt. Aus Adornos Perspektive kann dies jedoch keine befriedigende Lösung sein, denn dass Subjekte unter der Einrichtung der Gesellschaft leiden, ist für ihn schlicht nicht zu leug-nen. Entsprechend kann die subjektive zweite Natur für Adorno sowenig eine Gestalt von Versöhnung sein wie die objektive zweite Natur, sodass das Verhältnis von Vernunft und Natur im Subjekt anders gefasst werden muss. „Frei sind die Subjekte, nach Kantischem Modell, soweit, wie sie ihrer selbst bewußt, mit sich identisch sind; und in solcher Identität auch wieder unfrei, soweit sie deren Zwang unterstehen und ihn perpetuieren.“�1 Die Identität des Subjekts mit sich, das heißt das, wozu das Subjekt durch die Aneignung der objektiven zweiten Natur geworden ist, versteht Adorno nicht als etwas, das nach erfolgter Aneignung schlicht besteht und bestehen bleibt. Denn einerseits war der Aneignungsprozess selbst kein natürlicher Prozess, sondern einer, der sich in geschichtlich und gesellschaftlich bestimmten Beziehungen vollzog, die selber asymmetrisch und herrschaftlich angelegt sind, und ande-rerseits erfordert es einige Anstrengung vom Subjekt, seine Identität aufrechtzuerhalten, das heißt ein Teilnehmer an der objektiven zweiten Natur zu bleiben, indem es seine subjektive zweite Natur erhält. Die subjektive zweite Natur ist also keine „natural realization of a slum-bering potential“�2, sie wird vielmehr durch Herrschaft hervorgebracht und aufrechterhalten.

55 Vgl. Ch. Menke, Kritik der abstrakten Moralität, a. a. O., 1�1.5� Vgl. J. McDowell, Geist und Welt, a. a. O., 111.57 Ebd., 107, 109.58 Den Erwerbsprozess der zweiten Natur bestimmt McDowell mit den Begriffen Bildung und Ini-

tiation, deren Verhältnis er selbst jedoch nur ungenau bestimmt. Der Bildungsbegriff gibt dem genannten Prozess einen nicht abschließbaren Charakter, wohingegen der Initiationsbegriff ihn in die Nähe eines nur einmal zu durchlaufenden Rituals rückt (vgl. G. W. Bertram u. a., In der Welt der Sprache. Konsequenzen des semantischen Holismus, Frankfurt/M. 2008, 300). Angemessener ist es darum, den Beginn des sozialisatorischen Erwerbsprozesses Initiation zu nennen, seine kon-tinuierliche Fortsetzung dagegen Bildung.

59 Zum Begriff der Aneignung in diesem Kontext vgl. Ch. Menke, Autonomie und Befreiung, a. a. O., �81 ff.

�0 A. Honneth, Das Werk der Negativität, a. a. O., 259.�1 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., 294.�2 R. B. Pippin, Hegel’s Practical Philosophy. Rational Agency as Ethical Life, Cambridge 2008, �2.

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Das hat wiederum Folgen für den Begriff der Natur, denn unfrei sind die Subjekte „als nichtidentische, als diffuse Natur, und doch als solche frei, weil sie in den Regungen, die sie überwältigen – nichts anderes ist die Nichtidentität des Subjekts mit sich –, auch des Zwang-scharakters der Identität ledig werden“.�3 Die subjektive zweite Natur kann als Identität des Subjekts nur aufrechterhalten werden, wenn die diffuse erste Natur, die natürlichen Regungen des Subjekts, dem Identitätszwang unterworfen werden. Daraus folgt für Adorno, dass in der Überwältigung durch die Regungen der diffusen Natur im Subjekt auch eine Form der Freiheit des Subjekts liegen muss. Erweckte der Begriff des Hinzutretenden den Anschein, es gäbe im Subjekt keine diffuse, also keine erste Natur mehr, und es liege die Freiheit des Subjekts gerade in der Einheit von Vernunft und Natur, die der Begriff des Hinzutretenden meint, so fragt es sich nun, wie diese Einheit angesichts der eben erweiterten Bestimmungen von Vernunft und Natur zu verstehen ist. Denn frei ist das Subjekt nach Adorno erstens als seiner selbst bewusstes und demzufolge vernünftiges Subjekt, das sich von der Determination durch seine natürlichen Regungen befreit hat (kontemplative Freiheit�4), zweitens als ein Sub-jekt, das sich von diesen Regungen überwältigen lässt und dabei den Identitätszwang auflöst (Freiheit der Natur), und drittens schließlich als ein handelndes Subjekt, in dem Vernunft und Natur eine Einheit bilden (Handlungsfreiheit). Die Natur, die im Hinzutretenden mit der Vernunft in einer Einheit ist, wird von Adorno gerade nicht als erste Natur bestimmt; aber diese unbeherrschte Natur muss auch im Subjekt, das sich eine zweite Natur angeeignet hat, fortdauern, denn wie sonst sollte sie es dem Subjekt ermöglichen, sich vom Zwang der zweiten Natur zu befreien? Ein Subjekt aber, das sich von seinen natürlichen Regungen überwältigen lässt, ist dann zwar gegenüber dem Zwang der zweiten Natur frei, aber es ist nicht mehr handlungsfähig. Das ist das Subjekt nur dann, wenn Vernunft und Natur nicht auseinanderfallen, wenn beide vielmehr in einer Handlung zusam-menkommen. Darin ist die Natur aber bereits zweite Natur. Die Frage ist dann, in welchem Verhältnis die drei genannten Formen der Freiheit stehen sollen. Kein Subjekt kann gleichzeitig im Sinne aller drei Formen frei sein. Dass Adorno an der kontemplativen und an der Freiheit der Natur – die ja zugleich auch Formen der Unfreiheit sind – festhält, obwohl er in der mit dem Hinzutretenden verknüpften dritten Form der Hand-lungsfreiheit über ein Modell verfügt, das das antinomische Verhältnis zwischen den beiden ersten Formen überwinden könnte, hat nun selbst gesellschaftliche Gründe. Der Zwang, der auf den Subjekten lastet, ihre subjektive zweite Natur als ihre Identität in Übereinstimmung mit der objektiven zweiten Natur zu erhalten, sorgt nach Adorno dafür, dass Vernunft und Natur in den Subjekten in ein antinomisches Verhältnis geraten. Die Versöhnung von Vernunft und Natur, die im Hinzutretenden herrschen soll, ist dagegen nur als punktuelle Freiheit zu begreifen. In einer moralischen Handlung befreit sich für Adorno das Subjekt von dem Druck der zweiten Natur, indem es gegen die gesellschaftlich gültige Moral so handelt, dass seine Bedürfnisse mit dem, was es als vernünftig einsieht, übereinkommen. Nur als Befreiung von der objektiven zweiten Natur, wodurch Vernunft und Natur im Subjekt in ein anderes Verhält-nis gesetzt werden, als es in der subjektiven Aneignung der objektiven zweiten Natur der Fall war, gibt es für Adorno gegenwärtig eine Versöhnung von Vernunft und Natur: als praktische Kritik an den bestehenden Formen der Unfreiheit der objektiven zweiten Natur.�5 Diese Ver-

�3 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., 294.�4 Zum Begriff der Kontemplation bei Adorno vgl. M. Seel, Adornos Philosophie der Kontemplation,

Frankfurt/M. 2004.�5 Vgl. ebd., 230; und: Ch. Menke, Autonomie und Befreiung, a. a. O., 692 f.

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söhnung ist selbst eine Form von subjektiver zweiter Natur, aber eine solche, welche die bis dahin gültige Form der subjektiven zweiten Natur verändert. Ob aber eine permanente Versöhnung von Vernunft und Natur im Subjekt in Adornos Sinne überhaupt möglich ist, muss bezweifelt werden. Statt sich allein an diesem utopischen Ziel zu orientieren, wäre es auch möglich, die drei genannten Formen der Freiheit als gleichermaßen zu menschlichem Leben dazugehörende zu begreifen. Das hieße dann auch, dass die Über-wältigung durch natürliche Regungen nicht länger ausschließlich in einem antinomischen Verhältnis zur Vernunft betrachtet werden müsste. Sich von seinen natürlichen Regungen zeitweise überwältigen zu lassen, könnte dann schlicht als Zugewinn an Freiheit, als Erweite-rung menschlicher Erfahrung verstanden werden. Auch dies könnte kein dauerhafter Zustand sein. Als Freiheit kann die genannte Überwältigung nur dann verstanden werden, wenn sie ihrerseits von der kontemplativen und der Handlungsfreiheit begrenzt wird. Das implizierte dann allerdings, dass man im Unterschied zu Adornos utopischer Perspektive an einem Rest nicht integrierbarer Natur festhalten müsste. Zum Menschsein gehörte dann, auch wenn es versöhnte Formen von subjektiver zweiter Natur gibt, dennoch ein unbeherrschter und unbe-herrschbarer Rest. Wie sich das Verhältnis dieses nicht integrierbaren Rests zur zweiten Natur darstellt, und ob dieser Rest diffuse oder doch sozial bestimmte Natur ist, wollen wir nun in der Zusammenführung von Adornos Konzeption mit Lorenzers Theorie der Interaktions-formen untersuchen.

III. Lorenzers Interaktionsformentheorie

Alfred Lorenzers psychoanalytische Sozialisationstheorie eignet sich gerade deswegen beson-ders gut zur Konkretisierung der Adornoschen Figur, da sie explizit an die triebtheoretische Psychoanalyse-Rezeption der frühen Kritischen Theorie anschließt. Lorenzer hält sowohl an den inhaltlichen Erkenntnissen psychoanalytischer Theorie – explizit in kritischer Abgrenzung von Habermas, der sie als Reflexionsmethodologie interpretiert�� – als auch an der Natürlich-keit des Sozialen und an der Natur im Trieb fest. Subjektwerdung begreift er als einen dia-lektischen Prozess zwischen innerer und äußerer Natur, aus der das Subjekt in materiellen Prozessschritten als eine zweite Natur hervorgeht. In diesem Sinne gebe es „keinen Ansatz von Subjektivität außerhalb der praktischen Dialektik“�7 der individuellen wie gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit äußerer Natur wie auch innerer Natur – denn nur wenn Subjektivität voll und ganz auf objektive Bedingungen zurückführbar und Sozialisation radikal als Pro-duktion menschlicher Strukturen durch jene praktische Dialektik auszuweisen sei, ließe sich der Subjektbegriff materialistisch begründen. Unter den objektiven Bedingungen, auf die nun Subjektivität als subjektive zweite Natur zurückführbar sei, ist dabei einerseits die objektive zweite Natur in Form gesellschaftlicher Institutionen und Praktiken gemeint, zugleich ist darin

�� Interessanterweise nennt Honneth im Kontext der Kontroverse mit Whitebook Lorenzer zusam-men mit Habermas als Vertreter einer methodologischen Reformulierung der Psychoanalyse. Lo-renzers Arbeiten, auf die sich Honneth hier bezieht – die sozialwissenschaftliche Reformulierung des psychoanalytischen Verfahrens als Tiefenhermeneutik –, macht jedoch nur einen Teil des Loren-zerschen Œuvres aus, das außerdem explizit auf dem sozialisationstheoretischen Verständnis der Psychoanalyse fußt, welches den zweiten Teil seiner Arbeiten ausmacht (vgl. A. Honneth, Das Werk der Negativität, a. a. O., 255; J. Habermas, Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Nachwort, Frankfurt/M. 1999, 262–364; A. Lorenzer, Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis. Ein historisch-materialistischer Entwurf, Frankfurt/M. 1974, 37–84).

�7 A. Lorenzer, Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie, Frankfurt/M. 1972, 10.

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aber auch ein Rest erster Natur aufgehoben. Konsequent verortet Lorenzer die Psychoanalyse epistemologisch als kritisch-hermeneutische Erfahrungswissenschaft an der Schnittstelle von Physiologie und Gesellschaftstheorie. Bezüglich der Subjektkonstitution sieht er ihre Aufgabe darin, zu analysieren, wie „die ‚innere Natur‘ des Kindes so in menschliche Praxis eingefädelt [wird], dass kindliche Entwicklung in vollem Umfang zugleich als Naturgeschichte wie auch als soziale Bildungsgeschichte aufgrund objektiver politisch-ökonomischer Prozesse gele-sen werden kann, ohne an irgendeiner Stelle vorgegebene, geschichtsunabhängige subjektive Kompetenzen und Strukturen unterstellen zu müssen“.�8 In seiner Theorie der Interaktionsformen rekonstruiert Lorenzer, wie sich das Erleben des Säuglings in körperlich vermittelten Interaktionsprozessen konstituiert, die bereits Monate vor der Geburt als Zusammenspiel zweier Organismen beginnen. Den Ausgang nimmt die-ser Prozess unzweifelhaft am biographischen Nullpunkt als Naturpol, der als materieller wie imaginärer Natur-Kern durch das Leben hindurch bis zum Tod virulent bleibt: die erste Natur. Um diesen herum und von dieser ersten Natur ausgehend, entfaltet sich sodann interaktiv die persönliche Geschichte als Bedürfnisgeschichte. Die Art und Weise, in der Erwachsene auf den (körperlichen) Bedarf eines Säuglings reagieren, geht als Erwartungshaltung in das kör-perliche Erleben des Säuglings ein und produziert hier erst ein gerichtetes Bedürfnis. Dieses Bedürfnis entsteht somit in der spezifischen Interaktion�9 mit einer erwachsenen Bezugsperson als Zusammenspiel physiologischer Funktionsformeln, die zugleich soziale Funktionsformeln sind, denn den Rahmen für das Agieren der Erwachsenen bildet allemal die gesellschaftliche Objektivität, die objektive zweite Natur. Den subjektiven Niederschlag der Einigung auf eine individuell-konkrete Praxis reformuliert Lorenzer in Anlehnung an die Freudsche „Erinne-rungsspur“ als „Interaktionsform“, um die Bedeutung menschlicher Praxis in der nachwir-kenden Spur der Interaktionssequenz im Erleben des Subjekts hervorzuheben.70

Interaktionsformen sind danach nichts anderes als das, als was die subjektive Aneig-nung der objektiven zweiten Natur im werdenden Subjekt als dessen zweite Natur Gestalt annimmt: Sie sind eben gerade keine bloß körperlichen Rückstände, sondern konstituieren als dynamische Wunsch- und Bedürfnisstruktur zugleich die Perspektive der 1. Person. Die ersten Interaktionsformen manifestieren sich vorsymbolisch, „sinnlich-organismisch“ und schlagen sich „szenisch“ als Körper nieder.71 Diese körperliche Erlebnisstruktur aus mannigfaltigen, auf

�8 Ebd., 11. �9 Selbstverständlich kann es sich bei sehr frühen und vor allem bei den vorgeburtlichen Interaktionen

nur um Vorformen von Interaktionen handeln, welche Lorenzer in Antizipation dessen, zu dem sie sich entwickeln werden, bereits „Interaktionsform“ nennt (vgl. A. Lorenzer, Das Konzil der Buch-halter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, Frankfurt/M. 1981, 85). Damit betont er im Unterschied zu Whitebook, der unbegreiflicherweise Intersubjektivität mit dem Sozialen und Interaktivität mit vorsozialer Natur gleichsetzt, den Charakter der Interaktion als genuin sozial. Dass dieses Verständnis jedoch keinen Widerspruch zu, sondern vielmehr eine Präzisierung des vorsozia-len Selbst ohne Verstrickung in intersubjektivistische Zirkel darstellt, werden wir im Folgenden zu zeigen versuchen (vgl. H.-J. Busch, Kommentar, a. a. O.).

70 Der Begriff der „Interaktionsform“ hebt also ausdrücklich nicht auf die Form einer bestimmten Interaktion ab, sondern meint die durch Praxis verkörperlichte Erinnerungsspur: „Auch ist die Inter-aktionsform weder eine dem Kind imputierte äußere Realität, noch – in individualistischer Wendung oder biologistisch verstanden – eine ,innere‘ Formel. Sie ist notwendig beides als Ausdruck einer Einigungssituation. Sie ist eingeübte Praxis.“ (A. Lorenzer, Sozialisationstheorie, a. a. O., 45)

71 „Die Morphologie, das, was an dinghaft-körperlicher Gestalt entsteht, fällt nicht vom Himmel, sondern ist das Resultat des in Funktionsformeln geronnenen Zusammenspiels auf physiologischer Ebene, in das die soziale Sinnstruktur immer schon eingegangen ist. So wird der Körper ‚dinghaft‘ gebildet.“ (A. Lorenzer u. B. Görlich, Die Sozialität der Natur und die Natürlichkeit des Sozialen.

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Wiederholung drängenden Interaktionsformen, die Lorenzer als „Matrix“ sinnlicher Praxis72 beschreibt, umfasst die „schon realisierte innere Natur“ des Subjekts, die jetzt als Trieb nicht mehr zum „Geschichtsjenseits“73 gehört, sondern als Einheit von Natürlichkeit und Soziali-tät dechiffriert ist. Diese Konzeptualisierung markiert offensichtlich einen Unterschied zu Whitebooks Beharren auf einer im Kern antisozialen menschlichen Natur; genauso aber ist sie nicht mit Honneths Konstruktion primärer Intersubjektivität zu vereinbaren, da Loren-zer besagte, innerhalb eines sozialen Interaktionsgefüges „schon realisierte innere Natur“ als Trieb respektive als ein wirksames dynamisches Moment bestimmt, das sich immer nur sozial entfalten kann. Von der Struktur sinnlich-organismischer Interaktionsformen grenzt Lorenzer im Ver-lauf der Subjektgenese sinnlich-symbolische und sprachsymbolische Interaktionsformen ab, anhand derer er die Genese von Sprache und Geist ontogenetisch nachvollzieht. Durch sinn-lich-symbolische Interaktionsformen, den Niederschlägen gegenständlich vermittelter und noch vorsprachlicher Erfahrungsinhalte, vermag sich das Subjekt von den Ansprüchen seiner inneren Natur in ersten Ansätzen zu distanzieren. Zu einer bewussten Beherrschung jener Ansprüche wird das Subjekt aber erst fähig, wenn es seine sinnlichen Erfahrungsinhalte mit Sprachsymbolen verknüpfen kann, wodurch es in die Lage versetzt wird, sich unabhängig von der unmittelbaren Gegebenheit innerer und äußerer Ansprüche probehandelnd mit ver-schiedenen möglichen Handlungsoptionen zu beschäftigen. Somit wird die Entwicklung der Perspektive der 1. Person selbst auch als materieller Prozess lesbar, in dem die Perspektive der 1. Person gerade nicht wie in Singers neurowissenschaftlicher Perspektive auf „emergente Eigenschaften neuronaler Vorgänge“74 reduziert wird. Die Sprachsymbole können jedoch die Ambiguität und Feinkörnigkeit der sinnlichen Erfahrung nie vollkommen und adäquat fassen. Daher bleibt stets ein nicht symbolisierbarer Rest der Erfahrung, der zwar mit den jeweiligen Sprachsymbolen individuell verknüpft bleibt, von diesen aber nicht fixiert werden kann. In Bezug auf Adornos Begriff des Hinzutretenden heißt das, dass ein handelndes Sub-jekt in seiner Handlung diejenigen Interaktionsformen aktualisiert, die sich in ihm als seine zweite Natur niedergeschlagen haben. Das trifft nach Lorenzer und Adorno zunächst auf jede Handlung zu. Dass ein Subjekt so handelt, wie es handelt, hat demnach eine persönliche und gesellschaftliche Geschichte, die sich als zweite Natur körperlich und geistig im Subjekt niedergeschlagen hat und die Freiheit zur Handlung ermöglicht. Mit Lorenzer ließe sich aber nicht nur sagen, dass der hinzutretende Impuls ein „Rudiment einer Phase“ sei, „in der der Dualismus des Extra- und Intramentalen noch nicht durchaus verfestigt war“75; vielmehr lie-ße sich mit der Interaktionsformentheorie bestreiten, dass es einen solchen Dualismus über-haupt gibt.7� Insofern könnten Vernunft und Natur mittels der Theorie der Interaktionsformen als versöhnt verstanden werden, denn auch Lorenzer betont, dass sich die Konstitution der subjektiven zweiten Natur – das heißt der Niederschlag sozialer Erfahrung in Interaktions-formen – als interaktive Internalisierung der objektiven zweiten Natur vollzieht. Aber dies

Zur Interpretation der psychoanalytischen Erfahrung jenseits von Biologismus und Soziologismus, in: Der Stachel Freud. Beiträge und Dokumente zur Kulturismus-Kritik, hg. v. B. Görlich, Frank-furt/M. 1980, 341)

72 Vgl. ebd., 333.73 Vgl. ebd., 332, Hervorhebung im Original.74 W. Singer, Verschaltungen legen uns fest, a. a. O., 35.75 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., 227.7� Der Dualismus von Geist und Körper wäre dann lediglich eine theoretische Reflexionsform eines an

ihm selbst nicht dualistischen Verhältnisses von Geist und Körper.

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trifft nur begrenzt zu, denn Lorenzer transformiert die Alternative zwischen einer Bestim-mung durch Anlagen und einer Bestimmung durch soziale Verhältnisse in die Frage nach dem Verhältnis von „Natur-Möglichkeiten“77 zu ihrem sozialen Verwirklichungskontext. Während Honneth die in primärer Intersubjektivität geborenen Erfahrungen als Movens menschlichen Handelns und Sehnens versteht, hält Lorenzer das biologistische Missverständnis des Triebes für „kritisch aufschließbar“.78 Die „realisierte innere Natur“ ist selbst Movens, allerdings nur in einer sozial bestimmten Form, als welche sie überhaupt erst im Sozialen existieren und Wirksamkeit zeigen kann; ohne soziale Form wäre sie tatsächlich diffuse erste Natur. Zudem sieht Lorenzer Konfliktpotenzial in dem gesellschaftlichen Prozess, der die wer-denden Subjekte dazu zwingt, ihre körperlichen Bedürfnisse gemäß der objektiven zweiten Natur zu beherrschen. Sozial Verpöntes kann darin entweder gar nicht erst sprachlich symbo-lisiert werden oder einer Desymbolisierung zum Opfer fallen. In dieser zerfällt der Komplex in die nun wieder sprachlos gewordenen Interaktionsformen, die als Klischees noch nach symptomatischen Ersatzbefriedigungen drängen, und die dann von dem subjektiven Erle-ben entfremdeten Sprachfiguren als leeren Zeichen.79 Die Aneignung der objektiven zweiten Natur durch eine im selben Prozess entstehende subjektive zweite Natur, in welcher die bereits als subjektive zweite Natur realisierte Dynamik der Bedürfnisse auf eine diffuse erste Natur zurückverweist, ist demnach in sich grundsätzlich konflikthaft. Die Versöhnung von Vernunft und Natur kann somit nur punktuell sein; sie bleibt außerdem individuell, persönlich und dem Besonderen einer subjektiven Konstellation vorbehalten. Setzen wir nun diese Theorie in ein Verhältnis zu Adornos Überlegungen zum Hinzutretenden, so ergibt sich Folgendes: Während die kontemplative Freiheit sich als Möglichkeit der Distanzierung von Körperbedürfnissen durch sprachsymbolische Interaktionsformen verstehen lässt, wird die Freiheit der Natur als Hingabe an die Ebenen sinnlicher Interaktionsformen lesbar. Die nur punktuell sich herstel-lende Handlungsfreiheit wird schließlich als Versöhnung der sinnlichen Erfahrungsgehalte mit Bewusstsein und der sprachlich symbolisierten Vernunft deutlich, die moralisches Han-deln als Versöhnung von inneren und äußeren Ansprüchen als Hinzutretendes ermöglichen.

IV. Ethisch-ästhetischer Epilog

War es der nichtintegrierbare Rest, der für Honneth und Whitebook wie für Adorno und Lorenzer das Potenzial für Konflikte zwischen dem Subjekt und der Gesellschaft enthielt, so blieb offen, ob das nicht integrierbare Moment bloße und das heißt: vorsoziale Natur ist oder ob es selbst sozial produziert ist. Für Whitebook wie für Honneth ist diese Frage klar zu ent-scheiden: Jener begreift den nicht integrierbaren Rest als nicht domestizierbare Natur, die das Potenzial für Kreativität und Destruktivität darstellt und gegenüber der geschichtlich-gesell-schaftlich bestimmten subjektiven zweiten Natur tatsächlich geschichtsjenseitig ist. Honneth hingegen begreift das genannte Moment selbst als geschichtlich-gesellschaftlich produziert und hält es demnach auch für möglich, dass das in ihm enthaltene Potenzial für Kreativität und Destruktivität durch die Etablierung gerechter intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse im Sinne dieser Verhältnisse bestimmt und integriert wird.

77 A. Lorenzer, Die Sprache, der Sinn, das Unbewußte. Psychoanalytisches Grundverständnis und Neurowissenschaften, Stuttgart 2002, 131.

78 Ebd.79 A. Lorenzer, Das Konzil der Buchhalter, a. a. O., 110.

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Bei Adorno wurde das genannte Moment mit einer Form von Freiheit identifiziert, näm-lich mit der, sich von den eigenen natürlichen Regungen überwältigen zu lassen und so den Zwang, der in der subjektiven zweiten Natur steckt, zu durchbrechen. Als eine Form von Freiheit kann dieses Moment aber nur verstanden werden, wenn es von kontemplativer und Handlungsfreiheit eingegrenzt wird. Nur im Verhältnis zu diesen ist die Freiheit der Natur im Menschen wirklich eine Form von Freiheit. Lorenzer schließlich begreift das nicht in die subjektive zweite Natur nur teilweise integrierbare Moment ebenfalls als Natur, die jedoch als sinnlich-organismischer Niederschlag von sozialen Interaktionen nicht als reine erste Natur, sondern als „schon realisierte innere Natur“ zu begreifen ist. Sie ist sozial verwirklicht und in interaktiven wie auch intersubjektiven Prozessen wirksam, bleibt aber dennoch letztlich unverfügbar. Vor diesem Hintergrund scheint es nicht möglich, das nicht integrierbare Naturmoment entweder als vorsozial oder durch und durch sozial bestimmt zu markieren. Weil es sich dieser eindeutigen Zuordnung entzieht, aber doch nicht einfach nichts ist, schlagen wir vor, es als „bestimmte Unbestimmbarkeit“80 der menschlichen Natur zu begreifen. Aus neurowis-senschaftlicher Perspektive ist eine solche bestimmte Unbestimmbarkeit schlicht inexistent, da davon ausgegangen wird, dass sämtliche körperliche und geistige Prozesse, „auch wenn wir die genauen Details noch nicht kennen, […] grundsätzlich durch physikochemische Vor-gänge beschreibbar sind“.81 Auch dann, wenn die neuronalen Bestimmungen eines Vorgangs noch nicht eindeutig beschreibbar sind, ist doch von vornherein sichergestellt, dass der Vor-gang selbst erschöpfend neuronal beschrieben werden kann. Die Unbestimmbarkeit, die hier herrscht, besteht nur, weil die momentan zur Verfügung stehenden technischen Mittel noch nicht ausreichen, um das unbestimmte Unbekannte in ein bestimmtes Bekanntes zu transfor-mieren. Etwas mag noch unbestimmt sein, bestimmbar ist es in jedem Fall. Das impliziert ebenfalls den folgenschweren Ausschluss der Perspektive der 1. Person, die gar keine Rolle für die eben zitierten Erwägungen spielen kann, da subjektive Erfahrung in den Resultaten der neurowissenschaftlichen Forschung nur als Emergenzeffekt neuronaler Prozesse auftaucht und somit als subjektive Erfahrung herausfällt. Dem Einwand, dass bestimmte Unbestimmbarkeit nur ein Verlegenheitsbegriff sei, da sich die verwendeten theoretischen Mittel nicht eigneten, dem nicht integrierbaren Natur-moment eine eindeutigere begriffliche Bestimmung zu verschaffen, möchten wir abschlie-ßend mit einem ethisch-ästhetischen Beispiel begegnen. In ihrem Buch Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven82 berichtet die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt davon, wie sie anlässlich des zweiten Todestages ihres Vaters eine öffentliche Rede hielt und dabei begann, unter einem heftigen krampfartigen Zittern ihrer Beine zu leiden. Sie erlebte das Zittern als etwas vollkommen Fremdes, so als ob sie in zwei Personen gespalten sei: Die eine litt unter einem heftigen Zittern, die andere hielt unbeeindruckt davon einen Vortrag.

80 Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt/M. 1997, 112–114. Dass dieser Begriff aus der Ästhetischen Theorie auch für das unbe-stimmbare Moment an der menschlichen Natur passend ist, dürfte keineswegs ein Zufall sein, stellen Kunst und Natur doch jeweils Bereiche dar, die ihre eigene Bestimmtheit nicht erst durch Begriffe und Sprache erhalten, auch wenn diese Bestimmtheit nur durch Begriffe und Sprache thematisiert werden kann. In diese Richtung weist auch: Ch. Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthro-pologie, Frankfurt/M. 2008. In welchem Verhältnis Menkes Kraftbegriff zum psychoanalytischen Begriff des Triebes steht, wäre eine genauere Untersuchung wert.

81 Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung, in: Gehirn und Geist, � (2004), 33.

82 S. Hustvedt, Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven, Reinbek bei Hamburg 2010.

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Im weiteren Verlauf des Buchs berichtet Hustvedt von der Suche nach Erklärungen für den Grund ihres Leidens. Einige Jahre zuvor war es ihre Migräne, die Hustvedt dazu veranlasste, sich mit neurologischen und psychologischen Theorien über das Verhältnis von Körper und Geist zu beschäftigen. Nachdem ihr Zittern zum ersten Mal aufgetaucht war, intensivierte sie ihre Suche nach wissenschaftlichen Erklärungen und vertiefte sich in neurowissenschaftliche, psychoana-lytische und kulturgeschichtliche Studien, begann an wissenschaftlichen Arbeitsgruppen zum Thema teilzunehmen und selbst Vorträge über ihr Leiden zu halten. Während solcher Vorträge tauchte das Zittern wiederholt auf. Sie suchte außerdem Neurologinnen, Psychiaterinnen und Psychoanalytikerinnen auf, erhielt aber keine exakte Diagnose ihres Leidens und infolgedes-sen auch keine Behandlung, die es beheben konnte. Jedes Mal wenn Hustvedt sich in ihren interdisziplinären Studien mit einem Erklärungsansatz für den Grund ihres Leidens beschäftigt hatte und sie dies mit der subjektiven Erfahrung ihres Zitterns in Beziehung setzte, musste sie feststellen, dass der jeweilige Ansatz keine zufriedenstellende Erklärung liefern konnte. Weder ihre eigenen noch professionelle Bemühungen konnten letztlich klären, woran sie litt. Entscheidend ist nun, dass es für Hustvedts Umgang mit ihrem Leiden immer wichtiger wurde, es nicht nur als Gegenstand wissenschaftlicher Analyse aus der Perspektive der 3. Per-son zu betrachten, sondern ihre eigene Erfahrung des Leidens mit ihrer persönlichen Lebens-geschichte und darin besonders mit der Beziehung zu ihrem Vater, mit signifikanten Ereig-nissen, inneren Bildern, mit Wünschen und Träumen zu verbinden. Der Entschluss, ein Buch darüber zu schreiben, markiert diese subjektive Ermächtigungsperspektive. Im Verlauf des Schreibprozesses gelingt es Hustvedt immer mehr, die vollkommene Fremdheit ihres Zitterns, die anfänglich dazu führte, es nur aus der Perspektive der 3. Person zu betrachten, abzubauen. Dies ist ihr aber nur deswegen möglich, weil sie ihren eigenen Wünschen und Erfahrungen, das heißt der Perspektive der 1. Person, gegenüber der objektivierenden Betrachtungsweise der Wissenschaften mehr Aufmerksamkeit schenkte und Bedeutung gab. Auf diese Weise lernte sie schließlich mit der bestimmten Unbestimmbarkeit ihrer eigenen Natur besser zu leben, als es die begrenzten Perspektiven der wissenschaftlichen Erklärungsansätze allein ermöglicht hätten; so lässt sich der letzte Satz des Buches – „Ich bin die zitternde Frau“83 – als Ausdruck der Anerkennung des nicht vollkommen integrierbaren Naturmoments lesen: als Anerkennung der Nichtidentität in der Identität. Das Beispiel dieser eigenwilligen Aneignung eines rätselhaften, durch und durch leib-lichen Phänomens durch die Autorin zeigt, wie konkret jenes bestimmte unbestimmbare Naturmoment im Menschen jeweils als ein lebendiges Besonderes verstanden werden muss. Gleichzeitig zeigt sich, wie sehr eine Interpretation des Naturmoments als etwas Statisches und Immergleiches es stets verfehlt. Obgleich es sich gegenüber allen menschlichen Dome-stizierungsversuchen als spröde erweisen muss, lässt es sich nur durch diese hindurch erahnen und in theoretischer wie praktischer Aneignung in seiner Konstellation verstehen. Gelingt diese Annäherung, eröffnet sich auf eine jeweils individuelle und eigenwillige Art und Weise die Möglichkeit einer punktuellen Versöhnung von Natur und Vernunft im Subjekt: einer Versöhnung in Freiheit.

Philip Hogh, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Institut für Philosophie, Grüneburg-platz 1, 60629 Frankfurt/M.

Julia König, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Institut für Allgemeine Erziehungswis-senschaften, Robert-Mayer-Straße 1, 60054 Frankfurt/M.

83 Ebd., 218.

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Abstract

The neuroscientific naturalism poses a challenge to any philosophical attempt to determine human nature. Although the neurosciences describe the cognitive capacities of human beings as something that is socially acquired, they lack adequate reflection on the social forms in which these capacities emerge and thereby tend to naturalize not only human beings, but society as a whole. In an attempt to find alternatives to the neuroscientific naturalism, the authors refer to the traditions of Critical Theory and psychoanalysis, which enable a different understanding of human nature. This is followed by the debate between Honneth and Whitebook on the question of an anti- or pre-social self, and in reference to Adorno and Lorenzer, the authors develop a concept of second nature that allows them to adhere to the dynamics of the material nature and sociality within the human subject.