Basisbildung und Alphabetisierung Paulo Freire Diplomarbeit · Basisbildung und Alphabetisierung...
Transcript of Basisbildung und Alphabetisierung Paulo Freire Diplomarbeit · Basisbildung und Alphabetisierung...
Basisbildung und Alphabetisierung
Jugendlicher und Erwachsener mit besonderer Berücksichtigung
von Paulo Freire
Diplomarbeit
zur Erlangung des Magistergrades der
Philosophie an der Fakultät für
Bildungswissenschaften
der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
eingereicht bei Herrn
tit. ao. Univ.-Prof. Dr. Peter Stöger
am Institut für Erziehungswissenschaften
eingereicht von
Gabriela Maria Grillmayr
Innsbruck 2008
2
Die Kunst zu schreiben, die Kunst zu lesen,
sagte Nyema, sei wohl das größte Geschenk,
das Menschen einander bereiten könnten,
weil nur diese Fähigkeit ihnen endlich erlaube,
sich nicht nur über Meere und Gipfel,
sondern über die Zeit selbst zu erheben
und aufzufliegen wie der Phur-Ri.
Nach ihren Worten könne ein Mensch,
der zu lesen und zu schreiben imstande sei,
seine Zeit und seinen Ort verlassen wie eine Gottheit,
wenn er Gedanken, Namen, jedes seiner Worte
in Schrift verwandelte
und ein Stück Holz, einen Stein
oder Papier in der Gewißheit beschrieb,
damit eine Botschaft zu hinterlassen, die lesbar blieb,
wenn er selbst längst schon verschwunden
oder gefangen war in einer anderen Gestalt des Lebens.1
1 Ransmayr, Christoph: Der fliegende Berg 2006, S. 212.
3
Herzl icher Dank
gebührt:
• Herrn tit. ao. Univ.-Prof. Dr. Peter Stöger für die Betreuung meiner
Arbeit und die wertvolle und wohlwollende Unterstützung bei diesem
Schreibprozess
• meinen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern für ihr Vertrauen,
ihre Zeit und ihre Bereitschaft, mir aus ihrem Leben und von ihren
Arbeitsgebieten zu erzählen
• den Trainerinnen und Trainern der Alphabetisierung und Grundbildung
für die Weitergabe von Wissen und Erfahrung, für Tipps und Anregungen,
für Praktika und für die Kontakte zu den Interviewpartnerinnen und
Interviewpartnern, insbesondere an Peter Webhofer und dem gesamten
Team von Neustart Grundbildung, Brigitte Bauer, Florian Bauer, Petra
Plotz, Sonja Muckenhuber, Antje Doberer-Bey und Otto Rath
• meiner Mutter, meinen Freundinnen und Freunden, die mit Geduld das
Entstehen der Arbeit verfolgten für ihre Fragen, für Diskussionen und
Ermunterungen, für die (technische) Unterstützung, für das Optimismus
spendende Interesse und den Glauben an meine Arbeit, selbst als noch
kein Wort davon geschrieben stand und für die Bereitschaft sie
(Korrektur) zu lesen, insbesondere an Franz Wurzer und Sonja Ritzer
• nicht zuletzt Klemens für seine Liebe - zu den Büchern und zu mir
4
Eidesstattl iche Erklärung
Ich habe die vorliegende Arbeit vollständig und ohne fremde Hilfe verfasst,
andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen
wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche gekennzeichnet.
Unterschrift:
Innsbruck, 2008
5
Inhaltsverzeichnis VORWORT ............................................................................................ 9
Motivation zur Themenwahl ................................................................. 9
Theoretische Grundlagen....................................................................10
Persönliche Vorannahmen ..................................................................11
Forschungsfrage................................................................................12
Ziele ................................................................................................12
Inhaltliche Gliederung ........................................................................13
1. WORTBEDEUTUNGEN .....................................................................15
1.1 Begriffsbestimmungen und Definitionen.........................................15
1.1.1 Rechnen, Schreiben und Lesen ...........................................15
1.1.2 Analphabetismus ..............................................................16
1.1.3 Primärer Analphabetismus .................................................16
1.1.4 Sekundärer Analphabetismus .............................................17
1.1.5 Funktionaler Analphabetismus............................................18
1.1.6 Funktionale Alphabetisierung..............................................21
1.1.7 Grundbildung/Basisbildung ................................................22
1.1.8 Literacy ...........................................................................29
1.2 Konnex zur Erwachsenenbildung/Erziehungswissenschaft ................32
2. DIE WELT......................................................................................35
2.1 Internationale Alphabetisierung ....................................................35
2.1.1 Allgemeine Bildungsformen................................................35
2.1.2 Quantitative Erhebung.......................................................36
2.1.3 Alphabetisierungshindernisse .............................................37
2.2 Die Anfänge der Alphabetisierung .................................................39
2.3 Alphabetisierung und Grundbildung bis dato...................................42
2.3.1 1950 – 1960 Fundamental education ..................................43
2.3.2 1960 – 1970 Experimental World Literacy Programme...........44
2.3.3 1970 – 1980 Paulo Freires Befreiungspädagogik ...................46
2.3.4 1980 – 1990 Campaining for Literacy ..................................47
2.3.5 1990 – 2000 Education for All/International Literacy Year......48
2.3.6 2000 – 2015 Education for All ............................................51
2.3.7 2003 - 2012 United Nations Literacy Decade ........................55
2.3.8 2005 – 2015 Literacy Initiative For Empowerment ................56
2.3.9 Gegenstimmen .................................................................56
2.4 Alphabetisierung von Mädchen und Frauen ....................................57
6
2.4.1 Beweggründe und Hindernisse............................................58
2.5 Motive und Ziele für Alphabetisierung und Grundbildung..................61
3. PAULO FREIRE (1921-1997) ............................................................63
3.1 Sein Leben und Schaffen .............................................................63
3.1.1 Biographische Notizen .......................................................64
3.1.2 Brasilien ..........................................................................66
3.2 Alphabetisierungsansätze ............................................................70
3.2.1 Akademischer Ansatz ........................................................70
3.2.2 Utilitaristischer Ansatz.......................................................71
3.2.3 Entwicklungsansatz...........................................................71
3.2.4 Romantischer Ansatz.........................................................72
3.3 Emanzipatorische Alphabetisierung ...............................................73
3.3.1 Dekolonisierung des Bewusstseins ......................................73
3.3.2 Kultur des Schweigens ......................................................74
3.3.3 Erziehung ist politisch .......................................................75
3.3.4 Sprache des Volkes...........................................................75
3.3.5 Lesen des Wortes und der Welt ..........................................75
3.3.6 Alphabetisierungsmethode .................................................77
3.3.7 Dialektische Erkenntnistheorie............................................80
3.3.8 Conscientização................................................................81
3.3.9 Domestikation..................................................................83
3.3.10 Lehrer-Schüler-Verhältnis ..................................................84
3.3.11 Bankiers-Konzept .............................................................85
3.3.12 Problemformulierende Bildungsarbeit ..................................86
3.3.13 Dialog .............................................................................87
3.3.14 Gegenstimmen .................................................................88
4. EUROPA........................................................................................89
4.1 Alphabetisierung und Grundbildung in Europa ................................89
4.1.1 Quantitative Erhebungen ...................................................90
4.2 Internationale Studien.................................................................92
4.2.1 Programme for International Student Assessment (PISA) ......92
4.2.2 International Adult Literacy Survey (IALS) ...........................93
4.2.3 Adult Literacy and Lifeskills Survey (ALL).............................95
4.3 Die Anfänge der Alphabetisierung und Grundbildung .......................96
4.4 Alphabetisierung und Grundbildung bis dato...................................97
5. BILDUNGSPOLITIK IN EUROPA ......................................................102
5.1 Bildungspolitik der Europäischen Union........................................102
7
5.1.1 Lebenslanges Lernen.......................................................103
5.1.2 Neue Basiskompetenzen..................................................103
5.1.3 Europäische Referenzniveaus ...........................................104
5.1.4 Grundfertigkeiten und Schlüsselkompetenzen.....................105
5.1.5 Europäischer Qualifikationsrahmen ...................................106
5.1.6 Wirtschaftliche Herausforderungen....................................107
5.1.7 Nutzen der Erwachsenenbildung .......................................109
5.1.8 Zugangsbarrieren ...........................................................110
5.2 Basisbildung und lebenslanges Lernen.........................................111
5.2.1 Kohärente LLL-Strategie in Österreich ...............................112
5.2.2 Steigende Anforderungen in Alltags- und Arbeitswelt ..........113
5.3 Bildung im Wandel - Bildung für den Wandel ................................114
5.3.1 Auswirkungen des Bedeutungswandels von Bildung ............114
5.3.2 Ausgeschlossene der Arbeitswelt ......................................117
5.3.3 Zauberwort Bildung ........................................................118
6. ÖSTERREICH ...............................................................................120
6.1 Alphabetisierung und Basisbildung in Österreich ...........................120
6.1.1 Quantitative Erhebungen .................................................120
6.2 Internationale Studien...............................................................121
6.2.1 Programme for International Student Assessment (PISA) ....123
6.3 Die Anfänge der Alphabetisierung und Basisbildung ......................125
6.4 Basisbildung und Alphabetisierung bis dato ..................................126
6.4.1 In.Bewegung..................................................................126
6.4.2 In.Bewegung-Zukunftsperspektiven ..................................128
6.5 Emanzipatorische Alphabetisierung in Österreich ..........................129
6.5.1 Volkshochschule Linz (VHS Linz).......................................129
6.5.2 Theorie-Praxisbezüge ......................................................132
7. KONZEPTE, METHODEN UND RAHMENBEDINGUNGEN.......................135
7.1 Lernen und Lehren....................................................................136
7.1.1 Motivierung der Teilnehmenden........................................138
7.1.2 Positive Lernerfahrungen .................................................140
7.2 Konzepte .................................................................................143
7.2.1 Bezeichnungen und Konzepte...........................................144
7.2.2 Inhalte von Basisbildung..................................................145
7.2.3 Zielsetzung und Lernprozesse ..........................................146
7.2.4 Erwartungen an Basisbildung ...........................................147
7.2.5 Personengruppen und Konzepte .......................................148
8
7.3 Methoden ................................................................................149
7.3.1 Spracherfahrungsansatz ..................................................150
7.4 Rahmenbedingungen.................................................................152
7.4.1 Trainerinnen und Trainer .................................................153
8. LEBENSWELTEN...........................................................................156
8.1 Lebenstexte .............................................................................156
8.1.1 Von der Angst vor und der Liebe zu den Buchstaben ...........158
8.1.2 Ver-LESEN .....................................................................160
8.1.3 Ver-SCHREIBEN .............................................................160
8.1.4 Ver-SAGEN ....................................................................161
8.1.5 Los-SCHREIBEN..............................................................163
8.2 Leben in einem Tabubereich.......................................................165
8.2.1 Alphabetisierungshindernisse ...........................................167
8.2.2 Basisbildungshindernisse .................................................172
8.2.3 Schulische Gegenmaßnahmen ..........................................173
8.2.4 Chancen(un)gleichheit.....................................................175
8.3 Scheitern als Tabu ....................................................................177
8.3.1 Scham...........................................................................177
8.3.2 Individuelles Scheitern ....................................................178
8.3.3 Institutionelles Scheitern .................................................179
8.3.4 Identitätszuschreibungen.................................................182
8.3.5 Soziales Stigma..............................................................185
8.4 Respekt ...................................................................................191
9. EMPIRISCHE FORSCHUNG.............................................................194
9.1 Zur Methodik............................................................................194
9.1.1 Problemzentriertes Interview ...........................................197
9.1.2 Wörtliche Transkription....................................................198
9.1.3 Qualitative Inhaltsanalyse................................................199
9.2 Auswertung der Interviews ........................................................200
9.2.1 Ergebnisse der Interviews mit den Teilnehmenden..............203
9.2.2 Ergebnisse der Interviews mit den Projektverantwortlichen..227
SCHLUSSWORT ..................................................................................251
LITERATUR ........................................................................................253
9
VORWORT
Motivation zur Themenwahl
Du versuchst dir vorzustellen, wie die Welt – diese Welt voller Schrift, wo immer wir uns auch hinwenden – einem vorkommen mag, der nichtlesen (sic!-G.G.) gelernt hat.2
Wenn Erwachsene mit deutscher Muttersprache in Österreich ausreichend
Lesen, Schreiben und Rechnen können, verwundert das natürlich niemand,
denn Lesen, Schreiben, Rechnen und der Umgang mit dem Computer werden
normalerweise in der Schule erlernt. Generell werden diese Kulturtechniken
als unverzichtbare Voraussetzung für jeden weiteren Wissenserwerb durch
schriftsprachliche Medien und als Notwendigkeit für nahezu alle beruflichen
Tätigkeiten betrachtet. In größeres Erstaunen geraten Menschen daher, wenn
sie erfahren, dass, trotz allgemeiner Schulpflicht, Erwachsene ohne oder nur
mit geringen Kenntnissen in der Schriftsprache unter uns leben. Es erging mir
nicht anders, während ich eines Nachmittags einer Radiosendung über das
Thema Alphabetisierung und Basisbildung in Österreich lauschte. Ich war über
das Gehörte sehr überrascht und beschloss mich mehr darüber zu
informieren. Als Studentin der Pädagogik zählen das Lesen von Büchern und
das Schreiben von Texten zu meinen Hauptbeschäftigungen. Ich konnte mir
einfach nicht vorstellen, wie Menschen ohne zu lesen und zu scheiben den
Alltag meistern.
Mindestens 600.000 Erwachsenen gelingt es, die Schriftsprachprobleme
vor ihrer Familie und vor ihrem sozialen Umfeld weitgehend zu verstecken.
Sie leben in einem Tabubereich, ein Umstand der sich auch in Bildungs-
prozessen bemerkbar macht. Erwachsene, die eine Aus- oder Weiterbildung
absolvieren, müssen das üblicherweise nicht verheimlichen und erhalten
zumeist öffentliche Anerkennung für ihren Bildungszuwachs (während Frauen
und Männer, die als Erwachsene lesen und schreiben lernen diese Tatsache
ihrer Umwelt lieber verbergen). Sie reden nicht darüber und bekommen von
der Gesellschaft für ihre Anstrengungen und für ihre Beharrlichkeit im
jahrelangen Ringen um das Lesen und Schreiben auch kaum Wertschätzung.
Mittlerweile werden für Erwachsene, die es nochmals mit dem Lesen,
Schreiben und Rechnen versuchen wollen, in fast allen Bundesländern Kurse
2 Calvino, Italo: Reisender in einer Winternacht 1986, S. 59.
10
angeboten. Die geringe Anzahl von ca. 1000 Plätzen muss in Anbetracht der
geschätzten Zahl der Betroffenen sicherlich erweitert werden. Die Fähigkeiten
und Kenntnisse für die Organisation und die Durchführung der Kurse können
in einem Lehrgang für „Alphabetisierung und Basisbildung mit Erwachsenen
deutscher Muttersprache“ erlernt werden. Ich habe die Ausbildung absolviert.
Meine Diplomarbeit befasst sich aus diesem Anlass hauptsächlich mit der
Alphabetisierung und Basisbildung Jugendlicher und Erwachsener mit
deutscher Muttersprache im gesellschaftlichen Kontext. Zu umfangreich wäre
es, in dieser Arbeit die Alphabetisierung Erwachsener mit nicht-deutscher
Muttersprache in Österreich ebenfalls darzustellen, da die jeweiligen
Voraussetzungen, die Bedürfnisse und auch das Kursdesign sich voneinander
deutlich unterscheiden.
Theoretische Grundlagen
Bereits im Lehrgang nahm ich die Gelegenheit wahr mehr über den
Alphabetisierungspädagogen Paulo Freire zu erfahren. Dabei war ich vor allem
an den theoretischen Grundsätzen und an seinem Alphabetisierungsansatz
interessiert. Ich wollte wissen, wie seine faszinierende pädagogische Theorie
in der praktischen Arbeit angewendet wird. Das regte mich zu einem
Praktikum bei „Alphabet und Co“ in Linz an, dem meines Wissens damals
einzigen Alphabetisierungsangebot in Österreich, in dem nach seinen
Grundsätzen vorgegangen wird. Zwei Monate lang war es mir jeden Montag in
zwei Kursen möglich mitzuarbeiten. Ich wollte in meiner Diplomarbeit seine
Theorie vorstellen und mit Erfahrungen aus der Kurstätigkeit verknüpfen.
Doch leider konnte ich die Alphabetisierung nach Paulo Freire bei „Alphabet
und Co“ nicht in den Mittelpunkt dieser Arbeit stellen, da eine Trainerin ihre
Dissertation plante und mein von außen kommendes Forschungsvorhaben
nicht erwünscht war. Ich fand diese Ablehnung sehr schade und
überraschend, weil allgemein immer wieder betont wird, dass es an
wissenschaftlichen Arbeiten zum Themenbereich Aphabetisierung und
Grundbildung mangelt.
Aufgrund dieser Entwicklung wurde es notwendig, mich neuerlich auf die
Suche nach Ideen für meine Forschungsfragen zu begeben und auch auf die
Suche nach neuen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern, da es eine
empirische Arbeit werden sollte. Als Grundlage meiner Diplomarbeit bleibt
Paulo Freires pädagogische Theorie bestehen, die ich mit einem Praktikums-
11
bericht aus dem Alphabetisierungskurs in Linz ergänzen werde. Mit Hilfe
meiner Vorannahmen begann ich neue Forschungsfragen zu entwickeln.
Persönliche Vorannahmen
Wenn schulisch wenig erfolgreiche Jugendliche und Erwachsene wieder
Lesen, Schreiben und Rechnen lernen, sind positive Lernerfahrungen für das
Gelingen besonders wichtig. Ich möchte mit Überlegungen beginnen, wie,
meiner Meinung nach, diese Menschen positive Lernerfahrungen beschreiben
würden. Jede und jeder sicher in anderen Worten, inhaltlich aber vielleicht so:
Es wird mir im Kurs zugetraut, dass ich das Lesen, Schreiben und Rechnen
(wieder-)lernen kann. Ich erlebe Wertschätzung für den Mut, den großen
Schritt in diesen Kurs gemacht zu haben. Ich treffe auf Menschen mit
ähnlichen oder gleichen Schwierigkeiten. Ich bin erfolgreich und kann mein
neues Wissen und Können auch außerhalb des Kurses anwenden. Ich sehe
dadurch einen Sinn darin, mich nochmals mit dem Lernen zu plagen. Ich lerne
nach meinen eigenen Interessen, nach meinem eigenen Zeitbedarf und nicht
nach einem vorgegebenen Programm.
Es ist eine kleine Gruppe und wir passen gut zusammen. Es ist nicht wie in
der Schule, wo ich der oder die Unbegabteste war und meist übersehen wurde
und wo ich in Prüfungssituationen im Vergleich mit den anderen Kindern
meine Unfähigkeit erlebt habe und vor allen anderen abgewertet wurde. Ich
habe Selbstsicherheit gewonnen, weil im Kurs mein Wissen und meine
Fähigkeiten wichtig sind und nicht wie viele Fehler ich beim Lesen, Schreiben
und Rechnen mache. Fehler dürfen sein. Sie sind wichtig um davon zu lernen.
Ich wachse. Ich lerne Lernen. In der Gruppe machen wir viele Spiele, in einer
lockern Stimmung und mit angenehmen Gesprächen.
Ich habe das Gefühl, dass sich die Leute hier wirklich für mich
interessieren und mir auch in anderen Bereichen meines Lebens weiterhelfen
können. Ich erlebe zum ersten Mal, dass Lernen Spaß machen kann, weil ich
dabei erfolgreich bin. Dadurch werde ich unabhängiger von anderen
Menschen. Der Kurs ermöglicht mir, mich mit meinen Schwächen zu
akzeptieren und geduldig daran zu arbeiten, statt mich selbst zu verurteilen
und aufzugeben.
Ich werde die aus meinen Vorannahmen entwickelten Forschungsfragen
durch Literaturanalyse und mit Hilfe der qualitativen Methode (Interviews) zu
beantworten versuchen.
12
Forschungsfrage
Zu Beginn meines Forschungsprozesses sammelte ich mögliche Frage-
stellungen, die den Hintergrund meiner inhaltlichen Auseinandersetzung
bildeten und als Grundlage für die Interviewleitfäden dienten:
ssssWozu Alphabetisierung und Grundbildung? Welche eigenen/fremden
Motive und Zielsetzungen gibt es oder anders formuliert: Warum sollen/wollen
Erwachsene Lesen, Schreiben und Rechnen lernen? Wie begegnen die
Trainerinnen und Trainer dem funktionalen und emanzipatorischen Anspruch
an Grundbildung?
ssssWodurch gelingt/scheitert Alphabetisierung und Grundbildung? Welche
Erfahrungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind entscheidend für ein
erfolgreiches Lernen? Welche Faktoren sind dazu hilfreich? Was bedeutet das
Scheitern für die Lernenden, die Trainerinnen und Trainer und wie gehen sie
damit um?
ssssWie ist es für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, nicht ausreichend
Lesen, Schreiben und Rechnen zu können, und was verändert sich in ihrem
Leben, wenn der Lernprozess gelingt? Was haben die einzelnen Personen
davon? Bekommen sie Interesse und Lust weiterzulernen?
Im Verlauf des Arbeitsprozesses kristallisierte sich schließlich folgende
Fragestellung heraus:
ssss Welche Lerngründe und (Lern-)Erfahrungen Teilnehmender an
Basisbildungskursen werden von den Teilnehmenden selbst und von
den Projektverantwortlichen hauptsächlich genannt?
Ziele
Im Allgemeinen soll diese Diplomarbeit umfassende Informationen zur
Alphabetisierung und Grundbildung bekannt machen und die Leserinnen und
Leser für die Situation von Erwachsenen, die Schwierigkeiten mit dem
Erlernen und der Verwendung der Schriftsprache haben, sensibilisieren. Diese
Arbeit soll zudem ermöglichen, die verschiedenen Entstehungsbedingungen
für die Schriftsprachprobleme und deren Auswirkungen auf das berufliche und
private Leben der Betroffenen zu verstehen und in der Folge zu erfahren,
warum diese bereit sind, sich nochmals mit dem Lernen von Lesen, Schreiben
und Rechnen zu befassen.
Ausgehend von der Annahme, dass jeder Mensch etwas lernen kann und
weil innerhalb unserer westlichen Gesellschaft lebensbegleitendes Lernen
13
immer stärker eingefordert wird, kommt der Alphabetisierung und Grund-
bildung fundamentale Bedeutung zu. Lesen, Schreiben und Rechnen
ausreichend zu vermögen, ermöglicht lebenslanges Lernen, ist dessen
Voraussetzung. Fehlende oder unzureichende Kenntnisse in der Schriftsprache
jedoch nur als ein Bildungsproblem wahrzunehmen, wäre zuwenig. Ob eine
Person über ausreichende Schriftkompetenz verfügt, beeinflusst auch ihre und
seine beruflichen Möglichkeiten, die finanzielle und gesundheitliche Situation,
die politische und kulturelle Partizipation, die soziale Einbindung in die
Gesellschaft, die Beziehungsgestaltung, die Aktivitäten in der Freizeit, das
Selbstwertgefühl und die Chance zur Selbstverwirklichung. Die Gefahr
arbeitslos zu werden und es längere Zeit zu bleiben, ist für diese
Personengruppe sehr hoch. An fast allen Arbeitsplätzen sind ausreichende
Schriftsprach- und Computerkenntnisse vonnöten. Zudem werden die
Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben häufig innerhalb der Familie an
die eigenen Kinder weitergegeben.
Die Diplomarbeit soll zur Enttabuisierung des Themas beitragen. Nicht
richtig Lesen und Schreiben zu können, löst bei diesen Erwachsenen massiven
Druck sowie große Angst davor aus, entdeckt und diskriminiert zu werden.
Die bestehende Tabuisierung des Themas und die negativen Lernerfahrungen
erschweren den Entschluss zu einem Kursbesuch. Der Schriftspracherwerb
sollte in unserer Gesellschaft auch im Erwachsenenalter möglich und legitim
sein, um die oben beschrieben negativen Auswirkungen zu verhindern und
diesen Menschen eine neue Chance zu geben, ihre Situation zu verbessern.
Das bedeutet, dass jeder Mensch, der es nochmals mit dem Lesen, Schreiben
und Rechnen versuchen möchte, Zugang zu einem Alphabetisierungs- und
Basisbildungskurs in örtlicher Nähe haben muss und es nicht an den
finanziellen Kosten scheitern darf.
Inhaltliche Gliederung
1. Kapitel: Wortbedeutungen
Die Begriffe Rechnen, Lesen und Schreiben, primärer, sekundärer und
funktionaler Analphabetismus, funktionale Alphabetisierung, Grundbildung/
Basisbildung und „Literacy“ werden erläutert und mit der Erwachsenen-
pädagogik/Erziehungswissenschaft in Beziehung gesetzt.
2. Kapitel: Die Welt
Die primäre Alphabetisierung ist ein weltweites Anliegen. Vorgestellt werden
in diesem Abschnitt die Geschichte der Alphabetisierung, einige der damit
14
befassten Organisationen und ihre Ziele und Zielgruppen. Der Fokus ist hier
speziell auf Aktivitäten gegen den Analphabetismus von Frauen gerichtet.
3. Kapitel: Paulo Freire
Paulo Freire ist der wohl bekannteste Pädagoge unserer Zeit. Im Mittelpunkt
der Betrachtung steht vor allem sein Ansatz, die Theorie und sein Wirken in
der Erwachsenenalphabetisierung.
4. Kapitel: Europa
In den europäischen Ländern wurden ab den 70er und 80er Jahren erste
Initiativen gegen den funktionalen Analphabetismus gesetzt. Was waren
damals die Gründe für den Beginn der Alphabetisierung und wie sieht die
Situation heute aus?
5. Kapitel: Bildungspolitik in Europa
Dieser Abschnitt ist der Bildungspolitik in Europa und dem Thema Bildung
gewidmet.
6. Kapitel: Österreich
Es gibt österreichweit intensive Bemühungen einiger weniger Personen,
ausreichend qualitativ hochwertige Basisbildungsangebote einzurichten. Über
die bereits existierenden sowie über geplante Projekte und Zielsetzungen wird
in diesem Teil informiert. Hier berichte ich auch von meinen Beobachtungen
aus dem Praktikum bei Alphabet & Co.
7. Kapitel: Konzepte, Methoden und Rahmenbedingungen
Lernen und Lehren ist das Thema dieses Kapitels. Konzepte, Methoden und
passende Rahmenbedingungen für die Kurse mit Jugendlichen und
Erwachsenen werden vorgestellt.
8. Kapitel: Lebenswelten
Selbst geschriebene Texte und Gedichte der Lernenden, aber auch Interviews
erzählen aus ihrem Leben. Die unterschiedlichen Bedürfnisse, Wünsche und
Motive der Teilnehmerinnen und Teilnehmer beim Kursbeginn, sowie mögliche
Ursachen für das Scheitern von Kindern und Jugendlichen in der Schule sowie
die unterschiedlichen Bewältigungsstrategien werden hier angesprochen.
9. Kapitel: Empirische Forschung
Abschließend folgen die Ergebnisse der problemzentrierten Interviews mit den
Lernenden und den Projektverantwortlichen. Zuvor werden die verwendeten
qualitativen Methoden, das problemzentrierte Interview nach Andreas Witzel
und die qualitative Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring, näher erläutert und
begründet.
15
1. WORTBEDEUTUNGEN
Ich möchte dieses Kapitel mit einem Gedicht beginnen, dass von einer
Person verfasst wurde, die an einem Grundbildungskurs teilnimmt:
Analphabet Gedanken fliegen durch den Kopf. Analphabet, was ist das für ein Wort? Suche nach dem richtigen Wort. Kann nicht schreiben richtig ein Wort. Habe Angst vor der Unsicherheit. Fürchte mich vor der Öffentlichkeit. Bin auf der Suche nach dem richtigen Wort. Analphabet, was ist das bloß für ein Wort?3
1.1 Begriffsbestimmungen und Definitionen
Sich mit der Bedeutung des Wortes Analphabet zu identifizieren ist
begreiflicherweise nicht einfach. Es weckt häufig diskriminierende
Assoziationen und hat stigmatisierende Wirkung auf die so Bezeichneten.
Große Schwierigkeiten mit dem Lesen, Schreiben und Rechnen machen die
Alltagsbewältigung mühsam und umständlich. Sie führen zu beruflichen und
privaten Misserfolgen, zu Ängsten, zu Abhängigkeiten von Vertrauens-
personen und zur sozialen Isolation. Davon wird noch in den Lebens-
geschichten der Menschen mit Lese- und Schreibproblemen zu lesen sein. Zur
Begriffsbestimmung beantworte ich folgende Fragen: Was bedeutete
ursprünglich Rechnen, Schreiben und Lesen? Was beschreibt primärer,
sekundärer und funktionaler Analphabetismus? Wann ist jemand funktional
alphabetisiert? Was wird unter Grundbildung, bzw. Basisbildung und unter
„Literacy“ verstanden? Und zuletzt: In welchem Zusammenhang stehen diese
Begriffe mit der Erwachsenenpädagogik in der Erziehungswissenschaft?
1.1.1 Rechnen, Schreiben und Lesen
Welche Bedeutungen hatten diese Wörter? Rechnen ist ein „westgerm.
Verb mhd. rechenen, rechen, ahd. rehhanōn“ und meinte anfänglich „’in
Ordnung bringen, ordnen’“. Es hat eine gemeinsame Wurzel mit dem Wort
„recht“.4 Schreiben bedeutete „’vorschreiben, anordnen’“, ist ein „westgerm.
starke(s) Verb“ und kommt von „lat. scribere ‚schreiben’“, dem „’mit dem
3 Der Autorin zur Verfügung gestelltes anonymisiertes Manuskript. 4 vgl. Duden, Bd. 7, 1997, S. 577.
16
Griffel eingraben, einzeichnen’“.5 Lesen bezeichnete zunächst, wie wir
beispielsweise am Wort Weinlese noch erkennen können, „’verstreut
Umherliegendes aufnehmen und zusammentragen, sammeln’“ mit der „Wurzel
les-“. Dazu kam später die Bedeutung „’sammeln, aussuchen; Geschriebenes
lesen’“, vermutlich „von lat. legere“. Es wird angenommen, dass das Verb
„’lesen’ bereits in germ. Zeit auf das Einsammeln und Deuten der zur
Weissagung ausgestreuten Stäbchen“6 verwendet wurde, die mit Buchstaben
beschrieben waren. Ein Buchstabe war zuerst wohl ein „’Stab mit
[Runen]zeichen’“ und erst später wurde darunter ein „’Stab aus Buchenholz’“
verstanden.7 Die „Rune, ahd. rūna, bedeutet eigentlich ‚Geheimnis’“ mit deren
Hilfe die Germanen „den Willen der Götter“ zu verstehen suchten.8
1.1.2 Analphabetismus
Auch heutzutage sind Buchstaben und Wörter für sehr viele Erwachsene
ein Geheimnis, welches nicht leicht zu enträtseln ist.9 In der Literatur wird
Analphabetismus in unterschiedliche Erscheinungsformen gegliedert. Wir
sprechen vom primären, sekundären und funktionalen Analphabetismus,
Formen, welche alle in Österreich vorzufinden sind.10 Bis dato gibt es keine
allgemein anerkannten Definitionen und so gilt für die nun folgenden Begriffe,
nach Alexander Kluge, besonders: „Je mehr man sich einem Begriff nähert,
desto mehr entzieht er sich“11 oder, mit Dorothy L. Sayers, poetischer
formuliert: „My lord, facts are like cows. If you look them in the face hard
enough, they generally run away“.12
1.1.3 Primärer Analphabetismus
Primärer Analphabetismus13 meint Personen ohne Kenntnisse im Lesen
und Schreiben, die in der Kindheit und Jugend keine Möglichkeit hatten, sich
diese Fähigkeiten über einen längeren Zeitraum hinweg anzueignen. Das sind
vorwiegend Menschen, die wegen dem unzureichenden bzw. zu teurem Schul-
5 vgl. Duden, Bd. 7, 2001, S. 738f. 6 vgl. ebd., S. 482. 7 vgl. ebd., S. 117. 8 vgl. ebd., S. 224. 9 Siehe dazu im 2. Kapitel: Quantitative Erhebungen. 10 vgl. Netzwerk Alphabetisierung.at. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/info/info_4.htm (13.09.2006). 11 Kluge, Alexander, zit. in: Tröster, Monika 2000, S. 25. 12 Sayers, Dorothy L., zit. in: Schürz, Michael 2003, S. 6. 13 In der Literatur finden sich auch die Bezeichnungen „totaler Analphabetismus“, wenn keinerlei Buchstabenkenntnis vorhanden ist, sowie Semialphabeten, völlige Analphabeten, Analphabeten im engeren Sinn usw. mit uneinheitlichen Bedeutungen.
17
system, wegen raum-zeitlicher, politischer, sozialer, kultureller,
ökonomischer, familiärer und geschlechtsspezifischer Gründe die Schule in
ihrem Land nicht oder nicht regelmäßig besuchen konnten. Dazu gehören
ebenso Menschen mit besonderen Bedürfnissen, wenn eine geistige,
körperliche oder Mehrfachbehinderung den Erwerb der Schriftsprache
verunmöglicht.14 Dazu zählen auch, wie Michael Schürz am Beispiel der Sinti
und Roma erwähnt, Menschen, die zu einer sprachlichen Minderheit mit oraler
Tradition gehören.15
1.1.4 Sekundärer Analphabetismus
Sekundärer Analphabetismus bedeutet den Verlust von in der Schulzeit
erworbenen Schriftsprachkenntnissen. Das trifft auf Menschen zu, die Lesen
und Schreiben in der Kindheit oder Jugend mehr oder weniger gelernt haben,
ihre Kenntnisse und Fertigkeiten aber durch Nichtverwendung im Laufe ihres
Lebens großteils wieder verlernt haben. Peter Hubertus beschreibt sekundären
Analphabetismus als eine Sonderform des funktionalen Analphabetismus.
Sekundärer Analphabetismus liegt vor, wenn nach mehr oder weniger erfolgreichem Erwerb der Schriftsprache während der Schulzeit in späteren Jahren ein Prozeß des Verlernens einsetzt und Kenntnisse und Fähigkeiten verlorengehen, wodurch ein Unterschreiten des gesellschaftlich bestimmten Mindeststandards eintritt. Damit ist der sekundäre Analphabetismus ein Sonderfall des funktionalen Analphabetismus.16
Michael Schürz schildert die Bildungsdebatten um den sekundären
Analphabetismus. Als der Analphabetismus großer Bevölkerungsteile in den
70er Jahren in Europa bekannt wurde und die Bildungssysteme stark unter
Kritik standen, entgegneten ihre Vertreterinnen und Vertreter, „(...) dass die
betroffenen Personen ohnedies in der Schule Lesen und Schreiben gelernt
hätten“.17 Das Problem würde erst nach der Schule durch die mangelnde
Verwendung der Schriftsprachkenntnisse entstehen. Heute wird eher davon
ausgegangen, dass die Kenntnisse dieser Menschen bislang niemals (auch
nicht in der Schule) den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen konnten.
14 Über die „Alphabetisierung von Menschen mit geistiger Behinderung“ berichtet die Zeitschrift ALFA-FORUM, Jg. 13, 39/1998. 15 vgl. Schürz, Michael: Literarisierung deutschsprachiger Erwachsener 2003, S. 22. 16 Hubertus, Peter, zit. in: Döbert, Marion; Hubertus, Peter 2000, S. 23. 17 vgl. Schürz, Michael: Literarisierung deutschsprachiger Erwachsener 2003, S. 22.
18
Die Ergebnisse der Bildungsstudien18 und die Erfahrungen aus den
Alphabetisierungskursen weisen in diese Richtung.19
Kritik an der Bezeichnung sekundärer Analphabetismus wird von vielen
Autorinnen und Autoren geübt. Beispielsweise meint Elisabeth Brugger, dass
das Problem hier einzig dem schriftsprachvermeidenden Menschen angelastet
wird und dabei das Versagen des Bildungssystems unerwähnt bleiben kann.
Analphabetismus wird so zum Problem des Einzelnen und nicht der
Gesellschaft.20
1.1.5 Funktionaler Analphabetismus
Beginnen wir mit einer Definition aus dem Duden. Das Wort Analphabet
wurde „Anfang 19. Jh., aus entsprechend griech. an-alphábētos“ gebildet und
bedeutet demnach „’jemand, der nicht lesen und schreiben gelernt hat’“.21 Die
Erklärung ist sehr gebräuchlich, aber für das Verstehen des funktionalen
Analphabetismus nicht hilfreich. Sie verbirgt das Phänomen, dass manche
Erwachsene trotz Absolvierung der allgemeinen Schulpflicht im Unterricht
nicht oder nicht ausreichend Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt haben.
Ebensowenig beleuchtet sie den Aspekt, dass Analphabet zu sein heutzutage
viel mehr als nur einen Mangel an Kenntnissen und Fertigkeiten in der
Schriftsprache bedeutet.
War lange Zeit die Fähigkeit zur eigenen Unterschriftsleistung genügend,
um als alphabetisiert zu gelten,22 wird gegenwärtig in Westeuropa noch
wesentlich mehr erwartet, als Lesen, Schreiben und Rechnen entsprechend zu
beherrschen. „(Funktionaler) Analphabetismus ist eine gesellschaftliche
Konstruktion“, formuliert daher Otto Rath, weil diese Bezeichnung sich
geschichtlich, aber auch „unter wirtschaftlichen Paradigmenwechseln“ häufig
ändert.23 Er definiert: „Funktionaler Analphabetismus bedeutet, dass die
schriftsprachliche Kompetenz des/der Betroffenen nicht ausreicht, um in der
jeweiligen Gesellschaft zu ‚funktionieren’“.24 Volker Lenhart und Martina Maier
teilen diese Einschätzung, wenn sie erläutern: „Als funktional analphabetisch
18 Michael Schürz bezieht sich hier auf die Studien von Lehmann 2000 und PISA 2000. 19 vgl. Schürz, Michael: Literarisierung deutschsprachiger Erwachsener 2003, S. 22f. 20 vgl. Brugger, Elisabeth: Analphabetismus, in: SCHULHEFT, 59/1990, S. 7. 21 vgl. Duden, Bd. 7, 2001, S. 30. 22 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 17. 23 vgl. Rath, Otto: Funktionaler Analphabetismus, in: ISOTOPIA, 35/2002, S. 73. 24 Rath, Otto: Kursbuch Grundbildung, in: ISOTOPIA, 45/2004, S. 18.
19
gilt eine Person, die schriftsprachliche Anforderungen ihrer Umwelt nicht
angemessen erfüllen kann“.25
Die UNESCO, die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung,
Wissenschaft und Kultur veröffentlichte 1978 folgende Definition:
… Analphabet ist eine Person, die sich nicht beteiligen kann an all den zielgerichteten Aktivitäten ihrer Gruppe und Gemeinschaft, bei denen Lesen, Schreiben und Rechnen erforderlich ist, und an der weiteren Nutzung dieser Kulturtechniken für ihre eigene Entwicklung und die ihrer Gemeinschaft.26
Weltweit werden unterschiedlich hohe Schriftsprachkenntnisse von den
Bürgerinnen und Bürgern erwartet. Dadurch kann, nach Otto Rath, ein
Mensch bei einem Wechsel in ein anderes Land nunmehr zu den funktionalen
Analphabeten gehören, weil dort höhere Anforderungen an die Schriftsprach-
beherrschung gestellt werden, als im Herkunftsland verlangt wurden.27 Denn
mit dem Alphabetisierungsgrad einer Gesellschaft steigen, so Ursula Giere,
auch die Ansprüche an die Kenntnisse und Fähigkeiten im Lesen und
Schreiben.28 Gleichzeitig erhöht sich damit ebenfalls die Zahl derer, die diesen
Anforderungen nicht (mehr) genügen können. Peter Hubertus formuliert dazu:
Analphabetismus ist ein relativer Begriff. Ob eine Person als Analphabet gilt, hängt nicht nur von ihren individuellen Lese- und Schreibkenntnissen ab. Darüber hinaus muß berücksichtigt werden, welcher Grad an Schriftsprachbeherrschung innerhalb der konkreten Gesellschaft, in der diese Person lebt, erwartet wird. Wenn die individuellen Kenntnisse niedriger sind als die erforderlichen und als selbstverständlich vorausgesetzten Kenntnisse, liegt funktionaler Analphabetismus vor.29
Von Erwachsenen wird im westeuropäischen Raum ein sicherer und
adäquater Umgang mit Schriftlichkeit im Berufs- und Privatleben verlangt.
Das bedeutet: Jede Person sollte ausreichend Lesen, Schreiben und Rechnen
können und zudem diese Kenntnisse innerhalb einer vorgegebenen Zeit, in
der Kindheit oder Jugend, erworben haben. Wonach sich dieses erwartete
Minimum an Fähigkeiten orientiert, ist offen und wird üblicherweise von den
jeweiligen gesellschaftlichen und beruflichen Anforderungen ausgehend
beantwortet. Der Mindeststandard richtet sich demzufolge nach dem sozialen
25 Lenhart, Volker; Maier Martina: Erwachsenenbildung und Alphabetisierung, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 482. 26 UNESCO, zit. in: Giere, Ursula 1992, S. 21. 27 vgl. Rath, Otto: Funktionaler Analphabetismus, in: ISOTOPIA, 35/2002, S. 71. 28 vgl. Giere, Ursula: Alphabetisierung, in: UNESCO-Institut für Pädagogik 1992, S. 20. 29 Hubertus, Peter, zit. in: Döbert, Marion; Hubertus, Peter 2000, S. 21.
20
Status, dem Herkunftsland, dem Alter und Geschlecht, den absolvierten
Ausbildungen, der Berufstätigkeit einer Person, u.a.m.
Gertrud Kamper betont, „(...) dass es nicht einen festen Punkt gibt, an
dem sich ‚analphabetisch’ von ‚alphabetisiert’ unterscheidet, dass die
Metapher eines Kontinuums angemessener wäre“.30 Marion Döbert und Peter
Hubertus gehen gleichfalls von einem Kontinuum bei der Beherrschung
schriftsprachlicher Fähigkeiten und Kenntnisse in der Gesellschaft aus.31
Marion Döbert verweist in ihrer Begriffsbestimmung besonders darauf,
dass die zu wenig erlernten Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen im
Alltag vermieden werden, wodurch die schriftsprachlichen Kompetenzen der
Jugendlichen und Erwachsenen weiter abnehmen. Ihre Definition lautet:
Funktionale Analphabeten sind Menschen, die aufgrund fehlender, un-zureichender oder unsicherer Beherrschung der sich stets wandelnden Schriftsprache und aufgrund der Vermeidung schriftsprachlicher Eigenaktivität nicht in der Lage sind, Schriftsprache für sich und andere im Alltag zu nutzen.32
Sie zieht daraus folgenden Schluss: „Angst vor Stigmatisierung ist bei
lese-schreibunkundigen Menschen sowohl eine Folge als auch eine
verstärkende Ursache von Schriftsprachunkundigkeit“.33 Kenntnisse in der
Schriftsprache werden, wie die Autorin verdeutlicht, in der Schule nicht als
feststehendes Wissen erworben.34 Das macht es allgemein erforderlich sich
zeitlebens die veränderten schriftsprachlichen Anforderungen immer wieder
neu anzueignen. Selbst wenn die Fertigkeiten im Rechnen, Lesen und
Schreiben bei Schulende ausreichend waren, können gestiegene bzw.
veränderte gesellschaftliche Ansprüche zu funktionalen Analphabetismus
führen. Peter Hubertus erläutert dies mit den Worten:
Innerhalb der Industriestaaten mit ihren hohen Anforderungen an die Beherrschung der Schriftsprache müssen auch diejenigen Personen als funktionale Analphabeten angesehen werden, die über begrenzte Lese- und Schreibkenntnisse verfügen.35
Die Bezeichnung „funktionaler Analphabet“ wird in der Fachliteratur oft
sehr kritisch kommentiert. Sie ist diskriminierend für Menschen, die das
30 vgl. Kamper, Gertrud: Grundbildung für Erwachsene, in: ALFA-FORUM, Jg. 18, 54-55/2004, S. 25. 31 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 21. 32 Döbert, Marion: Schriftsprachunkundigkeit, in: Eicher, Thomas 1997, S. 118. 33 ebd., S. 119. 34 vgl. ebd., S 118. 35 Hubertus, Peter, zit. in: Döbert, Marion; Hubertus, Peter 2000, S. 21.
21
Lesen, Schreiben und Rechnen wiedererlernen, weil darunter häufig völlige
Unkenntnis der Schriftzeichen aufgrund von persönlichem Unvermögen
verstanden wird. Übereinstimmend wird aber von einem Zusammenwirken
mehrerer Ursachen durch die Person, Familie, Schule und Gesellschaft
ausgegangen, die zu funktionalen Analphabetismus führen. „Zu finden ist ein
Begriff, den man auch für sich selber verwenden würde“, meint Otto Rath und
empfiehlt eine „nicht-diskriminierende Kommunikation“ zu benutzen, denn
dieser „Begriff grenzt aus“.36 Auch Gertrud Kamper spricht hier von einem
„Un-Begriff“ und fragt provokativ „(…) für wen An-alphabetismus denn
funktional sei“.37 Sie erinnert daran: „Der Begriff einer funktionalen
Alphabetisierung ist eng mit einer Zurichtung des Arbeitsvermögens für die
Zwecke einer jeweiligen ‚Wirtschaft’ verbunden“. 38
1.1.6 Funktionale Alphabetisierung
Die UNESCO veröffentlichte 1956 eine Definition, wonach die Bezeichnung
funktionaler Alphabet auf eine Person zutrifft, die „´das Wissen und die
Fähigkeit im Lesen und Schreiben erlangt hat, die sie in die Lage versetzen,
gleichberechtigt an den gesellschaftlichen Aktivitäten ihres Kulturkreises
teilnehmen zu können`“.39 Der Begriff ist deutlich an Schriftsprachkenntnisse
gebunden, die innerhalb einer bestimmten Gesellschaft und Kultur eine
gleichberechtigte Partizipation ermöglichen sollen. Das ist aber nicht die einzig
vorstellbare Sinndeutung, wie Christian Fiebig beweist. Er beantwortet die
Frage, wann jemand funktional alphabetisiert sei, auf vielerlei Arten:
Zum Beispiel eine bildungspolitische (Antwort-G.G.): In der Regel nach der Schulzeit. Oder eine nach der Definition der UNESCO: Wenn man eigenständig an der schriftlichen Alltagskommunikation der Gesell-schaft teilnehmen kann. Oder eine bildungsbürgerliche: Wenn man mit Lust GOETHE lesen kann. Oder eine formalistische: Wenn man mit Hilfe der 26 Buchstaben mündliche Inhalte in schriftliche codieren kann und umgekehrt. Oder eine philosophische: Wenn man von sich behaupten kann: Ich lese, also bin ich, und ich schreibe, also bleibe ich. Oder eine kulturpessimistische: Nie! Oder eine fundamental-theologische: Wenn Du die Worte des Herrn lesen kannst. Oder eine schulische: Wenn deine muttersprachlichen Kenntnisse mindestens ausreichend sind. Oder eine interkulturelle: Wenn ich in der Sprache
36 Rath, Otto: Begrüßung, in: Mitschrift: Alfa Gipfelgespräche vom 22.06.2006. 37 vgl. Kamper, Gertrud: Grundbildung für Erwachsene, in: ALFA-FORUM, Jg. 18, 54-55/2004, S. 24. 38 ebd., S. 26. 39 UNESCO, zit. in: Müller, Horst-M. 1984, S. 333.
22
meines Heimatlandes und meines Gastlandes schriftlich erfolgreich handeln kann.40
Es lässt sich erkennen, dass hier keine allgemein gültige Aussage zur
Frage, wann eine Person funktional alphabetisiert sei, getroffen werden kann,
da die Antwort immer willkürlich, aus einem bestimmten Blickwinkel heraus
und innerhalb eines konkreten geographischen, gesellschaftlichen, bildungs-
politischen, ökonomischen und zeitlichen Zusammenhangs gegeben wird. Der
Wandel in den ökonomischen Bedingungen erweitert und erhöht das
Spektrum der gesellschaftlichen Anforderungen über die Schriftsprach-
kompetenzen hinaus. Diese Kontextabhängigkeit berücksichtigt Christian
Fiebig, wenn er erklärt: „Alphabetisiert ist, wer über eine zukunftsfähige
Grundbildung verfügt, die jeweils gesellschaftlich erwartet wird“.41
1.1.7 Grundbildung/Basisbildung
Die Alphabetisierung Erwachsener ist eine wesentliche Voraussetzung und
ein Kernbereich der Grundbildung bzw. Basisbildung.42 Da in unserer
westlichen Gesellschaft Schriftsprachkenntnisse allein nicht genügen (aber
auch um den etikettierenden Begriff „funktionaler Analphabetismus“ zu
vermeiden) wird die Bezeichnung Grundbildung immer mehr verwendet.
Monika Tröster verweist jedoch auf die Gefahr, dass durch den häufigen
Gebrauch des Begriffes „Grundqualifikationen“ in verschiedenen Studien, die
bildungspolitische Aufmerksamkeit auf den funktionalen Analphabetismus
tendenziell verloren geht.43 Hier zeigt sich eine Ambivalenz, auf die auch
Andrea Linde hinweist. Einerseits wird versucht, von der „Dichotomie
Analphabet/Alphabet“ Abstand zu nehmen. Andererseits könnte dadurch der
funktionale Analphabetismus bildungspolitisch in Vergessenheit geraten44,
zumal auch diese Studien explizit erklären, keine Zahlen zum funktionalen
Analphabetismus zu erheben.45
Der Begriff Grundbildung ist in seiner Bedeutung und seinem Inhalt
dynamisch und vielschichtig. Er ist für Monika Tröster ein „(…) nicht genau
40 Fiebig, Christian: Was bedeutet alphabetisiert?, in: ALFA-FORUM, Jg. 18, 54-55/2004, S. 34. 41 ebd. 42 Beide Bezeichnungen sind in Österreich - wie auch in dieser Arbeit - in Verwendung. 43 vgl. Tröster, Monika: Grundbildung, in: Tröster, Monika 2000, S. 14. 44 vgl. Linde, Andrea: Analphabetismus, in: Tröster, Monika 2002, S. 20f. 45 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 32.
23
definiertes und sich permanent veränderndes Konstrukt“, welches dem
„Individuum übermächtig und nicht fassbar“ erscheint.46
Grundqualifikationen, elementare Grundqualifikationen, Basisqualifi-kationen, Schlüsselqualifikationen, elementare Qualifikationen, grundlegende Qualifikationen, elementare Kenntnisse, Elementar-bildung, Grundbildung, Grundkenntnisse, Mindeststandards und weitere Wortzusammensetzungen aus ähnlichen Begriffen zeigen anschaulich die Bemühungen von Pädagogen, forschenden Wissenschaftlern, Politikern und der Wirtschaft zu beschreiben oder zu definieren, was für den Menschen als unbedingt notwendig zu lernen gedacht wird. Alle ‚Definitionen’, alle Beschreibungen gehen zunächst einmal davon aus, dass sie für alle Menschen gelten und dass es einen gesellschaftlichen Minimalkonsens Grundbildung gibt. Jede Definition aber geht ebenso von ihrer eigenen Zielrichtung aus. 47
Diese Bezeichnungen, hier aufgelistet von Angelika Schlemmer, aber auch
ähnliche Begriffe, werden oftmals synonym verwendet, sie bedeuten
allerdings nicht immer dasselbe. Es gibt demnach viele Definitionen und
Beschreibungen von Grundbildung, die kontextbezogen (vom Standpunkt der
Wirtschaft, Schule, Erwachsenenbildung, Politik, usw.) die unterschiedlichen
Mindestansprüche aufzeigen, die die Bevölkerung eines Landes erfüllen soll.
Warum es keine abgeschlossene und allgemein gültige Definition geben kann,
erläutert Angelika Schlemmer mit folgenden Worten:
Das Wesen der Grundbildung ist ihre beständige Anpassung an die aktuelle gesellschaftliche Wirklichkeit. ‚Grundbildung’ folgt dem in einer stillschweigenden Übereinkunft gesellschaftlicher Kräfte gesetzten Mittelmaß und verändert sich beständig, ebenso wie die Versuche, sie zu definieren.48
Historisch betrachtet, gab es immer schon Bemühungen eine „’Grund-
bildung’“ für alle zu begründen. Werner Lenz belegt das mit folgenden
Beispielen: dem „Anspruch von Comenius (1492-1570), alle alles zu lehren“,
der „Idee der Allgemeinbildung, einer Grundbildung für alle (Einführung der
Pflichtschule in Österreich 1774 unter Maria Theresia)“, der „Alphabetisierung
der Gesellschaft als Grundbildung im 19. Jahrhundert“, u.a.m.49
International bekannt wurde das „Konzept der Grundbildung“, nach Volker
Lenhart und Martina Maier, durch die Zusammenstellung „’grundlegender
Lernbedürfnisse’“ während der UNESCO-Weltkonferenz „Education-For-All“
46 vgl. Tröster, Monika: Grundbildung, in: Tröster, Monika 2000, S. 16. 47 Schlemmer, Angelika: Wandlungen im Verständnis von Grundbildung, in: Tröster, Monika 2000, S. 40. 48.ebd. 49 vgl. Lenz, Werner: Grundbildung, in: ISOTOPIA, 19/2000, S. 16f.
24
(1990) in Jomtien, Thailand. Neben der Primarbildung für Kinder sind für
Jugendliche und Erwachsene zusätzlich zu Lesen, Schreiben und Rechnen
auch Inhalte aus den Bereichen „Gesundheit, Ernährung, Bevölkerungsfragen,
Landwirtschaft, Umwelt“, usw. für die „Basic education“ vorgesehen.50 Wie
Armin Triebel berichtet, lautet ihre inhaltliche Ausrichtung:
Basic learning needs should:
comprise both essential learning tools (such as literacy, oral expression, numeracy, and problem solving) and the basic learning content (such as knowledge, skills, values, and attitudes) required by human beings to be able to survive, to develop their full capacities, to live and work in dignity, to participate fully in development, to improve the quality of their lives, to make informed decisions, and to continue learning.51
In der „Hamburger Deklaration zum Lernen im Erwachsenenalter“ der
UNESCO-Weltkonferenz CONFINTEA (1997) wird Grundbildung mit folgenden
Worten festgeschrieben:
Grundbildung für alle bedeutet, daß Menschen ungeachtet ihres Alters die Möglichkeit haben, als Einzelne oder in der Gemeinschaft ihr Potential zu entfalten. Sie ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht und eine Verantwortung gegenüber anderen und der Gesellschaft als Ganzem. Es ist wichtig, daß die Anerkennung des Rechts auf lebenslanges Lernen von Maßnahmen flankiert wird, die die Voraussetzungen für die Ausübung dieses Rechts schaffen.52
Grundbildung ermöglicht den Menschen Basisfähigkeiten zu entwickeln,
deren Beherrschung erst selbständige lebensbegleitende Bildung gelingen
lässt. Sie ist nach obengenannter Definition sowohl ein Recht als auch eine
Handlungsverpflichtung für die Person, aber auch für die Gesellschaft, wobei
letztere, wie Monika Tröster kritisch anmerkt, wohl „(...) zu wenig an den
Bedingungen verändert, die es den Menschen ermöglichen, diese Pflichten
ausüben zu können“.53
Welche Inhalte und Fähigkeiten in welchem Ausmaß gegenwärtig zur
Grundbildung gehören, hängt damit zusammen, wer die Macht im
gesellschaftlichen Diskurs hat, den Begriff zu definieren und die Bildungsziele
vorzugeben. Viele Definitionen orientieren sich stark an ökonomischen
50 vgl. Lenhart, Volker; Maier, Martina: Erwachsenenbildung und Alphabetisierung, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 490ff. 51 Triebel, Armin: Literacy, in: Bascia, Nina u.a. 2005, S. 795. 52 UNESCO: Hamburger Deklaration, S. 4. (Homepage) URL: www.unesco.ch/dokumentation/dokumente/bildung/erwachsenenbildung.html (06.05.2005). 53 vgl. Tröster, Monika: Grundbildung, in: Tröster, Monika 2000, S. 15.
25
Interessen. Berufliche Bildung gilt als Standortsicherung. Demgemäß ergibt
sich für die Grundbildungskurse eine zweifache Aufgabe: Die Inhalte und Ziele
haben sich sowohl an den steigenden, aktuellen und zukünftigen
Qualifikationsansprüchen des Arbeitsmarktes, als auch an den persönlichen
Interessen, Bedürfnissen und Lebenssituationen der einzelnen Menschen
auszurichten. Eine berufsorientierte Alphabetisierung und Grundbildung
beabsichtigt, so Monika Tröster, die erforderliche „(...) Handlungskompetenz
mit der gleichermaßen bedeutsamen Persönlichkeitsentfaltung zu verknüpfen,
um Menschen darin zu unterstützen, sowohl ihre Lebensgestaltung als auch
ihren beruflichen Alltag besser bewältigen zu können“.54 Dazu gehören:
• Lesen, Schreiben, Rechnen – als Kern der Grundbildung. Hingewiesen sei auch auf die Bedeutung des Sprechens, da viele Menschen Probleme haben, ‚einfache’ Sachverhalte zu kommunizieren; • Grundbegriffe des Umgangs mit dem PC und anderen elektronischen Gerätesystemen des Alltags; • Grundbegriffe der englischen Sprache, die in den Alltagssprach-gebrauch und in beschäftigungstypische berufliche Fachsprachen eingehen; • Selbstorganisationsfähigkeit der eigenen Tätigkeit und der Gruppe, Teamfähigkeit, sprachliche Ausdrucksfähigkeit, Gesprächsfähigkeit, Selbsteinschätzungsvermögen, Eigenverantwortung u.a.55
Sie weist besonders darauf hin, dass Grundbildung nicht, wie vermutet
werden könnte, aus einer bestimmten Fertigkeitenansammlung besteht,
sondern Grundbildung beinhaltet „vor allem dynamische und flexible
Fähigkeiten“.56 Das Vorhandensein von „’Handlungskompetenz’ (...) - also
nicht nur fachliche, sondern zunehmend methodische sowie personale und
soziale Kompetenzen“ wird für alle Berufe verlangt..57
Um gesellschaftlich teilzuhaben, bedarf es für Elke Gruber „vielfältiger
sozialer, personaler und kommunikativer Fähigkeiten“, „allgemeine
methodische und problemlösende Kompetenzen“, „die Fähigkeit zu reflexivem
Denken und Handeln“, sowie „Handlungskompetenz“, d.h. ein „voraus-
schauendes planendes Handeln“.58
Unumgängliche Voraussetzung für jede Art von lebensbegleitender Bildung
sind nach Gertrud Kamper hohe Schriftsprachkenntnisse und „Fähigkeiten des
54 vgl. Tröster, Monika: Einführung, in: Tröster, Monika 2002, S. 11f. 55 Tröster, Monika: Handlungskompetenz, in: ISOTOPIA, 35/2002, S. 31. 56 vgl. Tröster, Monika: Grundbildung, in: Tröster, Monika 2000, S. 17. 57 vgl. ebd., S. 18. 58 vgl. Gruber, Elke: Alphabetisierung und Grundbildung, S. 6. (Homepage) URL: www.uni-klu.ac.at/ifeb/eb/AlphabetisierungundGrundbildung.pdf (02.11.2006).
26
selbständigen Lernens“, das sind „kognitive und metakognitive, motivationale,
soziale Fähigkeiten“, ergänzt mit Computer- und Internetkenntnissen.59
Für die Wirtschaft sind besonders Schlüsselqualifikationen von großem
Interesse, die länger als die rasch sich verändernden beruflichen
Fachkompetenzen fortbestehen. Marie-Cécile Bertau führt einige an:
Dazu gehören: Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit, Verantwortungs-bewusstsein, Teamfähigkeit, Initiative, selbständiges Lernen, kommunikatives Verhalten, Kritikfähigkeit, Belastbarkeit, Kreativität, logisches Denken, planvolles Arbeiten, Zielstrebigkeit - um nur einige zu nennen.60
Oskar Negt entwickelte fünf „(...)gesellschaftliche Schlüsselqualifikationen,
die den aus Wirtschaftskreisen geforderten Fähigkeiten als übergeordnete
Prinzipien - sozusagen als Metakompetenzen - hinzugefügt werden sollten“,
und die, wie Michael Schratz feststellt, dem „selbstbestimmte(n) Mensch“
Priorität einräumen.61 Otto Rath benennt diese Schlüsselkompetenzen:
Es sind dies Identitätskompetenz (den Umgang mit bedrohter und gebrochener Identität lernen), technologische Kompetenz (gesellschaftliche Wirkungen von Technik begreifen und Unter-scheidungsvermögen entwickeln), Gerechtigkeits-kompetenz (sic!-G.G.) (Sensibilität für Enteignungserfahrungen, für Recht und Unrecht, für Gleichheit und Ungleichheit), ökologische Kompetenz (der sorgsame Umgang mit Menschen, mit der Natur und den Dingen) und historische Kompetenz (Erinnerungs- und Utopiefähigkeit).62
Otto Rath legt dar, dass jede Definition von Grundbildung die „politischen
und kulturellen Interessen der definierenden Gruppe“ widerspiegelt:63
Eine gesicherte Grundbildung liegt im Interesse der Europäischen Kommission, die Europa zum dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt machen möchte. Diesem funktionalen Anspruch an Grundbildung wird ein emanzipatorischer entgegengehalten, der sich gegen die Reduktion von Bildung auf Qualifikation wendet.64
Aufgrund dieser Intention wird beabsichtigt, ein politisches und inter-
kulturelles Grundbildungskonzept zu entwickeln, welches die Schlüssel-
kompetenzen von Oskar Negt auf Grundlage der Kulturtechniken beinhalten
59 vgl. Kamper, Gertrud: Erwachsenen-Grundbildung, in: DIE Zeitschrift, 01/2001, S. 31. (Homepage) URL: www.diezeitschrift.de/12001/kamper01_01.pdf (18.07.2006). 60 Bertau, Marie-Cécile: Grundbildung, in: Tröster, Monika 2000, S. 32f. 61 vgl. Schratz, Michael: Weiterbildung/Erwachsenenbildung (4/5), in: Hierdeis, Helmwart; Hug, Theo 1996. 62 Negt, Oskar, zit. in: Rath, Otto 45/2004, S. 36. 63 vgl. Rath, Otto: Kursbuch Grundbildung, in: ISOTOPIA, 45/2004, S. 33. 64 ebd., S. 22.
27
könnte.65 Diese „europäische Grundbildung“ ließe sich politisch als eine „(...)
Alternative zum Konzept des auf den Faktor Humankapital fokussierten
Grundwissenskonzeptes, das den gegenwärtigen Diskurs dominiert,
etablieren“.66
Innerhalb der Europäischen Union soll permanentes lebensbegleitendes
Lernen den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, den anwachsenden oder
neu an sie herangetragenen beruflichen und gesellschaftlichen Anforderungen
gewachsen zu sein. Von jeder und jedem werden im „Memorandum über
Lebenslanges Lernen“ zusätzlich zu ausreichenden Kenntnissen und
Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen auch spezielle „neue
Basisqualifikationen“, d.h.: „IT-Fertigkeiten, Fremdsprachen, Technologische
Kultur, Unternehmergeist und soziale Fähigkeiten“67 verlangt, die „(...) die
Voraussetzung sind für eine aktive Teilhabe an der wissensbasierten
Gesellschaft und Wirtschaft (...)“. 68
Folglich sind Menschen mit unzureichender Grundbildung gefährdet, von
der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Partizipation und Mitgestaltung
dauerhaft ausgeschlossen zu werden, da sie den beruflichen und sozialen
Bildungsansprüchen nicht in ausreichendem Maße nachkommen können.
Grundbildung soll, nach Monika Tröster, die Kluft zwischen den permanent
ansteigenden und komplexer werdenden gesellschaftlichen Forderungen und
den vorhandenen Kompetenzen einer Person füllen oder überbrücken helfen.69
Denn lebenslanges Lernen, aber auch berufliche Weiterbildungen oder
Umschulungen sind ohne Grundbildung nicht möglich. Monika Tröster warnt
wie viele andere Autorinnen und Autoren vor den Auswirkungen eines
gesellschaftlichen Ausschlusses von Bevölkerungsgruppen mit geringer
Bildung, welcher letzten Endes den „sozialen Zusammenhalt“70 innerhalb der
Gesellschaft bedrohen kann. Sie schreibt: „Die Kluft zwischen den Menschen,
die die Anforderungen der Informationsgesellschaft erfüllen können, und
denen, die ausgeschlossen werden, vergrößert sich zusehends“.71
Vordringlichste Aufgaben von Grundbildung bildet demnach die soziale
Integration und Partizipation. Grundbildung bedeutet nach Werner Stark,
65 vgl. Rath, Otto: Kursbuch Grundbildung, in: ISOTOPIA, 45/2004, S. 36f. 66 vgl. ebd., S. 43. 67 vgl. Bundesministerium: Memorandum über Lebenslanges Lernen 01/2001, S. 12. 68 vgl. ebd., S. 13. 69 vgl. Tröster, Monika: Grundbildung, in: Stark, Werner; Fitzner, Thilo; Schubert, Christoph 1997, S. 18. 70 vgl. Tröster, Monika: Einführung, in: Tröster, Monika 2000, S. 7. 71 vgl. Tröster, Monika: Grundbildung, in: Tröster, Monika 2000, S. 12.
28
„(...) daß jede Person in der Lage sein sollte, sich gleichberechtigt am
sozialen, politischen, beruflichen und wirtschaftlichen Leben zu beteiligen“.72
Wie stellt sich nun Grundbildung aus der Sicht der Lernenden dar? Die
Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der VHS Oldenburg beantworteten die
Frage: „’Was verstehen wir unter Grundbildung?’“ mit folgender Reihung, die
Achim Scholz zusammengefasst hat:
1. Allgemeinbildung und Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen und der Umgang mit einem Computer.
2. Selbstständig zu leben, auf eigenen Füßen zu stehen, sich selbst helfen zu können, Abhängigkeit zu überwinden.
3. Seine Rechte zu kennen und zu wissen, welche Ansprüche man in welchen Fällen hat, z.B. gegenüber Behörden.
4. Eine Basis-Qualifikation für die Arbeitswelt und eine Hilfe zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu erhalten.
5. Lernen, sich zu äußern, seine Meinung zu sagen, sich mit anderen auseinander zu setzen.
6. Seelische Unterstützung und Sicherheit zu erhalten, ermutigt zu werden, auch neue Wege zu gehen.
7. Mitreden zu können über Politik und zu wissen, was los ist in der Welt.
8. Sich in der Umwelt zu orientieren und zurechtzukommen.73
Grundbildung hat, nach Elke Gruber, auch die Aufgabe den Menschen zu
helfen ihre Identität zu entwickeln. „Eine moderne Grundbildung muss heute
die Kompetenz zur Steuerung der eigenen Biographie umfassen; sie muss
Menschen befähigen, sich in dem flacher und brüchiger werdenden
institutionellen Leben zu Recht zu finden“.74 Aus dieser Überlegung heraus
schlägt sie vor, Grundbildung in existentielle Bildung umzubenennen, die
ihren Ausgang nimmt bei der „Entwicklung der biographischen Identität“ der
Menschen und einen lebensbegleitenden Lernprozess darstellt. Nicht das
Erwerben der Schriftsprachkenntnisse als „Selbstzweck oder allein zum
Bestehen am Arbeitsmarkt“ stehen im Mittelpunkt, sondern die Menschen und
72 vgl. Stark, Werner: Vorwort, in: Stark, Werner; Fitzner, Thilo; Schubert, Christoph 1997, S. 6. 73 Scholz, Achim: „Ich würde ein anderes Leben leben“, in: ALFA-FORUM, Jg. 18, 54-55/2004, S. 22. 74 Gruber, Elke: Alphabetisierung und Grundbildung, S. 8. (Homepage) URL: www.uni-klu.ac.at/ifeb/eb/AlphabetisierungundGrundbildung.pdf (02.11.2006).
29
die „sinnvolle Bewältigung“ ihrer jeweiligen „vielfältigen Rollen und
Lebenssituationen“.75
1.1.8 Literacy
In Studien der OECD, beispielsweise in der „International Adult Literacy
Survey“ (IALS) und vielen anderen englischsprachigen Veröffentlichungen,
wird von „Literacy“ (Literalität, Grundqualifikationen)76 gesprochen. Die
Bezeichnung enthält im Unterschied zum funktionalen Analphabetismus oder
Illiteralität keine negative Konnotation. In der IALS-Studie77 (1994-1998)
heißt es: „Literacy skills are necessary for community participation,
citizenship, and social cohesion“.78 Der Begriff wurde folgendermaßen
festgehalten: „Literacy is defined as the ability to understand and employ
printed information in daily activities, at home, at work and in the community
– to achieve one’s goals, and to develop one’s knowledge and potential“.79
Historisch betrachtet war der angelsächsische Begriff „Literacy“ mit
gesellschaftlichen Veränderungen und der allgemeinen Verbreitung der
Schriftkultur verknüpft.80 Das Wort „’literate’“ war gleichbedeutend mit „to be
‚familiar with literature’ or, more generally, ‚well educated, learned’“.81 Die
Bezeichnung wird nun, wie Stephan Sting darlegt, als „kulturunabhängig(e),“
„allgemeine, normativ gewendete Basiskompetenz“ betrachtet, „(...) die dem
Individuum als Vorbedingung zur Mitwirkung an entwickelten, schriftlich
organisierten Gesellschaften auferlegt wird“.82
Der Versuch, den Sinngehalt des Begriffes in der deutschen Sprache
wiederzugeben ist schwierig. Bei internationalen Studien, wie der PISA-
Studie83 (2001) in Deutschland, kam es dabei zu folgenden Überlegungen:
Wird der Terminus „’literacy’“ mit „‚Literalität’“ übersetzt, so entsteht dadurch
die verkürzte Vorstellung von einer „elementaren Alphabetisierung“, wird er
75 vgl. Gruber, Elke: Alphabetisierung und Grundbildung, S. 11. (Homepage) URL: www.uni-klu.ac.at/ifeb/eb/AlphabetisierungundGrundbildung.pdf (02.11.2006). 76 Literacy wird auch mit Literarität übersetzt. 77 Siehe dazu auch 4. Kapitel. 78 IALS-Studie, zit. in: Bertau, Marie-Cécile 2000, S. 38. 79 Human Resources Canada: IALS-Literacy in the Information Age. (Homepage) URL: www.hrsdc.gc.ca/en/hip/lld/nls/Surveys/ialsfrh.shtml (06.09.2006). 80 vgl. Sting, Stephan: Literalität, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 06, 03/2003, S. 321. 81 vgl. UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 148. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 82 vgl. Sting, Stephan: Literalität, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 06, 03/2003, S. 321f. 83 Siehe dazu auch 4. und 5. Kapitel.
30
aber mit „’Grundbildung’“ wiedergegeben, so wäre damit der Begriff zu weit
gefasst, da darunter ebenfalls inhaltlich Teile der „Kulturvermittlung und der
Weltorientierung“ zu verstehen sind.84 Daraus folgt nach Stephan Sting:
Literalität im Sinne von ‚literacy’ bedeutet also mehr als Lesen und Schreiben und zugleich weniger als eine auf bestimmte Bereiche und Inhalte bezogene Bildung. Sie bezeichnet kulturunabhängige und inhaltsneutrale kognitive Kompetenzen, die in verschiedenen Wissensgebieten und Lernbereichen zur Anwendung kommen sollen.85
Literarität umfasst ein „ganzes Set informationsverarbeitender und –
generierender Prozesse“, unabhängig vom „Inhalt“ und von „sozialen oder
personalen Kompetenzen“ oder „’Schlüsselqualifikationen’“, erklärt Gertrud
Kamper nicht ohne Kritik an dieser reduzierten Darstellung zu üben.86
Das österreichische Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und
Kultur führt im Rahmen der PISA-Studie das „literacy-Konzept“
folgendermaßen aus:
In den Testaufgaben von PISA liegt das Hauptaugenmerk auf der Beherrschung von Prozessen, dem Verständnis von Konzepten sowie auf der Fähigkeit, innerhalb eines Kompetenzbereichs auf Grund von vernetztem Wissen mit unterschiedlichen, praxisbezogenen Situationen und Problemen umgehen zu können. Die Untersuchung stellt damit auf fächerübergreifende Kompetenzen, Kenntnisse und Fähigkeiten ab, die man heute als Erwachsene/r benötigt, um am gesellschaftlichen Leben aktiv gestaltend und weiterlernend teilhaben zu können.87
Der Terminus wird immer mehr auch außerhalb des schriftsprachlichen
Bereichs verwendet und so ist es, nach Stephan Sting, durchaus üblich, von
„’mathematic literacy’ (mathematische Kompetenz)“, „’scientific literacy’
(naturwissenschaftliche Kompetenz)“ u.a.m. zu sprechen. Zu diesen Begriffen
etablieren sich jeweils auch Testabläufe, Leistungsmessungen und
Klassifikationen von Standards und Literalitätsniveaus, wobei die Bezeichnung
„literacy“ sich dadurch, nach Vera Husfeldt, zu „einem neuen Begriff von
Intelligenz“ ausweitet.88
84 vgl. Sting, Stephan: Literalität, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 06, 03/2003, S. 322. 85 ebd. 86 vgl. Kamper, Gertrud: Erwachsenen-Grundbildung, in: DIE Zeitschrift, 01/2001, S. 31. (Homepage) URL: www.diezeitschrift.de/12001/kamper01_01.pdf (18.07.2006). 87 Bundesministerium: PISA. (Homepage) URL: www.bmukk.gv.at/schulen/schubf/se/pisa.xml (10.06.2008). 88 vgl. Sting, Stephan: Literalität, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 06, 03/2003, S. 322.
31
Dieser breiten Konzeption von „literacy“ widerspricht Stephan Sting und
kritisiert die Vorstellung von „kulturunabhängige(n) und inhaltsneutrale(n)
kognitive(n) Kompetenzen“.89 „Literalität lässt sich weder abstrakt erlernen
noch kulturneutral testen. Da in unserer Kultur Literalität nicht unabhängig
von der schriftkulturellen Tradition betrachtet werden kann (...),“90 erscheint
ihm die Verwendung des Begriffs „Schriftlichkeit“ angebrachter. Er begründet
diese Aussage folgendermaßen: „’Schriftlichkeit’ beinhaltet die fundamentale
Verschränkung von Literalität mit einer besonderen, kulturhistorisch
entstandenen ‚Schriftkultur’“.91
Auch für Armin Triebel hat der kulturelle Kontext großen Einfluss auf die
Literacy-Konzeption. Mit jeder Definition von „literacy“ wird eine kulturelle
und politische Entscheidung getroffen, welche unterschiedliche politische
Folgen mit sich bringt:
The ways in which an institution or society defines literacy implies a definition of the culture´s ‚collective identity’ more generally. Literacy is an expression of cultural and political aims, and it is used to designate social roles in a society. In this respect literacy is always an essentially normative notion and an instrument of politics, and it varies with time and place (...).92
Ein anderes Verständnis von Literalität findet sich bei Roz Ivanic, David
Barton und Mary Hamilton. Sie betrachten Literacy als „soziale Handlung“
statt als “’Fertigkeit’“. Die sozialen Aktivitäten, die Lesen und Schreiben
beinhalten, sind nicht Selbstzweck, sondern sie dienen dazu die variierenden
alltäglichen Aufgaben eines Menschen durch unterschiedliche „Literacies“,
unterschiedliche „literale Handlungen“ zu bewältigen. Der Ansatz beachtet
soziale und kulturelle Kontexte. Er orientiert sich an den in diesen
gesellschaftliche Kontexten entstehenden Wünschen und Bedürfnissen der
Menschen und reduziert Literacy nicht vorrangig auf bildungspolitische und
ökonomische Ziele und Zwecke.93 Kurz gesagt bedeutet „Literacy als soziale
Handlung“ im jeweiligen sozialen Umfeld Antworten auf Fragen zu wissen wie:
„(…) wer kann helfen, wie lange dauert etwas, wann gilt eine Aufgabe als
befriedigend ausgeführt, was wird in diesem Kontext anerkannt, was ist
89 vgl. Sting, Stephan: Literalität, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 06, 03/2003, S. 322. 90 vgl. ebd., S. 324. 91 ebd. 92 Triebel, Armin: Literacy, in: Bascia, Nina u.a. 2005, S. 794. 93 vgl. Ivanic, Roz; Barton, David; Hamilton, Mary: Wie viel „Literacy“ braucht ein Mensch?, in: ALFA-FORUM, Jg. 18, 54-55/2004, S. 19.
32
inakzeptabel“.94 Die Autorinnen und der Autor ergänzen: „Diese sozialen
Aspekte von Literacy werden besser durch Partizipation an den Handlungen
selbst gelernt als durch formalen Unterricht“.95
Welche Literacies jeweils erforderlich sind, um gesellschaftlich teilzuhaben,
richtet sich nach den „sozialen Absichten und Plänen“ der Menschen. Literale
Handlungen sind daher situationsabhängig variabel und erweiterbar. „Ob also
Menschen einen Bedarf haben und die Art dieses Bedarfes sind individuell
entwickelte, persönliche Angelegenheiten“, befinden die Autoren.96 Die
Entscheidung darüber sollte nicht von außen, z.B. von „Regierungen,
Bildungssysteme(n), Testautoren oder Arbeitgeber“97 für sie getroffen werden.
1.2 Konnex zur Erwachsenenbildung/Erziehungswissenschaft
Die Erwachsenenbildungsinstitutionen in den westeuropäischen Ländern
betrachteten die Alphabetisierung bisher nicht als ihr traditionelles
Aufgabengebiet. Es wurde zunächst fälschlicherweise davon ausgegangen,
dass diese Kenntnisse und Fertigkeiten in der erwachsenen Bevölkerung
durchgehend vorhanden sind.98 In Deutschland erschien im Jahr 1984 im
Band Erwachsenenbildung der Enzyklopädie Erziehungswissenschaft eine
Abhandlung von Horst-M. Müller über die „Alphabetisierung (westliche
Industrieländer)“, in der es hieß: „Es ist unbestreitbar Aufgabe der
Erwachsenenbildung, lerninteressierten Analphabeten die für die Bewältigung
des Alltagslebens notwendige Schriftsprachenkompetenz zu vermitteln“.99
In Österreich ist die universitäre Auseinandersetzung mit dem funktionalen
Analphabetismus noch sehr jung, sofern sie sich bislang überhaupt dieses
Themas angenommen hat. Als Folge davon lassen sich dazu noch wenige
wissenschaftliche Arbeiten oder Diskussionen in Fachkreisen ausmachen.
Vorerst werden aufgrund der Ergebnisse der PISA-Studie Debatten über die
Reformbedürftigkeit des österreichischen Schulsystems geführt. Demzufolge
sollte die Alphabetisierung und Grundbildung in Zukunft größere politische
Aufmerksamkeit und mehr finanzielle Förderungen erhalten als bisher, denn
dieses Thema ist, wie Werner Lenz betont, höchst brisant:
94 vgl. Ivanic, Roz; Barton, David; Hamilton, Mary: Wie viel „Literacy“ braucht ein Mensch?, in: ALFA-FORUM, Jg. 18, 54-55/2004, S. 19. 95 ebd. 96 ebd., S. 20. 97 vgl. ebd., S. 21. 98 vgl. Lenhart, Volker; Maier, Martina: Erwachsenenbildung und Alphabetisierung, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 482. 99 Müller, Horst-M.: Alphabetisierung, in: Lenzen, Dieter 1984, S. 334f.
33
Bis zu 20 Prozent der 15-Jährigen eines Jahrgangs – so lauten die Befunde der PISA-Studie von 2004 für Österreich – verlassen die Schule mit mangelnder Grundbildung: Sie haben große Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben und Rechnen.100
Die politische Zuständigkeit liegt beim Bundesministerium für Bildung,
Wissenschaft und Kultur101, welches für die Alphabetisierungskurse bislang
„zwei Millionen Euro“ aufbietet.102 Insgesamt war für die Erwachsenenbildung
in den Jahren 2004/05 ein Budget von „je 11,7 Millionen Euro“ beschlossen
worden.103
Auch wenn eine Studie, die Auskunft geben könnte über die tatsächliche
Größenordung des funktionalen Analphabetismus in Österreich, bisher vom
Ministerium aus Kostengründen abgelehnt wurde, wäre eine solche, nach
Meinung von Otto Rath, Mitbegründer des Netzwerk Alphabetisierung.at,
absolut dringend erforderlich. Diese Zahlen sind unumgänglich, um gegenüber
den Fördergebern den realen finanziellen Bedarf für die bestehenden und
zukünftigen Kursangebote ausreichend argumentieren zu können.104 Stimmt
die geschätzte Zahl von 600.000 Erwachsenen mit erheblichen Problemen im
Lesen und Schreiben in Österreich auch nur annähernd, so ist für diese
Gruppe, aufgrund der infrastrukturellen und finanziellen Knappheit, das
heutige Angebot an Alphabetisierungs- und Grundbildungskursen vollkommen
unzureichend.
Neben der oben angesprochenen Untersuchung, sind Forschungs-
tätigkeiten willkommen, die ein umfangreiches Grundlagenwissen zum
Themenbereich funktionaler Analphabetismus im sozialen Kontext erheben,
z.B. zu den Entstehungsursachen, zu der sozialen Positionierung und den
unterschiedlichen Bedürfnissen der verschiedenen Zielgruppen
(Männer/Frauen, Jugendliche/Erwachsene/Ältere, arbeitende/arbeitslose
Personen, Menschen mit besonderen Bedürfnissen, usw.) sowie zu
erwachsenengerechten Konzepten, Methoden und Materialien für das Erlernen
der Schriftsprachkompetenz (mit Einzelpersonen, Gruppen, Familien, in
Betrieben, Sozialeinrichtungen, Gesundheitszentren, Anstalten, usw.).
Von Interesse wären auch Maßnahmen zur Prävention des funktionalen
Analphabetismus in der familiären Sozialisation, der Schulbildung und der
100 Lenz, Werner: Porträt Weiterbildung 2005, S. 60. 101 Partner sind auch das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit, die Länder, u.a. 102 vgl. Strohmeyer, Heidrun, zit. in: Doberer-Bey, Antje 2006, S. 40. 103 vgl. Lenz, Werner: Porträt Weiterbildung 2005, S. 42. 104 vgl. Rath, Otto, zit. in: Doberer-Bey, Antje 2006, S. 41.
34
individuellen Entwicklung, Kursevaluationen, Beiträge zur Enttabuisierung der
Problematik in der Gesellschaft, weitgehende Übereinkünfte über die
Begrifflichkeiten und deren Inhalte, Erhebungen, die die nationalen,
internationalen und interdisziplinären Erfahrungen und Erkenntnisse über die
Alphabetisierung und Grundbildung einbeziehen, die Nutzung von
internationalen Kontakten und gemeinsamen Stategien für die Reduktion des
funktionalen Analphabetismus und vieles andere mehr. Die Erkenntnisse aus
Theorie und Praxis müssten unbedingt auch bildungspolitische Folgen zeigen
und in die bestehenden (pädagogischen) Ausbildungen einfließen, damit die
Lebensräume aller Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen bestmöglich
individuell förderliche Lernbedingungen enthalten.
Zur theoretischen Ausarbeitung der Alphabetisierung und Grundbildung
könnte die Erziehungswissenschaft sicherlich einiges beitragen. Wolfgang
Mitter bezeichnet „'Grundbildung' (im Zusammenhang mit der Bekämpfung
des Analphabetismus in Entwicklungs- und Industrieländern)“ als neues
Themenfeld der Vergleichenden Erziehungswissenschaft.105 Sie ist die
Grundlage des in unserer Gesellschaft immer wichtiger werdenden
lebensbegleitenden Lernens. Elke Gruber hält es daher für unumgänglich,
Grundbildung als „originären Bestandteil der Erwachsenenbildung“
anzuerkennen, um sie aus ihrem „Nischendasein, was die Finanzierung, die
institutionelle Verankerung und Forschung betrifft, (zu) befreien (...)“.106
Eine Orientierung über die internationale Alphabetisierung und Grund-
bildung bietet das nächste Kapitel.
105 vgl. Mitter, Wolfgang: Vergleichende Erziehungswissenschaft (5/6), in: Hierdeis, Helmwart; Hug, Theo 1996. 106 vgl. Gruber, Elke: Alphabetisierung und Grundbildung, S. 9. (Homepage) URL: www.uni-klu.ac.at/ifeb/eb/AlphabetisierungundGrundbildung.pdf (02.11.2006).
35
2. DIE WELT
2.1 Internationale Alphabetisierung
Lesen und Schreiben lernen zu können ist nicht selbstverständlich. Der
internationale Weltalphabetisierungstag am 8. September soll uns daran
erinnern. Zahlreiche Einrichtungen versuchen nicht nur an diesem Tag die
Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für das Thema zu gewinnen. Die UNICEF,
die UNESCO, die Weltbank und viele andere Organisationen und Institutionen
haben sich die Alphabetisierung und Grundbildung von Kindern, Jugendlichen
und Erwachsenen zur Aufgabe gemacht. Aus welchen Gründen geschieht nun
dieses Engagement und welche Hindernisse gilt es dabei zu überwinden? Wie
hat sich die Geschichte der Alphabetisierung bis zum Jahr 2006 ereignet?
2.1.1 Allgemeine Bildungsformen
Bildung erfolgt in Institutionen, z.B. den Schulen und Universitäten
(formale Bildung) oder wird außerhalb dieser für berufliche oder private
Lernziele bestimmter Gruppen durchgeführt, wie etwa die Alphabetisierung
und Grundbildung (nonformale Bildung). Sie ereignet sich im Alltag durch
Gespräche im Familienkreis, in peergroups, durch Massenmedien (informale
Bildung),107 sowie durch gemeinsames Tun, Beobachten und Nachahmen von
Vorbildern. Nonformale Bildung kann die in formalen Bildungssystemen
erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse vervollständigen, erhöhen oder auch
ersetzen.108 Die Schulbildung obliegt den Nationalstaaten. Sie wird durch
bildungspolitische Aktivitäten im Rahmen der internationalen Entwicklungs-
zusammenarbeit ergänzt, während oft NGOs nonformale Bildung durchführen.
Bildung ist ein anerkanntes Recht jedes Menschen.109 Eine gute Ausbildung
steigert häufig die Chancen auf einen Arbeitsplatz und auf Einkommen. Sie
kann Menschen ermöglichen sich aus der Armut zur befreien und die eigene
Lebensqualität zu erhöhen. Zugleich soll Bildung der demokratischen, sozialen
und wirtschaftlichen Entwicklung der Länder dienen.
107 vgl. Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 1f. 108 vgl. ebd., S. 2. 109 Recht auf Bildung, festgeschrieben in: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 26; Europäische Menschenrechtskonvention, Artikel 2 des Zusatzprotokolls; Charta der Grundrechte der EU, Artikel 14; Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Artikel 13, 14; UNO-Konvention über die Rechte des Kindes, Artikel 28, 29; u.a.m.
36
2.1.2 Quantitative Erhebung
Aus dem UNESCO Weltbildungsbericht (2006) lässt sich entnehmen, dass
derzeit ungefähr 771 Millionen Analphabetinnen und Analphabeten geschätzt
werden. Das sind ca. 18% der erwachsenen Weltbevölkerung (über 15 Jahre).
Die massive Abnahme der Zahlen gegenüber dem Jahr 1990 um 100 Millionen
wurde hauptsächlich durch eine Reduktion von ca. 94 Millionen in China
möglich. Es wohnen drei Viertel der lese- und schreibunkundigen Menschen in
nur 12 Staaten der Erde.110 Sehr viele Analphabetinnen und Analphabeten
leben in „Afrika südlich der Sahara, in Süd- und Westasien“111 und den
arabischen Staaten. Wesentlich mehr Frauen (64%) als Männer sind vom
Schriftspracherwerb ausgeschlossen. Die Verringerung der Zahlen geht nur
langsam vor sich. Das liegt auch daran, weil ca. 100 Millionen Kinder im
Schulalter - in der Mehrzahl wieder Mädchen - derzeit keine Primarbildung
erhalten.112
Abbild 1: Bildung für alle 2006. Alphabetisierung weltweit.
110 Dazu zählen: Indien, China, Bangladesch, Pakistan, Nigeria, Indonesien, Ägypten, Brasilien, Iran, Marokko, Kongo und Äthiopien. 111 Süd- und Westasien meint hier: Afghanistan, Bangladesch, Bhutan, Indien, Iran, Malediven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka. 112 vgl. ÖFSE: Bildung für alle, S. 5. (Homepage) URL: www.oefse.at/Downloads/veranstaltungen/Tagungsdoku_Bildung_fur_Alle_30_03_2006.pdf (24.07.2006).
37
Die Zahlen wurden aufgrund von nationalen Erhebungen ermittelt, wobei
die Definitionen und Untersuchungskriterien absolut nicht übereinstimmen.
Ursula Giere bemerkt dazu:
Während in einigen Ländern Personen als alphabetisiert registriert werden, die lesen, aber nicht schreiben können, in anderen alle, die mindestens vier Jahre eine Schule besucht haben, gelten in wiederum anderen Ländern Personen erst als alphabetisiert, wenn sie einen Text mit Verständnis lesen und schreiben können.113
Vergleichbare Testverfahren, mit deren Hilfe sich durch persönliche
Testung der Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung auf Skalen anzeigen
ließe, würden ein exakteres Bild abgeben, als es derzeit die Polarität zwischen
alphabetisiert und nicht alphabetisiert möglich macht. Die Deutsche UNESCO-
Kommission geht davon aus, dass sich dann die Zahl von ca. 771 Millionen
Menschen mit keinen oder geringen Schriftsprachkenntnissen wohl noch
drastisch erhöhen würde.114
2.1.3 Alphabetisierungshindernisse
Die Ursachen für die hohen Analphabetenraten der erwachsenen
Bevölkerung entstehen in den Ländern des Südens vor allem durch ungelöste
Probleme wie massive Armut, Naturkatastrophen, Überbevölkerung,
ökonomische Instabilität, Arbeitslosigkeit, Epidemien sowie mangelnde
medizinische Versorgung, die besonders in Kriegs- und Krisenregionen zu
menschlichen Katastrophen wie Hunger, Verelendung, Obdachlosigkeit,
Gewalt, Vertreibung, zu Waisenkindern infolge von Konflikten oder von
Krankheiten wie AIDS und anderem führen. Bildung ist dort vorwiegend mit
der Hoffnung verbunden die Armut und Abhängigkeit zu überwinden, ist ein
Traum von einer besseren Zukunft für sich und für die eigenen Kinder. Doch
solange diese Problemlagen in hohem Maße bestehen, ist die Alphabetisierung
für viele unerreichbar und muss die Sicherung des Überlebens vor jeglichen
Bildungsbestrebungen, wie der Aneignung von Lesen, Schreiben und Rechnen
Vorrang haben.
In diesen Ländern zählt der überwiegende Teil der Menschen, die nicht
lesen und schreiben können, zu den primären Analphabeten, jedoch finden
sich auch sekundäre Analphabeten darunter, die ihre Kenntnisse aufgrund von
113 Giere, Ursula: Alphabetisierung, in: UNESCO-Institut für Pädagogik 1992, S. 22. 114 vgl. Deutsche UNESCO-Kommission: Literacy for Life, S. 6. (Homepage) URL: www.unesco.de/c_arbeitsgebiete/efa-report2006.pdf (03.08.2006).
38
fehlenden schriftsprachlichen Anregungen und Anwendungsmöglichkeiten im
Alltag wieder eingebüßt haben.115
Zu den bereits genannten Ursachen kommen Benachteiligungen der
Schülerinnen und Schüler, die aufgrund ihres entlegenen Wohnortes, der
familiären Situation, wegen ihres Geschlechts, der Gefahren auf dem weiten
Schulweg, wegen der unzureichend vorhandenen, bzw. zu teuren Bildungs-
einrichtungen, der übervollen Klassen (60 bis 90 Kinder!), dem niedrigen
Niveau des Unterrichts, dem fehlenden116 oder nur wenig ausgebildeten und
zudem schlecht bezahlten Lehrpersonal, wegen nicht vorhandenen, unzeit-
gemäßen oder unpassenden Lehr- und Lernmaterialien bestehen und dadurch
den Kindern keinen oder nur einen bescheidenen Lernerfolg ermöglichen.117
Schule findet mancherorts statt in ausrangierten Fahrzeugen, auf Bahn-
höfen, unter freiem Himmel oder in desolaten Gebäuden, ohne Sessel und
Tische, ohne Schulbücher, ohne Tafeln, Hefte, Schreibstifte, Kreiden und
Bibliotheken. Es fehlen meist die finanziellen Ressourcen für den Ausbau von
gut ausgestatteten Schulen, für qualifiziertes Lehrpersonal und für geeignetes
Unterrichtsmaterial, von modernen Arbeitsgeräten wie dem eines Computers
ganz zu schweigen.
In vielen Ländern des Südens existieren teure (private) Ausbildungen für
die Elite, während viele Kinder gar nicht zur Schule gehen oder diese vorzeitig
beenden, weil ihre Eltern wirtschaftlich nicht in der Lage sind, die
Grundbildung für sie zu finanzieren. Sehr wohl aber bezahlen, nach
Untersuchungen von George Psacharopoulos, arme Familien in manchen
Ländern des Südens, aber auch in den Industriestaaten durch Steuer-
zahlungen die Hochschulen für die Nachkommen reicher Familien, in welchen
ihre eigenen Töchter und Söhne kaum Ausbildungen erhalten können.118
Nicht Lesen und Schreiben zu können ist in vielen Staaten des Südens
kein gesellschaftliches Stigma, das versteckt werden müsste, sondern
Analphabetismus ist ein Resultat der vorherrschenden Lebensbedingungen
großer Bevölkerungsteile, welche durch finanzielle, wirtschaftliche und soziale
115 vgl. Lenhart, Volker; Maier, Martina: Erwachsenenbildung und Alphabetisierung, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 482. 116 Es fehlen z.B. in Afrika viele Lehrerinnen und Lehrer wegen AIDS. 117 Bei der Erwachsenenalphabetisierung gibt es ähnlich wie in der Primarbildung Probleme bezüglich Unterrichtsqualität, fehlendem Lehrpersonal und fehlenden geeigneten Unterrichtsmaterialien. Die Staaten fördern bevorzugt, auch unter dem Einfluss der Geldgeber, den Ausbau von Grundschulbildung für die Kinder und vernachlässigen oft die Erwachsenenbildung. 118 vgl. Psacharopoulos, George, zit. in: Lenhart, Volker 1993, S. 21.
39
Veränderungen, durch politischen Willen und gezielte globale Förderungen
durchaus verbessert werden könnten.
2.2 Die Anfänge der Alphabetisierung
Auch wenn einige Gesellschaften mit Hochkulturen bereits Schriftsymbole
hatten, war die Schriftsprachlichkeit in vielen Ländern eine Folge der
Kolonialisierung. Der Unterricht in den Schulen der verschiedenen Kolonien
wurde inhaltlich bestimmt durch die Sprache, Methode und dem Lehrplan der
anwesenden Kolonialmacht. Diese entschied, nach Tanja Sieber, außerdem
darüber, wer staatlichen Unterricht erhielt, mit dem Ziel eine „loyale Elite“
heranzubilden, die einerseits die Werthaltungen und kulturellen Lebensformen
der Kolonialherren übernahm und zudem „(...) in den Verwaltungen der
Kolonien eingesetzt werden konnte und bei ihrer wirtschaftlichen Ausbeutung
half“.119
Oftmals waren es Missionare, die beauftragt wurden den Menschen den
fremden christlichen Glauben zu überbringen und ihnen Lesen und Schreiben
zu lehren. So wurde, wie Joachim Schroeder erwähnt, in Texcoco, Mexico
„1524 die erste Schule der Neuen Welt“ vom Franziskaner Pedro de Gante
eröffnet, welcher auch erstmalig eine Alphabetisierungsfibel in den Sprachen
„Latein, Spanisch und Mexica“ aufschrieb. Dem folgten Bestrebungen für die
Azteken und für die Maya die Bibel und den Katechismus in ihrer Sprache und
Schrift zu verfassen.120
Welche Vorstellung hatten die Kolonialmächte von den eroberten Völkern?
Lange Zeit vorherrschend war das Bild vom „’edlen Wilden’“, der erst durch
die Alphabetisierung zum Menschen wird.121 Ein Beispiel aus Neuguinea:
Im Wilden ist eben längst nicht alles wild. Der hiesige Inländer ist durchaus ein Mensch, wesentlich mit ganz denselben Anlagen und Fähigkeiten wie der Europäer. Nur ist er geistig und moralisch fast gänzlich verarmt, unentwickelt, verwahrlost und in die Sinnlichkeit untergetaucht.122
Diese Menschen wurden oft ebenso wie Kinder betrachtet und behandelt:
Durch langjährige Sorgen und Mühen haben die Missionäre schon schöne Erfolge unter den armen Indianern erzielt. Dies ist um so höher
119 vgl. Sieber, Tanja: Schule 1997, S. 14f. 120 vgl. Schroeder, Joachim: 500 Jahre Volkserziehung, in: Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim; Wörz, Susanne 1992, S. 12. 121 vgl. Genuneit, Jürgen: Tarzan, in: ISOTOPIA, 19/2000, S. 160. 122 Pater Limbrock, zit. in: St. Josef-Bücherbruderschaft 1911, S. 119.
40
anzurechnen, als die Erziehung und Belehrung dieser Naturkinder keineswegs immer leicht ist.123
Der von den Missionaren für die Erwachsenen vorbestimmte Unterricht
verlief manchesmal nicht wie erhofft. Ein Missionar auf Neuguinea schildert:
Im ersten Dorfe findet man einen Trupp alter Kanaken, welche im Begriffe sind, ein Schiff zu bauen. „Zur Schule!“ rufen wir ihnen zu. ‚Pamuem anoe kajem lapil!’ d.h. ‚Keineswegs, ich mache ein Schiff.’ – ‚Du kannst dein Schiff machen, wenn die Schule aus ist.’ Dies nützt noch wenig; endlich nimmt man einige beim Arme und zieht sie von der Arbeit; das hilft. Sie bringen ihre Werkzeuge nach Hause, was einige Minuten dauert. Aber man muß warten und sorgen, daß der Wille auch zur Tat wird. Nachdem sie sich noch eine Zigarre gedreht und in Brand gesteckt haben, entschließen sie sich endlich, unserem Rufe zu folgen. Ein anderer Trupp lagert um ein Feuer, Tabak essend. Aber wie viele Entschuldigungen hat man hier zu erwarten! Die ganze Gesellschaft bleibt ruhig liegen. Endlich nimmt man einige beim Schopf und zieht sie fort; es kommt Bewegung in die Masse und der Zug geht weiter. Inzwischen haben andere gemerkt, um was es sich handelt, und in einem günstigen Augenblick ist ein Teil in den Gebüschen wieder verschwunden. Nach langem Hin- und Herreden kommen wir endlich in der Schule an. Hier sind die Männer recht artig, zuweilen etwas zu still, wenn sie nämlich ihren Schlaf fortsetzen. Gerne hören sie von der Religion, wollen jedoch ihre heidnischen Gebräuche nicht fahren lassen. Drei Viertelstunden hatte ich ihnen von Gott und seiner Liebe gesprochen (sic!-G.G.) und als ich fragte, ob sie katholisch werden wollten, riefen alle einstimmig: ‚Ja!’. Nachdem sie aber gehört, daß sie diesen und jenen heidnischen Gebräuchen entsagen müßten, riefen sie auch ebenso laut: ‚Die Schule ist aus! Die Schule ist aus!’.124
Bevormundend, jedoch durchaus auch wohlwollend, wurden sie von vielen
Missionaren als unzivilisierte, unwissende, unmündige und daher belehrungs-
bedürftige Menschen gesehen, die wie beispielsweise Mexikos „(...) Indianer
durch die spanische Eroberung in jeder Weise gewonnen haben“. Sie konnten
so „gerettet und zu Bürgern erzogen“ werden.125 Im Gegensatz dazu
beschreibt Peter Stöger ein ihm bekanntes „Wandbild in Guadalajara in
Jalisco, Mexiko“, worauf man einen „’Pädagogen’ mit einer blutverschmierten
ABC-Rolle“ erkennen kann.126
Desgleichen waren, wie Tanja Sieber dargelegt, für die Portugiesien 1940
die Menschen der Kolonien erst „zivilisiert“, wenn sie „(...) Portugiesisch
sprechen, lesen und schreiben konnten, einen Beruf oder Besitz hatten, ‚gutes
Verhalten’ an den Tag legten, also ‚nicht die Gebräuche und Gewohnheiten
123 St. Josef-Bücherbruderschaft 1911, S. 234. 124 Pater Schleiermacher, zit. in: St. Josef-Bücherbruderschaft 1911, S. 133f. 125 vgl. ebd., S. 169. 126 vgl. Stöger, Peter: Wo liegt Afrika? 2000, S. 53.
41
praktizierten, die ihre Rasse auszeichneten’, und (...) den Militärdienst
ablegten“.127
Die eroberten Völker hatten sich an den jeweiligen Zivilisationsstandard
der Kolonialmacht heranzubilden. Dieser Sichtweise widerspricht Peter Stöger
mit seiner „Kritik an Bildungsvorstellungen unter dem Aspekt der
Entwicklungsbedürftigkeit anderer(!) (...)“ zur eigenen „richtige(n) Bildung“
hin.128 Das ist eine nicht nur bei der Erziehung und Bildung in der Kolonialzeit
vorherrschende Auffassung. Er bemerkt ferner: „Was wissenswert ist und was
nicht, ist an Macht gebunden (...)“, damals wie heute. 129
Margarita Langthaler betont ebenfalls, dass durch die kolonialen Bildungs-
institutionen das bestehende Machtgefüge aufrecht erhalten wurde. Bildung
war, wenn überhaupt nur in dem Maße möglich, als sie für die Kolonialmacht
von Nutzen und Interesse war.130 Ein Gedicht von Gioconda Belli erzählt über
dieses Thema. Es trägt den Namen Quetzalcóatls Traum V:
Wer sind wir? Wer sind diese Männer, diese Frauen ohne Sprache, verspottet aufgrund ihrer Farbe, ihrer Haut, ihrer Federn und ihres Schmuckes wegen? Damit wir nur ihre Schriften lasen, verbrannten sie die unseren auf hohen Scheiterhaufen. Unsere Geschichte, unsere Dichtung, die Annalen unserer Völker, sie füllten mit Rauch uns die Höhlen der Augen, sie füllten mit Tränen unsere Eingeweide. Es brannten die Amátes, sorgsam von Schreibern bemalt. Es brannten die Geschichten, die uns zu dem gemacht, was wir waren. Wie heulten die Alten auf den Plätzen, als sie brennen sahen die Namen ihrer Väter im Feuer. Oh lange Nacht, Noche Triste der Asche. Nacht, in der wir unsere Hände verloren, unsere Sprache und unser Gedächtnis verwandelt in Sklaven, nachtwandelnde Schatten.131
Die Freiheit, erklärt Tanja Sieber, erreichten viele Kolonien erst nach dem
Ende des zweiten Weltkriegs. „’Bildung für alle’“, wurde in vielen Staaten zum
Inbegriff der erlangten Autonomie. Dieses Recht war zahlreichen Menschen
bislang durch die Kolonialregierungen vorenthalten worden. Grundschul-
127 vgl. Sieber, Tanja: Schule 1997, S. 14. 128 vgl. Stöger, Peter: Wo liegt Afrika? 2000, S. 53. 129 vgl. ebd., S. 66. 130 vgl. Langthaler, Margarita: Bildungsökonomisierung, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 155f. 131 Belli, Gioconda: Wenn du mich lieben willst 1993, S. 13.
42
bildung für alle Kinder wurde nun zugesichert. Die Staaten begannen Schulen
nach dem Beispiel der Kolonialmächte zu errichten, von welchen ihnen die
Loslösung erst kurz zuvor gelungen war. Durch Bildung erhofften die neuen
Staaten den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung zu schaffen,
um wiederum „(...) so zu werden wie die Länder des Nordens“.132
Der Ausbau der Grundschulbildung ließ die Einschulungsraten der Kinder
weltweit ab den 60er Jahren bis in die 80er Jahre enorm ansteigen. Viele
Universitäten wurden gegründet und zahlreiche Alphabetisierungsprogramme
und berufsorientierte Projekte angeboten. Durch die erworbenen Schrift-
sprachfertigkeiten und durch gute berufliche Ausbildung der Bevölkerung
sollten ökonomisch, politisch und sozial stabile Staaten entstehen mit
nationaler Identität und eigenständiger Kultur.
2.3 Alphabetisierung und Grundbildung bis dato
In seiner Darstellung der Erwachsenenalphabetisierung führt Volker
Lenhart auch deren Geschichte anhand der Zeiteinteilung von Agneta Lind und
Anton Johnston (1990) an. Sie erstellten einen chronologischen Ablauf der
Alphabetisierungsbestrebungen in den Ländern des Südens, beginnend in der
Zeit vor 1945 mit zwei Persönlichkeiten, Frank C. Laubach und William S.
Gray. In den 30er und 40er Jahren alphabetisierte und missionierte Frank C.
Laubach Erwachsene in verschiedenen Ländern Asiens, Afrikas und
Lateinamerikas. Er veröffentlichte 1947 seine Erkenntnisse in dem Werk
„’Teaching the World to Read – a Handbook for Literacy Campaigns’“. Bekannt
wurde sein Motto „’each one teach one’“. Sein Konzept wird auch heute noch
angewendet. Der Methodiker William S. Gray beschäftigte sich mit dem
Prozess des Lesens und Schreibens, nachzulesen in seiner 1956 erschienenen
Arbeit „’The Teaching of Reading und Writing’“.133
In den Ländern des Südens, berichtet Gertrud Kamper, wurde 1945
geplant minimale Kenntnisse im „Denken, Sprechen, Zuhören, Rechnen,
Lesen und Schreiben“ in Form einer „fundamentalen oder Basisliterarität“
nach dem erfolgreichen europäischen Modell zu etablieren.134 Der Fokus der
„Elementarliterarität, Basisliterarität“ lag, nach Gitta Stagl, Johann Dvořak
und Manfred Jochum auf dem industriellen Nutzen Europas für den
132 vgl. Sieber, Tanja: Schule 1997, S. 17. 133 vgl. Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 55. 134 vgl. Kamper, Gertrud: Analphabeten od. Illiterate, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 573.
43
Wiederaufbau nach 1945.135 Sie schreiben: „In den bewährten kolonialen
Mustern war die Dritte Welt der ‚andere Kontinent’. ‚Dort’ meinte man, die
Standards für Literarität festsetzen zu können“.136 Doch schon 1946 änderte
sich, nach Meinung der Autoren die Bedeutung des Begriffs und
„Elementarliterarität“ wurde zum „Recht auf Elementarbildung“ ausgedehnt.
Im Vordergrund standen nun die Bedürfnisse und Interessen der Lernenden.
Diese Veränderung entsprach allerdings wieder einem „liberalen
Missionarsmodell“, weil der Lernbedarf vom Erzieher vorgegeben und nicht
selbstbestimmt war. Die Lernenden wurden als „zu unmündig“ gesehen, ihre
eigenen Bedürfnisse zu erfassen, darum musste ihnen „zur Entwicklung
verholfen werden“. Diese Vorstellung hielt sich lange Zeit und wandelte sich
erst vollständig mit dem Auftauchen des Konzepts der „funktionellen
Literarität“ während der 70er Jahre.137
2.3.1 1950 – 1960 Fundamental education
Die UNESCO dominiert seit dem Zeitpunkt ihrer Gründung 1945 die
Debatten und Entscheidungen innerhalb der globalen Alphabetisierungspolitik.
Von 1945 bis 1965 war, so berichten Agneta Lind und Anton Johnston in der
Darstellung von Volker Lenhart, die Alphabetisierung für die UNESCO ein
Element des internationalen Bildungsplans „’Grunderziehung (fundamental
education)’“, die damit vor allem in der Muttersprache erlernte „’Lese-Schreib-
Fertigkeit’“ noch ohne Rechnen, aber inklusive „’praktischer Fähigkeiten’“
meinte.138 Die UNESCO definierte 1958: „(…) a literate person is one who can,
with understanding, both read and write a short simple statement on his or
her everyday life”.139
Innerhalb der „’fundamental education’“ wurde, nach Volker Lenhart und
Martina Maier, die Alphabetisierung „als erster Schritt zur selbständigen
Entwicklung der Gemeinde und ihrer Bürger“ betrachtet. Aus einzelnen
Alphabetisierungsaktivitäten heraus sollte die Motivation zur eigenständigen
Entwicklung erwachsen. Nach dieser Vorstellung „(...) lernen die Menschen
Lesen und Schreiben erst, wenn sie selbst die Notwendigkeit dazu erkennen“,
135 vgl. Stagl, Gitta; Dvořak, Johann; Jochum, Manfred: Literatur Lektüre Literarität 1991, S. 5f. 136 ebd., S. 6. 137 vgl. ebd. 138 vgl. Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 55. 139 UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 153. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006).
44
vor allem dann, wenn die Themen ihren „Bedürfnissen und Interessen“
entsprechen.140
Ein bedeutsames Ereignis für die globale Alphabetisierung war, wie der
Education for All-Global Monitoring Report (EFA-GMR) (2006) schildert, die
zweite Konferenz für Erwachsenenbildung in Montreal, Kanada, 1960. Dort
wurde eine weltweite Kampagne mit dem Vorhaben „to ‚eradicate illiteracy in
just a few years’“ vereinbart, die den nationalen Bemühungen der „developing
countries“ (finanziell) zur Hilfe kommen sollte. Unterstützung erhielt diese
Zielsetzung durch das Abkommen der UNESCO „Recommendation against
Discrimination in Education“(1960), dennoch waren die Aktivitäten, bis auf
einzelne nationale Kampagnen, gering.141 Eine Erklärung für den mäßigen
Erfolg gab Gunnar Myrdal, im Artikel von Volker Lenhart und Martina Maier,
mit seiner Beobachtung, dass „(...) die Erwachsenenbildung entweder völlig
vernachlässigt oder in etwas so ‚Praktisches’ verwandelt wurde, daß es nicht
mehr als ernsthafter Versuch der Alphabetisierung der Menschen gelten
kann“.142
2.3.2 1960 – 1970 Experimental World Literacy Programme
Wie aus dem EFA-Global Monitoring Report (2006) zu entnehmen ist,
wendete sich der Großteil der internationalen Organisationen in den 60er und
70er Jahren von Massenalphabetisierungskampagnen u.a. darum ab, weil
angenommen wurde, dass sie die Expansion des Kommunismus begünstigen
könnten. Bildungsmodelle, die entsprechend dem Grundgedanken der Human-
kapitaltheorie den wirtschaftlichen und nationalen Fortschritt ankurbeln
sollten, beeinflussten nun die weitere Entwicklung. Die Weltkonferenz der
Bildungsminister „Eradication of Illiteracy“ 1965 in Teheran brachte diese
neue Sichtweise ein und stellte das Modell der „functional literacy“ vor:
Rather than an end in itself, literacy should be regarded as a way of preparing man for a social, civic and economic role that goes beyond
140 vgl. Lenhart, Volker; Maier, Martina: Erwachsenenbildung und Alphabetisierung, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 484. 141 vgl. UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 153. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 142 Myrdal, Gunnar, zit. in: Lenhart, Volker; Maier, Martina 1994, S. 484f.
45
the limits of rudimentary literacy training consisting merely in the teaching of reading and writing.143
Neben der Konzentration auf die männliche Bevölkerung fällt in der
Erklärung besonders auf, dass nicht mehr die lernende Bevölkerung im
Mittelpunkt der Alphabetisierungsbemühungen steht, sondern die soziale und
wirtschaftliche Entwicklung der Länder. Funktionalität war ursprünglich nicht
nur mit ökonomischen Interessen verbunden. Gitta Stagl, Johann Dvořak und
Manfred Jochum erklären: „Funktionell ist, was für die Bedürfnisse brauchbar
ist“.144 Durch den wirtschaftlichen Aufschwung in Europa wurde aber die
funktionale Alphabetisierung vor allem ökonomischen Erfordernissen
untergeordnet. Die Autoren betonen: „Da diejenigen, die literat werden
sollten, die ökonomischen Ziele nicht selbst festgelegt hatten, blieb diese
Funktionalität ein Unterwerfungsakt unter vorgegebene mächtige Wirtschafts-
interessen“.145
Das „Experimental World Literacy Programme (EWLP)” begann im Jahr
1967. Bis 1973 wurden in elf Staaten nach dem Alphabetisierungskonzept der
„functional literacy“ vor allem arbeitsrelevante Kenntnisse und Fertigkeiten
vermittelt. Doch brachte das EWLP geringere Ergebnisse als zuvor
angenommen.146 Eine Erklärung für den Misserfolg bietet Eva Kohl. Wegen der
„zu selektiven Auswahl der TeilnehmerInnen“ für das „’vocational training’“
wurden diejenigen Menschen favorisiert, die bereits in einem
„Produktionsprozeß (...) teilnahmen; die ’Elite der Armen’“, die Land- und
Arbeitslosen aber wurden abgewiesen.147 Unterschiedlich dazu begründen
Volker Lenhart und Martina Maier den weitgehenden Fehlschlag des EWLP:
Die von internationalen Organisationen durchgeführte Alphabetisierung und Entwicklungszusammenarbeit kann nicht erfolgreich sein, wenn sie die politischen und sozialen Gegebenheiten des jeweiligen Landes vernachlässigt.148
143 UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 153. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 144 Stagl, Gitta; Dvořak, Johann; Jochum, Manfred: Literatur Lektüre Literarität 1991, S. 6. 145 ebd. 146 vgl. UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 153. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 147 vgl. Kohl, Eva: Bildung und Entwicklung, in: SCHULHEFT, 59/1990, S. 39. 148 Lenhart, Volker; Maier, Martina: Erwachsenenbildung und Alphabetisierung, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 486.
46
2.3.3 1970 – 1980 Paulo Freires Befreiungspädagogik
In Polarität zu der mit wirtschaftlichen Wachstum verknüpften
funktionalen Alphabetisierung entstand in den 60er Jahren durch Paulo Freire
in Brasilien ein Alphabetisierungsmodell mit emanzipatorischem Ansatz,
welches von vielen Seiten enorme Beachtung und Zustimmung erhielt. Paulo
Freire wird im 3. Kapitel dieser Arbeit vorgestellt.
Innerhalb der Geschichte der Erwachsenenalphabetisierung von Volker
Lenhart legen Agneta Lind und Anton Johnston den weiteren Verlauf wie folgt
dar. Mit dem Symposion in Persepolis, Iran, 1975 fand eine Abkehr statt, von
der „vorwiegenden ökonomisch-funktionalen Orientierung“ hin zur Stärkung
einer „politische(n), kulturelle(n) und auf Persönlichkeitsentwickung
bezogene(n) Bedeutung von ‚Literacy’“.149 Die Pesepolis-Deklaration wurde
von Paulo Freires Theorien sehr beeinflusst:
... to be not just the process of learning the skills of reading, writing and arithmetic, but a contribution to the liberation of man and to his full development. Thus conceived, literacy creates the conditions for the acquisition of a critical consciousness of the contradictions of society in which man lives and of its aims; it also stimulates initiatives (sic!-G.G.) and his participation in the creation of projects capable of acting upon the world, of transforming it, and of defining the aims of an authentic human development. It should open the way to a mastery of techniques and human relations. Literacy is not an end in itself. It is a fudamental (sic!-G.G.) human right.150
Letztlich aber orientierte sich, wie Armin Triebel anführt, die UNESCO an
einem Alphabetisierungsansatz mit Schwerpunkt auf dem Training von
Fertigkeiten, der eher wieder dem Konzept der “functional literacy” entsprach,
als den gesellschaftlichen und politischen Wandel zu unterstützen.151 1978
veröffentlichte die UNESCO eine bis heute gültige Definition von “functional
literacy”, die lautet:
A person is functionally literate who can engage in all those activities in which literacy is required for effective functioning of his group and community and also for enabling him to continue to use reading, writing and calculation for his own and the community´s development.152
149 vgl. Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 56. 150 Pesepolis-Deklaration, zit. in: Lenhart, Volker; Maier, Martina 1994, S. 488. 151 vgl. Triebel, Armin: Literacy, in: Bascia, Nina u.a. 2005, S. 795. 152 UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 154. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006).
47
2.3.4 1980 – 1990 Campaining for Literacy
Der wirtschaftliche Einbruch bewirkte in den 80er Jahren eine Stagnation,
bzw. Rückläufigkeit bei den erreichten Fortschritten im Bildungsbereich. Wie
Margarita Langthaler schreibt, verlangten die internationalen Finanzgeber
„Strukturanpassungsprogramme“ mit kräftigen Sparmaßnahmen im
öffentlichen Sektor, meist als Voraussetzung für den Erhalt weiterer Kredite.
Als Folge davon gingen die Einschulungszahlen in vielen Länden des Südens
aufgrund von Einsparungen in der Primarschulbildung, beim Lehrpersonal und
durch die (neuerliche) Einhebung von Schulgeldern wieder zurück.153
Noch schlechter kam es für die Alphabetisierung und Grundbildung
Erwachsener und die Institutionen höherer Bildung. Für den Nutzen des
Wirtschaftswachstums wurde, so die Autorin, den Staaten nahegelegt bzw. bei
Kreditvergaben auch vorgeschrieben ihre politische und finanzielle Förderung
auf den Primarschulbereich zu reduzieren. Die globalen Finanzinstitutionen
begründeten diesen Schritt durch ihre Berechnungen auf Basis des
Humankapitalansatzes, die ergaben, dass diese Investitionen ökonomisch den
größten Erfolg versprachen.154
In der Konferenz „’Campaining for Literacy’“ hingegen, die 1982 in
Udaipur, Indien, abgehalten wurde, galt nach Volker Lenhart und Martina
Maier der globale Analphabetismus als ernstes „’Zeichen mangelnder
Entwicklungschancen’“ vieler Staaten, welches ihren sozialen und
ökonomischen Aufstieg gefährdet. Die damals angestrebte Lösung lautete:
„’Ausrottung des Analphabetismus bis zum Jahr 2000’“ in Verbindung mit
„’sozialer Gerechtigkeit, Kampf gegen Armut und Überwindung von
Ungerechtigkeit’“ durch die Organisation von „’Massenkampagnen’“. Als erster
bedeutender Schritt und als Symbol der staatenverbindenden Gemeinschaft
einigten sich die Teilnehmenden auf die Durchführung eines
Alphabetisierungsjahres.155
Das Verständnis von „literacy“ wurde, nach dem Bericht des EFA-Global
Monitoring Reports (2006) gegen Ende der 80er Jahre entsprechend der
Erfordernisse der Globalisierung und des technisch/medialen Fortschritts
weiter ausgedehnt. Aus einer in dem Bericht erwähnten Zusammenkunft zum
153 vgl. Langthaler, Margarita: Bildungsökonomisierung, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 157. 154 vgl. ebd., S. 158. 155 vgl. Lenhart, Volker; Maier, Martina: Erwachsenenbildung und Alphabetisierung, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 489f.
48
Thema „Literacy in Industrialized Countries“ (1987) in Toronto stammt
folgende Definition: „Literacy is more than the ability to read, write and
compute. The demands created by advancing technology require increased
levels of knowledge, skills and understanding to achieve basic literacy.“156
Diese Zeit war nach der Einschätzung von Agneta Lind und Anton
Johnston, dargestellt durch Volker Lenhart, von einer „Diversifizierung der
Alphabetisierungsansätze“ und den intensiven Bemühungen um „Nach-
Alphabetisierung (Post-Literacy)“ geprägt. Das drückte sich in mannigfachen
Organisationsformen (staatliche Kampagnen, Maßnahmen durch NGOs bzw.
der Zivilbevölkerung initiert), den verfolgten Zielsetzungen, den dazu-
gehörenden theoretischen Annahmen und Weltanschauungen, der Wahl der
Zielgruppe, Sprache, Methode u.a.m. aus.
Diese Vielfalt der Ansätze sollte 1990 während des „internationalen
Alphabetisierungsjahres“ durch die Weltbildungskonferenz „‚Bildung für Alle’“
in Jomtien, Thailand, wieder verdichtet werden. Vorrangiges Ziel war es, die
Alphabetisierung mittels einer zweigeteilten längerfristigen Strategie
voranzubringen: Sowohl die Grundschulbildung für alle Kinder, um
Analphabetismus vorzubeugen, als auch die Alphabetisierung und
Grundbildung für Jugendliche und Erwachsene galt es zu fördern. Von den
Bildungsmaßnahmen besonders profitieren sollten: Mädchen und Frauen,
Jugendliche, Menschen mit Behinderungen, die Landbevölkerung sowie andere
benachteiligte und marginalisierte Gruppen.157
2.3.5 1990 – 2000 Education for All/International Literacy Year
Grundbildung (basic education) war das zentral erörterte Thema in der
Konferenz von Jomtien 1990. Eine „erweiterte Vision“158 von Grundbildung,
die durch ein umfassendes qualitätsvolles Bildungsprogramm die notwendigen
Lernbedürfnisse aller Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, in und
außerhalb der Schule vom ersten bis zum letzten Atemzug abdeckt,
unterscheidet sich in vielen Punkten von der herkömmlichen Vorstellung von
Grundbildung. Rosa María Torres und José Luis Corragio erstellten dazu
folgendende Übersicht:
156 UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 154. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 157 vgl. Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 56f. 158 vgl. Die Weltbildungskonferenz von Jomtien 1990, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 48.
49
Die Bedeutung von Grundbildung
die engere, konventionelle Auffassung von Grundbildung
die weitere Auffassung von Grundbildung die „Vision“ von Jomtien
Richtet sich an Kinder. Richtet sich an Kinder Jugendliche und Erwachsene.
Findet in der Schule statt. Findet in und außerhalb der Schule statt. Ist begrenzt auf eine bestimmte Lebensphase.
Ist lebenslang – beginnt mit der Geburt.
Ist identisch mit Primarschule oder mit einem vorab definierten Grad von Erziehung.
Richtet sich nicht nach der Anzahl der Schuljahre oder der Zeugnisse, sondern nach dem, was tatsächlich gelernt worden ist.
Bezieht sich auf den Unterricht bestimmter Fächer.
Bezieht sich auf die Befriedigung grundlegender Lernbedürfnisse bzw. die Vermittlung grundlegender Kenntnisse und Kompetenzen.
Anerkennt nur einen Typ von Wissen als gültig: das in der Schule erworbene Wissen.
Anerkennt jede Form von Wissen auch das traditionale überlieferte Wissen.
Grundbildung ist für alle gleich. Grundbildung ist unterschiedlich, da die grundlegenden Lernbedürfnisse und die Befriedigung dieser Lernbedürfnisse sich nach Gruppen und Kulturen unterscheiden.
Ist statisch. Wechsel findet nur statt als periodische Schul- und Lehrplanreform.
Ist dynamisch und ändert sich mit der Zeit. Die Reform ist permanent und immanent.
Die Anbietenden, d. h. die Institutionen, das Schulsystem, die Administration bestimmen den (schulischen) Inhalt und die Methoden.
Der tatsächliche Bedarf der Lernenden, ihrer Familien, ihrer Gesellschaft bestimmen Inhalt und Methode.
Akzent auf dem Lehren. Akzent auf dem Lernen. Die Verantwortung liegt beim Erziehungs- ministerium. Grundbildung als Sektor unter sektoraler Verantwortung.
Bezieht alle Ministerien und Regierungsstellen mit ein, die sich in irgend einer Form mit Bildung befassen, macht eine multisektorale Politik erforderlich.
Unter Verantwortung des Staates. Verantwortlich ist der Staat und die ganze Gesellschaft. Verlangt Konsensbildung und Koordination aller Aktionen.
Tabelle 1: Die Bedeutung von Grundbildung.159
Oberstes Ziel der Bildungsinitiative „Education for All“ ist nach den
Ausführungen von Josef Müller: „(...) ein besseres Leben für alle, das sich auf
Werte von Kultur und Zivilisation, auf menschliche Grundrechte und auf
Verantwortung gründet“.160 Um diese universale Grundbildung zu
verwirklichen wurden von den teilnehmenden Staaten und Organisationen
folgende Ziele verabschiedet, die der Autor auflistet:
159 Torres, Rosa M.; Corragio, José L.: Die Bedeutung von Grundbildung, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 186. 160 vgl. Müller, Josef: Jomtien nach Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 15.
50
1. Ausbau der frühkindlichen Erziehung und Entwicklung
2. Allgemeine Schulbildung bis zum Jahre 2000
3. Verbesserung der Lernergebnisse und des Bildungsniveaus
4. Verringerung der Analphabetenrate um etwa die Hälfte bis zum Jahr 2000. Der Alphabetisierung von Mädchen und Frauen sollte dabei besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden
5. Weiterer Ausbau von Einrichtungen und Programmen der Grund-bildung, um Jugendlichen und Erwachsenen lebenspraktische und einkommenssichernde Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln
6. Vermittlung von Wissen, Qualifikationen und Wertvorstellungen über moderne und traditionelle Medien zur Verbesserung von Lebensqualität und Entwicklung161
Alle Menschen jeden Alters sollen durch eine ausgedehnte Konzeption von
Grundbildung lernen können, was sie für ihr Leben brauchen. Diese
grundlegenden Lernbedürfnisse (basic learning needs)162 umfassen nach
Einschätzung der anwesenden Expertinnen und Experten, in der Kurzfassung
von Josef Müller:
die grundlegenden Lernwerkzeuge wie
- Lesen, Schreiben und Rechnen, - mündliche Ausdrucksfähigkeit und problemlösendes Denken
sowie die grundlegenden Lerninhalte,
also Wissen, Fertigkeiten, Wertvorstellungen und Einstellungen, die Menschen brauchen,
- um zu überleben, - ihre Fähigkeiten zur vollen Entfaltung zu bringen, - in Würde zu leben und zu arbeiten, - am Entwicklungsprozess teilzunehmen, - ihre Lebensqualität zu verbessern, - informierte Entscheidungen zu treffen und - den Lernprozess fortzusetzen.163
Dem ungeachtet beschränkten die meisten Länder des Südens ihre
Bildungsaktivitäten darauf „mehr Kinder in die Schule zu schicken“, wie im
nachfolgenden Treffen von Amman, Jordanien, 1996 kritisiert wurde.164
Erneut stellten die nationalen Regierungen und internationalen Organisationen
in „developing countries“ die Primarbildung als „most cost-effective
investment in education“ voran, während, wie Agneta Lind akzentuiert,
161 Müller, Josef: Jomtien nach Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 14. 162 Siehe „Basic learning needs” im 1. Kapitel und die Deklaration 1.1. im Anhang. 163 Müller, Josef: Jomtien nach Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 15. 164 vgl. Das „Zwischentreffen“ von Amman, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 57.
51
ironischerweise zeitgleich das lebenslange Lernen Erwachsener in „’developed’
countries“, als Forderung des Arbeitslebens und der Weltwirtschaft propagiert
wurde.165 Durch die Reduktion auf die Primarschulbildung entsteht, nach
Einschätzung von Margarita Langthaler, jedoch eine „(...) Verfestigung der
gegenwärtigen Arbeitsteilung auf globaler Ebene, die den armen Ländern die
Rolle eines Pools von billigen, gering ausgebildeten und flexiblen
Arbeitskräften zuschreibt.“166 Gegen Ende der 90er Jahre wandelte sich im
Rahmen der Debatten über die „Wissensgesellschaft“, in welcher „Wissen als
wesentliches Kapital“ betrachtet wird, die Bildungspolitik der internationalen
Gemeinschaft in den Ländern des Südens dahingehend, dass diese nun auch
die höhere Bildung zu unterstützen bereit waren.167
2.3.6 2000 – 2015 Education for All
Gab es, wie Rosa María Torres berichtet, in Jomtien noch hoffnungsvolle
Aufbruchsstimmung und Zuversicht, dass sich durch das neue Grundbildungs-
konzept nun endlich beachtliche globale Erfolge abzeichnen werden, kehrte
während des Weltbildungsforums (2000) in Dakar, Senegal, dagegen große
Ernüchterung ein.168 Dort wurden die Ergebnisse der „Jomtien-Dekade“169
präsentiert und analysiert. Es wurden in vielen Ländern enorme Fortschritte
erreicht, jedoch konnte kein einziges Vorhaben zur Gänze verwirklicht
werden.
Vor allem im Primarschulbereich170 gab es erkennbare quantitative
Verbesserungen bei den Einschulungsraten, während die außerschulischen
Bildungsprogramme von Jugendlichen und Erwachsenen allgemein weitgehend
unbeachtet blieben. Der EFA-Global Monitoring Report (2006) bemerkt dazu:
„The unfounded idea that primary education is more cost effective than youth
and adult literacy programmes proved partly a self-fulfilling one“.171
Josef Müller führt u.a. folgende Ursachen für das überwiegende Scheitern
165 vgl. Lind, Agneta: Gender equality in adult basic education programms, in: International Journal of Educational Development, Jg. 26, 02/2006, S. 168f. 166 vgl. Langthaler, Margarita: Bildungsökonomisierung, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 159. 167 vgl. ebd. 168 vgl. Torres, Rosa, M.: Weltbildungsforum in Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 213. 169 vgl. ebd., S. 211. 170 Dauert je nach Land von der ersten bis zur sechsten, siebten oder achten Klasse. 171 UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 28. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006).
52
des Aktionsplans von Jomtien an: Die nicht vorhandene Demokratisierung, die
mangelhafte Fachkompetenz bei Bildungspolitik und –maßnahmen, die
unzureichende „Kontinuität und Kohärenz“ besonders bei den nonformalen
Bildungsangeboten, die ungenügenden und autoritären Lehrmethoden, die
belanglosen Inhalte in teilweise unbekannten Unterrichtssprachen, dem
weitgehenden Ausschluß der Mädchen und Frauen von Bildungsprogrammen,
sowie die bestehende Ressourcenverknappung, welcher „Misswirtschaft und
Korruption“ gegenüberstehen.172
Die umfassende Vision von Grundbildung, wie sie in Jomtien als Bildung
für Alle entwickelt wurde, war nach wie vor das maßgebliche Leitbild, wenn
auch die vergangenen 10 Jahre dieses erheblich geschmälert hatten. Damals
wurde Grundbildung entworfen als die Erfüllung der grundlegenden
Lernbedürfnisse aller Menschen durch formale, nonformale und informale
Bildungswege über die gesamte Lebensspanne. Nach Rosa María Torres
Darstellung wurde seither in der Praxis die Bildung für Alle auf die Bildung der
„Ärmsten der Armen“ begrenzt, „da die ‚bloß’ Armen ohnehin in der Mehrheit
sind und ihre Anzahl weltweit wächst“. Auch wurden, ihren Ausführungen
zufolge, die notwendigen Lernbedürfnisse in „Inhalt, Kontext und Umfang“ auf
Kindheit, Mädchen und Primarschule reduziert. Sie folgert pointiert daraus,
dass mit Bildung für Alle bei weiterer Abnahme bald nur noch die „Erziehung
der (ärmsten) Mädchen!“ gemeint sein könnte.173
Die am Weltbildungsforum in Dakar teilnehmenden Staaten vereinbarten
sechs, im Vergleich zu Jomtien leicht veränderte Ziele bis 2015 auszuführen,
wovon zwei ebenfalls in die UN-Millenniums-Entwicklungsziele aufgenommen
wurden:
Ziel 1: Die Vorschulbildung soll ausgebaut und verbessert werden, insbesondere für die am stärksten gefährdeten und benachteiligten Kinder.
Ziel 2: Bis 2015 sollen alle Kinder – insbesondere Mädchen, Kinder in schwierigen Lebensumständen und Kinder, die zu ethnischen Minderheiten gehören, - Zugang zu unentgeltlicher, obligatorischer und qualitativ hochwertiger Grundschulbildung erhalten und diese auch abschließen. Ziel 3: Die Lernbedürfnisse von Jugendlichen sollen durch Zugang zu Lernangeboten und Training von Basisqualifikationen (life skills) abgesichert werden.
172 vgl. Müller, Josef: Jomtien nach Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 17. 173 vgl. Torres, Rosa, M.: Weltbildungsforum in Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 210f.
53
Ziel 4: Die Alphabetisierungsrate unter Erwachsenen, besonders unter Frauen, soll bis 2015 um 50% erhöht werden. Der Zugang von Erwachsenen zu Grund- und Weiterbildung soll gesichert werden.
Ziel 5: Bis 2005 soll das Geschlechtergefälle in der Primar- und Sekundarbildung überwunden werden. Bis 2015 soll Gleich-berechtigung der Geschlechter im gesamten Bildungsbereich erreicht werden, wobei ein Schwerpunkt auf der Verbesserung der Lernchancen für Mädchen liegen muss.
Ziel 6: Die Qualität von Bildung soll verbessert werden. 174
UN-Millenniums-Entwicklungsziele:
Ziel 2: Allen Kindern Grundschulbildung ermöglichen
Unterziel 3: Bis 2015 sicherstellen, dass Kinder überall auf der Welt, Jungen und Mädchen gleichermaßen, eine Grundschulbildung abschließen können
Ziel 3: Gleichberechtigung der Geschlechter sowie politische, wirtschaftliche und soziale Beteiligung von Frauen fördern, besonders im Bereich der Ausbildung
Unterziel 4: Das Geschlechtergefälle in der Primar- und Sekundar-bildung vorzugsweise bis 2005, und auf allen Bildungsstufen bis 2015 beseitigen175
Kritik an der stark funktionalen Ausrichtung dieser Ziele äußerte Josef
Müller. Bildung sei mehr als „Nützlichkeit und Verwertbarkeit“ von
„praxisrelevante(n) Kenntnisse(n) und Fertigkeiten“. Den Bedarf zu erheben
sei zuwenig, oft „(...) muss man ihn zuerst wecken, sofern man noch eine
Konzeption von Bildung hat und diese auch vertreten will“.176
Die Koordinierung der gemeinsamen Anstrengungen wurde der UNESCO
übertragen. Alle Länder sollen selbst „nationale Aktionspläne“ bis 2002
ausarbeiten, die die Umsetzung der Zielvereinbarungen sicherstellen. Diese
Pläne bilden die Grundlage für die globale Förderung durch internationale
Organisationen und Finanzinstitutionen. Die Teilnehmenden des
Weltbildungsforums in Dakar gaben eine wichtige finanzielle Zusicherung:
„Wir bekräftigen, dass kein Land mit ersthaftem politischem Willen zur
Verwirklichung der Bildung für Alle am Mangel an Ressourcen scheitern
sollte“.177
174 Deutsche UNESCO-Kommission: EFA Global Monitoring Report 2006, S. 3. (Homepage) URL: www.unesco.de/c_arbeitsgebiete/efa-report2006.pdf (03.08.2006). 175 ebd. 176 vgl. Müller, Josef: Jomtien nach Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 18. 177 Das Weltbildungsforum 2000, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 43.
54
Verstärkte Bildungsaktivitäten setzten die Staaten seit 2000 bei den EFA-
Zielen 2 (Grundschulbildung für alle), 5 (Gleichberechtigung der Geschlechter)
und 6 (Bildungsqualität). Die drei EFA-Ziele 1 (Frühkindliche Betreuung), 3
(Lernangebote für Jugendliche und Erwachsene) und 4 (Alphabetisierung von
Erwachsenen) blieben, nach Auswertung des EFA-Global Monitoring Reports
(2006), eher unberücksichtigt.178 Diese Aktivitäten richten sich nicht nur an
einzelne Individuen. Alle EFA-Zielsetzungen zusammen stellen vielmehr ein
ganzheitliches Bildungskonzept dar, welches als generelle Intention die
Entstehung von „literate societies“ ermöglichen soll. Die UNESCO definiert:
Literate society. A society within which (a) the vast majority of the population acquires and uses basic literacy skills; (b) major social, political and economic institutions(e.g. offices, courts, libraries, banks) contain an abundance of printed matter, written records and visual materials, and emphasize the reading and writing of texts; and (c) the exchange of text-based information is facilitated and lifelong learning opportunities are provided.179
Die EFA-Ziele wurden in einen dreigeteilten methodischen Ansatz
eingefügt. Dieser umfasst: „(...) assuring quality schooling, scaling up literacy
programmes for youth and adults, and developing literate environments.“180
Reichhaltige und anregende alphabetisierte Umgebungen sind von großem
Einfluss für das Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen und
unentbehrlich für die Weiterentwicklung und das Behalten der neuen
Fertigkeiten im täglichen Gebrauch.181 Darunter versteht die UNESCO:
Literate environment. A rich literate environment is a public or private milieu with abundant written documents (e.g. books, magazines, newspapers), visual materials (e.g. signs, posters, handbills), or communication and electronic media (e.g. radios, televisions, computers, mobile phones). Whether in households, neighbourhoods, schools or workplaces, the quality of literate environments affects how literacy skills are acquired and practised.182
178 vgl. UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 28. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 179 ebd., Glossary. 180 vgl. ebd., S. 215. 181 vgl. Alphabetisierung für Alle, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 152. 182 UNESCO: Education for All Global Monitoring Report, Glossary. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43385&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (25.01.2007).
55
2.3.7 2003 - 2012 United Nations Literacy Decade
Mit der United Nations Literacy Decade (UNLD) wurde eine zusätzliche
Maßnahme gestartet, die Alphabetisierung als zentrales Element
grundlegender Lernbedürfnisse innerhalb der globalen Initiative Bildung für
Alle zu fördern. Die Dekade wird von der UNESCO koordiniert und enthält
folgende Ziele:
- making significant progress towards Dakar Goals 3, 4 and 5;
- enabling all learners to attain a mastery level in literacy and life
skills; - creating sustainable and expandable literate environments; and
- improving the quality of life.183
Über die oben angeführten Ziele hinausgehend, lauten die grundlegenden
Intentionen aus der United Nations Resolution on Literacy Decade:
Reaffirms that literacy for all is at the heart of basic education for all and that creating literate environments and societies is essential for achieving the goals of eradicating poverty, reducing child mortality, curbing population growth, achieving gender equality and ensuring sustainable development, peace and democracy;184
Die Weltdekade setzt sich vor allem für „Frauen und gesellschaftliche
Randgruppen“ ein und intensiviert ihre Aktivitäten speziell in Ländern, die die
höchsten Analphabetenraten aufweisen. Der Aktionsplan orientiert sich an den
länderspezifischen Gegebenheiten und soll alle Partner, besonders auch aus
dem zivilen und wirtschaftlichen Bereich mit einbinden.185 Er beinhaltet:
1. Politikwandel zur Stärkung von Alphabetisierungsprogrammen
2. Aufbau flexibler, auf die Bedürfnisse der Betroffenen abgestimmter Programme mit qualifizierten Trainern
3. Aufbau einer geeigneten Infrastruktur (Planung, Management, Forschung und Dokumentation, Curriculum- und Materialentwicklung)
4. Verstärkung der Forschung, um zu verlässlichen Grundlagen für Bildungsprogramme zu kommen
5. Beteiligung der Betroffenen, Aufbau von lokalen Lernzentren und Vernetzung der Angebote
183 UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 155. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 184 United Nations: Resolution 56/116, S. 3. (Homepage) URL: www.unesco.org/education/pdf/un_decade_literacy/un_resolution.pdf (22.06.2008). 185 vgl. Österreichische UNESCO-Kommission. (Homepage) URL: www.unesco.at/user/programme/bildung/alphabetisierung.htm (13.07.2006).
56
6. Monitoring und Evaluation: Entwicklung besserer Indikatoren für die Messung von Alphabetisierungsfortschritten186
2.3.8 2005 – 2015 Literacy Initiative For Empowerment
Die globale Literacy Initiative For Empowerment (LIFE) der UNESCO ist
mit der Literacy Decade verknüpft. LIFE bietet den 35 teilnehmenden Staaten
konkrete Unterstützung bei der nationalen Planung und Verwirklichung der
Ziele des Programms Education for All an. Durch LIFE sollen im Rahmen der
Literacy Decade in den Ländern die literacy „learning opportunities“ für
Erwachsene, besonders für Frauen, erhöht werden.187
2.3.9 Gegenstimmen
Kritische Stimmen gegen Alphabetisierungsinitiativen wurden nach
Berichten von Volker Lenhart beispielsweise aufgrund der aggressiven
Formulierungen der Fachleute laut, die wenig sensibel auf die Anliegen der
Teilnehmenden reagierten. Wenn von der „Bekämpfung oder Ausrottung des
Analphabetismus“ gespochen wird, kann dies leicht zur missverständlichen
Annahme führen, dass hier die Betroffenen selbst bekämpft werden sollen. In
eine ähnliche Richtung geht auch der nächste Kritikpunkt, der die latent
vorhandene soziale Erniedrigung durch die implizite Idee: „’Analphabeten =
Menschen in Unwissenheit = nationale Demütigung oder Schande’“
aufgreift.188 Volker Lenhart führt auch Gegenstimmen an, die die
Vorrangigkeit der Alphabetisierung bezweifeln. Schritte zur Verbesserung und
Erweiterung der bestehenden Infrastruktur vor Ort, wie „Straßenbau,
Wasserversorgung, Hausbau, Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge,
Sicherung der medizinischen Versorgung“ sind nach Meinung der Kritiker
höher einzuschätzen und können auch von Menschen ohne Schriftsprach-
kenntnisse bewältigt werden. Zusätzliche Einwände beziehen sich einerseits
auf die Bedeutung der schriftunabhängigen Verständigung für Millionen von
Menschen in nichtliteraten Gesellschaften, die nicht unterschätzt werden
sollte, und auf die „kulturelle Entfremdung“, die Alphabetisierungsmaßnahmen
auslösen könnten.189
186 Österreichische UNESCO-Kommission. (Homepage) URL: www.unesco.at/user/programme/bildung/alphabetisierung.htm (13.07.2006). 187 vgl. UNESCO: LIFE – Objectives. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=54413&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (22.06.2008). 188 vgl. Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 50f. 189 vgl. ebd., S. 52f.
57
2.4 Alphabetisierung von Mädchen und Frauen
Die gezielte Förderung von Mädchen und Frauen hat höchste Priorität im
Aktionsplan von Education for All. Denn gleich drei der sechs EFA-Ziele, Nr. 2
(Grundschulbildung für alle), Nr. 4 (Alphabetisierung von Erwachsenen) und
Nr. 5 (Gleichberechtigung der Geschlechter), sind ausdrücklich ihnen
gewidmet. Ob diese Ziele bis 2015 global auch erreicht werden können, ist
jedoch fraglich und eines davon, die Benachteiligung von Mädchen in der
Primar- und Sekundarbildung bis 2005 aufzuheben, wurde bereits verfehlt.190
Ungeachtet der konstanten Fortschritte führen, laut EFA Global Monitoring
Report, nach wie vor Frauen (über 15 Jahre) mit 64% die Analphabetenraten
an.191 Ebenso gehen mehr Mädchen (55%) als Burschen nicht zur Schule.192
Bildungsbenachteiligt sind heutzutage Mädchen vor allem „in den arabischen
Staaten, Süd- und Westasien sowie Afrika südlich der Sahara“.193 Auch das
Millenniums-Entwicklungsziel Nr. 3 fördert Frauen. Dort heißt es:
Literacy is a fundamental skill to empower women to take control of their lives, to engage directly with authority and give them access to the wider world of learning. Educating women and giving them equal rights is important for many reasons: it increases their productivity …, it promotes gender equality …, educated women do a better job caring for children …194
Geschlechterspezifische Analysen zeigen, dass die Mädchen und Frauen
diskriminierenden Ungleichheiten bei den Bildungschancen in manchen
Regionen und Ländern, aber auch in bestimmten Altersschichten (15 bis 24
Jahre) oft nicht mehr bestehen oder sich sogar umkehren, wie Agneta Lind
berichtet. Derzeit melden sich für zahlreiche Alphabetisierungsprogramme in
vielen Staaten, wie z.B. Spanien, Bolivien und Namibia, mehr Frauen als
Männer an, wodurch Überlegungen notwendig werden, wie nun die
Partizipation der männlichen Bevölkerung wieder gesteigert werden kann.
Natürlich ist die Anhebung der Anmeldezahlen allein als Maßstab für eine
geschlechtergerechte Teilhabe von Mädchen und Frauen in der Schul- und
Erwachsenenbildung nicht ausreichend und lässt ihre, meist durch Armut
190 Nur in 55 von insgesamt 149 Ländern, für die Daten zur Verfügung standen, wurde diese Vereinbarung eingelöst. 191 vgl. UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 67. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 192 vgl. ebd., S. 47. 193 vgl. Deutsche UNESCO-Kommission: EFA Global Monitoring Report 2006, S. 5. (Homepage) URL: www.unesco.de/c_arbeitsgebiete/efa-report2006.pdf (03.08.2006). 194 The millineium development goal 3, zit. in: Lind, Agneta 2006, S. 169.
58
ausgelösten, häufigen Ausfälle und Abbrüche vollkommen unbeachtet.195
Ebenso ist wegen bestehenden Qualitätsmängeln nach dem regulären Ende
der Schulbildung nicht gesichert, dass ausreichende Kenntnisse und
Fertigkeiten erworben wurden. Gemessen an den Einstiegszahlen wird das
Ziel „gender equality” dann zu „parity and not equality“, so die Autorin, denn
„(…) empowerment in its various meanings - psychological, social, economical
and political – is often forgotten in programmes not specifically aiming at
empowerment of women”.196
So ist, nach Erfahrung von Agneta Lind, im Rahmen der Alphabetisierung
und Grundbildung für den Erfolg entscheidend, die verschiedenen Motive,
Bildungsziele und die derzeitigen Lebenssituationen von beiden, von Frauen
und Männern unterschiedlichen Alters, besonders zu berücksichtigen.197 Dies
wird notwendig, weil die Interessen, Bedürfnisse und Lebensumstände von
Mädchen und Frauen in ihrem jeweiligen sozialen Kontext nicht automatisch
auch mit den Wünschen, Anliegen und den Lebensbedingungen der
männlichen Bevölkerung, mit den Erfordernissen der Wirtschaft oder des
Staates übereinstimmen. Diese werden, nach Agneta Lind, von globalen
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen geformt, die zugleich
Erschütterungen in den Geschlechterbeziehungen und –rollen, in den
familiären Konstellationen und den Arbeitsbedingungen auslösen, bzw. einen
zunehmenden Mangel an Arbeitsplätzen hervorrufen.198 Sie schreibt:
To meet both women´s and men´s needs and motivations, it is necessary to know what they do for a living and understand the consequences of growing unemployment and changing gender relations. Employed people, especially men, often have better opportunities to engage in organized learning and training than unemployed women and men.199
2.4.1 Beweggründe und Hindernisse
Es gibt viele Gründe, sich für die Bildung der weiblichen Bevölkerung
einzusetzen. Das war aber nicht immer so, wie Annette Backhaus berichtet.
Erst in den 70er Jahren boten die internationalen Organisationen den Frauen
mehr als Handarbeits- und Kochkurse an. Über die Alphabetisierung und
195 vgl. Lind, Agneta: Gender equality in adult basic education programms, in: International Journal of Educational Development, Jg. 26, 02/2006, S. 170f. 196 vgl. ebd., S. 169. 197 vgl. ebd., S. 172. 198 vgl. ebd., S. 173. 199 ebd., S. 172.
59
Grundbildung von Frauen wurde ein neuer Weg gefunden, die wachsende
Armut und Not der Bevölkerung zu lindern. Frauen wurden von den globalen
Organisationen als „’Entwicklungsressource’“ erschlossen200, speziell seitdem,
so Ursula Giere, ein „(…) Zusammenhang zwischen der Alphabetisierung von
Frauen und der Gesundheit und dem Bildungsniveau ihrer Kinder“ deutlich
wurde.201 Bekannt gemacht wurde diese Veränderung durch Slogans wie: "If
you educate a man, you educate one person. But if you educate a woman,
you educate an entire family"202 von Lucha Corpi oder auch „Educate a woman,
you educate a nation,“203 wie auf einem Alphabetisierungsplakat zu lesen war.
Sie wurden, nach Annette Backhaus, zur Zielgruppe der Grundbedürfnis-
strategie in den 70er Jahren ausgewählt. „Frauen, durch soziale Zuweisung
für die Grundbedürfnisse der Familie (Ernährung, Gesundheit, Hygiene,
Haushalt, Kindererziehung) verantwortlich, (…)“ sollten nun auch als
Vorkämpferinnen gegen die überhand nehmende Verarmung und Verelendung
der Bevölkerung instrumentalisiert werden.204 Das bedeutete einerseits eine
Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, war aber auch eine Festschreibung
ihrer traditionellen Rolle und Verantwortung für das Wohlergehen der Familie
bis zum heutigen Tag. Die UNESCO schreibt aktuell dazu:
Da vorwiegend Frauen die häuslichen Ressourcen verwalten und die Kinder erziehen, wirken Frauen als wichtige Multiplikatorinnen. Dies ist besonders für die Bildung von Mädchen entscheidend. Hand in Hand mit der Alphabetisierung von Frauen gehen ein höheres Gesundheitsbewusstsein, die Verbesserung der Hygieneverhältnisse, Wissen um und Schutz vor HIV/AIDS etc., ein Rückgang der Kindersterblichkeit und der Geburtenrate, größere Einkommens-möglichkeiten und beste Investition in die Armutsreduzierung.205
Erstaunlich ist, welches Frauenbild hier von der UNESCO vertreten wird,
das sie auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter reduziert. Die Zuständigkeit für
Haushalt und Kinder liegt einzig bei der Frau. Männer werden mit den
angeführten gesellschaftlich wichtigen Themen nicht angesprochen. Sollen
Frauen neben ihrer traditionellen Aufgabe, der Sicherung des familiären
200 vgl. Backhaus, Annette: „Neue“ Frauenprojekte, in: Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim, Wörz, Susanne 1992, S. 70. 201 vgl. Giere, Ursula: Alphabetsierung, in: UNESCO-Institut für Pädagogik 1992, S. 24. 202
Corpi, Lucha, zit. in: Österreichische UNESCO-Kommission. (Homepage) URL: www.unesco.at/user/programme/bildung/alphabetisierung.htm (13.07.2006). 203 Giere, Ursula: Alphabetsierung, in: UNESCO-Institut für Pädagogik 1992, S. 24. 204 vgl. Backhaus, Annette: „Neue“ Frauenprojekte, in: Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim, Wörz, Susanne 1992, S. 70. 205 Österreichische UNESCO-Kommission. (Homepage) URL: www.unesco.at/user/programme/bildung/alphabetisierung.htm (13.07.2006).
60
Überlebens, nun obendrein die Rolle einer Lehrerin für ihre Kinder (Töchter)
übernehmen? „The constraints (e.g. domestic duties, child care, submission,
etc.) preventing women from participating in, and benefitting from, adult
education (…)”,206 erhob dagegen Agneta Lind als typische Bildungsbarrieren
von Frauen. Das gilt auch für Mädchen, wie Volker Lenhart schildert:
„Je ärmer der Haushalt, desto größer die Tendenz bei Eltern, auf ihre Töchter für häusliche Pflichten zurückzugreifen und Bildungs-aufwendungen für die Söhne zu reservieren. Kulturelle und religiöse Faktoren, etwa frühe Heirat und starre Regeln, die Frauen strikt als Mütter und Ehefrauen definieren, beeinflussen den Schuleintritt der Mädchen und die Länge ihres Schulbesuches“.207
Dabei ließe sich die Primarbildung für alle Kinder finanzieren, wie Angaben
von Actionaid vermuten lassen, denn: „Universal primary education would
cost $ 10 billion a year, that´s half what Americans spend on ice cream.“208
Krystina Chlebowska untersuchte die Alphabetisierungsmotive von Frauen
auf dem Land und erhielt folgende Ergebnisse, dargestellt bei Volker Lenhart:
- an Gruppenaktivitäten mit anderen Frauen teilnehmen, - Erfahrungen austauschen, - gemeinsame Probleme besprechen, - einander helfen, - miteinander eine angenehme Zeit verbringen, - besser für die eigenen Kinder, besonders in gesundheitlicher
Hinsicht, sorgen, - weniger von anderen abhängig sein, - mit dem eigenen Namen unterschreiben, - einen Brief schreiben oder ein Konto benutzen, - ärztliche Rezepte verstehen, - Gebete und andere religiöse Texte lernen, - der Beschwindelung auf dem Markt ausweichen, - die eigene Tätigkeit kostengünstiger ausüben, - Gedanken und Erfahrungen schriftlich ausdrücken.209
Für Mädchen und Frauen sind Alphabetisierungsprogramme, wie Josef
Müller betont, besonders bedeutsam, da sie „(…) oft die einzige systematisch
organisierte Form von Bildung und Erziehung (darstellen-G.G.), die ihnen ihre
Stärke und ihr Potential bewusst machen kann.“210
206 vgl. Lind, Agneta: Gender equality in adult basic education programms, in: International Journal of Educational Development, Jg. 26, 02/2006, S. 171. 207 Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 33. 208 ActionAid (Homepage) URL: www.actionaid.org.uk/304/how_we_work.html (01.02.2007). 209 Chlebowska, Krystina, zit. in: Lenhart, Volker 1993, S. 63. 210 vgl. Müller, Josef: Jomtien nach Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 25.
61
2.5 Motive und Ziele für Alphabetisierung und Grundbildung
Die grundsätzliche Frage, warum Erwachsene weltweit Lesen, Schreiben
und Rechnen lernen sollten, wurde im 2. Kapitel umfangreich beantwortet.
Die Begründungen reichen vom Recht auf Bildung bis hin zur Notwendigkeit
oder Verpflichtung aller Menschen für die individuelle, nationale und globale
Entwicklung literacy-skills und basic education zu erlangen und beizubehalten.
Kurz gefasst sind Alphabetisierung und Grundbildung die Basis für die
Erreichung der EFA- und Millenniumsziele, für das lebenslange Lernen, für die
Bekämpfung von Armut, für die Gleichberechtigung der Geschlechter, für die
Verbesserung der Lebensqualität, für Einkommen schaffende Tätigkeiten, für
die bessere Versorgung und Bildung der Kinder, für eine ökologische und
friedfertige Entwicklung, für gesellschaftlichen und ökonomischen Fortschritt,
u.a.m. Die UNESCO beschreibt die Wirkungen von Literacy wie folgt:
- Self-esteem and empowerment: widening choices, access to other rights
- Political benefits: increased civic participation in community activities, trade unions and local politics
- Cultural benefits: questioning attitudes and norms; improves ability to engage with one´s culture
- Social benefits: better knowledge of healthcare, family planning and HIV/AIDS prevention; higher chance of parents educating children
- Economic benefits: Returns on investment in adult literacy programmes are comparable to those in primary level education211
Im Zwischentreffen des EFA-Forums in Amman (1996) wurde erklärt:
Bildung ist Macht (empowerment). Sie ist der Schlüssel zur Errichtung und Stärkung von Demokratie, zu einer Entwicklung, die nachhaltig und human ist (sic!-G.G.) und zu einem Frieden, der auf gegenseitigem Respekt und sozialer Gerechtigkeit beruht. In einer Welt, in der Kreativität und Wissen eine immer größere Rolle spielen, ist das Recht auf Bildung nichts weniger als das Recht, am Leben der modernen Welt teilzunehmen.212
Bildung kann bestenfalls all diese Erwartungen bewirken, aber auch genau
das Gegenteil davon, denn Bildungsvermittlung ist nicht neutral. Sie kann in
Paulo Freires Worten ebenso zur Indoktrination und Unterdrückung führen.213
211 UNESCO: Literacy for Life, S. 13. (Homepage) URL: www.unesco.org/education/GMR2006/full/presentation.ppt#277,2,Why literacy? (25.01.2007). 212 Das „Zwischentreffen“ von Amman, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 55. 213 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 62f.
62
Warum wollen Menschen lesen und schreiben lernen? Volker Lenhart stellt
Motive der Teilnehmenden von Lese- und Schreiblernprogrammen vor:
- den eigenen Kindern in der Schule helfen, - eine besser bezahlte Stelle erreichen, - höheres Sozialprestige erwerben, - sich bei Verträgen gegen Betrug schützen, - das Selbstbewußtsein steigern, - für Weiterbildung eine Grundlage schaffen, - soziale Rechte und Pflichten besser kennenlernen, - an sozialen und politischen Aktivitäten teilnehmen, - Buchhaltung und Protokollführung in Vereinigungen übernehmen, - andere unterrichten.214
Alphabetisierung kann nicht gesellschaftliche Probleme wie Armut, Hunger,
Arbeitslosigkeit, Elend, AIDS u.a.m. lösen. Umgekehrt aber kann v.a. die
Verringerung von Armut durch gerechtere wirtschaftliche und soziale
Bedingungen sehr wohl zur Anhebung der Bildung der Bevölkerung beitragen.
D.h. Alphabetisierung und Grundbildung führen nicht automatisch zu oben
genannten Zielen, haben aber das Potential in sich, die Lebenssituation
Einzelner spürbar zu verbessern bis hin zu weitreichenden sozialen Reformen.
Auch Rosa María Torres spricht in ihrem kritischen Kommentar zu den
Ergebnissen von Dakar sich dafür aus
Armut zu überwinden, um Bildung zu verbessern, und, darüber hinaus, Erziehung und Lernen erst zu ermöglichen. Man vertraut immer noch dem wirtschaftlichen Wachstum als einer Lösung sozialer Ungleichheiten, während die letzte Dekade doch wieder nur bestätigte, dass Wachstum nicht genug ist, weil die Verteilung von Einkommen unverändert bleibt und Reichtum sich mehr und mehr in den Händen Weniger konzentriert.215
In diesem Sinne möchte ich im nachfolgenden Kapitel Paulo Freire und
sein pädagogisches Konzept näher vorstellen.
214 Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 63. 215 Torres, Rosa, M.: Weltbildungsforum in Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 216.
63
3. PAULO FREIRE (1921-1997)
Paulo Freire schrieb zu seiner Arbeit und zur Alphabetisierung die Worte:
It is impossible to carry out my literacy work or to understand literacy (...) by divorcing the reading of the word from the reading of the world. Reading the word and learning how to write the word so one can later read it are preceded by learning how to write the world, that is, having the experience of changing the world and touching the world.216
Abbild 2: Paulo Freire
3.1 Sein Leben und Schaffen
Mit seiner pädagogisch-politischen Überzeugung, die Alphabetisierung
fungiere als Bewußtseinsbildungsprozess der Menschen zur Emanzipation und
Befreiung von Unterdrückung, gewann der Brasilianer Paulo Freire globales
Ansehen und Popularität. Seine Bücher, vor allem sein Hauptwerk, die
„Pädagogik der Unterdrückten“, waren weltweit auf enormes Interesse
gestoßen. In zahlreichen Ländern Lateinamerikas, Afrikas, Asiens und Europas
unterrichten viele Alphabetisierungstrainerinnen und -trainer nach seiner
Methode, bzw. haben diese weitergeführt.217 Seine Theorien wurden
international diskutiert. Das ist ein Novum, da üb(erheb)licherweise die
Bildungskonzepte für die „Dritte Welt“ gemacht werden und nicht umgekehrt.
Paulo Freire wird häufig als „’der bedeutendste Pädagoge unserer Zeit’“
bezeichnet.218
Wer ist Paulo Freire und aus welcher Welt kommt er? Beginnen werde ich
mit der Beschreibung seines Lebens und einiger historisch wichtiger
Hintergrundinformationen zur sozialen, politischen und wirtschaftlichen
Situation Brasiliens. Dem folgt eine kritische Auseinandersetzung Paulo Freires
mit den wichtigsten traditionellen Alphabetisierungsansätzen. Die von ihm
entwickelte emanzipatorische Alphabetisierung werde ich abschließend mittels
einiger zentraler Begriffe darstellen.
216 Freire, Paulo; Macedo, Donaldo: Literacy 1987, S. 49. 217 Ein Beispiel wäre das internationale Literacy-Projekt von Action Aid: REFLECT (REgenerated Freirean Literacy through Empowering Community Techniques). 218 vgl. Figueroa, Dimas: Paulo Freire 1989, S. 15.
64
3.1.1 Biographische Notizen
Paulo Freire wurde 1921 in Recife geboren. Wie sich den Ausführungen
von Peter Stöger entnehmen lässt, verarmte und hungerte seine Familie in
Folge der Weltwirtschaftskrise. Seine Schulleistungen blieben durch die
Unterernährung so lange minimal, bis es seiner Familie wirtschaftlich wieder
besser ging, worauf er sich als elfjähriger Junge versprach, zeitlebens gegen
den Hunger zu kämpfen. Sein Vater lehrte ihm Lesen und Schreiben, indem er
ihm die Buchstaben in den Meeressand schrieb. Dabei vermittelte er ihm die
Wichtigkeit einer auf Gegenseitigkeit beruhenden respektvollen Beziehung
zwischen Lehrer und Schüler. Sein Vater starb als er dreizehn Jahre alt war.
Nach der Schule begann Paulo Freire Jus und Philosophie zu studieren.219 Als
er als Rechtsanwalt bemerkte, „(...) daß das Recht, das er studiert hatte, das
Recht der Eigentümer gegen die Habenichtse war, gab er den Beruf auf“.220
Dank seines Studiums durfte Paulo Freire als Sekundarschullehrer
unterrichten. Er heiratete mit 23 Jahren. Mit seiner Frau, der Primarschul-
lehrerin Elza Maria Oliveira, hatte er fünf Kinder. Mit ihr besprach er alle sich
ihm stellenden erziehungswissenschaftlichen Fragen. Von 1946 bis 1954 war
er als Direktor des Erziehungsbereichs des „Servico Social da Industria“
(SESI) tätig. Während dieser Zeit gewann er wichtige Einblicke in die soziale
Situation der Arbeiterfamilien und erkannte, dass vor allem Lehrer vom Volk
zu lernen haben. Wesentliche Ansatzpunkte seiner Alphabetisierungsarbeit
wurden die Anschaulichkeit durch die Verwendung praktischer Beispiele und
das induktive Erarbeiten von abstrakten Wörtern. 1947 begann Paulo Freire
mit ersten Alphabetisierungskursen in den Elendsvierteln und bildete
zusammen mit Studenten und Freunden die „Bewegung für Volkserziehung“.
Ab 1955 unterrichtete er an der Universität in Recife und dissertierte 1959
über Erwachsenenbildung/Alphabetisierung.
Zwischen 1960 und 1963 initierte er Kulturzirkel. Im Jahr 1962 wurde es
politisch möglich, zunächst nur in Recife und dann in ganz Brasilien,
Alphabetisierungsgruppen durchzuführen. Doch diese landesweite Kampagne
beendete 1964 ein Militärputsch und Paulo Freire wurde inhaftiert. Durch den
Putsch wurde verhindert, dass „(...) in ca. 20.000 Kulturzirkeln 2 Mio.
219 vgl. Stöger, Peter: Igor Caruso - Paulo Freire, Skriptum WS 1995/96, S. 1. 220 vgl. Lange, Ernst: Einführung, in: Freire, Paulo 1973, S. 10.
65
Erwachsene alphabetisiert (wurden-G.G.), was 2 Mio. zusätzliche Wähler
bedeutet hätte“.221
Paulo Freire musste emigrieren. In Chile verfeinerte er seine Methode und
arbeitete bei der UNESCO. 1969/70 lehrte er an der Harvard-Universität.
1970 wurde er als Berater für Bildungsfragen an den Ökumenischen
Weltkirchenrat in Genf berufen. Mitte der siebziger Jahre war Paulo Freire in
Alphabetisierungsprojekten in früheren portugiesischen Kolonien tätig.222 Erst
16 Jahre später war es ihm möglich nach Brasilien zurückzukehren. In São
Paulo hielt er Vorlesungen an zwei Universitäten und begann in der Erzdiözese
der Stadt mitzuwirken. Er wurde für die Arbeiterpartei (PT) aktiv und
übernahm 1991 das „Amt eines Sekretär im Erziehungskabinett“.223
Im Jahr 1986 verstarb seine Frau Elza, mit der er zeitlebens herzlich
verbunden war und zusammen viele Alphabetisierungsprojekte verwirklicht
hatte. Paulo Freire heiratete 1988 die Pädagogin Ana Maria Araújo. Bis zu
seinem Tod 1997 arbeitete er als Autor und Co-Autor, veröffentlichte viele
Artikel und Bücher und hielt Vorträge und Workshops. In seinen letzten
Stellungnahmen äußerte er sich kritisch zur Politik des Neoliberalismus. Paulo
Freire bekam in verschiedenen Ländern zahlreiche Preise, Auszeichnungen
und akademische Grade für sein Lebenswerk verliehen.224 Seine Befreiungs-
pädagogik wurde von unterschiedlichsten Richtungen und Ideen geprägt.
Peter Mayo summiert folgende Einflüsse:
Zwei wichtige Quellen sind Hegel und Marx. Freire bezieht sich auf ein großes Spektrum von Schriften, darunter die Werke von Lezek Kolakowski, Karel Kosik, Erich Fromm, Antonio Gramsci, Karl Mannheim, Pierre Furter, Teilhard de Chardin, Frantz Fanon, Albert Memmi, Lew Wygotski, Amilcar Cabral, sowie das christliche Menschenbild von Tristian de Atiade und Emanuel Mounier. Freires Werk zeigt deutlich zwei dominante Stränge: Marxismus und Befreiungstheologie.225
Liam Kane ergänzt die Aufzählung mit: Jean-Paul Sartre, Karl Jaspers,
Herbert Marcuse, Aristoteles und Ernesto ’Che’ Guevara. Zugleich zog Paulo
Freire viele Ideen aus seiner pädagogischen Praxis und aus der Interaktion
mit anderen Menschen.226 Nach Heinz-Peter Gerhardt war Paulo Freire
221 vgl. Stöger, Peter: Igor Caruso - Paulo Freire, Skriptum WS 1995/96, S. 3. 222 vgl. ebd. 223 vgl. Stöger, Peter: Paulo Freire – ein Nachruf, in: bidok, S. 2. (Homepage) URL: http://bidok.uibk.ac.at/library/stoeger-freire.html (16.02.2005). 224 vgl. Mayo, Peter: Politische Bildung 2006, S. 32f. 225 ebd., S. 31. 226 vgl. Kane, Liam: Popular Education 2001, S. 36f.
66
„bekennender Eklektiker“. Er wählte die zur Situation passenden Theorien und
Begriffe aus verschiedenen Denksystemen aus oder ersann neue Wort-
schöpfungen, Begriffsverbindungen und entwickelte selbst neue Theorien.227
3.1.2 Brasilien
Die portugiesische Kolonialherrschaft, die bis 1822 andauerte (seit 1500,
als Pedro Alvares Cabral das Land für Portugal in Besitz nahm), beutete
Brasilien rücksichtslos aus und kolonisierte die Sprache, die Kultur und die
Denkweise der unfreien Bevölkerung. Unter Kaiser PEDRO II. (1831-1889),
der als der „gebildetste Herrscher Südamerikas im 19. Jh.“ Eingang in die
Geschichtsbücher gefunden hat, wurde die Forschung und Literatur der Elite
gefördert, die allgemeine Erziehung des Volkes aber blieb bedeutungslos.228
Die Armee stürzte 1889 den Kaiser und Brasilien wurde zur Republik erklärt.
Ab 1920 erhoben alle Parteien die Alphabetisierung der brasilianischen
Bevölkerung zum nationalen Anliegen. Dem folgten viele Worte, aber wenig
Taten. Erziehung sei, so argumentierten die führenden Politiker, der „’Hebel
des Fortschritts’“.229 Die „’Allianz für den Fortschritt’“, ein gegen Ende der
50er Jahre einsetzendes Bildungskonzept der USA mit verschiedenen latein-
amerikanischen Regierungen, knüpfte die Vergabe von Entwicklungshilfe-
geldern an die Verpflichtung der Länder das Grund- und Sekundarschulwesen
auszubauen. Dabei war nicht größere soziale Gerechtigkeit das erklärte Ziel,
sondern es ging der Allianz darum, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.
Auch wenn die Schuleinschreibungen in Brasilien erheblich zunahmen und die
hohe Zahl der Analphabetinnen und Analphabeten leicht verringert werden
konnte, waren die Auswirkungen gering, denn wesentliche Bildungsprobleme,
das Analphabetentum und die häufigen Schulabbrüche, blieben bestehen.230
So durften 1960, nach Dimas Figueroa, von insgesamt 34,5 Millionen
Menschen nur 15,5 Millionen wählen, „(...) weil das Wahlrecht an die Fähigkeit
des Lesens und Schreibens gebunden war“.231 Das Scheitern der
brasilianischen Bildungspolitik überrascht wenig, wenn bekannt ist, dass die
Regierenden entgegengesetzte Ziele verfolgten. In Brasilien war, wie Darcy
Ribeiro aufdeckt, die Schulbildung eine Aufgabe der Stadtregierung und der
Regierung des Bundeslandes. „Damit wird die Grundschulerziehung
227 vgl. Gerhardt, Heinz-Peter: Befreiende Pädagogik, in: ZEP, Jg. 27, 04/2004, S. 18. 228 vgl. Herzfeld, Hans: Geschichte in Gestalten, Bd. 3, 1963, S. 275f. 229 vgl. Weffort, Francisco: Erziehung und Politik, in: Freire, Paulo 1977, S. 97f. 230 vgl. Stöger, Peter: Igor Caruso - Paulo Freire, Skriptum WS 1995/96, S. 2. 231 vgl. Figueroa, Dimas: Paulo Freire 1989, S. 11.
67
ausgerechnet in die Hand derer gelegt, die an der Erziehung des Volkes das
geringste Interesse haben (...)“232, denn:
Wenn das Volk dumm gehalten wird, wird es seine politischen Vertreter nicht wählen können, und man vermeidet das unvertretbare Risiko, daß es einem demagogischen Populismus erliegt. Auf diese Art wird die weise Vormundschaft verewigt, welche die gebildete, aufgeklärte, elegante und schöne Elite gegenüber dem unwissenden Volk paternalistisch ausübt.233
In einem Artikel von Francisco Weffort war zu lesen, wie die herrschenden
Parteien den politischen Ausschluß der Mehrheit der brasilianischen
Bevölkerung begründeten. Nicht die eigene Untätigkeit über Jahrzehnte
bildete die Ursache für mangelndes ökonomisches Wachstum, soziale
Stagnation und hohes Analphabetentum, sondern die „’Indolenz’ und
‚Trägheit’“ des maginalisierten Volkes. Die Führungsschicht bestimmte: „Die
‚Unwissenden’ sind unfähig, sich frei und kritisch an der Demokratie zu
beteiligen, also dürfen sie nicht wählen und für die öffentlichen Ämter nicht
gewählt werden“.234
In Recife, informiert Peter Stöger, gab es und gibt es auch heute noch
Millionen Kinder, die auf der Straße leben. Viele Kleinkinder sterben an
Unterernähung im Laufe ihres ersten Lebensjahres. Millionen von Menschen
wohnen in Elendsvierteln und es werden durch die große Landflucht immer
noch mehr.235
Paulo Freire machte die Dringlichkeit der Alphabetisierung in Brasilien
deutlich: „1964 hatten ungefähr 4 Millionen Kinder in schulfähigem Alter keine
Schule. Es gab 16 Millionen Analphabeten im Alter von vierzehn Jahren und
darüber“.236 Als nun seine Kampagnen erfolgreich das nationale Anliegen
verwirklichten, begann die Elite um ihre Privilegien und ihre Machtposition zu
fürchten. Sie wusste die politische Mitbestimmung des Volkes abzuwenden.
Zunächst beschwichtigten sie die Menschen mit „Assistenzialismus“237, indem
„Einrichtungen der sozialen Hilfe“ geboten und „Armeen von Sozialarbeitern“
232 Ribeiro, Darcy: Unterentwicklung 1980, S. 29. 233 ebd., S. 27f. 234 Weffort, Francisco: Erziehung und Politik, in: Freire, Paulo 1977, S. 98f. 235 vgl. Stöger, Peter: Igor Caruso - Paulo Freire, Skriptum WS 1995/96, S. 1. 236 Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 46. 237 Assistenzialismus bedeutet eine Politik der finanziellen und sozialen Hilfeleistung, die die Symptome gesellschaftlicher Probleme mildert, aber ihre Ursachen belässt. Diese vor allem eigennützige, paternalistische Hilfe degradiert das Volk zu passiven Objekten, ohne eigene Entscheidungsmöglichkeit und Verantwortung.
68
ausgeschickt wurden.238 Als das nicht mehr reichte und die Bedrohung ihrer
Interessen zu groß wurde, kam es 1964 zum Putsch, der die nationale
Alphabetisierungskampagne beendete. Paulo Freire offenbart, wer hier die
Fäden zog, um die Partizipation des abhängigen und unterdrückten Volkes an
der politischen Macht und dem materiellen Besitz zu verhindern:
Reaktionäre Kräfte im Inneren, die sich um die Interessen des Großgrundbesitzes versammelten, wurden von Kräften aus dem Ausland unterstützt, die die Veränderung Brasiliens von einer Objekt- zu einer Subjekt-Gesellschaft zu verhindern suchten.239
Aus dem Exil schildert er diese Zeit: Das Land befand sich in den 50er und
frühen 60er Jahren in einer Übergangsphase hin zu einer offenen Gesellschaft,
welche von ökonomischen Veränderungen ausgelöst wurde. Paulo Freire sah
in der Öffnung die „Chance einer demokratischen Rettung Brasiliens“.240
Ausgangspunkt für den brasilianischen Übergang war jene geschlossene Gesellschaft, von der ich schon sprach; das heißt eine Gesellschaft, deren Ökonomie vom Rohstoffexport bestimmt und von ausländischen Märkten beherrscht wurde, ja deren Zentrum ökonomischer Entscheidungen in Übersee lag – eine ‚Reflex’-Gesellschaft, eine ’Objekt’-Gesellschaft ohne nationales Bewußtsein, rückwärts gewandt, analphabetisch, antidialogisch und elitär.241
Diese „‚Reflex-Gesellschaften’“, die von einer „Weltmacht-Gesellschaft“ in
ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht worden sind, „(...) können sich nicht
entwickeln, denn sie sind entfremdet“. Die Entscheidungsfreiheit über die
Gestaltung ihre Politik, Wirtschaft und Kultur wurde ihnen weitgehend
genommen.242 Paulo Freire teilt die dependenztheoretische Sichtweise von
Unterentwicklung, wenn er gegen die Modernisierungstheorien argumentiert:
Es ist entscheidend, Modernisierung und Entwicklung nicht zu vermischen. Erstere ist, obwohl sie bestimmte Gruppen in der ‚Satellitengesellschaft’ beeinflussen mag, fast immer induziert, und nur die Weltmacht-Gesellschaft zieht eigentlich Nutzen daraus. Eine Gesellschaft, die bloß modernisiert wird, ohne sich zu entwickeln, wird auch weiterhin - selbst wenn sie eine geringfügige delegierte Entscheidungsmacht übernimmt - vom fremden Land abhängen.243
Volker Lenhart definiert beide Begriffe: Modernisierungsansätze betrachten
238 vgl. Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 20. 239 ebd., S. 21. 240 vgl. ebd., S. 16. 241 ebd., S. 15. 242 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 137. 243 ebd., S. 138.
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die Fremdeinflüsse auf die Länder des Südens als „stimulierende Elemente“
gegen die bestehende Armut und Unterentwickung. „Modernisierungstheorien
richteten die Entwicklung von Dritte-Welt-Gesellschaften (bekanntlich) am
Entwicklungspfad und –modell demokratischer westlich-kapitalistischer
Industriegesellschaften aus (...)“.244 Die Dependenztheorie hingegen betont
die „internationale Mit-Konditionierung des Entwicklungsproblems“,245 denn
Unterentwicklung sei
(...) nicht in erster Linie die ‚natürliche’ (= historische) Rückständigkeit traditioneller Gesellschaften und Kulturen, sondern Ergebnis der weltweiten Penetration des westlichen (kapitalistischen) Wirtschafts-systems einschließlich der die Penetration begleitenden imperialen Bevormundungen.246
Die lange andauernde koloniale und neokoloniale Situation Brasiliens
verhinderte Erfahrungen von Demokratie und Partizipation, die zur Selbst-
bestimmung notwendig gewesen wären. Traditionelle Bildungseinrichtungen
standen im Dienst der Fremdherrschaft und beabsichtigten die Anpassung und
Domestizierung des Volkes. Erziehung, begleitet von „Gewalt und Angst“, war
das Hauptinstrument der „(…) ’kulturellen Invasion’, dieser Besetzung des
Bewußtseins der Unterdrückten mit den Mythen der Unterdrücker (…)“.247
Gegen die Entfremdung, Verarmung und Verelendung bedurfte es einer
neuen Befreiungspädagogik. Paulo Freires Bildungskonzept war politischer
Art: „Wir planten ein Alphabetisierungsprogramm, das eine Einführung in die
kulturelle Demokratisierung darstellte, ein Programm mit Menschen als seinen
Subjekten und nicht als geduldigen Rezipienten“.248 Wichtig war ihm nicht
nur, die brasilianische Bevölkerung Lesen und Schreiben zu lehren, sondern
sie zu befähigen in ihrer Gesellschaft mitzubestimmen und soziale und
politische Verantwortung zu übernehmen. Sein Ziel war es, zum Wandel ihrer
unterdrückten Situation beizutragen, die Gesellschaft Brasiliens und letztlich
die ganze Welt umzugestalten, sie zu humanisieren. Er unterstreicht:
Alphabetisierung ist nur in dieser Weise sinnvoll, wenn nämlich Menschen über ihre eigene Befähigung zur Reflexion, über die Welt und ihre Position darin, über ihre Macht zur Veränderung der Welt und die Begegnung des Bewußtseins zu reflektieren beginnen. Die Alphabetisierung selbst hört dabei auf, ihnen etwas Äußerliches zu
244 Lenhart, Volker: „Bildung für alle“ 1993, S. 9. 245 vgl. ebd., S. 10. 246 ebd., S. 9. 247 vgl. Lange, Ernst: Einführung, in: Freire, Paulo 1973, S. 11. 248 Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 48.
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sein; sie wird ein Teil von ihnen, eine Schöpfung aus ihrem Inneren. In meinen Augen ist nur ein Alphabetisierungsprogramm richtig, in dem die Menschen die wahre Bedeutung der Wörter verstehen: nämlich als Kraft, die Welt zu verändern. Wenn Analphabeten die Relativität von Unwissenheit und Wissen entdecken, zerstören sie eine der Mythen, mit deren Hilfe falsche Eliten sie manipuliert haben. Dadurch, daß Menschen, indem sie über sich selbst und die Welt, in und mit der sie sind, nachzudenken genötigt sind, die Welt als die ihre entdecken, dadurch hat das Erlernen des Lesens und Schreibens überhaupt einen Sinn. Dann sehen sie auch, daß ihre Arbeit nicht der Preis dafür ist, daß sie Menschen sind, sondern eher eine Art von Liebe zur Welt – und eine Hilfe, daß aus ihr ein besserer Ort wird.249
3.2 Alphabetisierungsansätze
Paulo Freire befragt die vier wichtigsten traditionellen Ansätze, deren
Grundlage die „Methode der positivistischen Forschung“250 bildet, bezüglich
ihrer „kulturellen Reproduktion oder kulturellen Produktion“. Seiner Meinung
nach „(...) führt die Ausblendung der sozialen und politischen Dimensionen in
der Praxis des Lesens zu einer Ideologie kultureller Reproduktion, die die
Lesenden als ‚Objekte’ betrachtet“, als Objekte mit leeren von Erziehern zu
füllenden Körpern.251
3.2.1 Akademischer Ansatz
Charakteristisch dafür ist der Doppelansatz der Bildung. In der klassischen
Tradition verfügt ein gebildeter Mensch über fundierte Kenntnisse in Latein,
Griechisch und der klassischen Literatur. Dieses hohe Niveau kann vor allem
von der Elite erreicht werden. Für den größten Teil der Bevölkerung ist diese
vorgegebene Bildungsebene aber illusorisch. Deshalb reicht für sie das
Erlernen der Lesefähigkeit (Buchstabieren, Wortschatzerwerb, ...) aus. Dieses
Argument soll zwei unterschiedliche Bildungsniveaus für die „herrschende
Klasse“ und für die „besitzlosen Massen“ legitimieren.
Den klassischen Werken wird große Bedeutung für das Verständnis, den
Wortschatzerwerb und die Wortbildung zugesprochen. Ihr Einfluss wird aber
überschätzt. Die Reproduktion der herrschenden Kultur und Werte einiger
weniger Privilegierter überwiegt vor der als unterlegen betrachteten
249 Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 84. 250 In der positivistischen Forschung werden, so Paulo Freire, methodische Fragen von ihrem ideologischen Kontext getrennt. Die Verbindung zwischen dem soziopolitischen Gesellschaftsgefüge und dem Leseakt wird bestritten. 251 vgl. Freire, Paulo: Alphabetisierung und kritische Pädagogik, in: Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim; Wörz, Susanne 1992, S. 26.
71
„Geschichte, der Kultur und Sprache der Arbeiterklasse“. So wirkt der
akademische Ansatz auf die Mehrheit der Gesellschaft „entfremdend“, da ihre
„vitalen, historischen und sprachlichen Erfahrungen“ gänzlich unbeachtet
bleiben. Unbeachtet bleibt zugleich auch die soziopolitische Dimension der
Alphabetisierung.252
3.2.2 Utilitaristischer Ansatz
In den hochindustrialisierten, technologischen Gesellschaften des Nordens
als auch in den Ländern des Südens wird dem utilitaristischen Ansatz immer
mehr der Vorzug gegeben. Das primäre Ziel ist die „Entwicklung ‚funktional-
alphabetisierter Menschen’“, die innerhalb einer aktuellen, fortwährend
komplexer werdenden Gesellschaft über die benötigten Grundfertigkeiten
verfügen. Der „mechanische Erwerb der Lesefähigkeit“ erfolgt ohne „kritische
Analyse der sozialen und politischen Ordnung“. Der utilitaristische Ansatz
beinhaltet in erster Linie technisches und berufliches Wissen als Mittel für
„ökonomischen Fortschritt, Zugang zum Beschäftigungssystem und Anhebung
der Produktivität“.253 Paulo Freire zitiert Henry A. Giroux:
In dieser Perspektive ist die Alphabetisierung orientiert an der Ausbildung produktiverer Arbeiter und Bürger innerhalb einer gegebenen Gesellschaft. Hinter der Fassade ökonomischen Fortschritts reduziert die funktionale Alphabetisierung ihre pädagogische Konzeption auf die pragmatischen Erfordernisse des Kapitals; konsequenterweise wird ein kritisches Verständnis des Denkes, der Kultur und der Macht den Anforderungen des Arbeitsmarktes und der Notwendigkeit der Kapitalakkumulation untergeordnet.254
3.2.3 Entwicklungsansatz
Im „Modell der kognitiven Entwicklung“ wird untersucht, wie die Menschen
beim Lösen von Problemen ein eigenes Bedeutungsverständnis erreichen. Von
Interesse ist hier die „(...) Entwicklung neuer kognitiver Strukturen, die den
Lesenden befähigen, von einfachen Lesetexten zu immer komplexeren zu
gelangen“.255 Innerhalb dieses Modells, das stark von John Dewey und Jean
Piaget geprägt wurde, bedeutet Lesen „intelektuelles (sic!-G.G.)
252 vgl. Freire, Paulo: Alphabetisierung und kritische Pädagogik, in: Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim; Wörz, Susanne 1992, S. 26. 253 vgl. ebd. 254 Giroux, Henry A., zit. in: Freire, Paulo 1992, S. 26. 255 vgl. Freire, Paulo: Alphabetisierung und kritische Pädagogik, in: Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim; Wörz, Susanne 1992, S. 27.
72
Fortschreiten“, welches „’auf der Grundlage einer Reihe von gesetzmäßiger,
universaler und vorhersagbarer Entwicklungsetappen’“ beruht.256
Indem der kulturelle Kontext der Lesenden im Entwicklungsansatz ohne
Bedeutung ist, werden die eigenen Erfahrungen nicht kritisch reflektiert. Eine
inhaltliche Analyse des gelesenen Textes entfällt und verhindert so sein
kritisches Verständnis. Das Problem der kulturellen Reproduktion bleibt darin
gänzlich unangesprochen.257
3.2.4 Romantischer Ansatz
Emotionen sind wesentlich für das romantische Modell, das „Lesen als
Selbstverwirklichung und freudige Erfahrung“ begreift. Im Unterschied zu den
vorhergehenden Ansätzen wird hier der Leser als Subjekt betrachtet. Die
Vorstellung des romantischen Ansatzes ist, „(...) daß alle Welt auf gleiche
Weise einen Lesegenuß entwickeln sollte“, wobei jedoch die Existenz
unterschiedlicher Kulturen geleugnet wird.258 Diesem Alphabetisierungsansatz
entgehen die bestehenden Konflikte zwischen den Klassen, Geschlechtern und
Rassen völlig. Paulo Freire unterstreicht: „Es ist arrogant und naiv zu glauben,
daß Schüler der Arbeiterklasse, die einer Vielzahl von Benachteiligungen
ausgesetzt sind, Freude und Selbstbestätigung durch den Genuß von Literatur
erringen sollen“.259 Da die sozialen Ungleichheiten und das unsymmetrische
Machtgefüge kritiklos hingenommen werden, reproduziert der romantische
Ansatz die herrschende Kultur, in der bestimmte Teile der Bevölkerung vom
Lesen ausgeschlossen werden.
Keiner dieser Ansätze befähigt die Subjekte „(…) zu einer individuellen und
kollektiven Selbstbestimmung zu gelangen“.260 Trotz ihrer Verschiedenheit
haben die Alphabetisierungsansätze auch eine Gemeinsamkeit:
Alle ignorieren die Rolle der Sprache als Hauptkraft zur Konstituierung der menschlichen Subjektivität. Das heißt, sie ignorieren die Art und Weise, wie die Sprache die Geschichten und Erfahrungen der Menschen, die die Sprache benützen, bestätigen oder negieren kann.261
256 vgl. Freire, Paulo: Alphabetisierung und kritische Pädagogik, in: Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim; Wörz, Susanne 1992, S. 27. 257 vgl. ebd. 258 vgl. ebd. 259 ebd. 260 vgl. ebd. 261 ebd.
73
3.3 Emanzipatorische Alphabetisierung
Die traditionellen Alphabetisierungsansätze lehren nur den mechanischen
Erwerb des Lesens ohne dabei seinen geschichtlichen und ideologischen
Kontext zu berücksichtigen. Somit wird, wie Paulo Freire darlegt, „die wichtige
Beziehung zwischen der Sprache und dem kulturellen Kontext“ der Lernenden
geleugnet. Emanzipatorische Alphabetisierung muss sich von diesen Ansätzen
lösen, will sie den „’Unterdrückten’“ ermöglichen, sich bei der „sozio-
historischen Veränderung der Gesellschaft“ zu beteiligen. Grundlegend dafür
ist ein „(...) kritische(s) Verständnis der globalen Ziele gesellschaftlicher
Veränderung“. Der kreative Akt des Lesen- und Schreibenlernens unterstützt
die „(...) Entwicklung eines kritischen Verständnisses des Textes und des
soziohistorischen Kontextes, auf den er sich bezieht (...)“.262
Der emanzipatorische Ansatz ermöglicht es den Unterdrückten „(...) sich
ihrer Geschichte, Kultur und Sprache wieder anzunähern“ und ihre, von der
herrschenden Kultur gering geschätzten, „historischen und existentiellen
Erfahrungen“ neu zu bewerten und zu verstehen. Emanzipation und ein
kritisches Verständnis der eigenen Lebensverhältnisse entwickeln sich nur in
der „Sprache des Volkes“, im Benennen der eigenen Realität. Der Wandel der
entfremdenden sozialen und politischen Strukturen gelingt in der
Alphabetisierung nicht durch die ausschließliche Verwendung der
herrschenden Sprache, welche darauf abzielt den „status quo“ zu erhalten.
Nur die Sprache des Volkes eignet sich „zur Reflexion und kritischem Denken“
und zur Wiederentdeckung der eigenen „Kultur und Geschichte“, die für das
Entstehen einer neuen Gesellschaft unabdingbar sind.263
3.3.1 Dekolonisierung des Bewusstseins
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Situation Brasiliens während
der Kolonialzeit.264 Die eigenen kulturellen und religiösen Traditionen, die
Geschichte des Landes, die Sprache und die Lebenserfahrungen der unfreien
Bevölkerung sollten vor allem durch das koloniale Schulsystem ausgelöscht
werden. Die Unterdrückten mussten sich assimilieren und das vorgegebene
Wissen, die Werte und die einzig „wahre“ Kultur der portugiesischen Eroberer
annehmen. Diese Menschen wurden ihrer Würde und kulturellen Identität
262 vgl. Freire, Paulo: Alphabetisierung und kritische Pädagogik, in: Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim; Wörz, Susanne 1992, S. 27. 263 vgl. ebd., S. 28. 264 Siehe dazu auch im 2. Kapitel auf S. 41.
74
beraubt. Sie wurden gedemütigt, indem sie von der Kolonialmacht als
minderwertige Geschöpfe betrachtet und behandelt wurden. Diese „kulturelle
Invasion“ zu beenden, bedurfte es eines emanzipatorischen Ansatzes mit
Menschen als Subjekte, die sich ihre Würde, ihre Geschichte und Kultur, ihr
Sprache, ihr Wissen und ihre eigenen Erfahrungen wieder zurückerobern.
3.3.2 Kultur des Schweigens
Paulo Freire versteht unter der „’Kultur des Schweigens’ (...) die Kultur der
Abhängigkeit, in der die beherrschte, die unterdrückte Klasse sich nicht
ausdrücken kann“.265 Das Schulsystem der postkolonialen brasilianischen
Gesellschaft war, wie Ernst Lange beschreibt, nach westlichem Vorbild
aufgebaut. Ihr Misserfolg bei der Landbevölkerung und den Slumbewohnern in
den Städten wurde auf die Unfähigkeit und die fehlende Emanzipations-
bereitschaft dieser Bevölkerungsgruppen zurückgeführt. Paulo Freire hingegen
demaskierte das apathisches Verhalten der Mehrheit der Menschen, ihre, wie
er es nannte, „’Kultur des Schweigens’“, nicht als Ursache, sondern als „Folge“
der gewalttätigen Unterdrückung und ihrer innerlichen Unterwerfung. Sie
verinnerlichten die Mythen der Elite, wie die von ihrer „’natürlichen’
Unterlegenheit“ und begannen „(...) sich selbst so (zu-G.G.) sehen, wie die
Unterdrücker sie sehen, nämlich als ‚nichtig’ (...)“.266
Die „erfahrene Sprache“ der abhängigen Bevölkerung wurde, wie Ernst
Lange weiter ausführt, durch das Schulwesen „(...) systematisch abqualifiziert
und durch die Kunstsprache der ‚Gebildeten’ verdrängt. So bleibt Erfahrung
sprachlos, Sprache wird sinnlos“.267 Das Verstummen der Unterdrückten ist,
wie er betont, unbestreitbar ein „weltweites Phänomen“.268
Die herrschende Kultur führte das Wort, den Monolog. An einem Dialog
mit den Unterdrückten, an ihrer Mitsprache und Mitbestimmung innerhalb der
Gesellschaft, gab es kein Interesse. Ihre (politische) Stimme blieb ungehört
und verstummte letzten Endes in Gegenwart von Machtstrukturen, welche mit
Gewalt und Angst aufrechterhalten, ja verewigt werden sollten. Ihre
Sprachlosigkeit wurde zum Zeichen ihrer Ohnmacht und Unterwerfung
gegenüber einer Realität, die ihnen unveränderlich und damit hoffnungslos
erschien.
265 vgl. Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 136. 266 vgl. Lange, Ernst: Einführung, in: Freire, Paulo 1973, S. 10. 267 vgl. ebd., S. 12. 268 vgl. ebd., S. 13.
75
3.3.3 Erziehung ist politisch
Die Erkenntnisse über das Phänomen der Kultur des Schweigens brachten
Paulo Freire zum zentralen „Grund-Satz“269 seiner Theorie: „Erziehung kann
niemals neutral sein. Entweder ist sie ein Instrument zur Befreiung des
Menschen, oder sie ist ein Instrument seiner Domestizierung, seiner
Abrichtung für die Unterdrückung“.270
3.3.4 Sprache des Volkes
Sich die eigene kultuelle und historische Identität zurückzuerobern, gelingt
nicht mit der Herrschaftssprache. Ausgangspunkt für die emanzipatorische
Alphabetisierung ist daher die Muttersprache eines Menschen. Sie darf sich
jedoch nicht darauf beschränken, weil sich sonst ein „linguistic ghetto“ bilden
würde.271 Die eigene Sprache ist von großer Bedeutung, wie wir bei Paulo
Freire lesen können:
Es ist das Problem der Sprache, das Problem der Ausdrucksweise und insofern der Struktur des Denkens. Ich bin absolut davon überzeugt, daß ein Volk seine Freiheit in dem Maße erobert, in dem es sein Wort wiedererobert, d.h. seine Sprache, seine Art, sich und seine Welt auszudrücken, seine Art zu sein, seine Art zu denken.272
Die Muttersprache ist, nach Paulo Freire, grundlegend dafür, eine eigene
Stimme und damit eine positive Selbstachtung zu entwickeln. Sich das eigene
Wort wiederzuerobern, bringt Mikhail Bakhtin folgendermaßen auf den Punkt:
„’retelling a story in one’s own words’“.273
3.3.5 Lesen des Wortes und der Welt
Die Inhalte der traditionellen Lesefibeln und Lehrpläne hatten nichts mit
dem Leben der Lernenden zu tun. Die Texte, die für das Erlernen des
Alphabets „behandelt“ wurden, entsprachen nicht ihren existentiellen
Erfahrungen. Paulo Freire erkannte, dass „(…) die Auswahl des Textes für
Alphabetisierungsmaterialien ein höchst bedeutsamer politischer Akt ist
(...)“.274 So waren es ihre eigenen Worte, die in der emanzipatorischen
Pädagogik zum Lernen des Alphabets und für die inhaltliche Diskussion
269 vgl. Lange, Ernst: Einführung, in: Freire, Paulo 1973, S. 13. 270 Freire, Paulo, zit. in: Lange, Ernst 1973, S. 13. 271 vgl. Freire, Paulo; Macedo, Donaldo: Literacy 1987, S. 151f. 272 Freire, Paulo, zit. in: Mergner, Gottfried 2000, S. 49. 273 Bakhtin, Mikhail, zit. in: Freire, Paulo; Macedo, Donaldo 1987, S. 151. 274 vgl. Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim; Wörz, Susanne: Die Welt buchstabieren 1992, S. 25.
76
ausgewählt wurden. Die Texte stammen aus den konkreten sozialen
Kontexten der Lernenden und nicht aus Lesebüchern. Die jeweiligen sozialen
Gegebenheiten eines Landes, die spezifische Kultur, der Wortschatz der
Lernenden, ihre Probleme und Lebensumstände, ihre Ängste, Sorgen und
Hoffnungen werden darin deutlich lesbar. Das eigene Leben und die
unmittelbare Realität wird auf diese Weise zur Grundlage für das Lesen und
Schreiben. Paulo Freire fügt mahnend hinzu:
Wir dürfen nie bloß über die gegenwärtige Situation reden, wir dürfen nie den Menschen Programme überstülpen, die wenig oder nichts mit ihren eigenen Sorgen, Zweifeln, Hoffnungen und Befürchtungen zu tun haben – Programme, die manchmal die Furcht des unterdrückten Bewußtseins bloß noch vermehren. Es ist nicht unsere Aufgabe, zum Volk über unsere Sicht der Welt zu sprechen, erst recht nicht, zu versuchen, ihm diese Sicht aufzunötigen. Vielmehr besteht sie darin, mit dem Volk in einen Dialog über seine und unsere Auffassungen einzutreten.275
Im Dialog über die Probleme der Wirklichkeit nachzudenken, d.h. über
existenzielle Themen des alltäglichen Lebens, wie Gesundheit, Arbeit, usw.,
ihre Ursachen und verworrenen Zusammenhänge aufzudecken, ihre Wider-
sprüche und Ungerechtigkeiten zu entschlüsseln und vor allem ihre
Veränderbarkeit zu erkennen, dass meint die Welt lesen, wie Paulo Freire es
versteht. Wenn die Lernenden ihre persönliche und die kollektive
Geschichtlichkeit erkennen, beginnen sie die eigenen Lebensbedingungen, die
ihnen bislang unveränderlich und gottgegeben erschienen sind, zu
problematisieren. Die Menschen lernen sich in der gemeinsamen Diskussion
angstfrei auszudrücken, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln, solidarisch
füreinander einzutreten und mögliche Lösungen für die exisierenden
individuellen und kollektiven Probleme anzudenken. Die Welt schreiben
bedeutet dann, sie tätig zu verändern, etwa durch Arbeit. „Menschlich
existieren heißt die Welt benennen, sie verändern“, formuliert Paulo Freire.276
Emanzipatorische Pädagogik ermutigt die Menschen, ihre entfremdenden
Lebensbedingungen zu verändern. Auf die Welt einzuwirken gelingt dem
Menschen durch das Wort, das gleichbedeutend ist mit Handeln und Praxis.
Ein wirkliches Wort kann, so Paulo Freire, die Welt verändern. Es bildet sich
aus zwei Elementen, der Aktion und der Reflexion, die nicht voneinander
getrennt werden dürfen. Aktion ohne Reflexion bedeutet Aktionismus und
275 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 79. 276 ebd., S. 71.
77
Reflexion ohne Aktion Verbalismus. Dieses Recht zur Verwandlung der Welt,
ist kein Vorrecht einzelner Menschen oder Gruppen für andere, sondern das
Recht jedes einzelnen Menschens zur Handlungsfähigkeit und zur eigenen
Wortmächtigkeit.277
Mit generativen Wörtern, wie Wasser, Arzt, usw. erlernen die Menschen
das Alphabet des Lebens. „Der Mensch, der sein Leben solcher Art ‚lauten’
und ‚lesen’ lernte, erfuhr sich als jemand, der das Geschriebene auch auf
seine Wahrheit befragen konnte“ und der sich, wie Peter Stöger ausführt,
durch das „‚Benennen’ des Lebens“ befreien konnte.278 Damit wurde
Alphabetisierung politisch bedeutsam, weil es den Lernenden möglich machte
„(...) ihre Hoffnungen und Proteste zu formulieren, zu ‚ver-lautbaren’“.279
3.3.6 Alphabetisierungsmethode
Die „’Freire-Methode’“, auch „’generative Methode’, ’Silbenmethode’ oder
‚psycho-soziale Methode’“ genannt, besteht demnach aus wenigen, aber sehr
bedeutsamen „Schlüssel-Wörtern“, die aus dem jeweiligen Alltagsleben und
dem Sprachgebrauch der Lernenden kommen. Diese generativen Wörter280
werden durch bildliche Darstellungen (Dias, Fotos, Zeichnungen, Plakate)
„’codiert’“ dargeboten.281 Die Lernenden „’decodieren’“ im gemeinsamen
Gespräch ihre Bedeutungen.282 Sie lernen die Wörter lesen und schreiben,
aber was Paulo Freire noch wichtiger ist, sie lernen darüber hinaus den „Text
eines Wortes in seinem Kontext“ zu verstehen und zu diskutieren. So lautet
z.B. für das Schlüsselwort „’Essen’“ der zu entschlüsselnde Kontext
„’Unterernährung, Kindersterblichkeit, Hunger, Lebensmittelknappheit“.283
Wenn die Menschen auf diese Art ihre eigene Welt und ihre Probleme zu lesen
beginnen, entsteht, wie Paulo Freire es nennt, eine „’Dekolonisierung des
Bewußtseins’“ und beginnt politische Bildung.284
Dazu eines seiner Beispiele:
277 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 71f. 278 Stöger, Peter: Igor Caruso - Paulo Freire, Skriptum WS 1995/96, S. 25. 279 vgl. Stöger, Peter: Wo liegt Afrika? 2000, S. 184. 280 Die siebzehn Schlüsselwörter bei Paulo Freire waren: Favela, Regen, Pflug, Boden, Essen, Tumult, Brunnen, Fahrrad, Arbeit, Lohn, Beruf, Regierung, Stausee, Mühle, Hacke, Ziegelstein und Reichtum. 281 Die Kodierungen bezogen vielfach auch andere Wahrnehmungskanäle der Kommunikation mitein (visuell –bildhaft, graphisch, mimisch; auditiv, taktil, audio-visuell). 282 vgl. Carstensen, Corinna; Schroeder, Joachim; Wörz, Susanne: Die Welt buchstabieren 1992, S. 24. 283 vgl. ebd., S. 24f. 284 vgl. ebd., S. 25.
78
Beispiel: „tijolo (Ziegelstein)“285
Ein Ziegelstein wird in visueller Form (Dia) präsentiert. Es zeigt eine allen
Lernenden bekannte lokale Situation, die Bauarbeit. Das Bild wird gemeinsam
in der Gruppe diskutiert, um die persönlichen, lokalen, regionalen und
nationalen Probleme zu entschlüsseln. Zum Dia wird das generative Wort
„tijolo“ hinzugefügt. So entsteht eine „semantische Verbindung zwischen dem
Wort und dem benannten Objekt“. Ohne bildlicher Darstellung wird nun das
Wort dargeboten und in Silben zerlegt „ti-jo-lo“. Jede Silbe gehört zu einer
phonemischen Gruppe „ta-te-ti-to-tu“, usw., die nun miteinander verglichen,
gelernt und abschließend gelesen werden. Der wichtigste Moment beginnt,
wenn alle Gruppen gemeinsam auf einer Entdeckungskarte vorgezeigt
werden:
ta te ti to tu
ja je ji jo ju Entdeckungskarte
la le li lo lu
Die Lernenden lesen die phonemischen Gruppen horizontal und vertikal,
um den Klang der Vokale wahrzunehmen und bilden mündlich daraus neue
Wörter, wie „luta (Kampf), lajota (kleine Fliese)“, usw. Sie setzen zu Hause
die Silben zu möglichst vielen neuen Wörten zusammen - gleichgültig ob
daraus wirkliche Wörter entstehen oder nicht - schreiben sie auf und finden
beim nächsten gemeinsamen Treffen die wirklichen Wörter heraus. Wichtig ist
nur, dass sie erkennen, wie sie Wörter aus phonemischen Kombinationen
bilden können. 286
Mit fünfzehn oder achtzehn „(...) ‚generativen Wörtern’, deren Silben-
bestandteile durch Rekombination die Bildung neuer Wörter ermöglichten“,
wurde das Lesen und Schreiben in den Alphabetisierungsgruppen erlernt. Sie
genügten, „(…) um die fundamentalen Phoneme der portugiesischen Sprache“
abzudecken.287 Die Freire-Methode war so konzipiert, dass sich die Lernenden
selbst das Lesen und Schreiben beibringen konnten.288 Innerhalb von sechs
Wochen bis zu zwei Monaten war es ihnen damit bereits möglich Zeitungen zu
lesen, einfache Notizen und Briefe zu schreiben und über lokale und nationale
Problemlagen zu diskutieren.289
285 vgl. Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 58. 286 vgl. ebd., S. 58f. 287 vgl. ebd., S. 54. 288 vgl. ebd., S. 60. 289 vgl. ebd., S. 58.
79
Worin besteht nun das Neue der Freire-Methode, wo doch Kodierungen,
Schlüsselwörter und die Silbenmethode auch zuvor verwendet wurden?290
Methodisch neu war, die Lernenden nicht die dargebotenen Buchstaben,
Wörter und Sätze auf mechanische Weise wiederholen und auswendig lernen
zu lassen, sondern sie anzuregen ihre „eigenen Wörter“ zu bilden. Geradezu
überraschend ist der Prozess des Auffindens der generativen Themen durch
die Lernenden und Lehrenden, die über Wochen zusammen im eigenen
Weltverband des Volkes lebten. Damit wurden nicht Fibeltexte zum
Ausgangspunkt des Lernprozesses genommen, sondern das eigene Leben.
Neu war außerdem, mit dem Lernen des Lesens und Schreibens auch den
soziohistorischen Kontext mitzulesen und zu verstehen, auf den sich die
generativen Texte beziehen.
Die Lernenden werden auf diese Weise zum Autor, zur Autorin ihrer selbst,
wenn sie, ihre durch die in der Kultur des Schweigens zuerst noch sprachlose
unaussprechliche Erfahrung in lesbare Zeichen umschreiben, um sie sich so
erst bewusst aneignen zu können. Sie beginnen sich selbst zu lesen, „ihr
Leben zu buchstabieren“.291 In diesem Bewußtseinsbildungsprozess wird das
„’Benennen’ des Lebens“ zum Anstoß zur „Veränderung des Lebens“.292 Denn
ausschlaggebend ist nach Paulo Freire, dass „(...) die Lernenden begreifen,
daß das eigentlich Wesentliche darin besteht, Geschichte zu machen und
durch sie geformt und neu geformt zu werden und nicht darin, verfremdende
Geschichten zu lesen“.293 Peter Stöger fügt folgende Ausführungen hinzu:
Entchiffrierung von Phänomenen der Wirklichkeit bedeutet, da wir von Dialog sprechen, ‚Alphabetisierung’, das heißt Aus-sprechen und Benennen der ‚Umstände’ des Lebens. Dieses Aus-sprechen bedeutet ‚Ent-äußerung’ im Dialog, ein ‚Nach-außen-Bringen’ von Chiffren, die den Prozeß des Person-werdens behindern. ‚Alphabetisieren’ signalisiert in der (...) Diktion Freires das Buchstabieren der eigenen Bestimmung der Suche nach einer Hoffnung. (...). Das gesprochene Wort ist ja nur ein Teil (nicht immer der wichtigste oder entscheidenste) dieses Prozesses, der ‚Buchstabierung meiner-selbst’. So gesehen, mag es unmöglich scheinen, ein ‚vollständiges Alphabet’ zu lernen (...).294
290 So weist bereits die „erste Lesefibel der Neuen Welt“ vom Mönch Pedro de Gante eine Silbenmethode und wichtige, meist christliche Schlüsselwörter auf. Siehe dazu auch 2. Kapitel. 291 vgl. Stöger, Peter: Igor Caruso – Paulo Freire, Skriptum WS 1995/96, S. 3. 292 vgl. ebd., S. 25. 293 Freire, Paulo: Dialog als Prinzip 1980, S. 28. 294 Stöger, Peter: Bewußtseinspädagogik 1982, S. 33f.
80
3.3.7 Dialektische Erkenntnistheorie
Erziehung ist für Paulo Freire „(...) immer eine bestimmte Erkenntnis-
theorie, die in die Praxis umgesetzt wird“.295 Der Erkenntnisakt vollzieht sich
im Dialog zwischen den Erkenntnissubjekten, den Lernenden und den
Lehrenden, vermittelt über das Erkenntnisobjekt, die Welt. In der kritischen
Auseinandersetzung mit der Realität „(…) wird der Lehrer zum Lehrer-Schüler
und der Schüler zum Schüler-Lehrer (...)“296 in einem fortwährenden Prozess
der Erkenntnis, in dem beide voneinander und miteinander lernen. Diesen
Prozess erläutert Paulo Freire folgendermaßen:
Echte Bildungsarbeit wird nicht von A für B oder von A über B vollzogen, sondern vielmehr von A mit B, vermittelt durch die Welt – eine Welt, die beide Seiten beeindruckt und herausfordert und Ansichten oder Meinungen darüber hervorruft.297
Seine Erkenntnistheorie bezieht sich im Wesentlichen auf folgende
Annahme: Erkenntnis entsteht durch Interaktion mit der sozialen Realität,
d.h. mit der gegenständlichen Welt einerseits und im Dialog mit anderen
Menschen. Sie weist einen klaren Bezug zur jeweiligen Lebenssituation auf
und varriiert aus diesem Grund beträchtlich. Erkenntnis entsteht prozesshaft
durch das tätige bewusste Eingreifen der Menschen in ihre Welt, die wiederum
auf sie selbst zurückwirkt und zu neuen Handlungen und neuen Erkenntnis-
erfahrungen führt. Dieser dialektische Prozess der Aktion und Reflexion wirkt
demnach verändernd auf das Erkenntnisobjekt, die Welt, wie auch auf die
Erkenntnissubjekte, die Lernenden und die Lehrenden selbst.
Erkenntnis ist daher ein Produkt sozialer Interaktion und kann kein
vorbereitetes abgeschlossenes Wissenspaket der Lehrenden (Subjekte) zur
Weitergabe an die Lernenden (Objekte) sein, die dieses fremde Wissen
entgegennehmen, es einordnen und anhäufen. Sie existiert auch nicht als
Theorie unabhängig von der konkreten Praxis, sondern ist das vorläufige
Ergebnis eines gemeinsamen Erkenntnisaktes und muss als solches immer
wieder neu geschaffen werden. Das gemeinsame Erkennen der Wirklichkeit ist
das vorrangige Ziel, denn: „Viel wichtiger als die Technik des Lesens und
Schreibens zu beherrschen ist es, die Wirklichkeit lesen und schreiben zu
lernen, d. h. die Wirklichkeit zu verstehen, zu begreifen, zu verändern“.298
295 vgl. Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 43. 296 vgl. ebd., S. 44. 297 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 76f. 298 Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 104f.
81
3.3.8 Conscientização
„Erziehung und Bildung sind sowohl Erkenntnisakt als auch
Bewußtseinsbildung“, formuliert Paulo Freire.299 Er definiert: „Conscientizaçâo
(Bewußtseinsweckung) ist die Entwicklung eines erwachenden kritischen
Bewußtseins“.300 Da er erkannte, „(...) daß die materiellen Bedingungen das
Bewußtsein bilden (…)“,301 ging er vom Vorhandensein unterschiedlicher
Bewusstseinsebenen in der brasilianischen Gesellschaft aus. Auf der Stufe der
„Semi-Intransitivität des Bewußtseins“302 befinden sich Menschen, die
ausschließlich mit der Sicherung ihres Überlebens beschäftigt sind. Diese
Stufe zeigt an, dass des Menschen „(...) Erfahrungswelt begrenzt ist, daß
Herausforderungen von außerhalb des Bereiches der biologischen Bedürfnisse
nicht an ihn heranreichen“.303 Begeben sich Menschen jedoch in einen Dialog
mit anderen und mit der Welt und beginnen sie Abstand zum Alltagsleben zu
gewinnen, um in einem fortwährenden Prozess der Reflexion die vorhandenen
Angebote und Problemlagen ihres gesellschaftlichen Lebensbereiches zu
begreifen und darauf zu reagieren, so entsteht eine „Transitivität des
Bewußtseins“.304
Ihr Ausgangspunkt bildet die „Naive Transitivität“, in der die Menschen
noch „Teil der Masse“ sind und ihre sich bildende Fähigkeit zum Dialog
zerstörbar ist. Damit die naive zu einer kritischen Transitivität werden kann,
ist eine kritische Bildung (neben günstigen historischen Umständen)
erforderlich. Charakteristisch für das „kritische transitive Bewußtsein“, das ein
„Kennzeichen wahrhaft demokratischer Staaten“ ist, sind: eine aktive
Haltung, die Übernahme von Verantwortung, eine „Praxis des Dialogs“, eine
tiefere Auseinandersetzung mit Problemen ohne vorgefasste Annahmen und
Verzerrungen, eine Bereitschaft zur Überprüfung und Veränderung von
Ergebnissen, schlüssige, kausale Begründungen anstatt magischer
Erklärungen, u.a.m.305
Die „Bewußtmachung, ist in erster Linie ein menschlicher Prozeß“, der
weltweit möglich ist und nicht auf die „Dritte Welt“ begrenzt werden kann.306
299 Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 104. 300 Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 25. 301 vgl. Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 48. 302 Kennzeichnend für diese Ebene sind beispielsweise magische Sinndeutungen. Daher wird es auch magisches oder naives Bewusstsein genannt. 303 vgl. Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 23. 304 vgl. ebd. 305 vgl. ebd., S. 24. 306 vgl. Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 134.
82
Um diesen Begriff gab es so viele Unklarheiten und Missverständnisse,
dass Paulo Freire sich entschloss, ihn in seinen späteren Werken nicht mehr
zu verwenden.307 Sehr wohl aber beschieb er weiterhin diesen „(...)
Lernvorgang, der nötig ist, um soziale, politische und wirtschaftliche
Widersprüche zu begreifen und um Maßnahmen gegen die unterdrückerischen
Verhältnisse der Wirklichkeit zu ergreifen“.308
Fälschlich interpretiert wurde Paulo Freire von verschiedenen Gruppen in
Lateinamerika und Europa.309 Einige hielten Bewusstseinsbildung für eine Art
Heilungszauber zur Befreiung und Lösung von emotionalen, persönlichen und
sozialen Problemen. Andere wiederum sahen darin ein Instrument zur
revolutionären Veränderung der Welt. Wieder andere, vorwiegend christliche
Gruppen, erwarteten sich illusorisch davon, „(...) daß es möglich sei, die
Menschen zu verändern, ohne die Welt zu verändern, daß es also möglich sei,
die Menschen zu humanisieren und zu befreien und dabei die soziale
Wirklichkeit, die verbietet, daß die Menschen SIND, unangestastet (sic!-G.G.),
unberührt zu lassen“.310 Für Paulo Freire ist der Prozess der Bewusstseins-
bildung jedoch vor allem ein „dialektischer Erkenntnisakt“ der Menschen über
ihre Welt, in der sie „nicht SEIN“ können und die aus diesem Grund von ihnen
selbst durch Aktion und Reflexion entmythologisiert und verändert werden
muss.311
Veränderung geschieht nicht nur durch die bewusste Auseinandersetzung
mit den persönlichen Lebensumständen und der eigenen Rolle in der Welt. Es
genügt nicht, wenn die Menschen ihre aktuelle Situation verstehen, sie
müssen diese unterdrückenden Strukturen als veränderbar erkennen und sie
verändern wollen. Das Ziel der „conscientização“ ist die Menschen zu
befähigen nicht mehr Objekte von Aktivitäten anderer zu sein, sondern selbst
Lösungen für ihre Probleme zu finden, Entscheidungen zu treffen und aktiv
handelnd „(…) in den geschichtlichen Prozeß als verantwortliche Subjekte
einzutreten (…)“.312
307 vgl. Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 101. 308 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 25. 309 Es gab natürlich auch Kreise, die die Bewusstseinsbildung ablehnten, weil sie dieser keine Bedeutung beimaßen und wie in Brasilien offensichtlich, auch jene Kräfte, die sie verhinderten, weil sie sie für machtvoll genug hielten, ihre Interessen und Machtpositionen zu gefährden. 310 vgl. Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 74. 311 vgl. ebd., S. 76. 312 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 25.
83
3.3.9 Domestikation
Als Kehrseite zur „Bewußtwerdung (Conscientizaçao), dem Prozeß der
Erlangung eines kritischen Bewußtseins“, führt Paulo Freire den Prozess der
„Vermassung“ an, der Manipulation des Volkes „zu einem leicht zu
handhabenden Agglomerat ohne eigenes Denken“, manipuliert durch die Elite,
„zu einer Gesellschaft von angepaßten und domestizierten Menschen“.313 Ein
Mittel der Unterdrückung ist die Manipulation durch Myhten, wie z.B. dass:♦
♦ die unterdrückerische Ordnung eine freie Gesellschaft sei, ♦ alle Menschen die Freiheit hätten zu arbeiten, wo sie wollen, ♦ die existierende Ordnung die Menschenrechte respektiere, ♦ jeder Fleißige selbst Unternehmer werden könne, ♦ die herrschenden Eliten die Entwicklung des Volkes fördern,
weswegen das Volk zur Dankbarkeit verpflichtet sei, ♦ die Unterdrücker fleißig, die Unterdrückten hingegen faul und
unehrlich seien, ♦ es eine natürliche Unterlegenheit der Unterdrückten gegenüber den
Unterdrückern gebe.314
Die führende Elite bezweckt mit Hilfe der Manipulation ihre Ziele
durchzusetzen, um die Bevölkerung auch künftig politisch, wirtschaftlich und
kulturell zu beherrschen. Sie sollen sich mit den besseren „Werte(n), Normen
und Ziele(n)“ der Unterdrücker identifizieren, die sich durch „kulturelle
Invasion“ in ihnen festgesetzt haben, diesem (höflichen, paternalistischen,
kriegerischen, …) „Akt der Gewalt“, der ihnen lehrt, die ihnen aufgedrängte
„Sicht der Welt“ als der eigenen überlegen zu betrachten:315
Der Unterwerfer drängt den Unterworfenen seine Ziele auf und erklärt sie zu seinem Besitz. Er formt die Unterworfenen nach seinen Konturen um, und sie internalisieren diese Form und werden zu zwiespältigen Wesen, die einen anderen ‚behausen‘.316
Das Bewusstsein der Menschen ist gespalten, da sie sich einerseits von der
Unterdrückung befreien wollen, andererseits aber in gewisser Weise vom
Unterdrücker angezogen fühlen.317 Sie müssen sich zu diesem Zweck zweimal
von ihrer Abhängigkeit befreien: innerlich und äußerlich. Dies löst in ihnen
eine „Furcht vor der Freiheit“ aus, weil das bedeuten würde, „(…) daß sie
313 vgl. Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 14. 314 Wagner, Christoph: Paulo Freire, in: E+Z 01/2001. (Homepage) URL: www.inwent.org/E+Z/1997-2002/ez101-7.htm (22.08.2007). 315 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 129f. 316 ebd., S. 116f. 317 vgl. ebd., S. 122.
84
dieses Bild (des Unterdrückers–G.G.) aus sich vertreiben und es durch
Autonomie und Verantwortung ersetzen“ müssten.318
Einflussreiche Instrumente zur Sicherung und Stützung der Herschafts-
verhältnisse sind auch die Erziehung und Bildung, denn diese sind keine
neutralen Prozesse, sondern politische Akte, die nicht losgelöst von den
jeweiligen politischen Bedingungen und der gegenwärtigen Realität betrachtet
werden können.
3.3.10 Lehrer-Schüler-Verhältnis
Die schulische und außerschulische Bildung gleicht einer Informations-
vermittlung, wobei der Lehrer die Schüler mit Lernstoff „füttert“. Paulo Freire
bezeichnete diesen Vorgang als „Depositäre Erziehung“, welche Ernst Lange
hier näher ausführt:
In Lehrer und Schüler begegnen sich Wissen und Unwissen, Haben und Nichthaben, Fülle und Leere, Macht und Ohnmacht. Und nun wird der Zögling gefüttert, aufgefüllt mit den Wörtern, Vorstellungen, Urteilen und Vorurteilen des Erziehers bzw. des Systems, dem er dient. Je widerstandsloser der Zögling sich diese Fütterung gefallen läßt, je bereitwilliger er verschlingt, was ihm vorgeworfen wird, desto erfolgreicher erscheint der Bildungsvorgang. Je mehr er sich der Auffüllung entzieht, weil das Futter ihm nicht schmeckt oder ihn nicht sattmacht, desto ‚ungebildeter‘ bleibt er. Das heißt aber: Bildung und Unterwerfung sind identisch. Man ist, im Sinne des Bildungssystems, um so erfolgreicher, je bereitwilliger man sich der Fremdbestimmung, der Programmierung mit fremdem Wissen, fremder Sprache, fremden Wertvorstellungen überläßt. Der Gebildete ist der Entfremdete.319
Die Erfahrung der Entfremdung bezieht sich vorwiegend auf ein koloniales
und nachkoloniales Bildungswesen, wo hingegen depositäre Bildung mit dem
Ziel der „Anpassung der Lernenden an einen bestehenden gesellschaftlichen
Zustand, an bestehende Herrschaftsverhältnisse“320 zweifellos ebenfalls die
aktuelle globale Situation widerspiegelt, wie nachstehendes bemerkenswertes
schweizerisches Bildungsverständnis von Hans Ulrich Stöckling321 beweist:
Wir müssen uns überlegen, wie viel Geld wir ausgeben wollen, um die Sau zu wägen, und wie viel, um die Sau zu mästen.322
318 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 34. 319 Lange, Ernst: Einführung, in: Freire, Paulo 1973, S. 13f. 320 vgl. ebd., S. 14. 321 Diese Aussage traf der St. Galler Erziehungsdirektor bei der Präsentation einer Online-Testserie für Schülerinnen und Schüler des 8. Schuljahres. 322 Stöckling, Hans Ulrich, zit. in: Neue Züricher Zeitung, Nr. 83, 08./09.04.2006, S. 41.
85
3.3.11 Bankiers-Konzept
Vehement widersprach Paulo Freire dem „Bankiers-Konzept“ der Bildung,
das die Schülerinnen und Schüler in leere Gefäße verwandelt, die es zu füllen
gilt. Er kritisierte den übermittelnden Charakter, der das Verhältnis zwischen
den Lehrenden als übermittelnde Subjekte und den Lernenden als
empfangende Objekte („Containern“) in der schulischen und außerschulischen
Erziehung dominiert. Die vermittelten Lehrinhalte wirken „leicht leblos und
versteinert“ und sind fern der „existenziellen Erfahrung“ der Schülerinnen und
Schüler, welche beginnen, diese Informationen, die nicht ihrer Wirklichkeit
entsprechen, mechanisch auswendig zu lernen und zu reproduzieren.323
Im Bankiers-Konzept der Erziehung ist Erkenntnis eine Gabe, die von denen, die sich selbst als Wissende betrachten, an die ausgeteilt wird, die sie als solche betrachten, die nichts wissen. Wo man anderen aber absolute Unwissenheit anlastet – charakteristisch für die Ideologie der Unterdrückung -, leugnet man, daß Erziehung und Erkenntnis Forschungsprozesse sind. 324
Er setzt Erziehung mit dem Vorgang einer „Spareinlage“ gleich, die die
Lehrenden als „Anleger“ von Wissen in dem „Anlage-Objekt“, den Lernenden
tätigen. Für die Lehrenden ist es dabei nicht erforderlich mit den Anlage-
Objekten zu kommunizieren, da ihre „Kommuniqués“ vollkommen genügen.325
In dieser antidialogischen Methode der Wissensübermittlung sieht Paulo Freire
den Versuch, das Denken und Handeln der Menschen zu kontrollieren. Die
Lernenden sind damit beschäftigt, sich der „bruchstückhaften Schau der
Wirklichkeit, die in ihnen eingelagert wurde, anzupassen“, anstatt ein
kritisches Bewusstsein für die Veränderung der Welt zu entwickeln.326
Das ist das ‚Bankiers-Konzept‘ der Erziehung, in dem der den Schülern zugestandene Aktionsradius nur so weit geht, die Einlagen entgegen-zunehmen, zu ordnen und aufzustapeln. Sie haben zwar die Möglichkeit, Sammler oder Katalogisierer der Dinge zu werden, die sie aufstapeln. Aber letztlich sind es die Menschen selbst, die mangels Kreativität, Veränderung und Wissen in diesem bestenfalls miß-geleiteten System ‚abgelegt‘ werden. Denn ohne selbst zu forschen, ohne Praxis, können Menschen nicht wahrhaft menschlich sein. Wissen entsteht nur durch Erfindung und Neuerfindung, durch die unge-duldige, ruhelose, fortwährende, von Hoffnung erfüllte Forschung, der die Menschen in der Welt, mit der Welt und miteinander nachgehen.327
323 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 57. 324 ebd., S. 58. 325 vgl. ebd., S. 57. 326 vgl. ebd., S. 59. 327 ebd., S. 57f.
86
3.3.12 Problemformulierende Bildungsarbeit
Paulo Freire spricht sich dafür aus, das Bankiers-Konzept als Instrument
der Domestizierung vollkommen zu verwerfen. „Problemformulierende
Bildungsarbeit“, die Kommunikation anstatt Kommuniqués verwirklicht,328
befähigt die Lernenden und Lehrenden als paritätisch forschende Subjekte
ihre Vorstellungen über sich selbst und die eigene Lebensrealität kritisch zu
hinterfragen und zu problematisieren. Sie ist daher immer am Subjekt und
ihrer oder seiner Lebenswelt orientiert. Ihr Ausgangspunkt ist die „Mensch-
Welt-Beziehung“. Die bis dahin fatalistisch eingestellten Menschen erkennen,
dass ihre sie unterdrückende soziale Realität keineswegs naturgegeben und
unabänderlich, sondern historisch entstanden und somit wandelbar ist.329 In
einer „fortwährende(n) Enthüllung der Wirklichkeit“ setzt sich die problem-
formulierende Methode ein für das „Auftauchen des Bewußtseins und für den
kritischen Eingriff in die Wirklichkeit“.330
Eine dialogische Beziehung im Sinne einer problemformulierenden Bildung
setzt an erster Stelle voraus, den „Lehrer-Schüler-Widerspruch“ aufzulösen,331
indem „beide gleichzeitig Lehrer und Schüler werden“.332
Durch Dialog hört der Lehrer der Schüler und hören die Schüler des Lehrers auf zu existieren, und es taucht ein neuer Begriff auf: der Lehrer-Schüler und die Schüler-Lehrer. Der Lehrer ist nicht länger bloß der, der lehrt, sondern einer, der selbst im Dialog mit den Schülern belehrt wird, die ihrerseits, während sie belehrt werden, auch lehren. So werden sie miteinander für einen Prozeß verantwortlich, in dem alle wachsen.333
Die problemformulierende Bildung, „die Praxis (…), daß Menschen ihre
Probleme in ihrem Verhältnis zur Welt formulieren“, ist von Anfang an eine
dialogische Begegnung auf gleicher Augenhöhe.334 Die Aufgabe des Lehrenden
ist es „(…) nach den besten Mitteln und Wegen zu suchen, die es dem
Lernenden ermöglichen, im Alphabetisierungsprozeß die Rolle des Subjektes
der Erkenntnis auszuüben“.335 Eine weitere besteht darin, die Lernenden dabei
zu unterstützen, ihr bereits vorhandenes Wissen zu systematisieren.336
328 vgl. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 64. 329 vgl. ebd., S. 69. 330 vgl. ebd., S. 65. 331 vgl. ebd., S. 64. 332 vgl. ebd., S. 58. 333 ebd., S. 64f. 334 vgl. ebd., S. 64. 335 vgl. Freire, Paulo: Dialog als Prinzip 1980, S. 16. 336 vgl. Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 48.
87
3.3.13 Dialog
Der Dialog ist die grundlegende Voraussetzung für Kommunikation und
problemformulierende Bildungsprozesse, denn: „Ohne Dialog gibt es keine
Kommunikation, und ohne Kommunikation kann es keine wahre Bildung
geben“.337 Anders als bei der antidialogischen Bankierserziehung, in der die
Lehrenden bzw. das Bildungswesen vorherbestimmen, wer was wie bis wann
können muss und die Lernenden zu Objekten von Aktivitäten anderer
(Wissenseinlagen, Kommuniqués, etc.) gemacht werden, ist Dialog, im Sinne
Paulo Freires, eine „Ich-Du-Beziehung“ zweier Subjekte, in der das Du
niemals zu einem Objekt verwandelt werden darf.338 Befreiende Bildung
entsteht nicht aus angesammelten abfragbaren Informationen, sondern aus
Erkenntnisakten der Menschen über sich selbst und über ihre soziale Realität:
Da nun der Dialog jene Begegnung ist, in der die im Dialog Stehenden ihre gemeinsame Aktion und Reflexion auf die Welt richten, die es zu verwandeln und zu vermenschlichen gilt, kann dieser Dialog nicht auf den Akt reduziert werden, daß eine Person Ideen in andere Personen einlagert. (…). Weil Dialog Begegnung zwischen Menschen ist, die die Welt benennen, darf er keine Situation bilden, in der einige Menschen auf Kosten anderer die Welt benennen.339
Der Dialog setzt die Gleichheit der Teilnehmenden voraus, denn echte
befreiende Bildung erfolgt nicht für oder über andere Menschen, sondern
solidarisch mit ihnen gemeinsam, vermittelt durch die Wirklichkeit. Der Dialog
ist „(…) die Begegnung von Menschen in der Welt zum Zweck der
Verwandlung der Welt“.340 Er vervollständigt: „Dialog als Begegnung zwischen
Menschen zur ‚Benennung‘ der Welt ist eine grundlegende Voraussetzung
ihrer wahren Humanisierung“.341 Diese dialogische Begegnung charakterisiert
Paulo Freire als „eine horizontale Beziehung zwischen Personen“, bzw. eine
„Beziehung der ‚Empathie’ zwischen zwei ‚Polen’, die auf einer gemeinsamen
Suche sind“ und die „Liebe, Hoffnung und gegenseitiges Vertrauen“
miteinander verbindet. Der Dialog wird durch „Liebe, Bescheidenheit,
Hoffnung, Glauben und Vertrauen“ gebildet.342 An anderer Stelle fügt Paulo
Freire hinzu: „Liebe ist zugleich die Begründung des Dialogs und der Dialog
selbst“.343
337 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 76. 338 vgl. Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 57. 339 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 72. 340 vgl. ebd., S. 109. 341 ebd., S. 116. 342 vgl. Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 50. 343 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 73.
88
3.3.14 Gegenstimmen
Das Werk Paulo Freies erhielt Kritik aus vielen Richtungen, wie Heinz-
Elmar Tenorth erklärt. Den Konservativen behagte sein revolutionärer Entwurf
selbstverständlich nicht, der ihnen „demagogisch und utopisch“ erschien. So
manche Marxisten wandten sich gegen die christlichen Grundgedanken in
seiner Theorie und hielten seine „Konzipierung des Alltagsbewußtseins für zu
idealistisch“. Von feministischer Seite wurde beanstandet, dass Paulo Freire
die einschneidenden Ungleichheiten der Unterdrückungsformen bei den
Geschlechtern und deren Auswirkungen nicht in seine Theorie miteinbezogen
hat. Weiters kritisiert wurde, dass er „(…) eine sexistische Sprache, ein
patriarchales Verständnis von Revolution und Subjektivität habe und
rassistische und ethnizistische Herrschaftsformen nicht berücksichtige“. Die
Postmodernisten verwiesen auf den Widerspruch zwischen seiner Annahme
der „(…) Geschichtlichkeit und Kontingenz gesellschaftlicher Formationen und
seiner Vision der Befreiung als einer universellen menschlichen Aufgabe“. 344
Volker Lenhart und Martina Maier führten Probleme bei der Umsetzung
seiner Prinzipien in die Praxis an und kritisierten, dass:
- die Aussagen über Ziele der Befreiung und der Bewußtseinsbildung vage und ungenau sind; sie entwickeln sich, so Freire, erst während der Alphabetisierung; der Prozeß wird somit leicht manipulierbar;
- die gesellschaftstheoretische Fixierung des Konzepts klare Zuordnungen (Unterdrücker-Unterdrückte) postuliert, die nicht nur notwendig politische Wertungen voraussetzen, sondern in manchen konkreten gesellschaftlichen Kontexten nicht eindeutig vorgenommen werden können;
- für eine Umsetzung in großangelegten Projekte (sic!-G.G.) die nötigen Richtlinien fehlen;
- eine Übertragung in andere Entwicklungsländer schwierig ist, da sich die Durchführung und Organisation sehr aufwendig und anspruchsvoll gestaltet;
- keinerlei Kriterien zur Evaluierung der Programme geboten werden;345
Getreu seinem dialogischen Prinzip setzte sich Paulo Freire mit kritischen
Stimmen (meist an seinen frühen Werken) auseinander, war bemüht um
bessere Verständlichkeit, klärte und änderte politische und ideologische
Standpunkte und wies seine Kritikerinnen und Kritiker immer wieder darauf
hin, die Evolution in seinem Denken wahrzunehmen und anzuerkennen.346
344 vgl. McLaren, Peter; De Lissovoy, Noah: Paulo Freire, in: Tenorth, Heinz-Elmar 2003, S. 224f. 345Lenhart, Volker; Maier, Martina: Erwachsenenbildung und Alphabetisierung, in: Tippelt, Rudolf 1994, S. 488. 346 vgl. Kane, Liam: Popular Education 2001, S. 50.
89
4. EUROPA
Paulo Freire hat lange Jahre in Genf gelebt. Er schrieb über die Situation in
Europa:
Der Begriff der Dritten Welt, ich habe es immer wieder gesagt, ist kein geographischer. Die Dritte Welt ist die der Abhängigkeit, des Schweigens, und die Beziehung zwischen der Ersten und der Dritten Welt ist eine dialektische: Es gibt eine Dritte Welt innerhalb der Ersten so gut wie die Erste Welt innerhalb der Dritten. Es ist sehr leicht, die Dritte Welt in Europa zu finden!347
Seine Bildungstheorie war besonders ab den 70er und 80er Jahren auch in
Europa voll inspirierender Wirkung. Ihr Einfluss auf die Alphabetisierung und
Grundbildung verringerte sich jedoch immer mehr und heutzutage überwiegen
deutlich funktionalistisch ausgerichtete Alphabetisierungsansätze. Wie es zu
dieser Veränderung kam und wie sich die Alphabetisierung und Grundbildung
in Europa348 ab den 70er Jahren bis heute entwickelt hat, wird auf folgenden
Seiten näher ausgeführt.
4.1 Alphabetisierung und Grundbildung in Europa
Es dauerte lange Zeit, bis in einigen westeuropäischen Ländern erstmals
sichtbar wurde, dass die Annahme unrichtig war, Unkenntnis oder gravierende
Wissenslücken im Bereich Lesen, Schreiben und Rechnen würden nur in den
armen Ländern des Südens existieren und innerhalb der Industrieländer
ausschließlich bei Menschen mit Migrationshintergrund und sozialen
Randgruppen zutreffen. Jahrelange Schulbildung verhindert zwar die
Unkenntnis, garantiert aber nicht die Vermittlung ausreichender Fähigkeiten
und Kenntnisse im Umgang mit den Wörtern und Zahlen. Das zeigen die in
den letzten Jahren durchgeführten internationalen Bildungsstudien (PISA,
IALS, ALL) aufs deutlichste.
Nunmehr werden europaweit Konferenzen und Tagungen im Rahmen der
Zielsetzungen des UN-Bildungsprogramms „Education for All“ und der
Alphabetisierungsdekade (2003–2012) abgehalten, die jeweilige Bevölkerung
durch mediale Präsenz auf die Situation von Menschen mit großen
Schwierigkeiten im Schriftsprachbereich aufmerksam gemacht und vielerorts
Kurse für unterschiedliche Gruppen organisiert.
347 Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 136. 348 Deutschland, die Niederlande und Großbritannien werden als Beispiele vorgestellt.
90
Warum geschieht das alles? Die wechselnden und anwachsenden
Anforderungen im privaten und beruflichen Leben machen gute Schriftsprach-
und Grundbildungskenntnisse für Erwachsene in den Industrieländern
unentbehrlich. So können berufliche Weiterbildungen oder Umschulungen
enorme Hürden für Menschen mit Schriftsprachproblemen bedeuten und eine
vollständige Wiederholung oder Auffrischung der Lese- und Schreibkenntnisse
unumgänglich machen.
Zugleich führen die Bestrebungen Europas zur Wissensgesellschaft
heranzureifen, die bescheidenen Erfolge für etliche Teilnehmerinnen und
Teilnehmer bei den Studien im Ländervergleich und die hohen Kosten, die
durch Bildungsmängel für die Gesellschaft entstehen, immer mehr Staaten
dazu, verstärkt Bildungsinitiativen für Kinder und Erwachsene zu fördern. So
führt beispielsweise der Anstieg der technologischen Anforderungen durch die
Kommunikations- und Informationssysteme in den 90er Jahren auch in
Europa zu einer permanent sich vergrößernden digitalen Kluft (digital divide).
Diese Kluft, die sich weltweit öffnet zwischen technologisch alphabetisierten
und technologisch nicht alphabetisierten Menschen, wird nach den Worten von
Josef Müller „(...) für Entwicklungsländer zunehmend zum Existenz-
problem“.349 Werner Mauch sieht hier die Aufgabe Europas folgendermaßen:
Die Herausforderung für Europa sei demnach, eine Wissens-gesellschaft zu werden, ohne dass (intern) Randgruppen den Anschluss verlieren und ohne (extern) die Wissenskluft, die zwischen der industrialisierten Welt und den armen Ländern bestehe, zu vergrößern.350
4.1.1 Quantitative Erhebungen
Das Europäische Parlament nahm vor der EU-Erweiterung an, dass in den
Mitgliedsländern 10-20% der Bürgerinnen und Bürger und bei den
Beitrittsländern bis zu 30% der Bevölkerung
(...) unfähig sind, die für das Funktionieren in der Gesellschaft und das Erreichen ihrer Ziele, Vervollständigung ihrer Kenntnisse und
349 vgl. Müller, Josef: Jomtien nach Dakar, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 22. 350 Mauch, Werner: Bildung für alle, in: ÖFSE 2006, S. 14. (Homepage) URL: www.oefse.at/Downloads/veranstaltungen/Tagungsdoku_Bildung_fur_Alle_30_03_2006.pdf (24.07.2006).
91
Steigerung ihres Potenzials erforderlichen Drucksachen und Schriftstücke zu verstehen und zu verwenden (...).351
Das wären in Zahlen ca. „(...) 37-74 Millionen von 370 Millionen
Menschen. In den 25 Mitgliedsstaaten der EU mit 450 Millionen Einwohnern
schätzen ExpertInnen sogar eine Rate bis zu 30%“,352 also ca. 135 Millionen
Menschen.
Im Rahmen der „Education for All“ Initiative wird im Weltbildungsbericht
(2006) den europäischen Staaten die vollständige oder beinahe vollständige
EFA-Zielerreichung bestätigt. Werner Mauch erinnert allerdings daran, dass
für diese Angaben bis auf wenige Länder wie „Griechenland, Israel, Malta,
Spanien und Zypern“ die Zahlenangaben zur Alphabetisierung fehlen und
entgegnet: “Es lassen sich somit derzeit praktisch keine einigermaßen validen
Aussagen über die tatsächlichen Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten der
Erwachsenen in den meisten europäischen Ländern treffen“.353
In Spanien werden die Erhebungen zur Schriftsprachlichkeit und
Schulbildung der Bevölkerung gemeinsam mit den Wahlen durchgeführt.
„Demnach gibt es in Spanien 1.200.000 absolute Analphabeten und acht bis
neun Millionen funktionale Analphabeten“, berichtet Marion Döbert.354 Von 4
Millionen Deutschen über 15 Jahren wird angenommen, dass sie große
Schwierigkeiten mit der Schrift haben.355 Der Moser Report erhob für England
folgendes Ergebnis:
Some 7 million adults in England – one in five adults – if given the alphabetical index to the Yellow Pages, cannot locate the page reference for plumbers. [...] It means that one in five adults has less literacy than is expected of an 11-year-old child.356
351 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften: Analphabetismus und soziale Ausgrenzung, 07.02.2002, S. C284E/344. (Homepage) URL: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/oj/2002/ce284/ce28420021121de03430346.pdf (09.06.2008). 352 vgl. Österreichische UNESCO-Kommission. (Homepage) URL: www.unesco.at/user/programme/bildung/alphabetisierung.htm (13.07.2006). 353 Mauch, Werner: Bildung für alle, in: ÖFSE 2006, S. 13. (Homepage) URL: www.oefse.at/Downloads/veranstaltungen/Tagungsdoku_Bildung_fur_Alle_30_03_2006.pdf (24.07.2006). 354 Döbert, Marion: Spanische Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit, in: ALFA-FORUM, Jg. 14, 45/2000, S. 8. 355 vgl. Hubertus, Peter: Funktionaler Analphabetismus, in: Doberer-Bey, Antje 2006, S. 19. 356 Moser Report, zit. in: Rath, Otto 35/2002, S. 70.
92
4.2 Internationale Studien
Mehrere Staaten haben im Rahmen ihrer Schul- und Erwachsenenbildung
nationale Untersuchungen durchgeführt und sich an länderübergreifenden
Studien beteiligt. Vergleichbare Daten zum funktionalen Analphabetismus sind
allerdings noch ausständig. Für diese Arbeit wurden daher drei internationale
Bildungsstudien ausgewählt, die keine Datenanalyse über den funktionalen
Analphabetismus beabsichtigen und ermöglichen, aber dennoch für die
Alphabetisierung und Grundbildung von großer Bedeutung sind.
4.2.1 Programme for International Student Assessment (PISA)
Die OECD Studie Programme for International Student Assessment
(PISA) begann ab dem Jahr 1997 alle 3 Jahre den Leistungsstand von 15 bis
16 jährigen Schülerinnen und Schülern in den Teilnehmerländern zu erheben,
um auf diese Weise die nationalen Bildungssysteme auf internationaler Ebene
vergleichbar zu machen. Die Leistungsergebnisse sollen die teilnehmenden
Länder darüber informieren, „(...) ob ihre Bildungssysteme in ausreichendem
Maß gewährleisten, dass sich Kinder und Jugendliche Schlüsselqualifikationen
in den für das berufliche und gesellschaftliche Leben als Erwachsene
relevanten Bereichen aneignen können“.357
An allen Schultypen der Teilnehmerländer werden die Grundkompetenzen
in den Bereichen Lesen (reading literacy), Mathematik (mathematical literacy)
und Naturwissenschaften (scientific literacy; Physik, Chemie, Biologie,
Erdwissenschaft)358 getestet. Im Jahr 2000 lag das Hauptaugenmerk auf dem
Lesen, 2003 auf der Mathematik und 2006 auf den Naturwissenschaften.
Daneben werden auch mögliche Einflussfaktoren auf die Leistungsergebnisse
erforscht: Den „sozioökonomischen Hintergrund“ und „emotionale Faktoren“
der Schülerinnen und Schüler „(...) wie etwa Freude, Interesse am
Gegenstand oder Angst vor einem Unterrichtsfach oder die Einschätzung, ob
das in der Schule Gelernte nützlich für mich ist?“, des Weiteren „die
Bildungsausgaben eines Landes“ und „die Qualität der Ausbildung der
unterrichtenden Lehrer/innen“.359
357 vgl. Bundesministerium: PISA. (Homepage) URL: www.bmukk.gv.at/schulen/schubf/se/pisa.xml (10.06.2008). 358 2003 wurde zusätzlich das Problemlösen (problem soving) getestet, welches bei späteren PISA Erhebungen keinen eigenen Bereich mehr darstellen wird. 359 vgl. Bundesministerium: PISA. (Homepage) URL: www.bmukk.gv.at/schulen/schubf/se/pisa.xml (10.06.2008).
93
PISA 2003 brachte für die „literacy skills“ der Jugendlichen folgendes
Ergebnis: „In eight out of the twenty-six high-income countries and territories
participating, 20% or more of the 15-year-old students performed at level 1
or below“.360 Getestet werden nicht nur die Leistungen der Schülerinnen und
Schüler aus den genannten Unterrichtsfächern, sondern fächerübergreifende
Grundkompetenzen nach dem literacy-Konzept.361 Die Ergebnisse der PISA
Studie für Österreich werden im sechsten Kapitel angegeben.
Nachstehende Tabelle zeigt die Entwicklung zwischen 2000 und 2003 für
den Bereich Lesen auf der untersten Leistungsstufe 1 und darunter:
Abbild 3: Evolution of PISA results between 2000 and 2003: reading.
4.2.2 International Adult Literacy Survey (IALS)
Die International Adult Literacy Survey (IALS) der OECD testete das
Leseverständnis von Texten (Prose literacy), von schematischen Abbildungen
(Document literacy) und die Rechenkenntnisse (Quantitative literacy) der
Durchschnittsbevölkerung (16 bis 65 Jahre) aus insgesamt 20 Ländern.362
Prose literacy: the knowledge and skills needed to understand and use information from texts including editorials, news stories, poems and fiction.
360 UNESCO: Education for All Global Monitoring Report 2006, S. 59. (Homepage) URL: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-URL_ID=43283&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (09.08.2006). 361 Siehe dazu „literacy-Konzept“ im 1. Kapitel auf S. 30. 362 Nicht befragt wurden Behinderte, Patienten in Spitälern und Strafgefangene.
94
Document literacy: the knowledge and skills required to locate and use information contained in various formats, including job applications, payroll forms, transportation schedules, maps, tables and charts.
Quantitative literacy: the knowledge and skills required to apply arithmetic operations, either alone or sequentially, to numbers embedded in printed materials, such as balancing a chequebook, figuring out a tip, completing an order form or determining the amount of interest on a loan from an advertisement.363
In der IALS-Studie heißt es: „Literacy is defined as the ability to
understand and employ printed information in daily activities, at home, at
work and in the community – to achieve one’s goals, and to develop one’s
knowledge and potential.“364 Die Ergebnisse der Untersuchungen wurden in
fünf aufsteigende Niveaus eingeteilt, wobei die untersten Stufen für das Lesen
bedeuten:
Level 1 indicates persons with very poor skills, where the individual may, for example, be unable to determine the correct amount of medicine to give a child from information printed on the package.
Level 2 respondents can deal only with material that is simple, clearly laid out, and in which the tasks involved are not too complex.(...). It identifies people who can read, but test poorly. They may have developed coping skills to manage everyday literacy demands, but their low level of proficiency makes it difficult for them to face novel demands, such as learning new job skills.365
Erst ab der Stufe 3 wird vom Vorhandensein von Minimalfertigkeiten für
die Bewältigung der Anforderungen aus dem Alltags- und Berufsleben
ausgegangen. Die IALS-Untersuchung macht deutlich, dass ausnahmslos in
allen teilnehmenden Ländern eine hohe Anzahl von Personen sehr geringe
Leseleistungen aufweisen. Selbst in Schweden, wo die höchsten Werte (32%)
auf der Stufe 4/5 im Bereich „Prose literacy“ erzielt wurden, erreichten 28%
der Erwachsenen nur die Kompetenzstufe 1 oder 2.366 In Deutschland
befanden sich 1995 14,4% der Erwachsenen auf dem Level 1 und 34,2% auf
der Stufe 2 beim Leseverständnis von Prosatexten.367
Ziel der von 1994 bis 1998 durchgeführten IALS-Studie war es außerdem,
Einflussfaktoren auf die „literacy skills“ aufzuzeigen. „The report found that a
363 Human Resources Canada: IALS-Literacy in the Information Age. (Homepage) URL: www.hrsdc.gc.ca/en/hip/lld/nls/Surveys/ialsfrh.shtml (06.09.2006). 364 ebd. 365 ebd. 366 vgl. ebd. 367 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 31.
95
person’s socio-economic background, educational attainment and labour force
experience are just some of the factors influencing literacy skills“.368
4.2.3 Adult Literacy and Lifeskills Survey (ALL)
Die Adult Literacy and Lifeskills Survey (ALL) der OECD ist die
Nachfolgestudie der IALS. Geplant und durchgeführt wurde sie zwischen 2000
und 2004. In sechs Ländern369 (Schweiz, Norwegen, Italien, Kanada, die
Vereinigten Staaten und Bermudas) wurden die Grundfertigkeiten der
Erwachsenen (16 bis 65 Jahre) in folgenden Bereichen erhoben: die
Lesekompetenz von Texten und schematischen Abbildungen, die Kenntnisse
im Alltagsrechnen und die Problemlösefähigkeit. Weitere fünf Staaten
(Ungarn, die Niederlande, Australien, Neuseeland und Südkorea) haben für
die nächste Testreihe ihr Interesse bekundet.
Länderübergreifend bestätigte sich, dass die Ausbildung, das Alter und die
Herkunft der Personen einen wichtigen Einfluss auf die Grundkompetenzen
Erwachsener ausüben.370 Die Befragung erfolgt durch Interviews. Die
Aufgaben bestehen aus alltagsbezogenen „Stimuli“ (Gebrauchsanweisung,
Mietvertrag, Werbeprospekt, ...) mit dazugehörenden Fragestellungen. Diese
werden von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern schriftlich beantwortet und
in Leistungsstufen entsprechend der IALS-Studie ausgewertet.371 Von den
Teilnehmenden aus der Schweiz verblieben beim Leseverständnis von Texten
ca. 16% auf dem niedrigsten Kompetenzniveau und 36% auf der nächst-
höheren Stufe 2.372
Bislang wurde durch Studien häufig nur die Lesekompetenz, nicht aber die
Schriftsprachbeherrschung der teilnehmenden Personen erhoben. Marion
Döbert und Peter Hubertus weisen darauf hin, dass die Anzahl der Menschen
mit akzeptablen Lesefertigkeiten jedoch enormen Schwierigkeiten im
Schreiben ungleich höher ist als die Zahl der Erwachsenen mit Problemen im
Lesen und im Schreiben. 373
368 Human Resources Canada: IALS-Literacy in the Information Age. (Homepage) URL: www.hrsdc.gc.ca/en/hip/lld/nls/Surveys/ialsfrh.shtml (06.09.2006). 369 Die Vertreter Österreichs ließen eine Machbarkeitsstudie erstellen, entschieden sich aber letztendlich gegen eine Teilnahme. 370vgl. Bundesamt für Statistik:Grundkompetenzen 2005, S. 5. (Homepage) URL: www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/dienstleistungen/publikationen_statistik/publikationskatalog.Document.61993.html (12.06.2006). 371 vgl. ebd., S. 8. 372 vgl. ibw-Bildung & Wirtschaft: Strukturwandel–Bildung–Employability, S. 18. (Homepage) URL: www.ibw.at/html/buw/BW34.pdf (05.09.2006). 373 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 32.
96
4.3 Die Anfänge der Alphabetisierung und Grundbildung
Bemerkt wurde funktionaler Analphabetismus während des 2. Weltkriegs
zunächst in den USA als Ursache von vorerst unerklärlichen Misserfolgen des
Militärs, nachdem schriftliche Befehle von einigen Soldaten nicht verstanden
wurden. In Europa wurde das Thema ab den späten 60er Jahren (Irland) und
vielfach ab den 70er Jahren (Deutschland) diskutiert.374 Häufig waren die
Ergebnisse nationaler Untersuchungen ein Indiz für bestehende Schriftsprach-
mängel in der Gesellschaft. Verschiedene Staaten wie Irland, Großbritannien
und die Niederlande begannen erste Kurse anzubieten. Im deutschsprachigen
Raum war Deutschland das erste Land, das 1978 mit Maßnahmen begann.
1984 gab es in der Schweiz erste Alphabetisierungskurse. Verglichen dazu
sehr spät kam es erst 1990, nach einzelnen eher erfolglosen Versuchen in den
80er Jahren, in Österreich zur Konzeptentwicklung für Alphabetisierungs- und
Basisbildungsangebote. Der erste Kurs startete 1991 in Wien.
Ausgehend von der Überzeugung, die allgemeine Schulpflicht gewährleiste
in den westlichen Industrieländern ohnehin die notwendigen Schriftsprach-
kompetenzen, war es zunächst mehr als verwunderlich, als die Nachfrage
nach Angeboten für das (Wieder-)Lernen von Lesen, Schreiben, Rechnen und
von PC-Kenntnissen anstieg. Wie kam es zu diesem vermehrten Lerninteresse
der Jugendlichen und Erwachsenen? Die allgemein höhere Bildungsbeteiligung
und die veränderten Anforderungen an die berufliche Qualifikation einerseits,
sowie die mit der strukturellen Arbeitslosigkeit einhergehende erhöhte
Arbeitsmarktkonkurrenz veranlassten Menschen, die bisher auch ohne
ausreichende Schriftsprachkenntnisse ihr Leben erfolgreich meisterten, ihre
Lernbedürfnisse an die jeweiligen Privatinitiativen und staatlichen
Einrichtungen der Erwachsenenbildung heranzutragen. Sie waren zunehmend
die Betroffenen, die, wie Hannelore Bastian bemerkt, durch technologische
Entwicklungen aus dem Arbeitsmarkt verdrängt wurden:
Somit waren es nicht deren fundamentale Bildungsdefizite und die daraus folgenden Beeinträchtigungen von Persönlichkeitsentfaltung und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, sondern die veränderten ökonomischen Bedingungen, die der Erwachsenenbildung eine neue Zielgruppe und Aufgabe zuführten.375
In der Tat war es bis zu den 70er Jahren noch wesentlich leichter auch
374 vgl. Rath, Otto: Funktionaler Analphabetismus, in: ISOTOPIA, 35/2002, S. 72f. 375 Bastian, Hannelore: Vorbemerkungen, in: Tröster, Monika 2002, S. 5.
97
ohne Schulabschluß ins Berufsleben einzusteigen, da genügend Arbeitsplätze
zu finden waren, die Lesen und Schreiben nicht generell erforderlich machten.
Durch die Einführung neuer Technologien wurden damals viele dieser
Arbeitsplätze wegrationalisiert. Zahlreiche ungelernte Arbeiterinnen und
Arbeiter verloren ihre Stelle, weil sie nicht an Maschinen eingeschult werden
konnten, die Lesen und/oder Schreiben erforderlich machten. Sie konnten
aufgrund ihres Handikaps an keinen Umschulungen oder Qualifizierungs-
maßnahmen teilnehmen.376 So werden mittlerweile selbst im Bereich der
Hilfstätigkeiten fast ausschließlich Arbeitsplätze angeboten, die eine
entsprechende Schriftsprachkompetenz und vorhandene Computerkenntnisse
voraussetzen. Ein Lernender berichtet von seinen Erfahrungen mit dieser
Entwicklung:
Besonders in den letzten fünf bis sechs Jahren wurde es für mich am Arbeitsmarkt immer schwieriger, weil überall Computer eingesetzt wurden. Früher hat dich niemand gefragt, ob du lesen oder schreiben kannst. Vor 35 Jahren, da hat dich keiner gefragt!377
4.4 Alphabetisierung und Grundbildung bis dato
Es gibt sehr unterschiedliche Entwicklungen in Europa.378 In manchen
Ländern, wie z.B. in den Niederlanden, Großbritannien und Belgien, wird
Grundbildung staatlich finanziert. Die Trainerinnen und Trainer durchlaufen
qualifizierende Ausbildungsgänge, absolvieren verbindliche Fortbildungen und
stehen häufig in sozial abgesicherten Beschäftigungsverhältnissen.
In Deutschland sind diese Bedingungen nicht uneingeschränkt gegeben.
Trotz einer fast 30-jährigen Alphabetisierungs-Tradition fehlt nach wie vor ein
flächendeckendes Kursangebot inklusive gesicherter Finanzierung. Derzeit
nehmen jährlich ungefähr „20.000 Erwachsene“ an Lese- und Schreibkursen
teil, die vom „(…) Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie von
den entsprechenden Ministerien der Länder finanziert werden“.379 Jedes
einzelne der Zentren (meist der Volkshochschule) muss für die Finanzierung
376 vgl. Döbert, Marion: Schriftsprachunkundigkeit, in: Eicher, Thomas 1997, S. 117. 377 B., Heinrich: Vor 35 Jahren, da hat dich keiner gefragt!, in: Karahasan, Dževad; Reithofer, Robert; Kerschbaumer, Gertrud 2005, S. 150. 378 Mehr Länder und detaillierte Informationen dazu in: ALFA-FORUM 43/2000; ALFA-FORUM 45/2000; Kleine DIE-Länderberichte des deutschen Instituts für Erwachsenen-bildung (Homepage) URL: www.die-bonn.de/esprid/dokumente/doc-2005/troester05_03.pdf. 379 vgl Deutsche UNESCO-Kommission: Bildung für Alle, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 173.
98
der Kurse selbst aufkommen und ist dabei von den lokalen Behörden
abhängig, weshalb nicht in allen Landesteilen genügend Kursangebote zur
Verfügung stehen. „Es gibt keinen ausdrücklichen Plan oder gar eine
Strategie, um dem funktionalen Analphabetismus in Deutschland zu
begegnen, sondern zahlreiche unterschiedliche Ansätze“, berichtet die
Deutsche UNESCO-Kommission.380
Es existiert auch keine nationale Agentur für die Alphabetisierung. Eine
stärkere Institutionalisierung und Professionalisierung im Rahmen der
Ausbildungsgänge und Organisationen wurde ebenso wiederholt gefordert.381
Der deutsche Bundesverband Alphabetisierung382 geht von 4 Millonen
„(funktionalen) Analphabeten“ (über 15 Jahre) aus, das sind etwa 6,3%.383
Nach den Ergebnissen der IALS-Studie (1995) erreichen 14,4% Erwachsene
(über 15 Jahre), d.h. ca. 7,7 Millionen Menschen nur die niedrigste Stufe der
Lesekompetenz. Erst die PISA-Studie fand großes bildungspolitisches Echo,
nachdem deren Ergebnisse erkennen ließen, dass in Deutschland „ein Viertel
der Schüler die Schule ohne ausreichende Grundbildung verlässt“.384
Viele Projekte wurden vom Bundesverband Alphabetisierung initiiert, die
den Bekanntheitsgrad der Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland
enorm steigern konnten. Beispiele dafür sind: das bundesweite ALFA-
TELEFON, dass mittels einer Kampagne durch TV-Spots, Zeitungen und Kino
beworben wurde; das Projekt APOLL (Alfa-Portal Literacy Learning), eine freie
Lernplattform im Internet; das Projekt F.A.N. (Fußball.Alphabetisierung.
Netzwerk), wobei im Zuge der Fußballweltmeisterschaft 2006 eine sechsteilige
TV-Serie, inklusive leicht lesbarer Lektüren und Sachtexte entwickelt wurde;
das Projekt ALFA-MOBIL, um in Regionen mit einer geringen Anzahl von
Alphabetisierungskursen Informationen und Schulungen für die Lernplattform
anzubieten, usw.385 Ferner werden in Deutschland regelmäßig Fachtagungen,
380 Deutsche UNESCO-Kommission: Bildung für Alle, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 173. 381 vgl. Tröster, Monika: Deutschland, in: Kleine DIE-Länderberichte (Homepage) URL: www.die-bonn.de/esprid/dokumente/doc-2005/troester05_03.pdf (20.08.2007). 382 Der Bundesverband Alphabetisierung ist eine Gemeinschaft von Privatleuten, Instituten und Vereinigungen, die keinerlei öffentliche Mittel erhält. 383 vgl. Hubertus, Peter: Funktionaler Analphabetismus, in: Doberer-Bey, Antje 2006, S. 19. 384 vgl. Tröster, Monika: Deutschland, in: Kleine DIE-Länderberichte (Homepage) URL: www.die-bonn.de/esprid/dokumente/doc-2005/troester05_03.pdf (20.08.2007). 385 vgl. Hubertus, Peter: Funktionaler Analphabetismus, in: Doberer-Bey, Antje 2006, S. 21.
99
Ausstellungen, Vorträge und Fortbildungsveranstaltungen durchgeführt sowie
Unterrichtsmaterialien, Fachliteratur und –zeitschriften angeboten.386
Peter Hubertus und Sven Nickel machen für die deutsche
Alphabetisierungsarbeit auf eine historische Entwicklung aufmerksam, die
auch für einige andere europäische Länder zutreffen dürfte:
Seit Beginn der Erwachsenen-Alphabetisierung vor etwa 20 Jahren hat sich das Selbstverständnis und die Zielsetzung verändert: Standen zunächst Emanzipation und Befreiung im Sinne Paulo Freires (1973) im Mittelpunkt, gewann zunehmend die soziale Partizipation und später die Integration in die Arbeitswelt an Bedeutung. Heute wird weit mehr die wirtschaftliche Notwendigkeit von Grundbildung betont.387
Ein kritischer Bericht von Kees Hammink beschreibt diese Entwicklung in
den Niederlanden. In den Anfängen, Mitte der 70er Jahre, orientierten sich
die vorwiegend durch Freiwilligen- und Gemeinwesenarbeit außerhalb von
Erwachsenenbildungseinrichtungen entstandenen Alphabetisierungsprojekte
an den „soziale(n) und politische(n) Lebensbedingungen“ und den „Interessen
der Lernenden“. Die theoretische Basis für ihr Arbeit bildete Paulo Freires
Ansatz: „Alphabetisierung als Weg zu Emanzipation und Befreiung“.388 Die
Alphabetisierung wurde zunehmend mehr formalisiert und von ausgebildeten
Lehrenden in institutionalisiertem Rahmen organisiert. Die Finanzierung
übernahm die Regierung, wodurch immer stärker der „regierungsunabhängige
und freiwillige Charakter der Alphabetisierungsbewegung“ entschwand.389
Aufgrund der stetigen Institutionalisierung, Professionalisierung und der
Übernahme der Verantwortung durch die Regierung und die Gemeinden
vollzog sich ein Wandel von einem eher „ideologisch geprägten Ansatz hin zu
einem funktional ausgerichteten“.390 Die Zielrichtung verschob sich zunächst
auf „sozialer Partizipation“ anstatt „Emanzipation und Befreiung“ und bis
heute, wegen der sich zuspitzenden Situation am Arbeitsmarkt in den frühen
90er Jahren, auf die „Partizipation an der Arbeitswelt“. Die Lernenden werden
nicht mehr mit „‘arm‘, ‘bildungsbenachteiligt‘ und ‚marginalisiert‘“
charakterisiert, sondern es wird von „Risikogruppen, Drop-Outs und
386 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 143; vgl. Bundesverband Alphabetisierung. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.de. 387 Hubertus, Peter; Nickel, Sven: „Alphabetisierung von Erwachsenen“, in: Didaktik der deutschen Sprache – ein Handbuch, S. 8. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.de/fileadmin/files/Dateien/Downloads_Texte/Handbuch_Didaktik_der_deutschen_Sprache.pdf (13.05.2007). 388 vgl. Hammink, Kees: Alphabetisierung, in: ALFA-FORUM, Jg. 14, 45/2000, S. 16. 389 vgl. ebd. 390 vgl. ebd., S. 17.
100
Langzeitarbeitslosen“ gesprochen, wodurch die „wirtschaftliche Notwendigkeit
von Grundbildung“ deutlich unterstrichen wird. Die zu erwerbenden
Qualifikationen werden nunmehr curricular durch die finanzierenden
Einrichtungen vorgegeben und die persönlichen Vorteile der Lernenden sowie
emanzipatorische Aspekte rückten weitgehend in den Hintergrund.391 Kees
Hammink fasst diese Entwicklung wie folgt zusammen:
Modulsysteme, Zertifikate, Berufs- und Arbeitsmarktorientierung, curriculare Vorgaben und Einbindung in riesige Bildungszentren führten zwar dazu, dass man den Alphabetisierungsbereich heute als professionalisierter bezeichnen kann. Was wir jedoch immer mehr verloren haben ● ist der Blick auf den einzelnen Menschen und sein Recht auf Lesen
und Schreiben und Selbstverwirklichung, ● die Gruppe als Erfahrungs-, Selbsthilfe- und Begegnungsraum, ● das freie, fantasiegeleitete Schreiben von Geschichten ● und bei aller Betonung von Funktionalität die politische Bedeutung
der Alphabetisierung und Grundbildung.392
In Großbritannien gab es Anfang der 70er Jahre die erste Kampagne von
freiwilligen Aktivisten.393 Im Jahre 1975 wurde die „Basic Skills Agency“
(BSA), als nationale Einrichtung der Erwachsenenalphabetisierung eingesetzt.
Laut IALS-Studie haben 6 Millionen Menschen in diesem Land große Probleme
mit dem Lesen, Schreiben und Rechnen. Die Regierung ordnete in den späten
80er Jahren ein „Rahmenkonzept für Erwachsenengrundbildung“ an, welches
„Standards und Bewertungskriterien für grundlegende Fertigkeiten“
beinhaltet, die laufend weiter entwickelt werden.394 Bereits 1992 wurde die
Erwachsenengrundbildung als Bereich der Weiterbildung in England und Wales
gesetzlich anerkannt. Im Rahmen der „nationalen Literarisierungsstrategie
(National Literacy Strategy)“ wurde 1999 eine Studie durchgeführt (Moser
Report)395, woraus die nationale Regierungsstrategie „Skills for Life“
resultierte.
Grundbildung am Arbeitsplatz wird in Großbritannien stark von den
Gewerkschaften unterstützt. Lange Zeit überwogen wirtschaftliche Motive. Die
391 vgl. Hammink, Kees: Alphabetisierung, in: ALFA-FORUM, Jg. 14, 45/2000, S. 17. 392 ebd. 393 Bis heute arbeiten die Lehrenden in Großbritannien meist in Teilzeitstellen oder auf freiwilliger Basis. 394 Dieses Rahmenkonzept ist auf ein einheitliches System nationaler beruflicher Qualifikationen (National Vocational Qualifications, NVQs) abgestimmt, einem Teilbereich der nationalen Trainingsziele und Qualitätsstandards. 395 vgl. Hamilton, Mary: Erwachsenenalphabetisierung in England, in: ALFA-FORUM, Jg. 14, 43/2000, S. 20.
101
für den internationalen Wettbewerb qualifizierte „fähige Arbeitskraft“ und
nicht der „mündige Bürger“ stand im Zentrum. Mary Hamilton merkt an, dass
die Besorgnis um die Folgen des sozialen Ausschlusses in Großbritannien
zunimmt. Sie bezieht sich dabei auf das „Konzept des sozialen Ausschlusses“,
welches auf eine Gesellschaft hinweist, „(…) die gefährdet wird durch eine
besitzlose Minderheit, die systematisch ausgeschlossen ist nicht allein von
guten Berufen, sondern auch von der Teilnahme an dem Leben in ihrer
Gemeinschaft“.396 Womit sich der Kreis schließt und wir wieder bei den
Eingangs zitierten Worten von Paulo Freire angekommen wären.
396 vgl. Hamilton, Mary: Erwachsenenalphabetisierung in England, in: ALFA-FORUM, Jg. 14, 43/2000, S. 21.
102
5. BILDUNGSPOLITIK IN EUROPA
Während der „48. Salzburger Gespräche für Leiterinnen und Leiter in der
Erwachsenenbildung“, mit dem Titel „Erwachsenenbildung - Eine Zumutung?
Kritische Zugänge zum lebenslangen Lernen“, zitierte Sonja Muckenhuber
einen Teilnehmer eines Grundbildungskurses, der erklärte:
„Lebenslanges Lernen ist schon eine Zumutung, nämlich für die, die nicht daran teilnehmen können, weil ihnen die Voraussetzungen dazu fehlen. So wird der Abstand zwischen den Gebildeten und den Ungebildeten immer größer“.397
Bildung ist eine wesentliche Ressource, um wirtschaftliche, technologische
und gesellschaftliche Veränderungen meistern zu können. Dieses Kapitel ist
daher der Bildung und der aktuellen Bildungspolitik in Europa gewidmet.398
5.1 Bildungspolitik der Europäischen Union
Es war im März 2000, als die Staats- und Regierungsverantwortlichen der
EU Staaten beim Ratstreffen in Lissabon den Beschluss fassten, bis 2010 die
Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissens-basierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen – einem Wirtschafts-raum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammen-halt zu erzielen.399
Eine „wissensbasierte Gesellschaft“ mit Hilfe von Konzepten wie das
„Lebenslange Lernen“ zu schaffen, ist die Vision der Europäischen Union.
Bildung wird als wichtiger „Produktivitätsfaktor“ gesehen, der in erster Linie
das Wirtschaftswachstum beschleunigen und die internationale Wettbewerbs-
fähigkeit erhöhen soll. Sie wird, aus ökonomischer Perspektive, verkürzt auf
„employability, d.h. auf die Herstellung und Aufrechterhaltung von
individueller Erwerbsfähigkeit und Beschäftigbarkeit.400 Neuere Mitteilungen
397 Claus, zit. in: Duschl, Leander; Muckenhuber, Sonja, S. 81. (Homepage) URL: http://files.adulteducation.at/voev_content/207-report_sbg48.pdf (01.09.2007). 398 Zunächst wollte ich der Fragestellung nachgehen, wie sich die aktuellen bildungs-politischen Zielsetzungen auf die Lernenden in der Basisbildung und Alphabetisierung in Österreich auswirken. Diese Frage habe ich hier jedoch zugunsten der vorgestellten Themen und Überlegungen hintangestellt, um die Diplomarbeit in Zeit und Umfang nicht noch weiter auszudehnen und sie bald zu einem Abschluss bringen zu können. 399 Bundesministerium: Die Lissabonstrategie. (Homepage) URL: www.eu-bildung-2010.at/index.php? (23.06.2008). 400 vgl. Reinprecht, Christoph: Die „Illusion der Chancengleichheit“, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 129f.
103
der Kommission heben, über den wirtschaftlichen Nutzen hinausgehend, auch
die Wichtigkeit des lebenslangen Lernens für die „soziale Integration, den
Bürgersinn und die persönliche Entwicklung“ hervor.401
5.1.1 Lebenslanges Lernen
Es geht folglich im Beschluss des Europäischen Rates um eine geplante
Umformung der europäischen Gesellschaft, da beabsichtigt wird „(…) Europa
zur wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wissensgesellschaft der Welt zu
machen“.402 Der europäische Rat bekräftigte403: „‘Jedem Bürger müssen die
Fähigkeiten vermittelt werden, die für das Leben und die Arbeit in dieser
neuen Informationsgesellschaft erforderlich sind‘“.404 Diese gesellschaftliche
Umgestaltung verlangt nach einem neuen Konzept, dem lebenslangen Lernen,
welches allen Menschen einen „(…) aktiven Umgang mit den Folgen von
Globalisierung, demographischem Wandel, digitaler Technologie und
Umweltschäden“ ermöglicht.405 Unter dem lebenslangen Lernen versteht die
Europäische Kommission (2001):
Lebenslanges Lernen
Alles Lernen während des gesamten Lebens, das der Verbesserung von Wissen, Qualifikationen und Kompetenzen dient und im Rahmen einer persönlichen, bürgergesellschaftlichen, sozialen, bzw. beschäftigungs-bezogenen Perspektive erfolgt.406
5.1.2 Neue Basiskompetenzen
Im Arbeitsdokument der Europäischen Kommission, dem „Memorandum
über Lebenslanges Lernen“ (2000) werden die „neuen Basisqualifikationen“:
„IT-Fertigkeiten, Fremdsprachen, Technologische Kultur, Unternehmergeist
und soziale Fähigkeiten“ neben den „herkömmlichen Grundkompetenzen“:
„Lesen, Schreiben und Rechnen“ forciert.407 Sich diese neuen Basis-
qualifikationen anzueignen, wird als „unerlässlich für alle Menschen“ sowie als
401 vgl. Kommission: Erwachsenenbildung, S. 2. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2006/com2006_0614de01.pdf (02.01.2008). 402 vgl. Kommission: Europäischer Raum, S. 3. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2001/com2001_0678de01.pdf (02.01.2007). 403 In vielen Dokumenten der Europäischen Gemeinschaft wird einzig die männliche Form verwendet und nicht auf eine geschlechtergerechte Formulierung geachtet. 404 Europäischer Rat, zit. in: Kommission: Schlüsselkompetenzen, S. 2. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/2010/doc/keyrec_de.pdf (11.09.2007). 405 vgl. Kommission: Europäischer Raum, S. 3. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2001/com2001_0678de01.pdf (02.01.2007). 406 ebd., S. 34. 407 vgl. Bundesministerium: Memorandum über Lebenslanges Lernen 01/2001, S. 12.
104
„(…) erste Stufe eines kontinuierlichen Prozesses des lebenslangen Lernes“
dargestellt, der für den sich ständig verändernden Arbeitsmarkt nötig ist.408
Demgemäß lautet eine Forderung aus dem Memorandum:
Personen, denen es aus irgendwelchen Gründen nicht möglich war, das erforderliche Qualifikationsniveau zu erwerben, müssen die Chance bekommen, dies nachzuholen, so oft sie auch gescheitert sind oder versäumt haben, entsprechende Angebote wahrzunehmen.409
Diese neuen, für alle gültigen, Basiskompetenzen werden definiert als die
„(…) Kompetenzen, die Voraussetzung sind für eine aktive Teilhabe an
der wissensbasierten Gesellschaft und Wirtschaft (…)“.410 Das bedeutet,
um aktiv partizipieren zu können, muss zuvor eine bestimmte Leistung
erbracht werden. Für all jene, die den neuen Basisqualifikationen entsprechen
können, bietet lebenslanges Lernen die Chance einer dauerhaften
Partizipation und Integration in die Wissensgesellschaft und in die Wirtschaft.
Umgekehrt bedeutet es, dass Menschen, die den zu leistenden Beitrag nicht
erbringen können, nur eine eingeschränkte Teilhabe in Arbeits- und
Alltagswelt möglich ist und sie von „social exclusion“, von
Ausgrenzungserfahrungen bedroht sind.
Es gibt etliche kritische Stimmen zum Konzept des lebenslangen Lernens,
welches hier nur in Zusammenhang mit Basisbildung und Alphabetisierung
betrachtet wird. Eine Bemerkung von Antje Doberer-Bey sei kurz ausgeführt:
Der Gedanke der Verwertbarkeit ist hier zentral. Diese Anforderungen genießen eine hohe Akzeptanz, und ihre allgemeine Notwendigkeit wird nicht in Frage gestellt. Darüber hinaus gilt es festzuhalten, dass Bildungskonzepte, die über die ‚Bildung zur Brauchbarkeit‘ hinausgehen, oftmals besser der eigentlichen Bildungsmotivation entsprechen.411
5.1.3 Europäische Referenzniveaus
Damit der Wissensstand der Menschen in Richtung der Zielsetzung von
Lissabon angehoben werden kann, beschloss der Europäische Rat 2003,
neben den Maßnahmen „(…) Erfahrungsaustausch sowie Peer-Reviews zur
Verbreitung bewährter Praktiken“412 zusätzlich auch „fünf europäische
408 vgl. Bundesministerium: Memorandum über Lebenslanges Lernen 01/2001, S. 13. 409 ebd. 410 vgl. ebd. 411 In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 8. 412 vgl. Kommission: Europäische Benchmarks, S. 3. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/2010/doc/bench_ed_trai_de.pdf (03.01.2008).
105
Referenzniveaus (Benchmarks)“ für die allgemeine und berufliche Bildung in
Europa.413 Die Europäische Kommission vermerkt: „Die Referenzniveaus für
Lesekompetenz, frühzeitiger Schulabgang, Abschluss der Sekundarstufe II
und Teilnahme an der Erwachsenenbildung stehen in engem Zusammenhang
mit der Entwicklung von Schlüsselkompetenzen“.414 Diese Zielvorgaben sind:
– Bis 2010 sollten alle Mitgliedstaaten den Anteil der Schulabbrecher entsprechend der Zahl aus dem Jahr 2000 mindestens halbieren, so dass ein EU-Durchschnitt von höchstens 10% erreicht wird.
– Bis 2010 haben alle Mitgliedstaaten das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern bei den Hochschulabsolventen in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Technik mindestens halbiert, während sie gleichzeitig, im Vergleich zum Jahr 2000, einen allgemein bedeutenden Anstieg der Gesamtzahl von Hochschulabsolventen sicherstellen.
– Bis 2010 sollten die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass der Anteil der 25- bis 64-Jährigen, die zumindest die Sekundarstufe II abgeschlossen haben, im EU-Durchschnitt wenigstens 80% erreicht.
– Bis 2010 ist der Prozentsatz der 15-Jährigen, die im Bereich von Lesekompetenz, mathematischer Grundbildung und naturwissen-schaftlicher Grundbildung schlechte Leistungen erzielen, in jedem Mitgliedstaat im Vergleich zum Jahr 2000 mindestens zu halbieren.
– Bis 2010 sollten sich im EU-Durchschnitt mindestens 15% der Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter (Altersgruppe 25-64 Jahre) am lebenslangen Lernen beteiligen; in keinem Land soll die Quote unter 10% liegen.415
5.1.4 Grundfertigkeiten und Schlüsselkompetenzen
Eine Arbeitsgruppe des Arbeitsprogrammes „Allgemeine und berufliche
Bildung 2010“ entwickelte einen Rahmen für „Schlüsselkompetenzen“. Die
„Grundfertigkeiten“416 wurden in diesem neu konzipierten europäischen
Referenzrahmen „Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen“ eingefügt.
Der Begriff Kompetenz umfasst darin eine „Kombination aus Wissen,
413 Die Ergebnisse von 2007 siehe: Kommission: Wissen, Kreativität und Innovation durch lebenslanges Lernen. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2007/com2007_0703de01.pdf; Progress towards the lisbon objectives 2010 in education and training. (Hompage) URL: ec.europa.eu/dgs/education_culture/publ/pdf/educ2010/indicatorsleaflet_en.pdf. 414 Kommission: Schlüsselkompetenzen, S. 11. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/2010/doc/keyrec_de.pdf (11.09.2007). 415 Kommission: Europäische Benchmarks, S. 4. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/2010/doc/bench_ed_trai_de.pdf (03.01.2008). 416 Grundkompetenzen: Sprache, Lesen, Schreiben, Rechnen und IKT und die zuvor als neue Basiskompetenzen bezeichteten Fertigkeiten: IT-Fertigkeiten, Fremdsprachen, technologische Kultur, Unternehmergeist und soziale Fähigkeiten.
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Fähigkeiten und kontextabhängigen Einstellungen“.417 Zum Begriff Schlüssel-
kompetenzen zählen „(…) diejenigen Kompetenzen, die alle Menschen für ihre
persönliche Entfaltung, soziale Integration, aktive Bürgerschaft und
Beschäftigung benötigen“.418 Die Schlüsselkompetenzen sollten allgemein bis
zum Ende der „Grund(aus)bildung“ erworben und in der Folge mittels
lebenslangen Lernen „weiterentwickelt, aufrechterhalten und aktualisiert“
werden.419 Dazu gehören:
1. Muttersprachliche Kompetenz 2. Fremdsprachliche Kompetenz 3. Mathematische Kompetenz und grundlegende naturwissenschaftlich
-technische Kompetenz 4. Computerkompetenz 5. Lernkompetenz 6. Interpersonelle, interkulturelle und soziale Kompetenz und
Bürgerkompetenz 7. Unternehmerische Kompetenz 8. Kulturelle Kompetenz.420
Alle acht Schlüsselkompetenzen werden in diesem europäischen Referenz-
rahmen inhaltlich detailiert ausgeführt und sollen, in einem weiteren Schritt,
innerhalb der nationalen lebenslangen Lernstrategien Verwendung finden.
5.1.5 Europäischer Qualifikationsrahmen
Ende November 2007 wurde die politische Einigung auf den „Europäischen
Qualifikationsrahmen (EQR) für lebenslanges Lernen“ bekanntgegeben. Das
Referenzinstrument stellt „eine Art Übersetzungshilfe“ dar, um „Qualifikations-
niveaus verschiedener Länder und verschiedener Aus- und Weiterbildungs-
systeme“ miteinander vergleichbar zu machen. Die Ziele des EQR sind in
erster Linie „a) die grenzüberschreitende Mobilität zu fördern und b) das
lebenslange Lernen zu vereinfachen“.421 Sämtliche Qualifikationen, vom
Pflichtschulabschluss bis zu höchsten Ebenen beruflicher oder akademischer
Bildung, werden in acht EQR-Niveaus beschrieben. Sie lassen erkennen, „(…)
was die Lernenden wissen, verstehen und können, und dies unabhängig von
417 vgl. Kommission: Schlüsselkompetenzen, S. 15. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/2010/doc/keyrec_de.pdf (11.09.2207). 418 vgl. ebd. 419 vgl. ebd. 420 ebd. 421 vgl. Europäische Union: Europäischer Qualifikationsrahmen. (Homepage) URL: europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/07/1760&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en (15.01.2008).
107
dem System, in dem die Qualifikation erworben wurde".422 Nationale
Qualifikationssysteme sollen bis 2010 an die Empfehlung angeglichen werden.
Ab 2012 sollen zudem die Qualifikationsnachweise innerhalb der EU einen
Verweis auf das vergleichbare EQR-Referenzniveau angeben.423
5.1.6 Wirtschaftliche Herausforderungen
Wie werden all diese (und noch viele andere) Maßnahmen und Konzepte
von Seiten der europäischen Bildungspolitik begründet? In einem Dokument
der Europäischen Kommission wird mitgeteilt, dass laut der „Maastricht-Studie
über berufliche Aus- und Weiterbildung“ europäischen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern vielfach das benötigte Bildungsniveau für neue Arbeitsplätze
fehlt, da mehr als ein Drittel, d.h. 80 Millionen Menschen, über geringe
Qualifikationen verfügen. Rund die Hälfte aller neuen Arbeitsplätze bis 2010,
gehen Schätzungen zufolge allerdings an Absolventinnen und Absolventen von
Hochschulen, fast 40% erfordern einen „Abschluss der Sekundarstufe II“ und
schätzungsweise nur 15% stehen tatsächlich für Menschen mit geringen
Qualifikationen zur Verfügung.424
Daher legt die Europäische Kommission allen Mitgliedstaaten nahe, speziell
auch im Hinblick auf diejenigen Menschen, die „(…) nicht in der Lage (sind-
G.G.), im täglichen Leben einen geschriebenen Text zu verstehen und zu
verwenden“, weiterhin dafür Sorge zu tragen, dass alle Bürgerinnen und
Bürger Schlüsselkompetenzen erwerben.425 Denn zentral, nach der Lissabon-
Strategie, ist es, die ökonomische Herausforderung „(…) mehr Wettbewerbs-
fähigkeit und mehr Beschäftigung unter Wahrung des sozialen Zusammen-
halts“ zu bewältigen.426 Erreicht werden soll die höhere Wettbewerbsfähigkeit
mittels dem „Schlüsselfaktor“ einer „innovativen, fortschrittlichen und
qualitativ hochwertigen allgemeinen und beruflichen Bildung“, indem
vorgesehen ist, „(…) das allgemeine Kompetenzniveau anzuheben, um den
Bedürfnissen des Arbeitsmarktes gerecht zu werden und es den Bürgern zu
422 vgl. Europäische Union: Europäischer Qualifikationsrahmen. (Homepage) URL: europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/07/1760&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en (15.01.2008). 423 Zu EQR siehe: Europäisches Parlament: Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen. (Homepage) URL: www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P6-TA-2007-0463+0+DOC+XML+V0//DE (15.01.2008). 424 vgl. Kommission: Schlüsselkompetenzen, S. 12. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/2010/doc/keyrec_de.pdf (11.09.2207). 425 vgl. Kommission: Erwachsenenbildung, S. 4. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2006/com2006_0614de01.pdf (02.01.2008). 426 vgl. ebd., S. 3.
108
ermöglichen, eine angemessene Rolle in der heutigen Gesellschaft zu
spielen“.427
Ein weiteres Argument bezieht sich auf den demografischen Wandel, der
sich in Europa vollzieht. So wird die Anzahl der Jugendlichen, bis zum Alter
von 24 Jahren, in den nächsten 30 Jahren um 15% zurückgehen, jede dritte
Person wird bereits über 60 Jahre und jede Zehnte über 80 Jahre alt sein.
Durch den Rückgang der Zahl der jugendlichen Erwerbstätigen und weil
außerdem in der Altersgruppe der 55 bis 64 jährigen Personen nur mehr jede
Dritte erwerbstätig ist, „(…) muss das Potenzial der Erwachsenenbildung voll
ausgeschöpft werden, um den Anteil der erwerbstätigen jungen Menschen zu
erhöhen und die Erwerbstätigkeit älterer Menschen zu verlängern“.428 Konkret
soll das in zwei wichtigen Punkten geschehen, einerseits bei der „Entschärfung
der Schulabbrecherproblematik (6 Mio. Schulabbrecher im Jahr 2005)“ und
bei der „Verbesserung der Kompetenzen und der Anpassungsfähigkeit von
gering qualifizierten Arbeitnehmern über 40 Jahre, so dass sie mindestens
eine Qualifikationsstufe höher kommen“.429 Der Arbeitskräftemangel soll auch
zum Teil durch Einwanderung ausgeglichen werden.
Eine weitere Herausforderung, bei der die Erwachsenenbildung eine
„Schlüsselrolle“ einnimmt, ist die „Bekämpfung sozialer Ausgrenzung“. In
allen Mitgliedstaaten sind „Armut und soziale Ausgrenzung“ als starke
Problemlagen vorhanden. „Schlechte Grundbildung, Arbeitslosigkeit, soziale
Isolierung in ländlichen Gebieten und Mangel an Lebensperspektiven“ sowie
auch „neue Formen des Analphabetismus“ durch „fehlenden Zugang zu
Informations- und Kommunikationstechnologien im Alltag“ u.a.m., sind
Ursachen für die Marginalisierung von Menschen.430
Im „Aktionsplan Erwachsenenbildung. Zum Lernen ist es nie zu spät“
(2007) ergänzt die Europäische Kommission zwei Punkte:
● es geht um eine bessere Integration von Migranten in Gesellschaft und Arbeitsmarkt. Erwachsenenbildung bietet maßgeschneiderte Kurse, einschließlich Sprachkurse, um diesen Integrationsprozess zu fördern. Außerdem kann die Teilnahme an der Erwachsenen-bildung im Aufnahmeland Migranten helfen, die Validierung und Anerkennung der Qualifikationen zu sichern, die sie bereits mitbringen;
427 vgl. Kommission: Erwachsenenbildung, S. 3. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2006/com2006_0614de01.pdf (02.01.2008). 428 vgl. ebd., S. 4. 429 vgl. ebd. 430 vgl. ebd., S. 5.
109
● es geht darum, die Beteiligung am lebenslangen Lernen zu steigern und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Beteiligung ab einem Alter von 34 Jahren abnimmt. Angesichts des Anstiegs des durchschnittlichen Erwerbsalters in ganz Europa muss auch die Teilnahme älterer Arbeitnehmer an der Erwachsenenbildung zunehmen.431
5.1.7 Nutzen der Erwachsenenbildung
Den Nutzen der Erwachsenenbildung und bestehende Hindernisse für eine
Teilnahme an Bildungsprozessen im Erwachsenenalter zu erheben, ist für die
europäische Bildungspolitik im Sinne der Lissabon-Strategie bedeutungsvoll.
Wobei die Europäische Kommission unter dem Begriff „Erwachsenenbildung“
hier „alle Formen des Lernens durch Erwachsene nach Abschluss der
allgemeinen und/oder beruflichen Bildung, unabhängig von dem in diesem
Prozess erreichten Niveau (d. h. einschließlich Hochschulbildung)“ versteht.432
Forschungsergebnisse der OECD433 verweisen auf eine „große Bedeutung von
Investitionen in die Erwachsenenbildung“, die in folgenden „öffentlichen und
privaten Nutzeffekten der Erwachsenenbildung“ ersichtlich werden434:
(…) die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit, eine höhere Produktivität, qualitativ bessere Beschäftigungsmöglichkeiten, weniger Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung, Sozialleistungen und vorgezogene Altersrenten, aber auch ein höherer sozialer Nutzen in Form einer stärkeren Teilhabe an der Gesellschaft, besserer Gesundheit und geringerer Kriminalität. Hinzu kommt, dass die Betroffenen zufriedener sind und sich stärker selbst verwirklichen können.435
Forschungsergebnisse aus Untersuchungen mit älteren Erwachsenen
erbrachten ebenfalls, „(…) dass diejenigen, die aktiv lernen, gesünder sind, so
dass bei ihnen weniger Kosten für die Gesundheitsversorgung anfallen“.436
Gemäß der IALS-Studie (2004) der OECD beeinflusst eine „ausgeglichene
Kompetenzverteilung innerhalb der Bevölkerung“ überdies merklich die
„allgemeine Wirtschaftsleistung“.437 Somit kann Erwachsenenbildung deutlich
positive Effekte für die einzelnen Menschen selbst, als auch für die jeweilige
431 Kommission: Aktionsplan Erwachsenenbildung, S. 3. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/adult/com558_de.pdf (07.01.2008). 432 vgl. Kommission: Erwachsenenbildung, S. 2. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2006/com2006_0614de01.pdf (02.01.2008). 433 Gemeint ist hier die OECD Studie „Promoting Adult Learning“ (2005). 434 vgl. Kommission: Erwachsenenbildung, S. 2. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2006/com2006_0614de01.pdf (02.01.2008). 435 ebd. 436 vgl. ebd., S. 2f. 437 vgl. ebd., S. 4.
110
Gesellschaft bringen. „Die Erwachsenenbildung steigert nicht nur die Effizienz
der Arbeitskräfte, sondern sorgt auch für besser informierte und aktivere
Bürgerinnen und Bürger und verbessert zudem ihr persönliches Wohl-
befinden“, informiert die Europäische Kommission.438
5.1.8 Zugangsbarrieren
Erwachsene (Altersgruppe 25-64 Jahre) beteiligten sich am lebenslangen
Lernen noch nicht so zahlreich, wie seitens der europäischen Bildungspolitik
erwünscht wäre. Die Teilnahmezahl war im Gegenteil im Jahr 2006 sogar
leicht rückläufig.439 Die Europäische Kommission ist daher bestrebt, Zugangs-
barrieren Erwachsener zu Bildungsprozessen aufzuzeigen, damit diese Hürden
rasch abgebaut werden können. Sie berichtet, dass Bildungsbarrieren
einerseits auf politischen Gründen beruhen, die das „Informationsangebot“
oder die anbietenden Institutionen „Zugangsvoraussetzungen, Kosten,
Umfang der Unterstützung beim Lernen, Art der Lernergebnisse usw.“
betreffen, sie können auf die Lebenssituation, z.B. auf die kulturelle
Bedeutung von Bildung, auf unterstützende Teilnahmebedingungen durch die
Familie oder das soziale Umfeld zurückzuführen sein und auch auf den
lernenden Menschen selbst, im Hinblick auf das eigene „Selbstwertgefühl und
Selbstbewusstsein“ sowie auf frühere negative Bildungserfahrungen.440
Meist bestehen die größten Hürden aufgrund von „Zeitmangel“, „fehlendes
Bewusstsein und fehlende Motivation“ sowie „mangelnde Informationen über
das Angebot und fehlende Mittel zur Finanzierung der Bildung“. Auffällige
Gemeinsamkeiten sind zudem „(…) bei der Struktur der Teilnehmerschaft zu
beobachten: in allen Ländern wird die Erwachsenenbildung am seltensten von
denjenigen mit dem geringsten Bildungsstand, älteren Menschen, Bürgern aus
ländlichen Gebieten sowie Behinderten genutzt“.441 In diese Richtung zeigt
auch der Fortschrittsbericht (2008) zum Arbeitsprogramm „Allgemeine und
berufliche Bildung 2010“, indem die Europäische Kommission festhält: „Bei
Erwachsenen mit hohem Bildungsstand ist die Wahrscheinlichkeit der
438 Kommission: Erwachsenenbildung, S. 5. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2006/com2006_0614de01.pdf (02.01.2008). 439 vgl. Kommission: Aktionsplan Erwachsenenbildung, S. 4. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/adult/com558_de.pdf (07.01.2008). 440 vgl. Kommission: Erwachsenenbildung, S. 6. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2006/com2006_0614de01.pdf (02.01.2008). 441 vgl. ebd.
111
Teilnahme am lebenslangen Lernen sechs mal höher als bei gering
qualifizierten Erwachsenen“.442
Die Europäische Kommission notiert deshalb in einer aktuellen Mitteilung
zur Höherqualifizierung Erwachsener:
Angesichts der Voraussagen für die demografische Entwicklung in Europa, mit sinkender Arbeitskräftezahl und daraus resultierendem Arbeitskräftemangel, sind Investitionen in das Human- und Sozialkapital der Zielgruppen unerlässlich.443
Eine „Schlüsselherausforderung“ für die Erwachsenenbildung stellt ferner,
nach Auffassung der Kommission, die „Bereitstellung einer Dienstleistung“
dar, welche versucht, den zahlreichen an sie gerichteten Erwartungen allseits
gerecht zu werden, indem sie „(…) einerseits den Bedürfnissen des
erwachsenen Lernenden entspricht, andererseits aber auch den Bedarf von
Arbeitsmarkt und Gesellschaft angemessen berücksichtigt und gleichzeitig die
Nachfrage steigert“.444 Diese Herausforderung erfolgreich zu meistern gelang
der österreichischen Entwicklungspartnerschaft „In.Bewegung“ hervorragend,
denn sie „wird auf der Website der Europäischen Kommission als ‚On-the-
Ground Good Practice‘ veröffentlicht“.445
5.2 Basisbildung und lebenslanges Lernen
Der Forderung der europäischen Bildungspolitik nach lebensbegleitendem
Lernen können viele Menschen aufgrund ihrer unzureichenden Kenntnisse im
Lesen, Schreiben und Rechnen nicht nachkommen. Sie können dieser Vorgabe
zweifellos jedoch auch deshalb nicht nachkommen, weil flächendeckend
qualitätsgesicherte Basisbildungsangebote in Österreich fehlen. So wurde
während eines Transferdialogs (2007) von Seiten eines Vertreters der
Entwicklungspartnerschaft „In.Bewegung“ pointiert dargelegt, dass es allein
bei einer Hochrechnung der durch die PISA-Studie nachgewiesenen 10-20%
Betroffenen in Bezug zu den gegenwärtig ca. 1000 Plätzen in Basisbildungs-
kursen, ungefähr 670 Jahre dauern würde, bis der Berg an Basisbildungs-
defiziten in Österreich abgetragen wäre.446
442 Kommission: Wissen, Kreativität, S. 8. (Homepage) URL: eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2007/com2007_0703de01.pdf (02.01.2008). 443 Kommission: Aktionsplan Erwachsenenbildung, S. 9. (Homepage) URL: ec.europa.eu/education/policies/adult/com558_de.pdf (07.01.2008). 444 vgl. ebd., S. 7. 445 vgl. AlphaBetisierungsCentrum Salzburg: Geschäftsbericht 2006, S. 7. 446 vgl. IFA-Steiermark: Basisbildung, S. 13. (Homepage) URL: www.ifa-steiermark.at/relaunch/de/evaluationen_details_neu.asp?art=1 (25.01.2008).
112
Wissenserwerb und lebenslanges Lernen setzen den Zugang zu Basis-
bildungsangeboten voraus. Wenn es allen Menschen möglich gemacht werden
soll, die grundlegenden Kulturtechniken - neben vielem anderen - zu erlernen,
braucht es dazu entsprechende Informationen, eine adäquate, sensible
Beratung und vor allem finanziell langfristig abgesicherte Basisbildungs-
angebote in ausreichender Anzahl und örtlicher Nähe. Antje Doberer-Bey
argumentiert, dass durch die „(…) aktive Integration jener Menschen in das
Bildungssystem“, durch ihren „Zugang zum lebensbegleitenden Lernen“ sowie
ihrer „Teilnahme an Weiterbildung“ erst die nötigen „(…) Voraussetzungen für
ein gesichertes Arbeitsverhältnis und die Erhöhung der Beschäftigungs-
fähigkeit“ sowie für die uneingeschränkte „Teilhabe an der Gesellschaft“
gegeben sind.447 Gertrud Kamper unterstreicht aufgrund ihrer Praxiserfahrung
ebenfalls: „Erwachsenenbildung unter dem zentralen Motto des (mehr oder
weniger freiwilligen) lebenslangen Lernens für alle ist ohne Grundbildung für
Erwachsene, und zwar als ständiges Angebot, nicht zu verwirklichen.“448
5.2.1 Kohärente LLL-Strategie in Österreich
Innerhalb der 2005 vorgestellten „Vorschläge zur Implementierung einer
kohärenten LLL-Strategie in Österreich bis 2010“ wird speziell auf die durch
Globaliserung und steigende Individualisierung verstärkte soziale Segregation
zwischen den ausreichend für den Arbeitsmarkt qualifizierten und den gering
qualifizierten Menschen Bezug genommen. Letztere sind häufiger von sozialer
Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit betroffen und da kann lebenslanges Lernen,
nach Ansicht der Autorinnen und Autoren, zu einem sozialen Ausgleich führen.
Da aber die Bereitschaft zur Teilnahme am lebenslangen Lernen bei Menschen
mit hohem Bildungsstand höher ist, würde eine unspezifische Bildungs-
förderung die bestehenden Ungleichheiten verschlechtern „(Matthäus Effekt)“
und die soziale Ausgrenzung weiter intensivieren. Sie sprechen sich daher für
eine besondere Förderung „sozial und geografisch benachteiligter Gruppen,
MigrantInnen, bildungsferner Schichten, Personen mit niedrigen Basis-
qualifikationen, Wiedereinsteigerinnen, Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit
bedrohter ArbeitnehmerInnen“ aus.449 Unerlässlicher Bestandteil der Strategie
ist es auch, geschlechtsspezifische Ungleichheiten allgemein zu überwinden
447 vgl. In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 7. 448 Kamper, Gertrud: Erwachsenen-Grundbildung, in: DIE Zeitschrift, 01/2001, S. 32. (Homepage) URL: www.diezeitschrift.de/12001/kamper01_01.pdf (18.07.2006). 449 vgl. Donau Universität Krems: Vorschläge LLL-Strategie, S. 9. (Homepage) URL: www.biber.salzburg.at/DonauuniLLL-Strategiepapier.pdf (08.10.2007).
113
und Gender Mainstreaming zu etablieren. Das „Ziel ist der Aufbau einer
integrativen Gesellschaft, die allen Menschen gleiche Zugangs- und
Teilnahmechancen zum Lernen bietet“.450
5.2.2 Steigende Anforderungen in Alltags- und Arbeitswelt
Zählten zunächst Lesen, Schreiben und Rechnen und im Weiteren auch
PC-Kenntnisse zu den benötigten Kulturtechniken, wird von allen Menschen
erwartet, dass sie ihren Wissensstand, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen
flexibel an die sich rasch wandelnden und expandierenden Erfordernisse der
Arbeitswelt anpassen können. Steigende Anforderungen erzeugen Druck unter
den schwieriger werdenden Bedingungen am Arbeitsmarkt. Sie sind für viele
Menschen, nicht nur für Personen mit nicht ausreichenden Kompetenzen in
der Schriftsprache, zu hoch. So warnt Antje Doberer-Bey insbesondere davor,
dass sich die Auswirkungen der gesellschaftlichen Anforderungen verstärkt auf
die einzelnen Menschen verlagern und speziell geringer qualifizierte Personen
rasch „ins Abseits“ geraten.451 Die kontinuierlich steigenden Ansprüche im
Arbeits- und Alltagsleben setzt Marion Döbert in Bezug zu Erwachsenen, die
Lesen, Schreiben und Rechnen wieder erlernen. Sie beschreibt eindringlich die
schier unlösbare Schwierigkeit, in der sich diese Menschen befinden: „Die
Qualifikationsspirale schraubt sich immer höher, während am untersten Ende
der Qualifikationshierarchie Menschen mühsam Buchstaben erlernen oder ihre
ersten eigenen Texte schreiben“.452
Otto Rath gibt zum lebenslangen Lernen, als Norm unserer Gesellschaft,
zu bedenken: „Das Konzept suggeriert, dass niemand je fertig gebildet ist.
Funktionale AnalphabetInnen kommen in den Prozess des lebenslangen
Lernens nicht hinein, was ihren Selbstwert zusätzlich untergräbt“.453 Er warnt
davor, dass die Gesundheit dieser Menschen bedroht ist: „Eine psycho-
somatische Reaktion ist eine Möglichkeit: Wer permanent überfordert ist –
auch von den Vorgaben des Bildungssystems – kommt an einen Punkt, wo
er/sie sich krank fühlt“.454 Der Autor zieht aus diesem Grund folgenden
450 Donau Universität Krems: Vorschläge LLL-Strategie, S. 9. (Homepage) URL: www.biber.salzburg.at/DonauuniLLL-Strategiepapier.pdf (08.10.2007). 451 vgl. In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 9. 452 Döbert, Marion, zit. in: Döbert, Marion; Hubertus, Peter 2000, S. 77. 453 Rath, Otto: Kursbuch Grundbildung, in: ISOTOPIA, 45/2004, S. 47. 454 ebd.
114
Schluss: „Lebenslanges Lernen ist in diesem Zusammenhang oftmals weniger
eine Lösung als eine Druckverschärfung“.455
5.3 Bildung im Wandel - Bildung für den Wandel
Es folgen einige Überlegungen zur wechselnden Bedeutung von Bildung. In
der modernen Gesellschaft, berichtet Christoph Reinprecht, verleiht Bildung
die Legitimation für die Einnahme von Statuspositionen. Hoher Verdienst und
soziales Ansehen resultieren primär aus der persönlichen „Lernfähigkeit und
Leistungsbereitschaft“ des einzelnen Menschens. Anstatt der „‘natürlichen
Auslese‘ (durch Herkunft und Abstammung)“ gilt hier das „meritokratische
Prinzip“, das besagt, dass Bildung als Selektionsinstrument für die individuelle
Statuszuweisung über das Kriterium Leistung fungiert.456 In der späten
Moderne, der „wissensbasierte(n) Gesellschaft“, wird Bildung hingegen „als
ein zentraler, wenn nicht als der Produktivitätsfaktor“ betrachtet mit dessen
Hilfe bezweckt wird, die wirtschaftliche Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit
anzuheben.457 Bildung zielt hier seit langem nicht mehr auf die „(…)
allgemeine Befähigung zu selbständigem Denken und mündigem Handeln,
sondern auf den Zugewinn an wirtschaftlicher Produktivität (…)“.458
Gegenwärtig unterscheidet sich der Bildungsdiskurs gravierend von den
Diskussionen während der Bildungsexpansion der späten 60er und der 70er
Jahre. Wie Christoph Reinprecht ausführt, wurde damals beabsichtigt, die
„bildungsfernen Schichten“ zu integrieren, um ihnen die „gesellschaftliche
Teilhabe und soziale Mobilität“459 zu ermöglichen.460 Derzeit geraten allerdings
Zielsetzungen wie eine „Demokratisierung der Bildungsbeteiligung oder eine
sozial gerechtere Verteilung der Bildungschancen“ durch die bestehende
Ökonomisierung der Bildung weitgehend aus dem Blick.461 Bildung wird in
erster Linie auf berufliche Bildung (employability) reduziert.
5.3.1 Auswirkungen des Bedeutungswandels von Bildung
Der von Christoph Reinprecht beschriebene Wandel in der Bedeutung von
455 Rath, Otto: Kursbuch Grundbildung, in: ISOTOPIA, 45/2004, S. 47. 456 vgl. Reinprecht, Christoph: Die „Illusion der Chancengleichheit“, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 129. 457 vgl. ebd. 458 vgl. ebd., S. 130. 459 Soziale Mobilität meint den Aufstieg in eine höhere gesellschaftliche Statusposition. 460 vgl. Reinprecht, Christoph: Die „Illusion der Chancengleichheit“, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 130. 461 vgl. ebd.
115
Bildung verstärkt massiv den Druck auf die einzelnen Menschen, sich
lebenslang den „wachsenden Anforderungen und Selektionserfordernissen des
Bildungssystems“ zu stellen.462 Er schildert die zunehmende Ausrichtung am
Nutzen und an Verwertungsinteressen auch in „außerökonomische(n)
Bereichen“, wie dem Privatleben. „‘Es muss sich rechnen‘“ wurde als Haltung
längst schon Bestandteil des Selbstkonzeptes, z.B. bei der Planung des
Berufsweges, wobei der Autor auch darauf hinweist, dass der „berufliche
Lebenslauf“ im Grunde „(…) nur in sehr beschränktem Maße individuell
bestimmbar, sondern weitgehend sozial strukturiert und durch stabile
herkunftsabhängige Muster der Statuszuweisung gekennzeichnet ist“.463
Der Bedeutungswandel vollzog sich im Zusammenhang des „Struktur-
wandels der Arbeitswelt“, da zuvor klar abgegrenzte „Tätigkeitsfelder und
Berufsverläufe“ im Vergleich zu den „verschiedenen weichen skills (wie z.B.
Teamfähigkeit, kommunikative oder interkulturelle Kompetenzen) und harten
Fertigkeiten (ausbildungsabhängige Qualifikationen)“ immer weniger gefragt
waren.464 Der „Zwang zur permanenten Weiterbildung“, erfolgt aus der
Notwendigkeit heraus, diese Kompetenzen ständig zu aktualisieren und zu
ergänzen und erfordert von allen Menschen zeitlebens eine „erhöhte Lern-
und Anpassungsbereitschaft“.465
Ausgehend von diesen Überlegungen entwickelt Christoph Reinprecht die
These, dass durch den von ihm beschriebenen Bedeutungswandel von Bildung
die „sozialen Selektionseffekte und Ungleichheiten im Bildungsbereich massiv
verschärft werden (…)“.466 Seiner Ansicht nach wird die „Reproduktion der
Ungleichheitsordnung“, gekennzeichnet durch das Auseinanderdriften von
„ressourcenärmeren und ressourcenreicheren, d.h. von bildungsnäheren und
bildungsfernen Schichten“, um eine zusätzliche Dimension erweitert:467
Globalisierung und neoliberale Ökonomie reproduzieren nicht nur die herkömmliche gesellschaftliche Spaltungslinie, sondern führen dazu, dass eine Reihe von Gruppen und Personen vom Zugang zum Arbeitsmarkt und damit von jeder Möglichkeit einer selbständigen und gesellschaftlich anerkannten Existenzsicherung dauerhaft ausge-schlossen bleibt. Die Erzeugung von Überflüssigen ist ein hervor-stechendes Merkmal der globalisierten Moderne und eng in einen
462 vgl. Reinprecht, Christoph: Die „Illusion der Chancengleichheit“, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 130. 463 vgl. ebd., S. 131. 464 vgl. ebd. 465 vgl. ebd. 466 vgl. ebd., S. 132. 467 vgl. ebd.
116
Kreislauf der Bildungsdeprivation eingebunden: Ungenügende Bildungsausstattung versperrt den Zugang zu stabileren Zonen des Arbeitsmarktes, soziale Exklusion wiederum verstetigt die Bildungs-abstinenz.468
Christoph Reinprecht zufolge, bringt der „zunehmend individualisierte
Bildungswettlauf“ Gruppen von „GewinnerInnen und VerliererInnen“ und von
„Überflüssige(n)“ hervor.469 Die gewinnenden Gruppen - versehen mit
„institutionalisierte(n) Bildungsressourcen“ und „klassenspezifischem Habitus“
- können in der ihnen auferlegten Schnelligkeit die steigenden Bildungs-
anforderungen sowie die wachsenden und wechselnden Wissensmengen
bewältigen und für sich nutzbar machen.470 Hingegen sind „Personengruppen
mit ungenügenden Bildungsressourcen (keinem oder nur einem Pflichtschul-
abschluss), stark diskontinuierlichen (Aus)Bildungskarrieren oder Bildungs-
titeln ohne ausreichende arbeitsmarktrelevante Qualifikationen (…)“ speziell
gefährdet, der Gruppe der Verliererinnen und Verlierer anzugehören.471 Durch
die Individualisierung stellt der nicht erfolgte soziale Aufstieg ein „individuelles
Versagen“ (wegen persönliche Leistungsdefizite) und kein „Klassenschicksal“
mehr dar, wie umgekehrt auch Erfolg nicht „Ausdruck der Klassenlage“
sondern als persönliche Leistung gedeutet und inszeniert wird.472
Der Ausgang des institutionalisierten Bildungswettlaufs lässt sich, so der
Autor, statistisch glaubhaft voraussagen: Die Ungleichheitsordnung verfestigt
sich, wobei der Bildungsreichtum nur den höheren sozialen Schichten
anhaltend zugute kommt und die Anzahl der „potentiellen oder relativen
VerliererInnen“, die keine verlässlichen Bildungsressourcen mitbringen, größer
wird.473 In einem gewissen Sinne zählen aber auch die verlierenden Personen
zur Gruppe der Gewinnenden, da diese am Bildungswettlauf immerhin
teilnahmeberechtigt sind. Von den gewinnenden und verlierenden Personen-
gruppen gemeinsam ausgegrenzt werden die so genannten „Überflüssigen“,
wie „(…) Nicht-Versicherte, Schulabbrecher, the unemployable, Ausländer
ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis (‚Illegale‘), Kriminelle, physisch und
psychisch Behinderte und chronisch Leistungsgeminderte, Drogen-
468 Reinprecht, Christoph: Die „Illusion der Chancengleichheit“, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 132. 469 vgl. ebd., S. 149. 470 vgl. ebd. 471 vgl. ebd. 472 vgl. ebd., S. 148. 473 vgl. ebd., S. 149.
117
abhängige“.474 Diesen von Bildungsexklusion betroffen Gruppen und Personen
„‘(…) mangelt die Verkehrsberechtigung bzw. die basale Zahlungs- und
Teilnahmefähigkeit für Teile oder die Gesamtheit des bürgerlichen Lebens‘“.475
5.3.2 Ausgeschlossene der Arbeitswelt
Ähnlich wie zuvor Christoph Reinprecht berichtet Peter Stoppacher in
seinem Endbericht „Basisbildung als gesellschaftliche und wirtschaftliche
Herausforderung“ der begleitenden Evaluation der Entwicklungspartnerschaft
In.Bewegung über Menschen, deren Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse
niedriger als gesellschaftlich erwartet und gefordert sind:
Die Zielgruppe gehört bei einer Dreiteilung des gegenwärtigen Arbeitsmarktes in eine schmale Schicht von „GewinnerInnen“, eine breite Schicht von „VerliererInnen“ und eine wiederum schmälere Schicht von „Ausgeschlossenen“ (Disqualifizierten) wahrscheinlich vermehrt zur letzteren. Gelingt es, sie mit einer Basisbildungs-maßnahme zu erreichen, liegt noch immer ein langer, unter Umständen unbewältigbarer Weg vor ihnen, bis sie zu den gut qualifizierten Fachkräften und damit zu den GewinnerInnen gehören.476
Bei der internationalen Konferenz „Perspektive:Bildung“ (2007), initiiert
von der Entwicklungspartnerschaft In.Bewegung, sprach auch Oskar Negt von
einer Gefahr der Dreiteilung unserer Gesellschaft. So ist ein Drittel etabliert,
fühlt sich wohl, verfügt über eine Arbeitsstelle und gesellschaftliche Teilhabe.
Ein immer größer werdendes Drittel lebt in beängstigenden, prekären
Lebenssituationen mit kurzfristigen Arbeitsplätzen und Verträgen, die erst
miteinander kombiniert für ihren Lebensbedarf ausreichen. Der dritte Teil sind
diejenigen, „die nicht mehr gebraucht werden“, die „wachsende Armee der
dauerhaft Überflüssigen“.477 Oskar Negt zitierte in seinem Vortrag Jeremy
Rifkin, der bemerkte: „Schlimm, wenn Menschen ökonomisch ausgebeutet
werden, aber schlimmer noch, wenn sie für ökonomische Ausbeutung noch
nicht einmal mehr gebraucht werden“.478
Will man den Prophezeiungen Jeremy Rifkins Glauben schenken, so
verschwindet durch den technologischen Fortschritt langfristig die Arbeit und
eine wachsende Zahl von Menschen findet keine Beschäftigung mehr. Er
474 vgl. Reinprecht, Christoph: Die „Illusion der Chancengleichheit“, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 149f. 475 vgl. ebd., S. 150. 476 IFA-Steiermark: Basisbildung, S. 5. (Homepage) URL: www.ifa-steiermark.at/relaunch/de/evaluationen_details_neu.asp?art=1 (25.01.2008). 477 vgl. Negt, Oskar: Gewerkschaften, in: In.Bewegung 2007, S. 73. 478 Rifkin, Jeremy, zit. in: Negt, Oskar 2007, S. 73.
118
argumentiert wie folgt: „Aber die Computer und Informationstechnik von
heute machen immer mehr Menschen ganz überflüssig. Selbst die billigste
menschliche Arbeitskraft ist teurer als die Maschine“.479
Folglich bezeichnet Jermey Rifkin die vorherrschende Erklärung, es gäbe
genügend Arbeitsplätze, jedoch an der Ausbildung der Leute mangle es, als
eine von insgesamt drei „Pseudotheorien“, die sich als haltlos erweist:
Das ist auch so eins für die Wahlreden: Wir müssen die Leute nur richtig ausbilden oder weiterbilden und schon ist das Beschäftigungs-problem gelöst. Nehmen wir mal an, man könnte tatsächlich alle fünf Millionen Arbeitslosen in Deutschland so fortbilden, wie sich die Politiker das vorstellen. Was wäre denn dann? Es gebe immer noch nicht genug Jobs. Die Zeiten der Massenarbeit ist (sic!-G.G.) vorbei.480
Sich für die eigene Existenzabsicherung in den Arbeitsmarkt integrieren zu
können, ist nicht mehr für alle Menschen prinzipiell ereichbar. So werden
gesellschaftliche Probleme, wie Arbeitslosigkeit (Basisbildungsdefizite, usw.)
individualisiert und zum persönlichen Problem dieser Personen reduziert. Das
gesellschaftliche Risiko und die Verantwortung für alle Lebenssituationen
verlagern sich tendenziell immer mehr auf die einzelnen Menschen,
gleichgültig ob diese durch eigenes Tun und Entscheiden überhaupt darauf
Einfluss nehmen können oder nicht. Die Betroffenen erleben sich überwiegend
als chancenlos und ausgeschlossen aus der Gesellschaft und Arbeitswelt.
Peter Faulstich verweist in diesem Zusammenhang auf Frank Achtenhagens
und Wolfgang Lemperts Umdeutung eines bekannten Sprichwortes: „‚Dass
also Hans und Grete durchaus noch sehr spät nachzuholen vermögen, was
Hänsel und Gretel zu lernen versäumt haben, wenn sie nur eine Arbeit
ergattern, die solches von ihnen verlangt‘“.481
5.3.3 Zauberwort Bildung
Die „stereotype(n) Lösungsvorschläge“ für viele gesellschaftliche Probleme
lauten „Lernen, Bildung und Weiterbildung“, woran, nach Ansicht von Werner
Lenz, einerseits die „Überschätzung und Überlastung aber auch die Chance
und Verantwortung des Bildungswesens“ erkennbar wird.482 Auch für Elke
Gruber wirkt die „(…) Pädagogisierung als universelles Veränderungs- und
479 Rifkin, Jeremy, zit. in: Iwersen, Sönke 2005, S. 1. (Homepage) URL: www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/916564 (03.02.2008). 480 ebd., S. 3. 481 Achtenhagen, Frank; Lempert, Wolfgang, zit. in: Faulstich, Peter 2003, S. 229. 482 vgl. Lenz, Werner: Bildung im Wandel 2005, S. 90.
119
Problemlösungsmodell in modernen Gesellschaften(…)“.483 Wie im Weißbuch
der Europäischen Union (1995) nachzulesen ist, sollen zur Verringerung des
Arbeitslosigkeit anstelle von „politische(n) Veränderungen und Strategien“
erhöhte Bildungsbemühungen der Bürgerinnen und Bürger die Arbeitslosigkeit
senken und Europas Wettbewerbsfähigkeit sichern.484 Ebenso werden an die
Basisbildung und Alphabetisierung hohe Erwartungen herangetragen. Agneta
Lind fügt für die Alphabetisierung klärend hinzu:
Lifelong learning is seen as a prerequisite for human development and for dealing with the globalized economy and changing labour market demands. ABLE (adult basic learning and eduation-G.G.) in itself will not solve the problems of poverty, unemployment, discrimination, violation of human rights, HIV/AIDS, exclusion, etc. ABLE is only a means to cope with basic learning needs of adults. But ABLE has the potential of enabling creative and democratic citizenship, giving a voice to women and men living in poverty, as well as tools for improving their lives. ABLE should, however, go beyond addressing poverty.485
Ein wichtiger Punkt wird im öffentlichen Diskurs meist wenig erwähnt, da
der Fokus eher auf ökonomischen Nutzeneffekten ausgerichtet ist. Es ist die
Erkenntnis, dass das Bildungsniveau der Eltern der beste Garant für die
Erfolgserlebnisse der Kinder beim Lernen darstellt. Das zeigt: „Investitionen in
Erwachsenenbildung und Alphabetisierung sind daher Investitionen in die
Bildung ganzer Familien“.486 Bevor im nächsten Kapitel auf die Basisbildung
und Alphabetisierung in Österreich eingegangen wird, soll eine von Otto Rath
zitierte Textstelle diesen präventiven Aspekt besonders hervorheben:
Mama say this new school ain shit. Say you cant learn nuffin writing in no book. Gotta git on that computer you want some money. When they gonna teach you how to do the computer. But Mama wrong. I is learning. Im gonna start going to Family Literacy class on Tuesdays. Important to read to baby after its born. Important to have colors hanging from the wall. Listen baby, I puts my hand on my stomach, breathe deep. [...] Listen baby, Muver love you. Muver not dumb. Listen baby: ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ. Thas the alphabet. Twenty-six letters in all. Them letters make up words. Them words everything.487
483 vgl. Gruber, Elke: Pädagogisierung, in: SCHULHEFT, Jg. 29, 116/2004, S. 95. 484 vgl. ebd. 485 Lind, Agneta: Gender equality in adult basic education programms, in: International Journal of Educational Development, Jg. 26, 02/2006, S. 168. 486 Das „Zwischentreffen“ von Amman, in: Hinzen, Heribert; Müller, Josef 2001, S. 57. 487 Sapphire, zit. in: Rath, Otto 86/2001, S. 4.
120
6. ÖSTERREICH
Einen kleinen Einblick in den Kursablauf bei ISOP ermöglichen die Zeilen
eines Teilnehmenden aus der Steiermark:
„Hilfe, Hilfe“
Wer hilft uns, unsere Lese- und Schreibschwäche zu bewältigen? In der Steiermark ist es die ISOP. Sie bieten Grundkurse und Fort-geschrittenenkurse in Schreiben, Rechnen, Lesen und Computer an. Der Einstieg wird in Einzelunterricht begonnen. Im Gruppenunterricht nehmen bis zu 5 Personen teil und er dauert 2 mal 3 Stunden in der Woche. Der Kurs beginnt mit einer Rundfrage um das Wohlbefinden. Durch heitere Bemerkungen der einzelnen Kursteilnehmer wird der Unterricht aufgelockert. Und so vergehen die 3 Stunden im Nu und wir gehen gestärkt und selbstbewusst in den Tag! Drei bis viermal im Jahr wird auch für die Zeitschrift Bumerang geschrieben. Da können wir unser Talent zu Papier bringen!488
6.1 Alphabetisierung und Basisbildung in Österreich
Alphabetisierung und Basisbildung für Jugendliche und Erwachsene mit
deutscher Muttersprache ist noch ein sehr junger Bildungsbereich in
Österreich. Wie sieht nun die Situation für dieses Arbeitsfeld hierzulande aus
und wie hat es sich entwickelt? Welche Pläne gibt es für die Zukunft? In
diesem Kapitel soll ein kurzer Überblick geboten und der Wirkung des
Ansatzes Paulo Freires auf die österreichische Alphabetisierung und Basis-
bildung nachgegangen werden. Zum Abschluss berichte ich unter „Theorie-
Praxisbezüge“ von meinen Erfahrungen bei „Alphabet und Co“ in Linz.
6.1.1 Quantitative Erhebungen
Aus den Informationen des „Netzwerk Alphabetisierung.at“ geht hervor,
dass in Österreich 300.000 erwachsene Menschen leben, die die Mithilfe
anderer beim Lesen, Schreiben und Rechnen benötigen, um ihren privaten
und beruflichen Alltag bewältigen zu können.489 Die Zahl stützt sich auf eine
Schätzung der UNESCO aus dem Jahr 1989, die zu diesem Zeitpunkt 1-3%
Analphabetinnen und Analphabeten für die Industriestaaten angenommen
488 Helmut: „Hilfe, Hilfe“, in: BUMERANG, 05/2005, S. 25. (Homepage) URL: www.ibap.at (02.06.2008). 489 vgl. Netzwerk Alphabetisierung.at. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/info/info_1.htm (02.10.2007).
121
hatte.490 Nach neueren Schätzungen des Europäischen Parlaments (2002)
werden 10-20% Betroffene in der Bevölkerung der Union angenommen.491
Demzufolge geht das Netzwerk Alphabetisierung.at von „mindestens 600.000
funktionale(n) AnalphabetInnen“ aus.492 10-20% bedeutet, nach Otto Rath
aktuell für Österreich, „(…) dass man von 670.000 bis 1,34 Millionen
Betroffenen ausgehen muss (Berechnungsbasis: 10-20% der Bevölkerung
älter als 15 Jahre)“.493
6.2 Internationale Studien
Die Vertreterinnen und Vertreter der Eltern und des Lehrpersonals klagen
derzeit (Februar 2007) über einen „Testmarathon für Schüler“ in Österreich.
Die Lehrerinnen, Lehrer und Eltern beschäftigt dabei nicht die Besorgnis, was
mit all den in den vielen nationalen und internationalen Tests erhobenen
Daten geschehen mag, sondern eher die Ungewissheit, ob damit überhaupt
etwas geschieht.494
Gänzlich anders sieht es bei den Studien in der Erwachsenenbildung aus.
Österreich hat sich, mit Ausnahme der PISA-Studie, bislang an keiner
internationalen Vergleichsstudie beteiligt und daher gibt es hier - wie in vielen
europäischen Ländern - keine verlässlichen Daten über die Anzahl der
Erwachsenen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten. Indessen wurde, nach
einem Bericht von Athur Schneeberger, die Grundbildung für Erwachsene bei
der „OECD-Länderprüfung zur Erwachsenenbildung“ (2004) als „Tabu-Thema“
in Österreich verortet.495 Michael Tölle bemerkte anlässlich einer Fachtagung
(2005) in seinem Referat dazu: „Analphabetismus wird in Österreich nicht als
Problem gesehen, nicht als Problem definiert und ist somit auch kein Problem,
auf das politisch reagiert werden müsste“.496
Vielleicht hat die lange andauernde Abwesenheit der „bildungspolitischen
Anerkennung“ der Grundbildung und Alphabetisierung für Erwachsene damit
490 vgl. Netzwerk Alphabetisierung.at. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/info/info_3.htm (02.10.2007). 491 Siehe dazu ebenfalls Kapitel 4 und Kapitel 5. 492 vgl. Doberer-Bey, Antje: „Alphabetisierung im Brennpunkt“ 2006, S. 72. 493 vgl. Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-3. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008). 494 vgl. Pöll, Regina: Testmarathon für Schüler, in: Die Presse, 21.02.2007, S. 5. 495 vgl. ibw-Bildung & Wirtschaft: Strukturwandel–Bildung–Employability, S. 18. (Homepage) URL: www.ibw.at/html/buw/BW34.pdf (05.09.2006). 496 Tölle, Michael: Der mühsame Weg der Alphabetisierung, in: Doberer-Bey, Antje 2006, S. 30.
122
zu tun, dass dies „(...) implizit das Eingeständnis eines partiellen Versagens
des Schulsystems bedeutet und mit finanziellen Verpflichtungen für eine
unabweisbar personalintensive pädagogische Arbeit verbunden ist“.497 Ganz
sicher aber hat es, nach Ansicht von Michael Tölle, mit folgender Tatsache zu
tun: Finnland, das PISA-Siegerland, wendet „14% seines Bildungsbudgets für
die Erwachsenenbildung“ auf, während in Österreich dafür gerade einmal
„0,13%“ zur Verfügung stehen.498
Österreich hat in den letzten beiden Jahren politischen Willen gezeigt, die
Initiativen in der Alphabetisierung und Basisbildung stärker zu fördern. So
findet sich im Regierungsprogramm anschließender Passus:
4. Maßnahmen zur Alphabetisierung
Ziel:
• Weitere Senkung des Anteils an Personen mit mangelnden Basisqualifikationen (Schreiben, Lesen, Rechnen, EDV)
Umsetzung:
• Spezielle Förderung der Angebote zum Erwerb von Basisqualifikationen499
Medienberichten zufolge wird sich die Situation bezüglich der fehlenden
Daten nun doch bald ändern, da die Kompetenzen von 5.000 Erwachsenen
(16 bis 65 Jahre) im Rahmen einer für 2009 geplanten OECD-Studie erhoben
werden sollen. Doch noch gibt es keine entgültige Zusage für die Teilnahme
Österreichs.500 Offen bleibt auch, ob Erwachsene, die große Probleme mit der
Schriftsprache aufweisen, an der Studie überhaupt teilnehmen würden.
Inhaltlich wird das „Programme for the International Assessment of Adult
Competencies (PIAAC)“,501 nach Andreas Schleicher, der Frage nachgehen
„(…) welche Kompetenzen Menschen in der modernen Gesellschaft erfolgreich
machen und wie wir diese Eigenschaften stärken können“.502 Er erklärt:
Es geht bei Piaac nicht um reines Abfragewissen wie in Pisa-Quizshows. Viele Aufgaben und Fragestellungen ähneln denen in einem Assessment-Center. Wir wollen wissen, inwieweit Menschen sich in
497 vgl. Bastian, Hannelore: Vorbemerkungen, in: Tröster, Monika 2002, S. 5. 498 vgl. Tölle, Michael: Der mühsame Weg der Alphabetisierung, in: Doberer-Bey, Antje 2006, S. 32. 499 Österreichische Bundesregierung: Regierungsprogramm für die XXIII. GP., S.95. (Homepage) URL: www.bmf.gv.at/Service/Regierungsprogramm.pdf (26.09.2007). 500 vgl. Witzmann, Erich: Pisa-Test für Erwachsene, in: Die Presse, 23.09.2006, S. K 20. 501 Mehr Information bei der OECD (Homepage) URL: www.oecd.org. 502 vgl. Schleicher, Andreas, zit. in: Götsch, Antonia 14.11.2006. (Homepage) URL: www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,448269,00.html (25.09.2007).
123
einer sich beständig verändernden Welt immer wieder neu positionieren können, ob sie in der Lage sind, zu kooperieren und in Teams zu arbeiten, Konflikte zu lösen und sich in multikulturellen Gesellschaften konstruktiv einzubringen. Dabei geht es darum zu zeigen, was die Spitzengruppe kann, aber auch Basiskompetenzen und Defizite in Risikogruppen zu beleuchten.503
6.2.1 Programme for International Student Assessment (PISA)
Die PISA-Studie vergleicht die Kompetenzen von Schülerinnen und
Schülern (15 bis 16 Jahre) in den Bereichen Lesen, Mathematik, Naturwissen-
schaften und Problemlösen. Österreich nahm bisher an drei Testdurchgängen
(2000, 2003 und 2006) teil. Die Ergebnisse der PISA-Studie 2006 sind Ende
des Jahres 2007 zu erwarten. Die Testresultate werden in Kompetenzstufen
eingeteilt. Auf der niedrigsten Leistungstufe 1 und darunter befindet sich die
so genannte „Risikogruppe“. Waren es, nach Angaben des Projektzentrums
für Vergleichende Bildungsforschung, im Jahr 2000 im Bereich Lese-
Kompetenz 14% der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler, die wegen
ihrer geringen Lesefähigkeit auf dem niedrigsten Leistungsniveau oder noch
darunter verblieben, erhöhte sich der Wert 2003 auf 20%.504
Im Jahr 2000 stand die Lese-Kompetenz im Mittelpunkt. Zu diesem
Zeitpunkt erreichten im Detail 10% der österreichischen Schülerinnen und
Schüler nur die unterste Stufe und „(...) 4% der Jugendlichen liegen als
extreme Risikogruppe für möglichen Analphabetismus sogar noch
darunter.“505 Zusätzlich kann aus den Resultaten (2000) geschlossen werden,
dass in der Untersuchungsgruppe „mehr als 40% ‚Leseverweigerer‘" anwesend
waren.506 Das Projektzentrum für Vergleichende Bildungsforschung informiert:
PISA konnte in ersten Analysen zeigen, dass Leseleistungen in Zusammenhang stehen mit Konstrukten wie Lesefreude oder dem Interesse an vielfältigem Lesestoff sowie sozioökonomischen, familiären und schulischen Faktoren. So ist der Risikofaktor eines Pflichtschülers, ein schlechter Leser zu sein, wesentlich vom sozioökonomischen Status abhängig.507
503 Schleicher, Andreas, zit. in: Götsch, Antonia 14.11.2006. (Homepage) URL: www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,448269,00.html (25.09.2007). 504 vgl. ZVB: Ergebnisse PISA 2003, S. 7. (Homepage) URL: www.pisa-austria.at/PISA2003_Download_Ergebnisse.pdf (26.09.2007). 505 vgl. VI. OECD/PISA 2000. (Homepage) URL: www.pisa-austria.at/pisa2000/international/kap6/index.htm (05.09.2006). 506 vgl. Bundesministerium; Buchklub: Fit beim Lesen – fit für das Leben. (Homepage) URL: www.lesefit.at/projekt.htm (31.07.2007). 507 VI. OECD/PISA 2000. (Homepage) URL: www.pisa-austria.at/pisa2000/international/kap6/index.htm (05.09.2006).
124
Nach den Resultaten der PISA-Studie des Jahres 2003 muss angenommen
werden, dass derzeit 20%, d.h. ungefähr 18.000 Jugendliche jährlich
„nach zumindest 8 bis 9 Jahren allgemein bildender Schule nicht ausreichend
fließend und Sinn entnehmend Lesen gelernt haben“.508 Die Autorinnen und
Autoren der Pisa-Studie ergänzen:
Es darf bezweifelt werden, dass diese Schüler/innen zum Verstehen alltäglicher, einfacher Texte ausreichend befähig sind – ihre Fähigkeit zum selbstständigen Bildungserwerb ist auf jeden Fall durch die schwache Lese-Kompetenz sehr stark eingeschränkt.509
Die Ergebnisse im Bereich der Mathematik-Kompetenz sind ähnlich
ernüchternd, denn 19% der Jugendlichen erreichten im Jahr 2003 nicht oder
nur die niedrigste Stufe „(6% unter Level 1, weitere 13% auf der ersten
Kompetenzstufe)“. 510 Ihre geringen Fähigkeiten lassen die Autorinnen und
Autoren befürchten, dass für diese Schülerinnen und Schüler die Partizipation
am gesellschaftlichen und beruflichen Leben in Zukunft nur eingeschränkt
möglich sein wird. Jugendliche der Mathematik-Risikogruppe waren
hauptsächlich in Polytechnischen Schulen (40%), Berufsschulen (31%) und
Berufsbildenden Mittleren Schulen (23%) anzutreffen.511 Die Schülerinnen und
Schüler der Lese-Risikogruppe besuchten überwiegend Polytechnische
Schulen (54%) und Berufsschulen (39%).512
Nicht vergessen werden dürfen die Schülerinnen und Schüler, die die
Schule ohne Abschluss verlassen haben und über deren Kompetenzen im
Lesen, Schreiben und Rechnen daher keine Information vorhanden sind. 2005
verließen 9,1% der Jugendlichen die Schule frühzeitig.513 Sie werden es ohne
Abgangszeugnisse besonders schwer haben sich im beruflichen und
gesellschaftlichen Leben zu behaupten und ihre eigenen Ziele zu erreichen.
Josef Haslinger vermerkt in einem Buch kritisch zum Deutschunterricht:
Wenn ein deutschsprachiger Schüler am Unterricht der deutschen Sprache nicht freiwillig teilnimmt, hat ihm die Schule nicht glaubwürdig vermitteln können, dass der Gegenstand des Sprachunterrichts die
508 vgl. ZVP: Ergebnisse PISA 2003, S. 7. (Homepage) URL: www.pisa-austria.at/PISA2003_Download_Ergebnisse.pdf (26.09.2007). 509 ebd. 510 vgl. ebd. S. 5. 511 vgl. ebd. S. 5f. 512 vgl. ebd. S. 7. 513 vgl. Bundesministerium: Statistisches Taschenbuch 2006, S. 25. (Homepage) URL: www.bmukk.gv.at/medienpool/15070/stat_tb_06.pdf (27.07.2007).
125
Artikulation des eigenen Lebens ist. Schreiben ist graphisch sichtbar gemachtes Denken und Empfinden.514
Peter Stöger teilt diese Sichtweise, wenn er sagt: „Buchstaben und Wörter
bedeuten Leben – das ist es, was sie (die Menschen mit Schwierigkeiten im
Lesen und Schreiben-G.G.) gelernt haben und was wir in der Schule nicht
gelernt haben. Das lernt man nicht in der Schule“.515
6.3 Die Anfänge der Alphabetisierung und Basisbildung
Im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern blieben in Österreich
Menschen mit großen Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben und Rechnen
lange Zeit vollkommen unbemerkt oder unbeachtet. Erst als das Jahr 1990
von den Vereinten Nationen zum „Internationalen Jahr der Alphabetisierung“
erklärt wurde, begannen die Wiener Volkshochschulen damit, ein
Alphabetisierungsprojekt für Erwachsene mit deutscher Muttersprache zu
konzipieren. Die „Volkshochschule Floridsdorf“ startete 1991 erstmals mit
Basisbildungskursen, finanziert vom Bundesministerium für Unterricht und
kulturelle Angelegenheiten. Im Zeitraum vom Februar 1991 bis zum Juni 1995
konnten insgesamt 124 Personen teilnehmen. Über den Verlauf des Projektes
berichtet eine fundierte Studie von Elisabeth Brugger, Antje Doberer-Bey und
Georg Zepke.516
In den folgenden Jahren wurden Kurse von verschiedenen Institutionen, in
Graz durch die „ISOP Innovative Sozialprojekte“ ab 1995, in Linz durch
die „Volkshochschule Linz“ ab 1996 und in Salzburg vom „abc - Lesen
und Schreiben für Erwachsene (abc Salzburg)“ ab 1999, durchgeführt.
Um bundesweit ein nach Lerngruppen differenziertes Kursangebot realisieren
zu können, gründeten die Vertreterinnen und Vertreter der vier Institutionen
2003 das „Netzwerk Alphabetisierung.at“, das folgende Angebote offeriert. Es:
▪ initiiert Untersuchungen ▪ entwickelt Konzepte ▪ verstärkt Know-how ▪ unterstützt Initiativen ▪ sorgt für Enttabuisierung517
514 Haslinger, Josef: Sprachkultur o.J., S. 49. 515 Stöger, Peter, in: Mitschrift: Diplomarbeitsbesprechung vom 03.02.2006. 516 vgl. Brugger, Elisabeth; Doberer-Bey, Antje; Zepke, Georg: Alphabetisierung für Österreich 1997, S. 28. 517 Netzwerk Alphabetisierung.at. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/index.htm (02.10.2007).
126
2013 SOLLEN ALLE ÖSTERREICHERINNEN LESEN UND SCHREIBEN KÖNNEN518
Dieses sehr hohe Ziel setzte sich das Netzwerk Alphabetisierung.at im
Rahmen der Alphabetisierungsdekade der UNESCO (2003 – 2012).519 Vom
Netzwerk werden seitdem entsprechende Schritte gesetzt, damit in Zukunft
alle Betroffenen einen für sie passenden, qualitätsgesicherten Kurs in örtlicher
Nähe besuchen können.
6.4 Basisbildung und Alphabetisierung bis dato
Jede einzelne anbietende Institution in ihrem Bundesland sowie das
Netzwerk Alphabetisierung.at auf nationaler Ebene verstärkten ihre bisherigen
Aktivitäten und entwickelten neue Wege zur Zielerreichung. Einige Beispiele
sind: Der „Lehrgang Alphabetisierung und Basisbildung mit Erwachsenen
deutscher Muttersprache“520, die Etablierung weitere Kurse in Vorarlberg,
Kärnten und Niederösterreich,521 das ISOP-Projekt „Literacy in Progress“ in
der Steiermark, welches das „(…) Zusammenspiel von Analphabetismus,
Arbeitslosigkeit, Krankheit, mangelnder politischer Partizipation und Armut“
interdisziplinär untersuchte und ein entsprechendes „regionales, systemisch
wirksames Angebot“ einrichtete, uam.522 Ein entscheidendes Ereignis in der
Entwicklung der Basisbildung und Alphabetisierung in Österreich war im Jahr
2005 der Zusammenschluss zur Entwicklungspartnerschaft „In.Bewegung“.
6.4.1 In.Bewegung
Das Projekt „In.Bewegung – Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung
in Österreich“ (2005 - 2007) ist eine Equal-Entwicklungspartnerschaft, die 18
Organisationen aus 6 Bundesländern miteinander verbindet. Das Netzwerk
beabsichtigte, im Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und
Kultur und des europäischen Sozialfonds (ESF), die nötigen Strukturen und
Grundlagen für ein österreichweites, qualitätsgesichertes und an den
Teilnehmenden orientiertes Kurs- und Beratungsangebot in der Basisbildung
und Alphabetisierung zu entwickeln. Damit war es erstmals möglich, das
518 Netzwerk Alphabetisierung.at. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/info/info_1.htm (02.10.2007). 519 vgl. ebd. 520 Der Lehrgang wird seit 2005 als „Lehrgang universitären Charakters“ durchgeführt. 521 Aktuell stattfindende Kurse und Institutionen siehe: www.alphabetisierung.at. 522 vgl. Netzwerk „Alphabetisierung und Basisbildung“ in Österreich. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/index.php?id=106 (25.06.2008).
127
vorhandene Know-how und die Erfahrungen der Initiativen, Organisationen
und NGOs aus verschiedenen Bereichen und Regionen zu bündeln und neue
Kursmodelle in Betrieben (Kärnten), in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft
(Oberösterreich) und für Frauen in strukturschwachen Gebieten (Salzburg) zu
erproben. Darüber hinaus war es einigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern
möglich, ihre Interessen, Erkenntnisse und Erfahrungen einzubringen und an
den für sie entwickelten Angeboten in wichtigen Bereichen mitzuarbeiten.
„Warum? ... dieses Engagement?”, notieren die Netzwerkverantwortlichen:
● weil es in Österreich mindestens 600.000 erwachsene Menschen mit schweren Defiziten im Grundbildungsbereich gibt
● weil dies der Anfang einer Spirale nach unten mit weitreichenden Folgen ist
● weil diese Menschen massiv von Arbeitsplatzverlust bedroht sind ● weil Arbeitslosigkeit die Existenzen von Familien gefährdet und
krank macht ● weil der „dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum“ es sich
nicht leisten kann, auf wertvolle Arbeitskräfte zu verzichten ● weil fundierte Lese- und Schreibkompetenzen Voraussetzung sind
für weiteres Lernen ● weil man heute als Erwachsene (r) alles lernen darf – nur nicht ein
zweites Mal Lesen, Schreiben und Rechnen ● weil jeder Mensch ein Recht hat auf Bildung und Entfaltung523
Im Projektzeitraum konnten folgende Ziele verwirklicht werden: Die
Errichtung eines tragfähigen, überregionalen Netzwerks, bestehend aus den
Vertreterinnen und Vertretern der anbietenden Institutionen, der Politik, der
Wissenschaft und den Sozialpartnern; Die Installation einer zentralen
Beratungsstelle inklusive Internetportal (www.alphabetisierung.at) und Alfa-
Telefon (0810/20 0810); Die Entwicklung von Qualitätsstandards, eines
Berufsbildes und eines Weiterbildungskonzepts für die Lehrenden sowie eines
Beratungsangebots bezüglich Sensibilisierung, Marketing und Teilnehmenden-
akquisition; Die Planung und Realisierung innovativer Kursmodelle in
Oberösterreich, Salzburg und Kärnten; die Teilnahme an einem thematischen
Netzwerk über Kompetenzbewusstsein und an einem transnationalen
Netzwerk (mit Finnland, Frankreich und Großbritannien) zur Mitwirkung der
Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmervertreter gegen auftretende
Benachteiligung und Ausgrenzung am Arbeitsplatz und vieles andere.524
523 In.Bewegung: Warum?…dieses Engagement? (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/84.0.html (03.06.2008). 524 vgl. Rath, Otto: Eröffnung der Tagung Perspektive: Bildung, S. 2. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at (02.10.2007).
128
Im gemeinsamen Bericht der Bundesministerien für Unterricht, Kunst und
Kultur sowie für Wissenschaft und Forschung (2007) zur Umsetzung des EU-
Arbeitsprogramms „Allgemeine und berufliche Bildung 2010“ heißt es:
Besonders erfolgreich verlief die Entwicklungspartnerschaft „In.Bewegung“, die zur Etablierung eines österreichweiten Beratungs-angebots im Bereich der Basisbildung, zur Erstellung spezieller zielgruppengerechter Lernmaterialen und zur Intensivierung des institutionsübergreifenden Austausches führte. Diese Partnerschaft wurde mit 956.000 € (inkl. ESF Mittel) gefördert.525
6.4.2 In.Bewegung-Zukunftsperspektiven
Jugendliche und Erwachsene, die im Rahmen der Basisbildung und
Alphabetisierung in Lernprozesse (wieder-)einsteigen, sind auf kontinuierliche
Angebote angewiesen. Um diese Kontinuität zu wahren, setzt sich das
Netzwerk „In.Bewegung“ folgende Ziele bis zum Jahr 2010:
Generelles Ziel ist die „Unterstützung der österreichischen Strategie zum
Lebenslangen Lernen“ innerhalb der Basisbildung Erwachsener mittels der im
Netzwerk bereits entstandenen und in Zukunft entstehenden Resultate und
Produkte.526 Diese Ergebnisse werden allen, an qualitätsgesicherten und vorab
erprobten Maßnahmen interessierten, anbietenden Institutionen in Österreich
zugänglich gemacht. Mit Hilfe von intensiver und erweiterter Vernetzungs-
tätigkeit soll ein flächendeckendes qualitätsgesichertes Angebot entstehen.
„Ziel 1: Entwicklung“: Ein erfolgreiches qualitätsgesichertes
Basisbildungsangebot im Sinne der Teilnehmenden erfordert ein adäquates
Know-how und einen die Umsetzung begleitenden beständigen
Entwicklungsprozess. Die Zielsetzungen bis 2010 lauten: Die durch
In.Bewegung 2005 begonnene Entwicklung wird weitergeführt, neue
Entwicklungsbereiche werden bearbeitet und auf den Transfer wird besonders
geachtet.
„Ziel 2: Wissenstransfer über erweiterte Netzwerkstrukturen“: Der
Wissenstransfer wird über thematisch verfeinerte und geographisch erweiterte
Netzwerke verlaufen. Die Netzwerkknotenpunkte, die bestehenden Mitglieder
der Entwicklungspartnerschaft In.Bewegung, achten auf den Know-how-
Transfer zwischen dem Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung und den
525 Bundesministerium: Österreichischer Bericht 2007, S. 24. (Homepage) URL: www.bmukk.gv.at/medienpool/15320/abb2010_zwb07_dt.pdf (25.06.2008). 526 vgl. Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-10. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008).
129
regionalen Netzwerken. Bis zum Jahr 2010 wird angestrebt, „(…) dass in
jedem Bundesland eine Schnittstelle zwischen dem Netzwerk Basisbildung und
Alphabetisierung und den regionalen Netzwerken geschaffen ist“.527
„Ziel 3: Support“: In.Bewegung stellt ihre bisher entwickelten, erprobten
und evaluierten Produkte den anbietenden Institutionen zur Verfügung. Das
Selbstverständnis von In.Bewegung als Supportstruktur von qualitätsvollen
Angeboten im Sinne der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wird als „Prozess
der Markenbildung“ weitergeführt.528
6.5 Emanzipatorische Alphabetisierung in Österreich
Die Vertreterinnen und Vertreter der Basisbildung und Alphabetisierung
messen dem emanzipatorischen Bildungsanspruch oft großen Wert bei und
wenden sich gegen eine einseitige Ausrichtung an den Parametern des
Arbeitsmarktes und der wirtschaftlichen Verwertbarkeit. Zwei österreichische
Institutionen die Grundbildung und Alphabetisierung anbieten, beziehen sich
in ihrer Arbeit konkret auf den dialogischen Bildungsansatz Paulo Freires.529 Es
sind dies die Volkshochschule Linz, die hier näher vorgestellt wird, und „Die
Kärntner Volkshochschulen“ mit dem Lehrgang „Bildung wieder entdecken“.530
6.5.1 Volkshochschule Linz (VHS Linz)
Basisbildung für Erwachsene bedeutet für die Trainerinnen und Trainer der
Volkshochschule Linz den Lernenden die aktive gesellschaftliche und
berufliche Teilnahme zu ermöglichen. Demgemäß bestimmen die individuellen
Ressourcen und Lebensbedingungen der Teilnehmenden die Lerninhalte. Die
Basis und der methodisch-didaktische Ausgangspunkt ihrer erfolgreichen
Arbeit bilden, in Übereinstimmung mit Paulo Freire, die aktuellen Bedürfnisse
und das Lebensumfeld der Lernenden, der dialogische Bildungsansatz und der
527 vgl. Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-11. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008). 528 vgl.ebd. 529 Es ist nicht auszuschließen, dass in Österreich weitere Anbieterinnen und Anbieter bzw. Trainerinnen und Trainer nach Paulo Freires pädagogischen Konzepten arbeiten bzw. Elemente seiner Theorie verwenden. Nachforschungen diesbezüglich fehlen im Bereich der Basisbildung und Alphabetisierung und sind auch hier nicht vorgesehen. 530 vgl. Kastner, Monika; Penz, Isabella: Betriebe und Basisbildung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 13-7. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_13_kastner_penz.pdf (03.06.2008).
130
„fließende Übergang zwischen der Rolle des/der Lehrenden und des/der
Lernenden“.531
Wie Sonja Muckenhuber hervorhebt, sind die Verantwortlichen der
Alphabetisierung und Grundbildung der VHS Linz bestrebt, über das Erlernen
des Lesens und Schreibens hinausgehend „(…) die Betroffenen zu ‚verführen‘
und zu unterstützen, sich gesellschaftliche Bereiche, die ihnen bislang
unerreichbar schienen, (zurück) zu erobern“.532 Besonders am Herzen liegt
den Verantwortlichen in diesem Zusammenhang die politische Partizipation
und die kulturelle Integration der Lernenden. Bücher und Literatur können sie
darin unterstützen „Teile der ‚Wirklichkeit‘“ wahrzunehmen und sie „über den
Horizont seines/ihres aktuellen Daseins“ hinausführen. Gemeinsame Besuche
von Theateraufführungen, Lesungen, Buchbesprechungen u.a.m. dienen
ebenfalls dieser Intention. Auch wenn sich die Lebensrealität der Lernenden in
den Grundbildungskursen der VHS Linz völlig von den Lebensbedingungen der
brasilianischen Bevölkerung unterscheidet, arbeiten die Verantwortlichen nach
den pädagogischen Grundsätzen Paulo Freires, denn:
(…) das Ziel unserer Alphabetisierungsinitiative, nämlich den Lernenden den Zugang zur Teilhabe an der Gesellschaft und den Zugang zur Gestaltung und Veränderung ihrer ‚Wirklichkeit‘ zu eröffnen, ist mit der Erziehungsabsicht Paulo Freires aber durchaus vergleichbar.533
Was sind nun die Besonderheiten in der Alphabetisierung und
Grundbildung der VHS Linz, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich nach
den Grundsätzen Paulo Freires orientieren? Worin unterscheiden sich diese
Kurse (möglicherweise) von anderen österreichschen Maßnahmen für Basis-
bildung und Alphabetisierung? Sonja Muckenhuber erwähnt in ihrem Artikel
folgende „Freiresche Erziehungselemente“, die innerhalb der Grundbildungs-
kurse umgesetzt werden. Sie beginnt mit der Orientierung an der aktuellen
Lebenswelt der Lernenden:
Freires Methode geht davon aus, dass sich Bildungsprozesse immer an der aktuellen konkreten Situation der Menschen orientieren müssen: Für die MitarbeiterInnen der Volkshochschule Linz steht nicht die Übermittlung von Informationen und Fakten im Zentrum, sondern die persönliche Lebenssituation der Menschen – ihre Probleme und
531 vgl. Muckenhuber, Sonja: Mehr als Lesen und Schreiben, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 11-1. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_11_muckenhuber.pdf (03.06.2008). 532 vgl. ebd., S. 11-2. 533 ebd., S. 11-3.
131
sozialen Konflikte. Der Prozess der Bildung soll durch aktive, dialogische, kritische und Kritik anregende Methoden erreicht werden.534
Die Autorin bezieht auch die Berührungspunkte zwischen den eigenen
Erfahrungen der Lernenden und dem gesellschaftspolitischen Kontext mitein:
Für Freire ist die Verknüpfung von utopischem Denken und historischer Wirklichkeit wichtig: Didaktisch bedeutet dies für die Basisbildungs- und AlphabetisierungstrainerInnen an der VHS Linz, nicht mit vorgefertigten Materialien zu arbeiten, sondern sich den Lebenskontexten und Problemen der jeweiligen Zielgruppe zu nähern und diese bewusst zu machen, Lösungen anzuregen gleichwie gesellschaftsveränderndes Denken und Handeln zu fördern.
Erst durch die Analyse der eigenen Situation wird es für die Beteiligten möglich, die gesellschaftspolitische Dimension ihrer persönlichen Probleme zu erkennen und somit nach Möglichkeiten der Veränderung und „Befreiung“ zu suchen. In der dialogischen Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt sollen die Beteiligten in gemeinsamen Prozessen Problemdefinitionen entwickeln, Ursachen, Zusammenhänge und Hintergründe erschließen und sich Lösungsansätze überlegen. Die Lehrenden übernehmen dabei eine begleitende Funktion, wobei die Verschiedenartigkeit der Menschen berücksichtigt und gewürdigt wird.535
• Ein wesentlicher Grundsatz Paulo Freires lautet: „(…) literacy becomes a
meaningful construct to the degree that it is viewed as a set of practices
that functions to either empower or disempower people“.536 Für die
Verantwortlichen der VHS Linz bedeutet das eine klare Ausrichtung:
Im Mittelpunkt Freires Bildungsarbeit steht das Individuum – sein Fokus gilt der Stärkung der Persönlichkeit/der persönlichen Ressourcen des/der Einzelnen: Der Empowerment-Gedanke erfasst und trifft dieses Anliegen Freires ziemlich genau – und Empowerment steht auch im Mittelpunkt des Bildungsangebotes der VHS Linz.537
In dialogischen Erkenntnisprozessen suchen die Lernenden und Lehrenden
gemeinsam nach Wissen und Erkenntnis:
Freire will Bildung als eine Erkenntnissituation verstanden wissen, in der über die Realität reflektiert wird und die Zusammenhänge der Welt begriffen werden sollen: Dazu ist es unbedingt erforderlich, die Kluft
534 Muckenhuber, Sonja: Mehr als Lesen und Schreiben, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 11-4. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_11_muckenhuber.pdf (03.06.2008). 535 ebd. 536 vgl. Freire, Paulo; Macedo, Donaldo: Literacy 1987, S. 141. 537 Muckenhuber, Sonja: Mehr als Lesen und Schreiben, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 11-4. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_11_muckenhuber.pdf (03.06.2008).
132
zwischen Lehrenden und Lernenden aufzuheben und eine dialogische Synthese herzustellen. Die traditionelle Rolle des Lehrers als Autoritätsperson ist nicht haltbar. Lehrinhalte (Lerninhalte) sollen nicht von vornherein festgelegt, bearbeitet und dann vorgetragen werden. Auch der Begriff „Lehrstoff“ rückt an den Rand des Unterrichts. Im Mittelpunkt steht stattdessen eine Problematisierung der Lebenswirklichkeit, wobei Interaktionen eine große Rolle spielen.538
Auf die unterschiedlichen Lebenssituationen der Lernenden der VHS Linz
und den daraus resultierenden Anforderungen an das Kursdesign geht Sonja
Muckenhuber in ihrem letzten Punkt näher ein:
Die TeilnehmerInnen an Basisbildungskursen zeichnen sich durch weitgehend unterschiedliche Lebens-, Berufs- und Lernbiografien aus. Es gibt keine gemeinsame Mikrokultur – gemeinsame Strukturen müssen erst geschaffen werden. Ein Bestandteil der Kurse ist deshalb die Förderung des Entstehens eines strukturellen Mikronetzwerkes, das die Alltagswelt des/der Einzelnen mit neuen Lebensrealitäten verbindet. Ziel der Bildung ist es, die Lebenswelten der TeilnehmerInnen zu stärken und ihnen optionale Wege zu neuen Lebensbereichen zu öffnen. „Bessere“ Bildung soll den Teilnehmenden helfen, vielfältiger, mutiger und für sich selbst befriedigender an ihrer Umwelt teilzuhaben. Bildung soll nichts Abstraktes, sondern einsetzbar, verwendbar und verwertbar sein.539
6.5.2 Theorie-Praxisbezüge
Im Rahmen des Lehrgangs „Alphabetisierung und Basisbildung mit
Erwachsenen deutscher Muttersprache“ war es mir im Jahr 2005 möglich,
Einblicke in die praktische Kurstätigkeit zu gewinnen. Die Beobachtungen aus
der Grundbildungsarbeit der VHS Linz - ehemals AlphaBet und Co - werden
hier mit theoretischen Überlegungen Paulo Freires verbunden:540
Am Kursanfang nannten die Lernenden zu jedem Buchstaben ein Wort,
das wichtig für sie ist und begründen ihre Wahl. Dieses Lebensalphabet mit
ihren Wörtern wird von einer Trainerin oder einem Trainer mitgeschrieben und
dient als Themenfindung für den Kursunterricht.
Man sucht nicht nur die Wörter mit der größten existentiellen Bedeutung und damit mit dem größten emotionalen Gehalt, sondern auch typische Redeweisen, Wörter und Ausdrücke, die mit der Erfahrungswelt der jeweiligen Gruppe verbunden sind.541
538 Muckenhuber, Sonja: Mehr als Lesen und Schreiben, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 11-5. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_11_muckenhuber.pdf (03.06.2008). 539 ebd. 540 Es folgen überarbeitete Texte aus: Grillmayr, Gabriela: De Traktorn 2005, S. 30fff. 541 Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 54.
133
Die generativen Wörter, die in den Programmen benutzt werden sollen, sollten aus dem Feld dieser Wortuntersuchungen genommen werden, nicht aber auf der persönlichen Inspiration des einzelnen Erziehers beruhen, gleichgültig wie fachmännisch er seine Liste auch aufstellt.542
Die Lernthemen bei AlphaBet und Co sind vorwiegend Angelegenheiten,
die das eigene Leben der Lernenden betreffen, sowie aktuelle lokal, national
und international wichtige Ereignisse. Für jede einzelne Teilnehmerin und für
jeden einzelnen Teilnehmer werden individuelle Arbeitsblätter aus den
Wörtern des Lebensalphabetes bzw. aus den aktuellen Themen vorbereitet.
Lehrbücher verwenden nur Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die sich auf die
Hauptschulabschlussprüfung vorbereiten.
Unser traditionelles Curriculum war ohne Bezug auf das wirkliche Leben. Es kreiste um bloße Wörter, die von jeglicher Realität, die sie doch wiedergeben sollten, und jeder konkreten Aktivität entleert waren.543
Im Diskussionskreis wird zunächst über das vorgesehene Themengebiet
gemeinsam gesprochen. Das Ziel dabei ist, die konkrete Situation kritisch zu
erforschen und die unterschiedlichen Meinungen in der Gruppe zu reflektieren.
Daran anschließend arbeiten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu diesen
Themen einzeln oder in Kleingruppen weiter.
Demokratie und demokratische Erziehung basieren auf dem Glauben an den Menschen, auf der Überzeugung, daß Menschen nicht nur die Fähigkeit besitzen, die Probleme ihres Landes, ihres Kontinents, ihrer Welt, ihrer Arbeit und die Probleme der Demokratie selbst zu diskutieren, sondern auch die Verpflichtung dazu.544
Zu den gemeinsamen Aktivitäten gehören die regelmäßigen Besuche in
der Bibliothek und Besichtigungen von kulturellen Angeboten, wie
beispielsweise Ausstellungen in den Museen. Dazu gehören auch die
öffentlichen Lesungen der Texte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Mit
diesen gemeinsamen Aktivitäten können die Lernenden am kulturellen Leben
der Gesellschaft teilhaben und selbst dazu beitragen. Sie können neue soziale
Räume betreten und so ihr Wissen und ihren Handlungsspielraum erweitern.
Wir begannen in der Überzeugung, daß es die Rolle des Menschen ist, nicht allein in der Welt zu sein, sondern sich in den Beziehungen mit der Welt zu engagieren; das heißt, daß der Mensch durch Akte der
542 Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 55. 543 ebd., S. 42. 544 ebd., S. 43.
134
Schöpfung und Neuschöpfung die kulturelle Realität herstellt und dadurch die natürliche Welt, die er nicht gemacht hat, bereichert.545
Es geht den Trainerinnen und Trainern von AlphaBet und Co um mehr als
nur darum, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern schnell lesen und schreiben
zu lehren. Ihr Ziel ist den Teilnehmenden den „(...) Zugang zur Teilhabe an
der Gesellschaft und den Zugang zur Gestaltung und Veränderung ihrer
‚Wirklichkeit‘ zu eröffnen (...)“.546 Die Befreiung wird möglich, indem die
Lernenden bei dem Versuch unterstützt werden, ihre konkreten persönlichen
Alltagsprobleme zu verändern und ihre Lebensbedürfnisse zu erfüllen. Dafür
braucht es ein kritisches Bewusstsein, um die Phänomene der Wirklichkeit,
das bedeutet die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge mit den eigenen
persönlichen Problemen zu erkennen.
Die Erziehung ist Befreiung, wenn sie den Dialog ermöglicht. Im Dialog,
d.h. in einer emphatischen Ich-Du-Beziehung zwischen gleichberechtigten
Partnerinnen und Partnern, können beide voneinander lernen. Dieses Lernen
ist eine aktive Betätigung, kein passives angefüllt werden, sondern eine
gemeinsame Anstrengung. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden nach
ihren Zielen und Übungswünschen gefragt und können so ihren eigenen
Lernprozess steuern.
Erziehung kann niemals neutral sein. Entweder ist sie ein Instrument zur Befreiung des Menschen, oder sie ist ein Instrument seiner Domestizierung, seiner Abrichtung für die Unterdrückung.547
Nach diesem kurzen Einblick in die Praxis bei der Volkshochschule Linz
werden im nächsten Kapitel bewährte Konzepte, Methoden und Rahmen-
bedingungen der Basisbildung und Alphabetisierung in Österreich vorgestellt.
545 Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 48. 546 vgl. Muckenhuber, Sonja: Mehr als Lesen und Schreiben, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 11-3. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_11_muckenhuber.pdf (03.06.2008). 547 Freire, Paulo, zit. in: Lange, Ernst 1973, S. 13.
135
7. KONZEPTE, METHODEN UND
RAHMENBEDINGUNGEN
Zu Beginn einige Gedanken Peter M. Senges zum Thema Lernen:
Ich denke, dass fundamentales Nachdenken über das, was wir ‚Lernen’ nennen, heute grundlegend ist. Wir tun so, als ob wir genau wüssten, was das ist. Und dieses ‚so tun als ob’, ist schon das erste Problem unserer Kultur. Jeder fühlt sich unwohl, wenn er eine Antwort nicht weiß. Denn in der Schule lernen wir meistens, dass es wichtig ist, etwas zu ‚wissen’, aber nicht: ‚du kannst es eigentlich nicht genau wissen’. Aber Lerner zu sein, bedeutet unsicher zu sein, sich nicht zufrieden geben mit oberflächlichen Antworten und Begriffen. Was haben wir für eine Vorstellung vom Lernen? ... Häufig haben wir Bilder wie ‚Buch’, ‚Universität’, ‚Lehrer’. Aber für mich ist Schule keine gute Metapher für ‚lernen’. Der Begriff wird meist mit dem Gefühl von ‚brav sein’, ‚Fehler vermeiden’, ‚Angst’, ‚Regeln folgen’, ‚sitzen’, ‚ruhig sein’, ‚zuhören’ oder gar ‚Langeweile’ verbunden. Das ist die weitverbreitete gemeinsame untergründige Bedeutung für uns. Es stehen starke Bilder und Gefühle dahinter. Aber wie lernen wir denn wirklich?548
Das Lernen im Erwachsenenalter schließt immer an zuvor erworbene
Kenntnisse, Fähigkeiten und gemachte Lebens- und Lernerfahrungen an, die
sich förderlich oder hinderlich auf neue Lernprozesse auswirken können.549
Um die besonderen Erfordernisse in der Basisbildung und Alphabetisierung zu
verstehen, muss man sich daher verdeutlichen, dass die teilnehmenden
Jugendlichen und Erwachsenen bereits erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten
mitbringen, auf welchen aufgebaut werden kann. Allerdings sind sie beim
Erlernen der Kulturtechniken in der Schule schon einmal bitter gescheitert und
tragen diese negativen Lernerfahrungen seither in sich. Sie haben zumeist
jahrelang versucht diese Aktivitäten zu vermeiden und erlebten, wenn das
nicht möglich war, viele kränkende berufliche und private Misserfolge,
Erfahrungen von Diskriminierung und sozialer Isolation. Nicht nur deshalb ist
es allein mit einem Angebot, das die Grundlagen für das Lesen, Schreiben und
Rechnen wiederholt und den Erwerb von Kenntnissen der IKT (Informations-
und Kommunikationstechnologien) abdeckt, nicht getan.
In diesem Kapitel wird es insbesondere um folgende Fragen gehen: Wie
werden die Lernenden in der Basisbildung und Alphabetisierung zu positiven
Lernerfahrungen herangeführt, damit die erlebte Geschichte des Versagens zu
548 Senge, Peter M., zit. in: Lenz, Werner 2005, S. 94f. 549 vgl. Faulstich, Peter; Grell, Petra: Widerständig, in: Faulstich, Peter; Forneck, Hermann J.; Knoll, Jörg 2005, S. 27.
136
einer Erfolgsgeschichte eigenhändig umgeschrieben werden kann? Welche
Konzepte, Methoden und Rahmenbedingungen sind für ein gelingendes Lernen
der Teilnehmerinnen und Teilnehmer günstig?
7.1 Lernen und Lehren
Einleitend folgen nun einige theoretische Ausführungen zu den Themen-
bereichen Lernen und Lehren.550 Den Anfang macht Peter Faulstich:
Während lange Zeit über Lernen nachgedacht wurde, als seien Menschen leere Blätter, in welche die Welt ihre Buchstaben einschreibt, wurde die aktive Rolle der Lernenden selbst als Schreiber ihrer Biographien immer deutlicher. Für die Frage des Lernens muss also eine Herstellungsperspektive aufgegeben werden. Die Vorstellung vom Füllen der Köpfe mit Wissen ist obsolet. Stattdessen greift eine Aneignungsperspektive. Die Lernenden suchen nach Wissen und geben dem einen Sinn.551
Lernen, als aktive Form der Wissensfindung und Sinngebung, ist nach
Peter Faulstich ein sozialer Prozess: „Es geht um Aneignungsprozesse zur mit
Anderen gemeinsamen Teilhabe in einer sozialen Praxis, die historisch geprägt
ist“.552 Somit verändert sich auch die Rolle der Lehrperson, denn, wie Horst
Siebert formuliert, sind: „Erwachsene: lernfähig, aber unbelehrbar“.553 Peter
Faulstich meint zustimmend: „Kern des Bildungsgedanken ist es, dass Bildung
immer nur Selbstbildung sein kann. Man kann niemanden bilden. Aber man
kann gemeinsame Entwicklungen in Richtung auf Entfaltung anstoßen“.554
Paulo Freire schreibt: „Der Lehrer kann nicht für seine Schüler denken,
noch kann er ihnen sein Denken aufnötigen“.555 Die Lernenden, auch wenn sie
des Lesens und Schreibens nicht mächtig waren, erschienen ihm nicht als
unbeschriebene Blätter ohne eigene Fähigkeiten und Kompetenzen, vielmehr
sah er sie als menschliche Wesen mit individuellen Kenntnissen, Fähigkeiten
und Lebenserfahrungen, die es zu respektieren und ernst zu nehmen gilt.
Somit ist ein grundlegender Perspektivenwechsel gefordert. Die Lernenden
sind nicht einfach Objekte in einem Bildungsprozess, in die Wissen, Werte,
Normen, Kultur, usw., nach dem Motto „darf´s noch ein bisserl mehr sein“
eingeschrieben werden, sondern sie sind selbst Subjekte. Sie sind aktiv
Forschende und auch Lehrende, die auf diese Weise beginnen, ihre Welt zu
550 Damit soll eine Abgrenzung gegenüber Lerntheorien vorgenommen werden, die das Subjekt und ihren bzw. seinen Lebenskontext unberücksichtigt lassen. 551 Faulstich, Peter: Weiterbildung 2003, S. 218. 552 vgl. ebd., S. 224. 553 Siebert, Horst, zit. in: Faulstich, Peter 2003, S. 230. 554 Faulstich, Peter: Weiterbildung 2003, S. 237. 555 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 62.
137
ihren Gunsten umzugestalten. Gleichermaßen sind die Lehrenden immer auch
Lernende, denn Bildung ist keine Einbahnstraße.
„‘Bilden‘ war für ihn (Paulo Freire-G.G.) Hilfe zur Ich-Werdung,“ formuliert
Andreas Novy.556 Bilden meint folglich, die Lernenden bei ihrem Selbst-
bildungsprozess zu unterstützen und ist mit Sicherheit keine Aufforderung
dazu, etwas für andere zu tun oder etwas für andere besser zu wissen.
Unverzichtbar für einen gemeinsamen Forschungsprozess im Sinne Paulo
Freires ist der Dialog zwischen den voneinander und miteinander lernenden
Subjekten in einer Beziehung von Gleichen, denn: „Dialog ist die Begegnung
zwischen Menschen, vermittelt durch die Welt, um die Welt zu benennen“.557
„Sein Grundgedanke ist, dass nur wer die Welt benennen kann, d. h. nur wer
die Sprache in Wort und Schrift beherrscht, in der Lage ist, die Welt zu
verändern“, schließt daraus Christoph Wagner.558
Lernen, so formulieren es Peter Faulstich und Petra Grell in Anlehnung an
die Konzeption Klaus Holzkamps, „(…) ist Aneignung von Wissen und Können
durch die Personen selbst“, um ihre „Weltverfügung zu erweitern“ oder eine
Bedrohung abzuwehren, wenn ihnen Probleme auf üblichem Wege nicht lösbar
erscheinen.559 Lernen wird ausgelöst von einer „Diskrepanzerfahrung zwischen
Intentionalität und Kompetenz“, d.h. dem Unterschied zwischen dem Können
und Wollen und ist prinzipiell „ergebnisoffen und wahlfrei“.560 Die Personen
erwarten sich, dass ihre „Verfügung über den Gegenstand“ nach
erfolgreichem Lernen erweitert sein wird und ihnen „neue Handlungsoptionen“
offen stehen.561 Entscheidend für das Lernen ist die individuelle Bedeutung,
die eine Person einer Lernthematik zumisst, ob sie diese als sinnvoll und für
die eigenen „Lebensinteressen relevant“ betrachtet und infolgedessen zu
lernen beginnt oder eben nicht.562 Welche Handlungsmöglichkeit jemand
ergreift, wird neben kognitiven Überlegungen auch maßgeblich von der
emotionalen Befindlichkeit beeinflusst. Die Autorin und der Autor
verdeutlichen die Rolle der Gefühle, deren Verdienst es ist, primär zu
unterscheiden, ob eine Erfahrung als bereits bekannt oder anders erlebt wird,
556 Novy, Andreas: Paulo Freire, in: Faschingeder, Gerald; Ornig, Nikola 2005, S. 25. 557 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 72. 558 Wagner, Christoph: Paulo Freire, in: E+Z 01/2001. (Homepage) URL: www.inwent.org/E+Z/1997-2002/ez101-7.htm (22.08.2007). 559 vgl. Faulstich, Peter; Grell, Petra: Widerständig, in: Faulstich, Peter; Forneck, Hermann J.; Knoll, Jörg 2005, S. 24. 560 vgl ebd. 561 vgl ebd., S. 26. 562 vgl ebd., S. 25.
138
wie folgt: „Emotionen sind Bewertungen der gegebenen oder vorgestellten
Lebensbedingungen und Handlungsmöglichkeiten am Maßstab ihrer
individuellen Bedeutungen“.563 Die Lerngründe, genauso wie die
Lernwiderstände, lassen sich zurückführen auf die persönlichen „Wünsche und
Interessen“ der Lernenden.564 Diese zu verstehen gelingt, nach Meinung der
Autoren, nur, wenn man sich mit den alltäglichen und mit den eigenen
Lernerfahrungen auseinandersetzt: „Es geht um das Lernen von Menschen,
und wenn wir über Lernen reden, reden wir immer auch über uns selbst“.565
7.1.1 Motivierung der Teilnehmenden
Beweggründe für die Teilnehmerinnen und die Teilnehmer, es nochmals
mit dem Lesen, Schreiben und Rechnen zu versuchen, gibt es viele. Brigitte
Bauer nennt beispielsweise folgende Motive der Lernenden:
Ihre Motive für einen Kursbesuch sind vielfältig. Sie wollen ein selbstbestimmtes, selbstständiges Leben führen, ohne ständig „auf der Hut“ sein zu müssen; sie sind auf der Suche nach einem Arbeitsplatz oder haben Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren; sie wollen ihr Kind während der Schulzeit unterstützen und haben den Wunsch nach mehr Selbstsicherheit und einem gestärkten Selbstwertgefühl.566
Die nachstehenden Motive „Erwachsene(r), die Lesen und Schreiben
lernen“, stammen von Paul Bélanger:
Sie wollen dadurch einen anderen Beruf erlernen, die täglichen Probleme meistern, ihre Lebensqualität verbessern und sich vielleicht darüber hinaus an der Lektüre erfreuen, mehr wissen, autonom werden, dies auch ausdrücken und aus dem Alltag in ferne Phantasiewelten reisen können.567
Das Wissen um die unterschiedlichen Motive der Teilnehmenden ist nicht
nur für die Gestaltung der Lernangebote und für ihren persönlichen Lernerfolg
von Vorteil. Auch für den Bereich „,Marketing in der Alphabetisierung‘“
erarbeitete das Netzwerk In.Bewegung nun einen neuen Ansatz, der nach
Otto Rath „(…) die starke Orientierung der Angebote an den Motiven und am
Nutzen der KundInnen sowie die Entwicklung von Angeboten nicht für die
563 Faulstich, Peter; Grell, Petra: Widerständig, in: Faulstich, Peter; Forneck, Hermann J.; Knoll, Jörg 2005, S. 26. 564 vgl. ebd., S. 22. 565 ebd. 566 Bauer, Brigitte: Wenn sich Türen öffnen, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 10-4. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_10_bauer.pdf (03.06.2008). 567 Bélanger, Paul: Vorwort, in: Die Welten der Wörter 1992, S. 8.
139
Zielgruppe, sondern mit der Zielgruppe“ enthält.568 Auf seine Frage: „Was
haben wir in diesen 2 Jahren gelernt?“, notiert er daher:
Die Orientierung an den Ressourcen, den Motiven und den Nutzenerwartungen unserer Zielgruppe. Diese Orientierung ist nur durch Qualitätssicherung auf allen Ebenen möglich – von den verwendeten Botschaften in der TeilnehmerInnenakquisition über die TrainerInnen bis hin zu einer Kursinfrastruktur, die den Teilnehmer/innen gegenüber Wertschätzung ausdrückt.569
Durch Gespräche mit den Lernenden und mit den Trainerinnen und
Trainern werden neu geplante und bestehende Kursangebote möglichst
flexibel auf die Wünsche und Bedürfnisse der „Begünstigten“ abgestimmt.
Alfred Berndl berichtet von den dafür erforderlichen Überlegungen:
Eine Analyse der Motive und Bedürfnisse der Begünstigten ist essentiell. Ein Angebot entsteht aus der Betrachtung des Marktes und orientiert sich nach den Bedürfnissen. Werfen wir einen genauen Blick auf die Begünstigten. Was brauchen sie? Kennen wir die Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte unserer Zielgruppe(n)? Wie sieht die Flexibilität der Begünstigten aus? Können sie einfach den Kurs erreichen? Braucht es Kinderbetreuung? Welche Kurszeiten sind geeignet? Welche Themen und Inhalte von Kursen sind für die Begünstigten relevant? Treffen wir damit ihre Erwartungen und Motive? Diese Fragen zu beantworten gelingt dann, wenn wir mit großer Aufmerksamkeit den Begünstigten zuhören, wenn wir nachempfinden, wenn wir Bedürfnisse (vor allem die dahinter stehenden Motive) ermitteln, sammeln und in all unsere Überlegungen einbeziehen.570
Auf die Motivierung von Kursinteressentinnen und -interessenten bezog
sich folgendes Ergebnis einer zum Thema eingerichteten „Fokusgruppe“, in
der auch einige Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer mitarbeiteten:
Sensible Phasen in den Lebensgeschichten der Begünstigten sind als Ressourcen für Veränderung nutzbar
Begünstigte, die sich in Übergängen in ihren Biografien befinden, sind bildungs- und lernwilliger, daher also einfacher ansprechbar. Solche Übergänge sind z.Bsp. berufliche Neuorientierungen, Wechsel des
568 vgl. Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-8. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008). 569 Rath, Otto: Eröffnung der Tagung Perspektive: Bildung, S. 2. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at (02.10.2007). 570 Berndl, Alfred: Beratungsleitfaden, S. 10. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/fileadmin/pdf/alfa-koffer/Beratungsleitfaden.pdf (14.12.2007).
140
Wohnsitzes oder Migration, Schuleintritt, Trennungen oder das Entwachsen der eigenen Kinder.571
Marion Döbert und Peter Hubertus erwähnen ihrerseits ebenfalls kritische
Ereignisse, die entscheidend für einen Kursbeginn sind, verweisen dabei
jedoch nicht explizit auf sensible Lebensphasen:
> Verlust des Arbeitsplatzes oder Angst davor > Umstellung auf andere Maschinen oder Geräte in der Firma, deren
Bedienung mit Schriftsprache verbunden ist > Einschulung des eigenen Kindes und Überforderung, bei den
Hausaufgaben zu helfen > Wegfall der Hilfestellung durch die Bezugsperson, die
Schriftsprachliches erledigt hat (zum Beispiel durch Scheidung, Todesfall, beim Krankenhausaufenthalt o.Ä.)
> schlechte Testergebnisse zum Beispiel beim Arbeitsamt oder beim Aufnahmetest für den nachträglichen Hauptschulabschluss
> Überforderungserlebnisse am Arbeitsplatz oder in Lernsituationen (zum Beispiel Umschulung)
> Beförderungsangebot am Arbeitsplatz und Angst vor den damit verbundenen Anforderungen im Schriftsprachlichen572
7.1.2 Positive Lernerfahrungen
Die Teilnehmenden entscheiden im Kurs selbst darüber, „(…) ob Lernen als
positiv und sinnvoll erlebt wird und der aufgewendeten Mühe wert ist oder
nicht“, bemerkt Antje Doberer-Bey.573 Für die Autorin ist die Basisbildung
darum eine „sensible Schnittstelle“ für weiterführende Lernprozesse, denn:
Basisbildungsarbeit mit Erwachsenen heißt also auch: eine Brücke zwischen früheren Lernerfahrungen und neuen, unbekannten Möglichkeiten, zwischen Versagensängsten und den eigenen Ressourcen und Stärken zu schlagen. Basisbildung beinhaltet eine Umdeutung des Selbstbildes und die Entwicklung neuer Perspektiven – über die zu entwickelnden Kulturtechniken.574
Otto Rath hebt hervor, wie wesentlich es in der Basisbildung ist, durch ein
qualitätsgesichertes und nutzenorientiertes Angebot sicherzustellen, dass sich
negative Erfahrungen der Lernenden nicht wiederholen:
Letztlich zielen alle Aktivitäten darauf ab, der primären Zielgruppe, den Erwachsenen (und Jugendlichen nach der Pflichtschule) mit nicht
571 Berndl, Alfred: Thesen einer nicht diskriminierenden Kommunikation, S. 4. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/fileadmin/pdf/alfa-koffer/Kommunikationsempfehlungen.pdf (14.11.2007). 572 Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 75. 573 vgl. Doberer-Bey, Antje: Qualitätsentwicklung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung. at, 01/2007, S. 03-3. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_03_doberer-bey.pdf (03.06.2008). 574 ebd.
141
ausreichender Basisbildung, ein qualitätsgesichertes Angebot zur Verfügung zu stellen, das für sie einen klaren Nutzen bringt und zu keiner Reinszenierung von negativen Lernerfahrungen führt.575
Folglich stellt sich die Frage, welche Einflüsse den Lernenden positive
(Lern-)Erfahrungen in der Basisbildung und Alphabetisierung ermöglichen.
Lernen erleben die meisten Teilnehmenden wohl als sinnvoll und interessant,
wenn sie die Inhalte und Themen mit ihrer eigenen beruflichen und/oder
alltäglichen Realität in Beziehung setzen können und wenn die gelernten
Fertigkeiten und Kenntnisse sich als hilfreich für ihr Leben erweisen. Das ist
der Fall, wenn es im Kurs um sie selbst geht und wenn sie - neben neuem
Wissen - das lernen können, was sie lernen wollen und was ihnen hilft, ihre
Alltagsprobleme zu meistern und ihre Lebenschancen zu vergrößern.
Positive Lernerfahrungen entstehen häufig durch die Anerkennung und
Wertschätzung anderer für ihre Anmeldung und Teilnahme am Kurs, für das
Schreiben und Vorlesen von (eigenen) Texten, für erkennbare individuelle
Lernfortschritte im Umgang mit der Schriftsprache, dem Computer und den
Zahlen, wodurch sie konkrete Situationen in ihrem Lebenskontext -
unabhängig von anderen Menschen - (besser) bewältigen und leichter ihre
persönlichen Ziele erreichen können. Gleichzeitig nimmt bei vielen Lernenden
auch die Sicherheit, das Selbstvertrauen und die Lernmotivation zu.
Erfolgreiches Lernen wird den Teilnehmerinnen und Teilnehmern in den
Kursen vor allem durch eine flexible und individuell ausgerichtete Beratung,
Begleitung und Unterstützung eröffnet. Es gibt in der Basisbildung und
Alphabetisierung unzählige Wege, wie Lernen gelingen und auch Spaß machen
kann. Die innere Überzeugung, nicht lernen zu können, hat zusätzlich zur
verspürten Scham (wegen ihres Versagens in der Schulzeit) und der Angst vor
neuerlichem (nun vielleicht entgültigem) Versagen viele Teilnehmerinnen und
Teilnehmer bislang davon abgehalten, es überhaupt nochmals zu versuchen.
Erfolgserlebnisse ab Beginn sind aus diesem Grund ein ganz wesentlicher
Punkt, um sich selbst als lernfähig zu erfahren, wie Brigitte Bauer am Beispiel
eines Projektes für Frauen aus ländlichen Regionen schildert:
Wenn die ersten Lernfortschritte sichtbar werden und das bisher vorherrschend negative Selbstbild („Ich war und bin zu dumm zum Lernen!“) sich zu verändern beginnt, lässt auch der Druck nach. Die Frauen beginnen entspannter und mit Freude zu lernen. In
575 Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-10. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008).
142
vertraulicher Atmosphäre können die persönliche Lerngeschichte und die Veränderungen, die das Lernen für die Frauen mit sich bringt, thematisiert werden.576
Die Teilnehmenden können in den Kursen offen so sein, wie sie sind. Das
bedeutet, Wissen und Kompetenzen vorzugeben, die nicht vorhanden sind, ist
für sie hier nicht mehr notwendig und das kann sehr entlastend sein. In der
Lerngruppe ist es ihnen möglich, sich mit anderen über ihre Erlebnisse
auszutauschen, voneinander zu lernen, sich gegenseitig zu unterstützen,
Gemeinschaft zu erleben und miteinander Freundschaften zu schließen. In
Gesprächen, z.B. im Einzelunterricht und in der Lernberatung, können die
Teilnehmerinnen und Teilnehmer eigene Lernstrategien entwickeln, ihren
Lernprozess selbst organisieren und reflektieren.
Ausgehend von ihrem vorhandenen Wissensstand und von ihren Stärken
werden neue Inhalte und Themen, die ihren Lernbedürfnissen und Motiven,
ihrem Alter, ihren Lebensumständen und -kontexten entsprechen und ihren
Interessen und Vorlieben entgegenkommen, in unterschiedlicher Art und
Weise angeboten. Ein erfolgreiches Mittel auf dem „Weg zum autonomen
Lernen“ ist beispielsweise das Führen eines Kursbuches, in welches die bereits
gemachten Lernfortschritte, die erreichten Teilziele und individuellen
Lernprozesse von den Teilnehmenden selbst oder durch die Trainerinnen und
Trainer eingetragen werden. „Das persönliche Erfolgstagebuch als Bestandteil
des Kursbuches unterstützt die Kursteilnehmerinnen, die allesamt negative
Lernerfahrungen mitbringen, ihre Lernbiographie neu fortzuschreiben“, fügt
Brigitte Bauer ergänzend hinzu.577
Die Teilnehmenden können in den Kurseinheiten aktiv mitarbeiten,
machen womöglich erstmals positive Erfahrungen mit dem Lernen und
entwickeln neue erfolgreiche Bilder von sich selbst. Nach Antje Doberer-Bey
lösen positive „(Lern-)Erfahrungen“ bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern
bestimmte Veränderungen aus:
Positive Erfahrungen von Unterstützung und Kooperation, von Wertschätzung und (Selbst-)Reflexion, von Entwicklung und Autonomie verändern den Selbstwert der TeilnehmerInnen und fördern die Lernbereitschaft, Teilhabe und aktive Lebensgestaltung.578
576 Bauer, Brigitte: Wenn sich Türen öffnen, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 10-6. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_10_bauer.pdf (03.06.2008). 577 In.Bewegung: Computerunterstützter Basisbildungsunterricht 2007, S. 48. 578 In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 39.
143
Brigitte Bauer unterstreicht: „Sichtbare Lernerfolge von Beginn an und das
Sichtbarmachen der vorhandenen Fähigkeiten und Kompetenzen bekräftigen
das Selbstwertgefühl“.579 Der Fokus richtet sich in den Basisbildungskursen
verstärkt auf die vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen der Lernenden,
die ihnen jedoch oft erst bewusst werden müssen, wie Otto Rath berichtet:
Erwachsene mit geringer Basisbildung kommen meist gar nicht auf die Idee, dass sie über Kompetenzen verfügen. Viel eher dominiert das in der Schule erlernte Selbstbild, nämlich dass sie dumm, faul oder Ähnliches seien. Der Blick auf ihre Kompetenzen, die sie non-formal oder informell erworben haben, ist ihnen versperrt. Umso wichtiger ist es gerade für diese Gruppe zu lernen, die eigenen Kompetenzen zu reflektieren und darzustellen.580
Marion Döbert und Peter Hubertus betonen ebenfalls: „Den Lernenden soll
möglichst schnell ein Kompetenzerlebnis vermittelt werden, denn Erfolg ist
Grundlage jedes gelingenden Lernprozesses“.581 Eine weitere fundamentale
Voraussetzung für gelingendes Lernen wird von Alfred Berndl aufgezeigt:
Die existentielle Absicherung der Begünstigten erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit von Bildungsprozessen
Existenzdruck steigert die Lernmotivation nicht, sondern führt eher zu vielfältigen Stress- und Verweigerungsreaktionen.582
Nachdem nun einige der vielen Faktoren erwähnt wurden, die zu positiven
(Lern-)Erfahrungen der Kursteilnehmenden beitragen können, sollen jetzt
einzelne förderliche Konzepte, Methoden und Rahmenbedingungen für
gelingendes Lernen in der Basisbildung und Alphabetisierung genannt werden.
7.2 Konzepte
Weltweit existieren zahlreiche eindrucksvolle Konzepte, eine große
Auswahl an interessanten Projekten und Programmen sowie langjährige,
instruktive Praxiserfahrungen in der Alphabetisierung und Basisbildung mit
Jugendlichen und Erwachsenen. „Projekte von der Hand zu weisen, die in
einem anderen Kontext durchgeführt wurden, ist ebenso falsch, wie sie naiv
zu übernehmen, sie schlicht und einfach zu importieren“, erklärt Paulo
579 In.Bewegung: Computerunterstützter Basisbildungsunterricht 2007, S. 16. 580 Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-9f. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008). 581 Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 88. 582 Berndl, Alfred: Thesen einer nicht diskriminierenden Kommunikation, S. 4. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/fileadmin/pdf/alfa-koffer/Kommunikationsempfehlungen.pdf (14.11.2007).
144
Freire.583 Er spricht sich dafür aus, dass Projekte von jenen, die sie initiieren,
stets im Zusammenhang mit dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext
diskutiert und an Ort und Stelle neu geplant und entwickelt werden müssen.
Das Netzwerk „In.Bewegung“ arbeitet im Rahmen eines transnationalen
Netzwerkes mit Finnland, Frankreich und Großbritannien zusammen. Otto
Rath notiert dazu:
Wir sind weiters zur Überzeugung gelangt, dass das Übernehmen von in anderen Kontexten bewährten Konzepten im Sinne einer nachhaltigen Wirkung gut geprüft werden muss. Wir haben europäisches Know-how sorgsam und so weit wie möglich in unsere Entwicklungsarbeit integriert und auch festgestellt, dass wir durchaus in der Lage sind, in einem befruchtenden Dialog Eigenständiges zu entwickeln.
Unsere Prämisse lautet: Innovation statt Imitation und das heißt auch, wir schreiben lieber nicht ab.584
In Österreich gibt es derzeit eine Vielfalt an unterschiedlichen Zugängen
und innovativen Modellen in der Basisbildungs- und Alphabetisierungsarbeit.
Beeinflusst von der eigenen Entstehungsgeschichte der Einrichtung und den
institutionellen Zielsetzungen und Rahmenbedingungen, geprägt von den
jeweiligen örtlichen Gegebenheiten, sowie den vorgegebenen finanziellen
Möglichkeiten und Grenzen, charakteristisch durch die einrichtungsbezogenen
Schwerpunktsetzungen und die individuelle Kursgestaltung der Trainerinnen
und Trainer gemeinsam mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern,
präsentieren sich die Basisbildungsangebote der verschiedenen Institutionen
wahrlich sehr vielgestaltig und abwechslungsreich. So kann es daher auch
nicht verwundern, wenn die Verantwortlichen und die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Einrichtungen unterschiedliche Begrifflichkeiten verwenden.
7.2.1 Bezeichnungen und Konzepte
Eine Annäherung an diesen Bildungsbereich über die unterschiedliche
Terminologie, wie bereits im ersten Kapitel dieser Arbeit beabsichtigt, fällt
nicht leicht. Die Begriffe sind dynamisch und kontextbezogen. Sie werden von
den anbietenden Institutionen uneinheitlich verwendet. Je nach Bundesland
wird in einigen Einrichtungen von Grundbildung gesprochen und in anderen
von Basisbildung. Inhaltlich sind beide Bezeichnungen identisch, obwohl sie,
583 Freire, Paulo: Dialog als Prinzip 1980, S. 82. 584 Rath, Otto: Eröffnung der Tagung Perspektive: Bildung, S. 3. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at (02.10.2007).
145
nach Christian Kloiber, in unterschiedliche Richtungen weisen: „‘Basisbildung‘
ist der allgemeinen Bildung näher (und somit dem Zweiten Bildungsweg),
während die Bezeichnung ‚Grundbildung‘ auf die berufliche Bildung zeigt“.585
Vom Netzwerk „In.Bewegung“ wird in offiziellen Dokumenten der Begriff
„Basisbildung“ verwendet. Damit soll, nach Antje Doberer-Bey, dem negativ
konnotierten und diskriminierenden Begriff „Analphabetismus“ entgegen-
gewirkt werden.586 Gleichfalls wurde von den Vertreterinnen und Vertretern
des Netzwerks die Bezeichnung „Begünstigte“ eingebracht, die anstatt der,
von den so benannten oft als diskriminierend empfundenen, Begriffe
„funktionale Analphabetin“ bzw. „funktionaler Analphabet“ verwendet wird.587
Alfred Berndl definiert diesen Begriff folgendermaßen: „Begünstigte: Die
Zielgruppe der Personen mit Bedarf an Basisbildung“.588
Innerhalb des Netzwerks „In.Bewegung“ ist gerade ein Diskussionsprozess
in Gange, welche Begrifflichkeiten und dahinterstehende Konzepte hierzulande
künftig verwendet werden. Zur Diskussion stehen das in Deutschland
entwickelte Konzept des funktionalen Analphabetismus nach Peter Hubertus,
die acht Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen der EU, das aus
Großbritannien stammende Konzept „Skills For Life“, sowie Konzepte der
OECD (Competences in the Information Age; Framework).589
7.2.2 Inhalte von Basisbildung
Um ein gemeinsames Konzept von Basisbildung zu entwickeln, kamen die
im „Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung in Österreich“ engagierten
Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichen Institutionen darin
überein, die folgenden Inhalte zur Basisbildung zu zählen, welche an den
Konzepten der Europäischen Kommission, der OECD und dem Konzept „Skills
for Life“ orientiert sind. Die Definition von Basisbildung, von der hier
ausgegangen wird, bewegt sich deutlich über den Bereich der normalerweise
585 Kloyber, Christian: Editorial, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, S. 01-4. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_01_kloyber.pdf (23.09.2007). 586 vgl. In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 10. 587 In der neueren österreichischen Fachliteratur scheint jedoch die Bezeichnung „Zielgruppe“ gebräuchlicher zu sein, als die Bezeichnung „Begünstigte“. 588 Berndl, Alfred: Beratungsleitfaden, S. 3. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/fileadmin/pdf/alfa-koffer/Beratungsleitfaden.pdf (14.12.2007). 589 Dieser Entscheidungsprozess war zum Zeitpunkt der Texterstellung (Nov. 2007) noch nicht abgeschlossen.
146
dazu assoziierten Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen und IKT)
hinaus. Otto Rath stellt diese Inhalte vor:
Schreiben, Lesen, mündliche Sprachkompetenz, Zuhören, Verstehen, Rechnen, Umgang mit Daten und Zahlen, Umgang mit Maßen und Formen; IKT (Informationstechnologien) und die Schlüssel-kompetenzen: Kommunikation, Problemlösung, Arbeiten mit anderen und Lernkompetenz; DaZ (Deutsch als Zweitsprache): mündliche Kommunikation, Lesen, Schreiben.
Die Kulturtechniken – Lesen, Schreiben, Rechnen, IKT – werden als primär notwendig und als Voraussetzung für den Erwerb weiterer Kompetenzen betrachtet.590
Die inhaltliche Auseinandersetzung der Mitglieder des „Netzwerks
Basisbildung und Alphabetisierung in Österreich“, bezüglich des zu
erreichenden Niveaus der unterschiedlichen Basisbildungskompetenzen, über
welches Jugendliche und Erwachsene hierzulande zumindest verfügen können
sollten, ist zur Zeit noch nicht abgeschlossen.
7.2.3 Zielsetzung und Lernprozesse
Für die Kurse der Alphabetisierung und Basisbildung nennt Antje Doberer-
Bey als maßgebliche Intention: „Zentrales Ziel ist die maximale Förderung der
einzelnen Lernenden und ihre Reintegration in Lernprozesse und in das
lebensbegleitende Lernen“.591
Die Lernprozesse werden dazu idealerweise sehr selbstgesteuert,
individualisiert und erwachsenengerecht, bedarfs- und lösungsorientiert in
kleineren maßgeschneiderten Angeboten für spezifische Lerngruppen
arrangiert. Das bedeutet, dass das Lernangebot zeitlich, örtlich, inhaltlich,
sprachlich, in Umfang, Methode und im Material möglichst flexibel an den
individuellen Bedürfnissen, Interessen, Wünschen und Potentialen der
Teilnehmenden, sowie an ihren konkreten Lebenskontexten und nicht an
einem vorgegebenen Fächerkanon orientiert ist. Die Verantwortlichen und die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der anbietenden Einrichtungen beobachten
zugleich aufmerksam gesellschaftliche, technologische und arbeitsmarkt-
bezogene Veränderungen, die neue Lernbedürfnisse hervorrufen.
590 Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-2. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008). 591 Doberer-Bey, Antje: Qualitätsentwicklung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung. at, 01/2007, S. 03-4. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_03_doberer-bey.pdf (03.06.2008).
147
Im Kurs soll den Teilnehmenden gemeinsames Lernen in kleinen Gruppen
in einer angenehmen Atmosphäre ohne Leistungs- Zeit- und Konkurrenzdruck
möglich sein. Die Lernziele werden individuell mit den einzelnen Personen im
(Einzel-)Unterricht und in den Beratungsangeboten geplant und überprüft.
Regelmäßige reflektierende Gespräche sind für die Lernenden von Vorteil, um
ihre bisherigen Lernfortschritte wahrzunehmen, ihre negativen Lern- und
Lebenserfahrungen zu verstehen und ihre Lernschwierigkeiten aufzulösen.
7.2.4 Erwartungen an Basisbildung
In der Basisbildung und Alphabetisierung lassen sich unterschiedliche
Interessenslagen ausmachen. Dazu finden sich in der Broschüre des
Netzwerks Basisbildung und Alphabetisierung in Österreich folgende Angaben:
● KursteilnehmerInnen erwarten sich den Erwerb von Kompetenzen, die ihnen höhere Beschäftigungsfähigkeit, mehr Unabhängigkeit oder eine Erhöhung des gesellschaftlichen Status garantieren.
● Die Wirtschaft erwartet sich funktionale Qualifizierung, einen starken Arbeitsmarktbezug und einen volkswirtschaftlichen Beitrag.
● Anbieter wiederum betonen oft den emanzipatorischen Bildungsanspruch und lehnen reine Ausrichtung auf Arbeitsmarkt und wirtschaftliche Verwertbarkeit ab.
Das Netzwerk Basisbildung strebt ein Verständnis von Basisbildung an, das dieses System in Balance hält und wendet sich gegen Polarisierungen.592
Wie nun das Netzwerk „In.Bewegung“ die verschiedenen Ansprüche an
Basisbildung in Balance halten will, wird in den von Antje Doberer-Bey im
Rahmen der Qualitätsstandards formulierten Zielsetzungen zu Teil deutlich:
● Das arbeitsmarktpolitische Ziel einer überregionalen Qualitäts-sicherung ist es, von einem qualitätsgesicherten Basisbildungs-angebot zu einem qualitätsgesicherten, gleichstellungs-orientierten Weiterbildungsangebot zu kommen, um damit die
● Ziele der Integration in den Arbeitsmarkt und die Sicherung der Beschäftigung effektiv und effizient zu unterstützen.
● Aus demokratiepolitischer Sicht gilt es, unabhängig von der Frage nach der Integration in den Arbeitsmarkt, allen Menschen den Zugang zu einer umfassenden Basisbildung zu ermöglichen, damit sie an der Gesellschaft partizipieren und ihr Berufs- und Alltagsleben aktiv gestalten können. Dies ist auch die Grundlage zur Inanspruchnahme von lebensbegleitendem Lernen.
● Integriertes Ziel in allen Aktivitäten und auf allen Ebenen ist die Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern.
592 In.Bewegung: Basisbildung für Erwachsene in Österreich 2007, S. 11.
148
● Auf individueller Ebene bedeutet dies die Förderung schriftsprachlicher Grundfähigkeiten als Voraussetzung zur Wahrnehmung des Rechtes auf Bildung sowie für den Wissenserwerb und die Entwicklung von Fähigkeiten wie Autonomie und Selbstbestimmung
● Es sind niederschwellige und qualitativ hochwertige Beratungs- und Basisbildungsangebote für die begünstigten Zielgruppen bereitzustellen.593
7.2.5 Personengruppen und Konzepte
Mancherorts werden Basisbildungs- und Alphabetisierungsangebote für
bestimmte Personengruppen durchgeführt. Beispielsweise wurde für Frauen
mit deutscher Muttersprache aus dem ländlichen Raum ein computer-
unterstützter Basisbildungskurs in Bischofshofen (Salzburg) abgehalten. Das
Angebot wurde von allen Projektverantwortlichen und -mitarbeitenden
detailliert beschrieben und ermöglicht daher einen fundierten Einblick in
dieses Pilotprojekt. So wurden u.a. die „sechs Eckpunkte des Basisbildungs-
angebotes“, die strukturell bedingten (Lern-)Hindernisse der Frauen594 sowie
die speziellen Vorteile von Einzelunterricht zu Kursbeginn ausführlich
dargestellt.595 Neu sind außerdem maßgeschneiderte Grundbildungskurse für
Arbeiterinnen und Arbeiter im betrieblichen Kontext. Es wurden gemeinsam
mit Kärntner Firmen erste Kurse für Frauen in ihren Betrieben abgehalten und
begleitend evaluiert. Eine genaue Darstellung des Ablaufs der Lehrgänge und
der erreichten Vorteile für die Teilnehmerinnen und die kooperierenden
Betriebe finden sich in Beiträgen von Isabella Penz und Monika Kastner. Wie
auch in betrieblichen Grundbildungskursen in Oberösterreich erfolgte die
Ansprache der Teilnehmenden dabei über gewerkschaftliche Strukturen.596
Desgleichen werden die über das AMS (Arbeitsmarktservice) finanzierten
Basisbildungskurse überwiegend für den Personenkreis der arbeitslosen bzw.
Arbeit suchenden Jugendlichen und Erwachsenen durchgeführt. In manchen
Bundesländern werden außerdem Kurse speziell für Insassinnen und Insassen
von Justizanstalten abgehalten. Daran können meist Personen mit deutscher
Muttersprache bzw. Migrantinnen und Migranten während und nach der Haft
teilnehmen. Ein Grundbildungsprojekt in Graz widmet sich verstärkt Familien,
593 vgl. In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 7. 594 vgl. In.Bewegung: Computerunterstützter Basisbildungsunterricht 2007, S. 12ff. 595 vgl. ebd., S. 42ff. 596 Siehe: Kastner, Monika; Penz, Isabella: Betriebe und Basisbildung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_13_kastner_penz.pdf (03.06.2008); In.Bewegung: Sensibilisierung im
149
insbesondere Frauen mit kleinen Kindern und ist in dieser Form das erste im
deutschsprachigen Raum. Hier erhalten Familien ebenso „TIPPS&TRICKS“ für
die Unterstützung ihrer Kinder während der Volksschulzeit.597
7.3 Methoden
Im deutschsprachigen Raum waren zu Beginn der 80er Jahre keinerlei
methodische Ansätze und Unterrichtsmaterialien für die Alphabetisierung
Erwachsener vorhanden. Die Trainerinnen und Trainer begannen auf alle
ihnen verfügbaren Ressourcen (Schulfibeln, Lernprogramme für die Lese-
Rechtschreib-Schwäche, Methode nach Paulo Freire) zurückzugreifen und
diese bestmöglich für ihre Lernenden zu adaptieren. Jedoch wurde die
Verwendung schulischer Methoden und Materialien, die die Lebens- und
Lernerfahrungen der Erwachsenen unberücksichtigt ließen und die schon
zuvor bei ihnen nicht erfolgreich waren, stark kritisiert. In der Praxis
begannen sich drei methodische Ansätze für den Schriftpracherwerb
durchzusetzen, welche anfänglich sehr kontrovers diskutiert wurden: der
sprachsystematischer Ansatz (Morphemmethode), der Fähigkeitenansatz und
der Spracherfahrungsansatz.598
Heutzutage wird nicht ein einzelner Ansatz, sondern Methodenvielfalt, die
sich an den aktuellen Interessen, Bedürfnissen, Zielen, Kenntnissen und
Ressourcen der Lernenden verortet, favorisiert. Da Menschen unterschiedlich
lernen, kann eine für alle entwickelte Methode nicht erfolgreich sein. Deshalb
werden teilnehmerinnen- und teilnehmerorientiert unterschiedliche Methoden
und Materialien miteinander kombiniert, um den Lernenden mannigfaltige
Zugänge zur Schrift zu eröffnen.599 Auch entstehen durch den Einsatz des
Computers, z.B. durch eigens konzipierte Lernsoftware, viele abwechslungs-
reiche Wege für neue Lehr- und Lernerfahrungen mit der Schrift.
betrieblichen Kontext in Oberösterreich. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/fileadmin/pdf/Materialien/leitfaden_oegb.pdf (14.12.2007). 597 Die Aufzählung ist natürlich nicht vollständig. Aktuelle Informationen zu den zahlreichen Basisbildungsangeboten sind durch das Alfa-Telefon (0810/200810) und über die Netzwerk-Hompage erhältlich. Siehe: Netzwerk "Alphabetisierung und Basisbildung" in Österreich. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at. 598 vgl. Romberg, Susanne: Wege Erwachsener in die Welt der Schrift 1993, S. 43f. 599 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 86f.
150
7.3.1 Spracherfahrungsansatz
In diesem Abschnitt soll der Spracherfahrungsansatz näher vorgestellt
werden, da mir diese Methode von den Verantwortlichen der Basisbildung und
Alphabetisierung mehrfach in Verbindung mit Paulo Freire genannt wurde.
Der in den Vereinigten Staaten von Roach Van Allen bereits in den 40er
Jahren entwickelte „Language-Experience-Approach“600 wurde insbesondere
von Ruth Gümbel in den 80er Jahren im deutschsprachigen Raum erstmals
publiziert.601 Durch diesen angstreduzierenden Ansatz erfassen die Lernenden
die Verknüpfung vom eigenen Gedanken zur mündlichen Sprache, die
verschlüsselt wird zur Schrift und als solche gelesen werden kann602:
‚1. What I think about, I can talk about. 2. What I say, I can write (or someone for me). 3. What I can write, I can read. 4. I can read, what I have written, and I can also read,
what other people have written for me to read.‘603
Widerspruch fand der Spracherfahrungsansatz v.a. durch die „(…)
Annahme, Lesen- und Schreibenlernen seien natürliche Prozesse“, die
hauptsächlich einer „anregenden Sprachumgebung“ bedürfen. Die beim
Schriftspracherwerb erforderliche Unterweisung der Lernenden in die
Sprachanalyse (besonders in die Phonemanalyse) wurde hintangestellt.
Deshalb begann Hans Brügelmann, der bekannteste Vertreter des
Spracherfahrungsansatzes in Deutschland, die Methode neu zu konzipieren.
Der Schriftspracherwerb wird nunmehr als eine „Denkentwicklung“ betrachtet,
die eine individuelle systematische Förderung der Schriftsprachentwicklung
auf dem Fundament der bisherigen (schrift-) sprachlichen Erfahrungen und
Fertigkeiten der Lernenden beinhaltet und sie bei der aktiven Verwendung der
Schriftsprache unterstützt, ihren eigenen „Zugang zur Schrift“ zu
entdecken.604
Beim Spracherfahrungsansatz wird nicht mit vorgegebenen Texten und
Übungsbeispielen aus Fibeln oder Lehrbüchern gearbeitet. In der Basisbildung
600 Der Spracherfahrungsansatz wird u.a. auch auf Kenneth S. Goodmans Konzept von Lesen als psycholinguistischem Ratespiel zurückgeführt. 601 vgl. Deneke, Sandra: Konstruktionen über Schriftsprache, S. 21. (Homepage) URL: http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=981904149&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=981904149.pdf (26.06.2008). 602 vgl. Young, Peter; Tyre, Colin: Der Leseprozeß, in: Stagl, Gitta; Dvořak, Johann; Jochum, Manfred 1991, S. 410. 603 Tymister, Ulrike: Schriftspracherwerb 1994, S. 45. 604 vgl. Valtin, Renate: Methoden, in: Bredel, Ursula u.a. 2006, S. 765.
151
und Alphabetisierung werden die Gedanken der Lernenden von ihnen selbst
oder mit Hilfe anderer Personen schriftlich festgehalten. Übernehmen andere
die Funktion des Schreibens, wird vom „stellvertretenden Schreiben“
gesprochen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer entdecken, dass ihre
eigenen Gedanken und Worte als wertvoll gelten und aus diesem Grund
aufgeschrieben werden. Ihre persönliche Sprach- und Lebenserfahrung und
die für sie aktuell interessanten und bedeutsamen Themen rücken in den
Vordergrund. Lerntätigkeiten sind erfolgreicher, wenn diese aus „emotional
bedeutsamen Inhalten“ resultieren, wie die Lernpsychologie herausfand. Ihre
eigenen Wörter und Texte bilden folglich, beispielsweise als Lesetexte, die
motivierende Basis für ihre weitere selbstbestimmte Auseinandersetzung mit
der Schrift.605
Äußerungen in der mündlichen Sprache, z.B. das Mitteilen von Erlebtem,
fallen naturgemäß leichter, da der eigene Wortschatz und Sprachgebrauch
vertraut ist. Außerdem ist die Alltagssprache grammatikalisch nicht so exakt
und komplex wie die schriftliche Sprache. Biographische Inhalte über den
familiären und kulturellen Kontext sowie über die eigenen Erfahrungen,
Gedanken, Gefühle, Wünsche, Phantasien, Hoffnungen und Befürchtungen, als
auch möglichst viele funktionelle, berufs- und gruppenbezogene Lese- und
Schreibanlässe dienen als Schreibimpulse im Kurs. Im Mittelpunkt steht der
Gebrauch der Schrift und der durch die aktive kognitive Auseinandersetzung
erfolgende stetige Prozess der Hypothesengenerierung über den Aufbau der
Schriftsprache. Das Wissen der Lernenden über die Schrift verändert und
aktualisiert sich ebenso dadurch, dass sie aus ihren Fehlern lernen. Fehler
sind innerhalb dieses Modells „(…) nicht nur Abweichungen von der
orthographischen Norm, sondern entwicklungspsychologisch betrachtet
Annäherungen im Sinne von Näherungslösungen an die Normschrift“, die die
Lernenden nach Möglichkeit selbst korrigieren sollen.606 Die Übernahme des
Gelernten in ihre reale Alltagssituation, ist ein weiteres wesentliches Element
im individuellen Lernprozess und muss schrittweise eingeübt werden.
Parallelen zur Methode nach Paulo Freire lassen sich klar erkennen. Die
Lerntätigkeit ist bei beiden Ansätzen ein konstruktiver Erkenntnisprozess und
kein rezeptiver Vorgang. Mit der Orientierung an der Lebenswelt der
Menschen, an ihren aktuellen Interessen und alltäglichen Problemen, an ihren
605 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 87f. 606 vgl. ebd., S. 88.
152
bedeutsamen (Schlüssel-)Wörtern und ihrem Wortschatz wird auch bei Paulo
Freire mit dem Lesen- und Schreibenlernen zunächst in mündlicher Form
begonnen, wie Sonja Muckenhuber konkret aus ihrer Praxis bestätigen kann:
Aber der Spracherfahrungsansatz in Form von Diskussionskreisen, die entsprechen diesen Freireschen Kulturzirkel, der wird von uns auch verwendet, eben auch zur Themenerhebung, zur Selbsterfahrung der Teilnehmenden, so dass sie sich erfahren als sehr ganzheitliche und sehr gut funktionierende Menschen.607
Aber einfach diese Diskussionskreise, die ja Diskussionskreise, Diskussionsrunden sind einfach Spracherfahrung für die Teilnehmenden. Und sie erfahren damit natürlich in weiterer Folge, wie man verschriftlicht, die Schriftform der Sprache, also die Schriftlichkeit, aber sie erfahren auch sich als wissende und teilhabende Menschen. Dieser Aspekt erscheint mir fast der wichtigere.608
7.4 Rahmenbedingungen
Die Alphabetisierungs- und Basisbildungskurse werden österreichweit von
verschiedenen Institutionen durchgeführt. Sie variieren daher im Hinblick auf
die Kursdauer und die anfallenden Kosten. Manche anbietende Institutionen
geben fixe Zeiten für den Einstieg und/oder das Kursende vor. Die meisten
Angebote laufen jedoch das ganze Jahr hindurch und ermöglichen den
Lernenden selbst darüber zu entscheiden, wann sie den Kurs beenden wollen.
Einige Angebote sind für die Lernenden kostenlos, da die Kurse zu 100%
gefördert werden. In anderen Institutionen sind (geringe) Gebühren zu
bezahlen. In diesem Fall erhalten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer
zumeist Ermäßigungen oder individuelle Förderungen seitens des
Arbeitsmarktservices, des Landes oder der Arbeitnehmervertretung. Die Kurse
finden üblicherweise ein- bis zweimal pro Woche mit je zwei Einheiten (100
Minuten) statt.609
Die Lernangebote orientieren sich möglichst flexibel an den jeweiligen
Bedürfnissen (Arbeitszeit, Betreuungspflichten, Interessen, Zielen, Vorwissen)
der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der (gemeinsamen) Planung der
Kurszeiten, der Inhalte und der Gruppengröße. Gelernt wird einzeln oder in
kleinen Gruppen, die bis zu sechs Lernende mit einer Lehrperson oder bis zu
zehn Lernende mit zwei Lehrenden umfassen. Damit soll sicher gestellt
607 Muckenhuber, Sonja, in: Mitschrift: Gespräch vom 29. 06.2007. 608 ebd. 609 vgl. Netzwerk „Alphabetisierung und Basisbildung“ in Österreich. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/index.php?id=160 (25.06.2008).
153
werden, dass jeder Person die passende individuelle Unterstützung
(Lerninhalte, -beratung, -tempo) in ihrem Lernprozess erhalten kann.610
Bei den Räumlichkeiten wird vor allem darauf geachtet, dass sie nicht an
Schulräume erinnern, um die Reaktivierung der negativen Lernerfahrungen
der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu vermeiden. Wichtig ist auch, Räume
auszuwählen, die groß genug, hell und ansprechend sind und die zusätzlich
die Anonymität der Lernenden gewährleisten. Diverse erwachsenen- und
gendergerechte Lernmaterialien in ausreichender Menge sowie der Zugang zu
Computer, Drucker und Internet wird allen Lernenden eröffnet.611 Die Kurse
werden jedoch nicht nur in den Räumen der Erwachsenenbildungsinstitutionen
abgehalten, sondern auch je nach Lerngruppe regional in Betrieben, Bildungs-
einrichtungen, Gefängnissen, usw. angeboten.
7.4.1 Trainerinnen und Trainer
Den Trainerinnen und Trainern kommt eine Schlüsselrolle für ein
erfolgreiches Lernen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der Basisbildung
und Alphabetisierung zu. „Zentrale Aufgabe der TrainerInnen ist es, effiziente
Lernkontexte zu schaffen, die es allen Lernenden ermöglichen, ihre
Fähigkeiten maximal zu nutzen und zu entwickeln“, formuliert Antje Doberer-
Bey.612 In den „Qualitätsstandards für die Alphabetisierung und Basisbildung“
wird das für diese Zielsetzung notwendige allgemeine Wissen und Verständnis
sowie das erforderliche Fachwissen (Theorie, Methoden, praktische
Umsetzung) und die nötige personale Kompetenz vorgestellt.613 Die
Trainerinnen und Trainer von Basisbildungs- und Alphabetisierungskursen
benötigen im Allgemeinen ein „Verständnis und Wissen der verschiedenen
Wirkungszusammenhänge“614 über:
● die Bedeutung von nicht ausreichender Basisbildung im gesellschaftlichen Kontext
● Implikationen für Erwachsene mit Basisbildungsdefiziten, soziale, kulturelle und ökonomische Auswirkungen und Bedeutung für das Lernen und Lehren
● Ursachen für nicht entwickelte Basisbildung ● Anspruchserwartungen in Arbeitswelt und Alltagsleben ● Geschlechterkonstruktionen und Diversität615
610 vgl. In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 34f. 611 vgl. ebd., S. 27f. 612 ebd., S. 39. 613 Wegen seines Umfangs wird das Kompetenzprofil nur auszugsweise wiedergegeben. 614 In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 40. 615 ebd.
154
Die Fachkompetenz umfasst einerseits theoretisches Wissen:
● Fachadäquates theoretisches Wissen (Lesen, Schreiben, Rechnen, IKT)
● Legasthenie, Diskalkulie ● Lerntheorie: Lernbedingungen und –voraussetzungen ● Ansätze und Konzepte der Alphabetisierung und Basisbildung (nach Freire, biographischer Ansatz, Spracherfahrungsansatz)
● Gender Mainstreaming: Konzept und Analyse, bezogen auf die Unterrichtspraxis616
Andererseits gehört dazu auch didaktische und methodische Kompetenz in
den Bereichen (Erst-)Lesen, Schreiben, Rechnen und IKT für Teilnehmende
mit unterschiedlich hohen Kenntnissen, für den „Umgang mit mathematischen
Operationen des Alltags“ sowie für die Einbindung von IKT in den Lernkontext.
Des Weiteren sind damit auch methodische Kompetenzen in der Beratung der
Teilnehmenden sowie didaktisch/methodische Fähigkeiten für die „Arbeit an
der Sprache“ gemeint.617 Letztere umfassen:
▪ Vermittlung von Verständnis von Sprachstrukturen – dies bezieht sich auf die Wort-, Satz- und Textebene der geschriebenen und der gesprochenen Sprache
▪ Vermittlung von Regelbewusstsein ▪ Sensibilisierung für unterschiedliche Sprachstile und ihre Kontexte618
Bestandteil der Fachkompetenz ist ebenso die praktische Umsetzungs-
kompetenz, wie z.B.: diagnostische Kompetenz (Erhebung des Lernbedarfs,
der vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten, Hilfestellung bei der Ziel-
formulierung); in der Planung und Gliederung von Lernprozessen und der
Führung von Gruppen; in der gemeinsamen Wahl der „Inhalte, Themen und
Ziele“ durch die Lernenden, Trainerinnen und Trainer; in der Schaffung eines
angenehmen und vertrauensvollen Lernkontextes; durch die Aufmerksamkeit
und Lösungsorientierung gegenüber Problemstellungen; in der Beratung
(Lernfortschritt, -schwierigkeiten, Entwicklungen, Konfliktsituationen, …); bei
der Auswahl bzw. Herstellung von erwachsenengerechten und individuell
abgestimmten Lehr- und Lernmaterialien (Texte, Computerprogramme, …); in
der Förderung der „Autonomie und Selbstständigkeit“, „des mündlichen
Ausdrucks, des Zuhörens und Verstehens“ und der „interkulturelle(n)
Kompetenz“ der Teilnehmenden; bei der Evaluation, Dokumentation, uam.619
616 In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 40. 617 vgl. In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 41. 618 ebd. 619 vgl. ebd, S. 41ff.
155
Wesentlich für ein gelingendes Lernen der Teilnehmenden sind neben
allgemeinen Wissen und fachlichen Kompetenzen auch bestimmte persönliche
Fähigkeiten und Werthaltungen, die von den Trainerinnen und Trainer bereits
mitgebracht oder entwickelt werden. Diese sind nach Antje Doberer-Bey:
● Reflexionsvermögen: kritische Selbstreflexivität und Analysefähigkeit ● Haltung des Respekts, der Wertschätzung ● Interesse an der Zielgruppe ● Fähigkeit, die Lernenden als Erwachsene wahrzunehmen ● Fähigkeit zur Wahrnehmung der Ressourcen und Ziele der Lernenden ● soziale Kompetenz und Kommunikationsfreudigkeit ● Sensibilität und Einfühlungsvermögen ● Konfliktfähigkeit ● Flexibilität und Belastbarkeit ● Team-Fähigkeit ● Weiterbildungsbereitschaft und Bereitschaft zur eigenen Weiterentwicklung620
Eine spezielle Qualifizierung und/oder berufliche Erfahrung ist die Basis für
eine qualitätsgesicherte Tätigkeit als Trainerin oder Trainer in der Basisbildung
und Alphabetisierung.621 Antje Doberer-Bey betont zudem: „Lernprozesse sind
ein Kontinuum, sie enden auch nach langjähriger Praxiserfahrung nicht“622,
womit sie eine Haltung kontinuierlicher Weiterbildung der Trainerinnen und
Trainer voraussetzt, die ihre Professionalität bewirkt und den Teilnehmenden
die „Integration in den Prozess des lebensbegleitenden Lernens gelingen“
lässt.623 Dringend notwendig ist dafür auch eine „finanzielle Absicherung der
TrainerInnen (Sicherung von Kontinuität und Professionalisierung) und der
Angebote (Kontinuität)“.624 Nur hauptberuflich tätige Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter sichern und entwickeln langfristig das für diesen Bildungsbereich
benötigte Know-how und damit die Qualität der Maßnahmen.625 Eine fixe
Anstellung ist wahrscheinlich für viele Trainerinnen und Trainer nicht nur als
finanzielle Absicherung bedeutsam. Sie wäre als Zeichen der Wertschätzung
ihrer Basisbildungs- und Alphabetisierungsarbeit vermutlich genauso wichtig,
wie diese für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist, um die es im nächsten
Kapitel geht.
620 vgl. In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 43. 621 Siehe: In.Bewegung: Aus- und Weiterbildung von TrainerInnen der Alphabetisierung und Basisbildung; Berufsbild-TrainerInnenprofil für die Basisbildung & Alphabetisierung. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at. 622 In.Bewegung: Qualitätsstandards 2007, S. 43. 623 vgl. ebd. 624 vgl. ebd., S. 20. 625 vgl. ebd., S. 21.
156
8. LEBENSWELTEN
Wenn ich mit anderen über das Thema meiner Diplomarbeit spreche,
treffe ich zumeist auf ungläubige Reaktionen, wie: „Das gibt es nicht“. „Ich
kenne niemanden“. Nur wenige wissen, dass es in Österreich eine große
Anzahl von Menschen mit Handikaps im Lesen, Schreiben und Rechnen gibt.
Einzelne dieser, für andere „unsichtbaren“, Menschen beschreiben in Form
von Texten und Gedichten ihr Leben. Aber auch Interviews und
Medienberichte werden davon erzählen.
In diesem Abschnitt soll von der oft erlebten Isolation, den entstehenden
Abhängigkeiten der Lernenden und von der Unmöglichkeit berichtet werden,
selbst mit engen Familienangehörigen über das Schriftsprachproblem zu
sprechen. Menschen, deren Lese- und Schreibkenntnisse häufig nicht für die
Grundsituationen im Alltags- und Berufsleben ausreichen, entwickeln
bestimmte Bewältigungsstrategien. Durch die Schilderung ihrer familiären,
schulischen und beruflichen Erfahrungen sollen die Leserinnen und Leser, die
mit der Personengruppe nicht vertraut sind, einen Einblick erhalten, wie die
Lernenden selbst ihre Situation erleben.
Die ausgewählten autobiographischen Lebenstexte und Gedichte werden
von verschiedenen Beiträgen aus der Fachliteratur ergänzt, mit dem Ziel, die
individuellen Bedürfnisse, Wünsche und Motive für das Lernen, mögliche
Ursachen für das Scheitern in der Schule und die unterschiedlichen
Bewältigungsstrategien anzusprechen. Die Beiträge bieten auch Antworten zu
den Forschungsfragen dieser Diplomarbeit, die hier verkürzt wiedergegeben
werden: Was soll den Lernenden Lesen und Schreiben bringen? Was bringt es
ihnen tatsächlich?626 Beenden werde ich das Kapitel mit zwei daran
anknüpfenden Themen: Scheitern in der Kindheit/Jugend und Respekt.
8.1 Lebenstexte
Viele der Texte und Gedichte entstanden im Kursunterricht und erschienen
erstmals in der Online-Literaturzeitung „Bumerang“. Schreibend miteinander
zu kommunizieren eröffnet den Lernenden soziale Begegnungen im
gegenseitigen Austausch von Gedanken, im Mitteilen von Ideen, Emotionen,
Erlebnissen, Hoffnungen, Herzenswünschen, Sorgen, usw.
626 Die Forschungsfragen sind im vollen Wortlaut im Vorwort auf Seite 12 zu finden.
157
Die nächsten beiden Texte wurden repräsentativ für die vielen
vorhandenen beeindruckenden Lebenserzählungen ausgewählt:627
10 Jahre628
Neue LehrerInnen sind mir unangenehm.
Einzelunterricht wäre nicht schlecht.
Der Unterricht könnte öfter sein.
Schlechte Laune mag ich nicht.
Traurigkeit darüber, dass leichte Dinge schwer von der Hand gehen.
Adresse schreiben.
MiR geht es zu langsam. Ich weiß, ich bin selber schuld.
Am CompuTer arbeite ich nicht gern.
Die Eltern haben sich nicht Gekümmert.
FoRmular ausfüllen.
Mit der RUte haben sich meine Eltern engagiert, das Lineal und den
angeweichten Pracker kenne ich zu gut.
Ich bin schoN lange da.
Der Tag ist zu kurz, ich komme nicht zum Lernen.
Ich habe mich durch das Bildungssystem geschummelt, auch jetzt schummle
ich noch. Mein Mann und mein Sohn wissen nichts davon!
Ich will lesen können.
Anzipf, dass ich nicht Lesen kann.
Ich Dodl.
Anzipf, dass ich nichts aUsfüllen kann.
Die richtigen Eltern sind gaNz wichtig.
Es ist mir unanGenehm, wenn neue Leute in die Gruppe kommen.
Ich schäme mich.629
627 Zwei Punkte müssen ergänzt werden: In der Literaturzeitung Bumerang werden Texte und Gedichte zu den unterschiedlichsten Themenbereichen vorgestellt. Für diese Arbeit habe ich thematisch passende Beiträge ausgesucht, ohne damit die Lernenden auf diesen Aspekt, ihr Handikap mit der Schriftsprache, reduzieren zu wollen. Die Texte und Gedichte bleiben unkommentiert. Sie sprechen ja für sich selbst. Damit möchte ich der Gefahr entgehen, die Lernenden zu Objekten zu machen, um ihre Worte zu interpretieren, zu bewerten, zu analysieren. Die Resultate hätten bekanntlich ohnehin mehr mit mir selbst zu tun, als mit den von mir kommentierten Autorinnen und Autoren. 628 Folgende Zeilen entstanden anlässlich des zehnjährigen Jubiläums von „Neustart Grundbildung“. 629 Astrid: 10 Jahre, in: BUMERANG, 07/2006, S. 7. (Homepage) URL: www.ibap.at (02.06.2008).
158
Meine Lebensgeschichte beginnt, als ich von der Volksschule in die Sonderschule kam und ich wusste nicht warum. Die Jahre vergingen, in der letzten Klasse kannte ich mein Problem.
Ich kann nicht lesen und schreiben. Und ich wusste, das kann ich keinem Menschen sagen. Ich kam aus der Schule. Meine Mutter sagte, ich muss einen Beruf lernen. Ich hatte große Probleme, einen Lehrplatz zu finden. Ich bekam eine Chance. Ich wurde Zimmerer. Ich kam in die Schule und die großen Probleme kamen wieder. Ich hatte keine Chance, ich hatte lauter Fünfer. Mein Chef sagte, es hat keinen Sinn und ich löste meinen Lehrvertrag. Meine Suche ging weiter. Mein Bruder sagte, dass ich bei ihm anfangen kann. Ich wurde Hilfsarbeiter, aber nicht lange. Dann bin ich zum Bundesheer gekommen und hatte dort auch Probleme bei Mitschriften. Als ich beim Bundesheer fertig war, fing ich bei meiner Firma an. Dort arbeitete ich mich von ganz unten bis fast zum Vorarbeiter hinauf. Dann kam meine Angst wieder. Ich musste Formulare ausfüllen und hatte Panik davor. Da ich mich meinem Chef nicht anvertraute, hatte ich 17 Jahre lang umsonst gearbeitet. Immer wenn es ums Schreiben ging, wie z.B. bei der Inventur, ging ich lieber in den Krankenstand als mich dieser Situation auszusetzen. Einmal holte mich mein Chef ins Büro und machte mich aufmerksam, dass er mich kündigen wird, wenn ich weiterhin so oft im Krankenstand bin. Ich nahm die Kündigung ernst, aber ich konnte aus meiner Rolle nicht ausbrechen. Ich ging abermals in den Krankenstand, daraufhin bekam ich die Kündigung. Kurze Zeit später nahm ich einen Job in einer anderen Firma an. Nach einem halben Jahr fing das gleiche wie in der alten Firma an. Diesmal kündigte ich. Jetzt schaffte ich es, mich über das Radio über einen Lese- und Schreibkurs zu informieren und meldete mich bei der Volkshochschule zu diesem Kurs an. An diesem Tag führte ich ein ehrliches Gespräch mit meiner Frau. Meine Frau glaubte mir zuerst gar nicht, dass ich Probleme beim Lesen und Schreiben habe. Nach diesem Tag ist es mir so gut gegangen wie noch nie. Einfach „Wahnsinn“!!!!!! Meine Frau hält zu mir, ich kann jetzt wieder beruhigt schlafen. Mein großes Ziel ist es, so halbwegs lesen und schreiben können. Oder wenn ich eine Zeitung aufschlage, möchte ich sie lesen können. Meinem Sohn möchte ich was vorlesen können.630
8.1.1 Von der Angst vor und der Liebe zu den Buchstaben
Schreiben ist eine soziale Kommunikationsform. Es dient dazu, „lesbar“ zu
sein, für andere und für sich selbst. Es ist ein Medium des Ausdrucks, mit dem
die persönliche Meinung und Erfahrung sichtbar, mitteilbar und besser
verstehbar gemacht werden kann. Schreiben ist grundlegend für viele
Lernprozesse, d.h. für die Erweiterung des eigenen Wissens (auch außerhalb
von Grammatik, Rechtschreibung, usw). Texte und Gedichte zu schreiben
belebt die eigene Kreativität. Zudem ist Schreiben eine Form des Erzählens
und Neu-Erzählens der individuellen Geschichte und hat daher auch heilsames
630 Anonym, zit. in: Netzwerk „Alphabetisierung und Basisbildung“ in Österreich. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/index.php?id=234 (25.06.2008).
159
Potential. Schreiben ist eine Verlautbarung des Selbst, eine Reise zu sich
selbst. Im Formulieren von Überlegungen, im Erzählen der persönlichen
Erlebnisse rückt die eigene Person, das eigene Befinden zunehmend ins
Zentrum der Aufmerksamkeit. Durch „meine Worte“, durch „mein Schreiben“
wird der Stellenwert des Selbst in besonderer Weise hervorgehoben. Der
vermutlich wichtigste Punkt für die Lernenden ist jedoch: Schreiben verleiht
Sicherheit und stärkt das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Es ersetzt im
Laufe der Zeit womöglich die Angst vor den Fehlern durch die Liebe zu den
Buchstaben. Jetzt folgen einige Texte von Teilnehmenden:
Worte machen Angst.
Nicht lesen können ein Wort. Angst vor Versagen und Diskriminierung. Erschwernisse beim alltäglichen Leben. Nicht wissen wie man ausfüllt ein Formular. Nicht lesen können eine Gebrauchsanweisung. Produkte nicht finden in einen Regal. Sich nicht zu Recht finden im öffentlichen Leben. Nicht wissen wohin die Straßenbahn fährt. Angst vor Entdeckung. Angst dem Partner zu verlieren, die Freunde, den Arbeitsplatz. Wut gegen sich selbst, Mutlosigkeit und Resignation. Nicht lesen können ein Wort.631
Gedankenerguss
Ich schreib, weil ich schreiben muss. Ich schreibe für mich und um meine Rechtschreibung zu verbessern, was mir nicht leicht fällt, denn das Schreiben ist für mich mit Angst verbunden, mit der Angst, Rechtschreibfehler zu machen. Was für viele selbstverständlich ist, ist für mich ein Drahtseilakt, denn jedes Mal, wenn ich einen Fehler mache oder ich nicht weiß, wie man ein Wort schreibt, neige ich dazu, aufzugeben. Vielleicht bin ich ein Minimalist, der nie gelernt hat, zu kämpfen, der nie gelernt hat, eine Sache durchzuziehen, der aber gelernt hat, aufzugeben. Ich schreibe, um mich zu verändern. Ich schreibe nicht, um meine Umgebung zu verändern. Ich schreibe für mich und um meiner Rechtschreibung Willen.632
Mein Tag
Für mich ist es besonders wichtig, einen ganzen Tag für mich zu haben. An diesem Tag versuche ich immer meinen Traum zu verwirklichen: Schreiben, schreiben und noch einmal schreiben. Einfach Wörter und Sätze niederschreiben, ohne Angst vor Fehlern zu haben.
631 Der Autorin zur Verfügung gestelltes anonymisiertes Manuskript. 632 Jankowitsch: Gedankenerguss, in: BUMERANG, 07/2006, S. 21. (Homepage) URL: www.ibap.at (02.06.2008).
160
Nicht nervös sein und einfach automatisch die Wörter im Kopf finden! Das ist mein absoluter Traum! Ich will einfach keine Angst mehr haben, wenn mir einer etwas sagt, das ich dann aufschreiben soll. Heute macht mir das Spaß mit dem Computer zu arbeiten. Ich habe keine Angst mehr. Es ist schön mit Heike und den anderen Kursteilnehmern Gespräche zu führen.
Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, mich für den Kurs zu melden.633
8.1.2 Ver-LESEN
Ich las vor viereinhalb Jahren sehr wenig, sehr langsam, sehr leise und sehr schlecht. Heute lese ich ein kleines Büchlein von 180 Seiten in vier Tagen aus. Das Lesen macht mir Spaß, ich verschlinge fast die Bücher. Ich freue mich schon auf den neuen bumerang:. Der wird an einem Nachmittag gelesen. Wie wäre es, wenn wir die Vergangenheit in ein Tagebuch schreiben und somit die Vergangenheit loslassen und ein neues Leben beginnen?634
8.1.3 Ver-SCHREIBEN
Schrift:
Wo finde ich sie. Suche in der Vergangenheit.
Die Vergangenheit, sie hat keine Schrift. Es ist ein leeres Blatt Papier.
Ein leeres Blatt das die Vergangenheit verdeckt. Aber was ist unter diesen leeren Blatt.
Die Sehnsucht dieses leere Blatt Papier zufüllen mit Gedanken.
Gedanken die einem Hoffnung geben. Auszubrechen aus dieser Situation, den Druck,
denn es ist der reinste Horror. Die Gedanken nicht schreiben können,
auf ein leeres Blatt Papier.635
Ordnung im Buchstabensalat des Lebens
Ich will schreiben ohne Angst zu haben, dass es jemand liest. Ich will Listen und Verträge ohne Schwierigkeiten ausfüllen. Ich will SMS an meine Bekannten schicken. Ich will meine Gedanken niederschreiben können. Ich will kleinen Kindern Geschichten vorlesen. Ich will als ganz normaler Mensch gelten.
633 Anonym: Mein Tag, in: BUMERANG, 07/2006, S. 19. (Homepage) URL: www.ibap.at (02.06.2008). 634 Rosa: Lesen, in: BUMERANG, 04/2005, S. 21. (Homepage) URL: www.ibap.at (02.06.2008). 635 Der Autorin zur Verfügung gestelltes anonymisiertes Manuskript.
161
Nie wieder ausgelacht, nie wieder mitleidig belächelt werden! Aufrecht mit erhobenem Haupt den Tiefschlägen des Lebens entgegen treten! Ordnung in den Buchstabensalat des Lebens bringen!636
8.1.4 Ver-SAGEN
Bin ich dumm?
Ich bin eigentlich sehr traurig, dass man Menschen mit Rechtschreib-, Lese- und/oder Rechenschwäche gleich als dumm hinstellt. Diese Menschen werden von anderen als nicht klug genug betrachtet, ihr Leben zu meistern. Dabei sind sie im Leben mit viel mehr Schwierigkeiten belastet als andere. Darum finde ich, dass diese Menschen nicht als blöd hingestellt werden dürfen. Hier bei Neustart Grundbildung sind ganz liebe Leute, die uns helfen, bei jeglicher Art von Schwierigkeiten und Schwächen. Man fühlt sich nicht als nicht gut genug, im Leben bestehen zu können. Man fühlt sich verstanden und es wird einem geholfen.637
Dass Probleme beim Erlernen von Lesen, Schreiben und Rechnen nicht
unbedingt mit mangelnder Intelligenz zu tun haben, zeigen anschließende
Beiträge. „Die Zeit“ brachte im Jahre 2004 folgendes Interview:
Gefragt
BETTINA WANNAGS-LESNY, 45 Bundessiegerin im Literaturwett-bewerb ‚Wir schreiben’ für Analphabeten
Als Analphabetin einen Literaturwettbewerb gewinnen – hätten Sie sich das vorstellen können?
Absolut nicht. Ich bin funktionale Analphabetin. Das heißt, ich konnte perfekt lesen, doch mit dem Schreiben hatte ich Schwierigkeiten. Aber ich bin in einem Kurs für kreatives Schreiben. So hatte ich schon ein bisschen geübt. Trotzdem war ich von den Socken, als ich gehört habe, ich hätte den ersten Preis gewonnen. Das konnte ich gar nicht glauben.
Sie waren nicht überzeugt von Ihrem Text?
Ich war versucht, ihn gar nicht abzugeben, denn ich fand ihn nicht besonders gut. Dabei hat mich das Gemälde Der Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich sehr angesprochen. Das Bild, das einen Wanderer auf dem Gipfel stehend zeigt, diente als Anregung. Dieser Berg symbolisiert mein Orthografie-Defizit. Im Text wandere ich auf den Gipfel, wobei ich immer wieder stolpere. Wie in den vergangenen neun Jahren, in denen ich schreiben lernte.
Wie ist das, als Erwachsene schreiben zu lernen?
636 Martin: Buchstabensalat, in: BUMERANG, 03/2004, S. 24. (Homepage) URL: www.ibap.at (02.06.2008). 637 Michaela: Bin ich dumm?, in: BUMERANG, 07/2006, S. 12. (Homepage) URL: www.ibap.at (02.06.2008).
162
Schwierig. Ich hatte erst versucht, mit meiner Tochter mitzulernen. Das funktionierte nicht. Ich brauchte einen eigenen Kurs, musste alles neu pauken und alte Muster vergessen – etwa, bewusst unleserlich zu schreiben, damit keiner die Fehler bemerkt. Ich bin Kauffrau für Groß- und Außenhandel und habe als Kontoristin gearbeitet. Da habe ich mich mit Tricks und Ausreden durchgewurschtelt. Das ist sehr stressig und für das Selbstvertrauen nicht gerade erbaulich. Wie hat Ihre Familie nun darauf reagiert, dass Sie den Wettbewerb gewonnen haben?
Meine inzwischen 17-jährige Tochter wusste bis dahin gar nicht von meiner Schreibschwäche. Ich musste ihr erst einmal erzählen, dass ich an einem Schreibkurs teilnehme. Sie hat aber toll reagiert. Überhaupt: Meine Familie war stolz auf mich. Ich hingegen habe überlegt, ob ich in dem Rummel um die Preisverleihung anonym bleiben soll.
Und nun geben Sie ein Interview.
Manchmal frage ich mich, ob das wirklich so gut ist. Aber ich kann ja stolz sein auf den Preis. Meine Familie hat mich ermuntert, dazu zu stehen – und so ist das mein Coming–out.638
Frau Wannags-Lesny’s siegreicher Text im Wettbewerb lautete:
Nebel
Einsam auf der Spitze und unter mir nur Nebel. Meine Hände sind kalt und feucht. Wieder ein Berg, den ich erklimmen musste. Es war sehr schwer, doch es hat sich gelohnt. Zuerst war alles verschwommen. Langsam, ganz langsam kamen die Konturen. Ab und zu fiel ich zurück, doch immer gab es auch Hoffnung. Man rafft sich auf von Etappe zu Etappe. Manchmal war es zum Greifen nah, doch irgendwie entwich es wieder. Sie tanzen vor meinen Augen, als wollten sie mich verspotten. Mal reihten sie sich fein ins Glied, ein anderes Mal standen sie schief. Meine Augen trauten dem Bild, doch oft war es nur ein Trug. Immer öfter zwang ich sie ins richtige Glied. Doch der Kasus, der saß tief. Der richtige Klang stellte sich nicht ein, die Fragen waren falsch wie die Antworten. Noch immer bleiben sie im Nebel.
Doch ich gebe nicht auf, sei der Gipfel noch so fern. Einsam auf der Spitze und unter mir lichtet sich langsam der Nebel.639
Der Standard veröffentlichte im Jahr 2005 einen Artikel mit dem Titel:
„Funktionaler Analphabet als gefeierter Starcoach“.640 Darin wird vom
mehrfach ausgezeichneten kanadischen Eishockey-Coach Jacques Demers
berichtet, der mit 61 Jahren als gefeierter Trainer und nun auch als Buchautor
alle mit der Mitteilung überraschte, dass er weder schreiben noch lesen kann.
Für das Entstehen seiner Lernblockade macht er seine Familie verantwortlich,
638 Walser, Jörg: Gefragt, in: Die Zeit, Nr. 36, 26.08.2004, S. 70. 639 Wannags-Lesny, Bettina: Nebel, in: Fiebig, Christian 2004, S. 8. 640 Rathmanner, Stefan: Funktionaler Analphabet als gefeierter Starcoach, in: Der Standard, 14.11.2005, S. 19.
163
denn sein Vater war Alkoholiker und prügelte seine Frau. Jacques Demers war
offensichtlich bisher nicht nur im Sport sehr erfolgreich, sondern es war ihm
auch gelungen, sich zeitlebens die benötigte Hilfestellung beim Lesen und
Schreiben zu organisieren.
Peter Bichsel, einer der bekanntesten Schweizer Autoren, schrieb über
seine Erfahrungen mit dem Lesen und Schreiben lernen:
Ich hatte in der Schule furchtbar Mühe mit der Rechtschreibung - und ich bin auch heute total unfähig, eine Fremdsprache schriftlich zu benützen. Es ist wohl anzunehmen, dass ich ein Legastheniker bin. Nur hatte ich das Glück, dass man diese „Krankheit“ damals noch nicht ge- und erfunden hatte.
Ich wurde trotz allem sehr früh ein leidenschaftlicher Leser, und die Hoffnung meiner Eltern, dass das Lesen die Diktate verbessern würde, war nichts, je mehr ich las, desto verwirrter wurde meine Rechtschreibung, bis ich in der fünften Klasse einen Lehrer fand, der meine Aufsätze liebte und trotz vierzig Rechtschreibefehlern erkennen konnte, dass sie „schön“ geschrieben sind. Nun begann ich wie wild zu schreiben – Rechtschreibung spielte jetzt keine Rolle mehr, und plötzlich war sie doch ein bisschen da, und ich schaffte die Prüfung in die Bezirksschule.
Ich bin überzeugt, dass ich ohne diesen Lehrer später auch Abschied genommen hätte von den Buchstaben, mit oder ohne Legastheniebehandlung. Ich habe es geschafft, die Schrift zu benützen, ohne sie zu „können“.
Das wünsche ich allen Menschen. Man muss die Schrift nicht „können“, um sie zu benützen, man muss sie nur lieben können, mit Buchstaben leben – man muss nur ohne Buchstaben nicht leben können. Mit Schule hat das nur am Rande und – wie in meinem Falle – nur zufällig zu tun, der Zufall eines Lehrers, der meine Aufsätze liebte – und mich auch. Der Zufall eines Lehrers, der selbst ein Leser war – Leser sind unter Lehrern so selten wie unter anderen Berufsgruppen. Wie will ein Nichtleser die Nichtleser zu Lesern machen? [...].
Und vielleicht habe ich mich damals auch daran erinnert, dass auch ich zum Analphabeten bestimmt war – zu einem Buchstabenflüchter -, das war sozusagen vorprogrammiert. Ein einziger Lehrer hat zu meinen Gunsten das Programm missachtet. So bin ich halt jetzt ein Analphabet, der lesen und schreiben kann, und mein Lehrer und ich haben der Welt und ihrem Programm ein Schnippchen geschlagen. 641
8.1.5 Los-SCHREIBEN
„Es gibt keine absolute Unwissenheit, ebensowenig wie es absolutes
Wissen gibt“, formuliert Paulo Freire.642 In dieser Diplomarbeit wird von der
Annahme ausgegangen, dass jede und jeder etwas lernen kann. Natürlich darf
nicht darauf vergessen werden, dass es neurologische und physiologische
Grenzen gibt, die nicht überwunden werden können. Das Scheitern beim
641 Bichsel, Peter: Ich kann nicht lesen, in: Kazis, Cornelia 1991, S. 228ff. 642 Freire, Paulo: Erziehung als Praxis der Freiheit 1977, S. 48.
164
Lesen-, Schreiben- und Rechnen-Lernen in der Schule liegt nicht, wie im
Allgemeinen oftmals angenommen, an Unfähigkeit oder Bequemlichkeit,
sondern wird durch verschiedene Ursachen ausgelöst. Wenn Erwachsene sich
aufraffen und in Basisbildungskursen Lernschritte schaffen, so wäre ihnen das
auch als Kind möglich gewesen. Die kognitiven Voraussetzungen waren auch
damals schon vorhanden. Eine Kursteilnehmerin berichtet:
Immer wieder bekam ich als Kind zu hören: Du kannst nichts, du bist nichts, und du wirst auch nichts. Das wurde mir so lange eingetrichtert, bis ich es selber geglaubt habe. Heute noch tue ich mir schwer, das Gegenteil zu glauben.643
Menschen mit Schwierigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen sind
nicht „dumm“, auch wenn sie das womöglich selbst von sich denken, da sie
diese Defizit-Zuschreibung übernommen haben. Sie haben meist jahrelangen
Schulbesuch hinter sich und verfügen über ausreichende intellektuelle
Fähigkeiten. Im Basisbildungskurs können sie ihre Geschichte aufschreiben
und folglich ihr Leben auf neue Weise artikulieren. Damit sie sich zutrauen die
im Kurs (wieder-)erlernten Fertigkeiten im Alltag anzuwenden, braucht es
eine Veränderung in ihrem Selbstbild. Sie können durch Erfolgserlebnisse
mehr Sicherheit, Zuversicht, Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl gewinnen
und sich möglicherweise von negativen Zuschreibungen los-schreiben. Eine
hervorragende Gelegenheit dazu bietet die Literaturzeitung Bumerang.
Ein weiterer Beitrag der Lernenden, ihren Lebenstext neu zu formulieren,
stellt, meines Erachtens, der in vielen Kursen wiederkehrende Wunsch nach
Diktaten dar. Diesem Wunsch wird seitens der Lehrenden bisweilen nicht
bereitwillig nachgekommen, aus dem Bemühen, negative Schulerfahrungen
der Lernenden nicht zu wiederholen und sie durch erwachsenengerechte
didaktische Arrangements so zu unterstützen, dass keine weiteren
Frustrationen entstehen. Da dieser Wunsch jedoch sehr häufig genannt wird,
müssen Diktate eine besondere Bedeutung für die Lernenden besitzen. Heike
Solga gibt folgenden wertvollen Hinweis:
Zudem teilen sie (gering qualifizierte Jugendliche-G.G.) – infolge ihrer Sozialisation im Bildungssystem – häufig das Bewertungssystem nach Leistung, da es ihnen einerseits die (wenn auch vage) Chance lässt, es doch noch zu schaffen (…).644
643 Lela: Meine Volksschulzeit, in: BUMERANG, 03/2004, S. 7. (Homepage) URL: www.ibap.at (02.06.2008). 644 Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 104.
165
Eine mögliche Erklärung für den Wunsch nach Diktaten könnte also sein,
sich endlich einmal erfolgreich bei dieser schwierigen Aufgabe zu erleben, die
in der Schulzeit nur mangelhaft bewältigt werden konnte.645 Peter Faulstich
und Petra Grell erwähnen folgenden Aspekt: „Die Möglichkeit, sich
punktgenau auf Prüfungen vorzubereiten, stellt (…) ein wichtiges Element der
Zufriedenheit dar“.646 Die Diktate im Kurs zu üben wäre dann ein plausibler
Versuch, sich auf aktuelle und künftige öffentliche Situationen vorzubereiten,
in welchen aufgeschrieben werden soll, was andere (an-)sagen und wäre
damit ein wesentliches Moment für die eigene Selbstzufriedenheit und die
Verringerung der Angst vor dem Schreiben.
8.2 Leben in einem Tabubereich
Wir sind tagtäglich von geschriebenen Texten umgeben und werden
unausweichlich mit schriftsprachlichen Anforderungen konfrontiert. Kann nun
jemand in der eigenen Muttersprache ein paar Buchstaben lesen, diese
womöglich langsam zusammenlauten, aus einem Satz einzelne Wörter
herauslesen oder auch Sätze und Texte lesen, wobei der Person aber der Sinn
des Gelesenen verschlossen bleibt, wird diese Person sich mit der
eigenständigen Alltagsbewältigung schwerer tun als andere. Dann sind die in
der Schulzeit vermittelten Kenntnisse und Fähigkeiten niedriger als allgemein
gesellschaftlich erwartet wird. Genauso ist es beim Schreiben, wenn jemand
beispielsweise nicht alle Buchstaben schreiben kann, Wörter lieber abschreibt,
unleserlich oder öffentlich überhaupt nicht schreibt, weil sonst für andere im
geschriebenen Text auffallend viele Fehler erkennbar sind.
Was die geringe schulische Qualifizierung für den einzelnen Menschen
bedeutet, kann aus obigen Texten entnommen werden. Situationen, die
Lesen, Schreiben und Rechnen in der Öffentlichkeit erfordern, werden, wenn
möglich, durch Ausreden (Brille vergessen) und „schummeln“ (abschreiben,
auswendig lernen, in den Krankenstand gehen) vermieden. Oft übernehmen
Vertrauenspersonen die schriftsprachlichen Aufgaben.
Als erwachsener Mensch nicht richtig Lesen, Schreiben und Rechnen zu
können ist in westeuropäischen Staaten ein gesellschaftliches Tabu. Wir alle
meiden Dinge, die uns verlegen machen. Diese Menschen reden darum
verständlicherweise meist nicht oder nur mit wenigen Personen darüber und
645 Für diesen Hinweis danke ich Florian Bauer. 646 Faulstich, Peter; Grell, Petra: Widerständig, in: Faulstich, Peter; Forneck, Hermann J.; Knoll, Jörg 2005, S. 50.
166
versuchen ihre Probleme mit der Schriftsprache zu verbergen. Sie können sich
nicht einfach zusammenschließen, um für ihr Recht auf Bildung, das ihnen
bislang vorenthalten wurde, einzutreten. Sie bleiben für die Gesellschaft lieber
unsichtbar.
Auch in der Öffentlichkeit fand bisher eine präzisere Betrachtung und
Erforschung dieses gesellschaftlichen Tabuthemas nur in einem bescheidenen
Ausmaß statt. Fehlende Informationen und wenig wissenschaftliche
Untersuchungen kennzeichnen bislang den Bereich der Basisbildung und
Alphabetisierung. Tatsächlich gehen die in diesem Bereich Tätigen von
670.000 bis 1,34 Millionen erwachsenen Menschen (über 15 Jahre) in
Österreich647 aus, welchen es tagtäglich gelingt, vor ihrem beruflichen und
privaten Umfeld weitgehend geheim zu halten, dass sie Probleme mit dem
Lesen, Schreiben und Rechnen haben. Häufig wissen nicht einmal nahe
Angehörige davon. Dass es ihnen möglich ist, ihr Handikap vor anderen zu
verbergen, erspart ihnen Schmach und Schande.
Was wäre, wenn dieses Tabuthema in der Gesellschaft nicht bestünde?
Diese Menschen würden von enormen Druck und ständiger Angst befreit. Es
würde ihnen eher möglich sein, Lese-, Schreib- und Rechenschwächen
öffentlich zu machen. Es würde ihnen nicht so großen Mut abverlangen, sich
zu einem Kursbesuch zu entschließen. Dann könnten Basisbildungsangebote
diese Menschen leichter erreichen. Sie könnten anderen über den Kurs und
über ihre erzielten Fortschritte und Erfolge im Lesen, Schreiben und Rechnen
erzählen. Sie könnten ihr Leben und ihre Gedanken schriftlich festhalten, sie
würden unabhängiger von anderen Menschen und könnten sich eigenständig
neues Wissen erlesen. Sie würden „ein anderes Leben leben“.648
Die Tabuisierung trägt dazu bei, dass das Problem am Leben erhalten
wird. Darum ist die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für dieses Thema so
wichtig, „(…) weil man heute als Erwachsene (r) alles lernen darf – nur nicht
ein zweites Mal Lesen, Schreiben und Rechnen“.649 Die Energien der
Erwachsenen müssten nicht mehr ins Verdecken der vorhandenen
Schriftsprachprobleme fließen, sondern könnten für das (Wieder-)Erlernen
647 vgl. Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-3. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008). 648 vgl. Scholz, Achim: „Ich würde ein anderes Leben leben“, in: ALFA-FORUM, Jg. 18, 54-55/2004, S. 21. 649 vgl. In.Bewegung: Warum?…dieses Engagement? (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/84.0.html (03.06.2008).
167
von Lesen, Schreiben und Rechnen genutzt werden. Und dann würde es die
Schriftsprachprobleme möglicherweise schon nicht mehr in diesem Umfang in
Österreich geben.
8.2.1 Alphabetisierungshindernisse
Eine oft gestellte Frage in diesem Zusammenhang ist die nach den
Ursachen für die bestehenden Schriftsprachprobleme. Wie ist es überhaupt
dazu gekommen, dass Menschen trotz jahrelangem Schulbesuch nicht
ausreichend Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt haben? Jürgen Genuneit
hat als Ursachen des funktionalen Analphabetismus in Deutschland folgende
Armutszeugnisse ausgearbeitet:
-ökonomische Armut: Häufig betroffen sind Familien in wirtschaftlich
ungünstigen Verhältnissen, die aufgrund der finanziellen Enge ihren Kindern
nicht die nötige Zuwendung geben können.
-soziale Armut: Die vorherrschende Lebenserfahrung von Menschen mit
Problemen im Lesen, Schreiben und Rechnen sind gesellschaftlicher
Ausschluss, Angst und Diskriminierung, anstelle von Verständnis und Hilfe.
-kommunikative Armut: Im Elternhaus hat niemand geschrieben und
(vor-)gelesen. Diesen Kindern fehlt das Lerninteresse in der Schule, da ihnen
unklar ist, wofür Lesen und Schreiben benötigt wird. Noch belastender ist,
dass gemeinsame Gespräche zwischen Eltern und Kindern in ausreichendem
Maße, auch aufgrund von Medien, wie Fernseher und Computer, fehlen. Durch
die fehlende Kommunikation wird die Sprachentwicklung verzögert oder
gehemmt und in der Folge das Erlernen des Lesens und Schreibens erschwert.
-pädagogische Armut: Schulen und Lehrkräften ist es vielfach nicht
mehr möglich, gesellschaftliche Veränderungen, die sich ungünstig auf die
kindliche Entwicklung auswirken, mit neuen passenden pädagogischen
Konzepten auszugleichen. Daraus resultiert die steigende Zahl der
Schulabgänger ohne ausreichend gefestigte Schriftsprachkenntnisse. Fehlt
aber die Sicherheit im Lesen und Schreiben, führt die Angst vor Misserfolg
dazu diese Tätigkeiten zu vermeiden, sodass die Jugendlichen die wenigen
erlernten Kenntnisse und Fertigkeiten später ebenfalls nicht mehr können. Die
Folge dieser Entwicklung ist letztlich der Analphabetismus.
-politische Armut: Der Poltik war es bislang nicht möglich, die
Schulstrukturen und die Ausbildung des Lehrpersonals so zu reformieren, dass
168
die angeführten Schwierigkeiten überwunden werden können. Somit ist
Analphabetismus in Deutschland auch ein Resultat politischer Armut.650
Nicht eine Ursache allein, sondern das gleichzeitige Auftreten mehrerer
individueller, familiärer, schulischer und gesellschaftlicher Faktoren wirken
sich hemmend auf das Lernen der Kinder in der Schule und auch später im
Erwachsenenalter aus. Marion Döbert und Sven Nickel entwickelten dazu
folgendes Modell:
Abbild 4: Ursachenkomplex von Analphabetismus in Elternhaus, Schule und Erwachsenenalter.
650 vgl. Genuneit, Jürgen: Analphabeten in Deutschland – ein Armutszeugnis, in: Döbert, Marion; Hubertus, Peter 2000, S. 45.
169
Analphabetismus wird, so resümiert Andrea Linde, in der Fachliteratur
„(…) nicht als individuell verschuldet, sondern als gesellschaftliches und damit
bildungspolitisches Problem betrachtet“.651 Sie gibt nachstehende häufig
angeführte Ursachen an:
Fehlzeiten in den ersten beiden Schuljahren wegen Krankheit, Schulwechsel etc.; Nichtbeachtung und mangelndes Verständnis durch die Lehrkräfte; häufige Wechsel der Lehrkräfte und Unterrichts-methoden; ungünstige familiäre Bedingungen wie Arbeitslosigkeit, Krankheit der Eltern etc.; anregungsarmes Umfeld, in dem nicht gelesen oder geschrieben wird; unentdeckte und/oder nicht therapierte gesundheitliche Störungen des Kindes.652
Es gibt Kinder mit Lernproblemen, die in behüteten Verhältnissen
aufwachsen, in Familien, in welchen Arbeit, Fernsehen und Computerspiele
dominieren, Bildung, Schreiben und Bücher jedoch keine oder nur eine
geringe Bedeutung erhalten. Sie werden nicht zum Lesen und Schreiben
ermuntert und erleben disbezüglich auch keine Vorbilder. Andere Eltern
wollen ihren Kindern bei den schulischen Problemen helfen, sind dabei jedoch
überfordert und bekommen auch von der Schule keinerlei Hilfestellung.653
Manche Kinder leben in sehr lernungünstigen Familiensituationen. Marion
Döbert berichtet:
Als typische Erfahrungen im Elternhaus werden von TeilnehmerInnen in Alphabetisierungskursen immer wieder genannt: Gleichgültigkeit/ Interesselosigkeit der Eltern, negative Kommunikationserfahrungen (Brüllen, Schreien, Schweigen), emotionales Desinteresse, fehlende Hilfe bei schulischen Problemen, Ablehnung im Familienverband (Sündenbock, Aschenputtel), physische und psychische Gewalt als Strafmittel, Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft, Ausbrüche roher Gewalt (Alkoholeinfluß), Entmutigung („Du bist zu dumm dazu.“), Abwesenheit, Verlust von Bezugspersonen, parallele Kopplung kritischer Ereignisse (Alkoholexzesse, Ehescheidung, Einschulung, erstes Schulversagen, physische und psychische Strafen, völliges Desinteresse der Bezugspersonen. (...). Kinder mit schulgünstigen Voraussetzungen sitzen so neben Kindern mit ungünstigen, ja schulfeindlichen Erfahrungen aus der Primärsozialisation, doch das Lernziel ist für alle dasselbe.654 (Hervorhebung-G.G.).
Unabhängig vom Einfluss förderlicher oder lernungünstiger schulischer und
familiärer Bedingungen, unabhängig von den beträchtlichen Entwicklungs-
unterschieden der Kinder zu Schulbeginn und von ihrer unterschiedlichen
651 vgl. Linde, Andrea: Analphabetismus, in: Tröster, Monika 2002, S. 19. 652 ebd., S. 19. 653 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 45f. 654 Döbert, Marion: Schriftsprachunkundigkeit, in: Eicher, Thomas 1997, S. 129.
170
Schriftsprachentwicklung während des Unterrichts wird in den ersten zwei
Schuljahren mit den Schülerinnen und Schülern die Grundlagen im Lesen,
Schreiben und Rechnen geübt. Scheitert das Kind daran, hat es keine
Möglichkeit mehr, später diese Kulturtechniken von Grund auf zu wiederholen,
da das im Lehrplan nicht vorgesehen ist. Der weitere Schulunterricht baut auf
der Lese-, Schreib- und Rechenkompetenz auf, ob diese nun real vorhanden
ist oder nicht.655 Die lernhemmenden soziokulturellen und psychosozialen
Vorbedingungen der Kinder werden von der Schule nicht ausgeglichen. Damit
scheitert nicht nur das Kind, sondern auch das Schulsystem selbst an seinem
Bildungsauftrag, ausnahmslos allen Kindern die notwendigen Fertigkeiten und
Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen.
Aus diesem Grund gelang es vielen Jugendlichen bereits in den ersten
Volksschuljahren nicht mehr den Rückstand im Lesen, Schreiben und Rechnen
aufzuholen. Was dieses Manko für die weitere Schulzeit, die Arbeitssuche und
die künftige berufliche und private Lebenswelt bedeutet, wurde vielen erst
später bewusst. Ihre Eltern konnten ihnen oftmals nicht (genug) helfen, da sie
selbst nur über geringe Bildung verfügten.
Die ungleichen Lernvoraussetzungen in der Schulzeit ergeben sich aus
verschiedenen Faktoren: den individuellen Voraussetzungen des Kindes, wie
Persönlichkeit, Alter, Entwicklungsstand, Geschlecht, Gesundheit, Interessen,
sprachliche Fähigkeiten, Lernmotivation, Lerntempo, Vorerfahrungen mit
Schrift, Selbstbewusstsein, Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, usw. und der
Familiensituation, intakte oder problematische Bedingungen (Alkoholismus,
Scheidung, Existenzängste), von vorhandenen Vorbildern, der sozialen
Herkunft, dem Wohnort, der Kinderzahl, dem Stellenwert von Bildung, Lernen
und Schule in der Familie, von der Ausbildung und Berufstätigkeit oder
Arbeitslosigkeit der Eltern, dem Einkommen, der nationalen und ethnischen
Zugehörigkeit und anderem.
Von großer Bedeutung ist auch, wieviel Zeit, Interesse, Wille und
Wissensstand die Eltern aufbringen (können), um bei Bedarf ihren Kindern bei
den Schulaufgaben zu helfen oder ihre finanziellen Möglichkeiten, ihnen
Nachhilfestunden bezahlen zu können. Otto Rath erläutert: „Im Schnitt
verdienen Erwachsene mit mangelhafter Grundbildung weniger und sie sind
häufiger arbeitslos. Sie sind in diesem Zusammenhang eher armutsgefährdet
655 vgl. Füssenich, Iris, in: Döbert, Marion; Hubertus, Peter 2000, S. 49; vgl. Rath, Otto: Kursbuch Grundbildung, in: ISOTOPIA, 45/2004, S. 74f.
171
und von Sozialleistungen abhängig“.656 Die Armutsstatistik bestätigt diese
Einschätzung, da ca. „(…) 90% der armutsgefährdeten Bevölkerung
Österreichs den gering qualifizierten Gruppen und Schichten entstammen“.657
Die Herkunftsfamilie hat nachhaltigen Einfluss auf die Höhe des
Bildungsabschlusses und prägt den weiteren beruflichen Lebensweg,
insbesondere der Mädchen. Bildungsdefizite nehmen ihren Ausgang im „(…)
sozioökonomische(n) und soziokulturelle(n) Familienkontext, in dem der
Mangel an kulturellem Kapital von Generation zu Generation weitergegeben
wird (...).“658 Doch entsteht funktionaler Analphabetismus erst durch das
kollektive Versagen der kindlichen Sozialisationssysteme: der Familie, der
Schule, den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.659 Infolge ihre wenig
hilfreichen, gegenseitigen Schuldzuschiebung werden sowohl die Schul-
organisation als auch die Eltern ihrer Verantwortung gegenüber dem Recht
des Kindes auf Bildung nicht gerecht. Otto Rath gibt zu bedenken:
Die Basis der Benachteiligungen wird in der Familie gelegt, Kompensation in der Schule findet zu wenig oder gar nicht statt, so wird die Verantwortung an die Familien zurückgespielt, die aus soziokulturellen oder sozioökonomischen Gründen nicht immer in der Lage sind, diese zu übernehmen.660
Folgende, vom Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung erstellte
Fadengraphik zeigt die untereinander verknüpften und zusammenwirkenden
Ursachen für die geringe Basisbildung und ihre Auswirkungen:
Abbild 5: Ursachen und Auswirkungen.
656 Rath, Otto: Ohne Kulturtechniken, in: Karahasan, Dževad; Reithofer, Robert; Kerschbaumer, Gertrud 2005, S. 219. 657 vgl. Egger, Rudolf: Gesellschaft mit beschränkter Bildung 2006, S. 59. 658 vgl. Rath, Otto: Ohne Kulturtechniken, in: Karahasan, Dževad; Reithofer, Robert; Kerschbaumer, Gertrud 2005, S. 218. 659 vgl. Rath, Otto: Kursbuch Grundbildung, in: ISOTOPIA, 45/2004, S. 58. 660 Rath, Otto: Ohne Kulturtechniken, in Karahasan, Dževad; Reithofer, Robert; Kerschbaumer, Gertrud 2005, S. 219.
172
8.2.2 Basisbildungshindernisse
Wegen der permanenten Gefahr der Entdeckung ihrer Schwächen und der
Angst vor Diskreditierung tendieren Menschen mit Schriftsprachproblemen
eher dazu sich von der Gesellschaft zurückzuziehen. Sie sprechen kaum über
dieses Problem und vermuten oftmals, sie wären die Einzigen, die nicht richtig
Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt haben. Häufig gibt es jemand an ihrer
Seite, um die schriftsprachlichen Angelegenheiten zu erledigen, wodurch sich
jedoch mitunter eine einengende Abhängigkeitsbeziehung entwickeln kann.
Ein erster Schritt, sich von dieser Abhängigkeit zu lösen, wäre es lesen und
schreiben zu lernen. Umgekehrt können durch die angestrebte oder erlangte
Unabhängigkeit im Lesen, Schreiben und Rechnen liebsame und unliebsame
persönliche Beziehungen ins Wanken geraten, was das Lernen begünstigen
oder hemmen kann.
Wie es Gründe dafür gibt, etwas zu lernen, gibt es auch gute Gründe es
lieber nicht zu tun. Ein hemmendes Kriterium für Erwachsene stellt neben der
allgemeinen und finanziellen Belastung auch die Tatsache dar, dass die
Anmeldung für einen Basisbildungskurs einer Selbststigmatisierung
gleichkommt. Erst wenn sich jemand mit den eigenen Schriftsprach- und/oder
Rechenschwächen „geoutet“ und das lange Stillschweigen darüber - vielleicht
erstmals - gebrochen hat, ist es diesem Menschen möglich, Lesen, Schreiben
und Rechnen (wieder) zu erlernen.661
Selbst wenn nach PISA (2003) 20% der Jugendlichen, d.h. rund 18.000
Schülerinnen und Schüler zur Lese-Risikogruppe gehören, werden mangelnde
Schriftsprachkompetenzen nach wie vor dem einzelnen Menschen als ihr oder
sein individuelles Defizit angelastet. Wesentlich ist, nach Andrea Linde, „(…)
den Betreffenden nicht als selbstverschuldeten Problemfall zu betrachten“.662
Sie argumentiert ebenfalls damit, dass diese „individuelle Schuldzuweisung“
unhaltbar ist und fügt hinzu, dass gerade diese Annahme für die Betreffenden
oft zum Alphabetisierungshindernis werden kann.663
Paulo Freire meint in einer Randbemerkung zu persönlichen Problemen,
diese sind „(…) im übrigen nie persönliche (…), weil sie soziale Probleme
widerspiegeln“.664
661 vgl. Rath, Otto: Netzwerk Basisbildung und Alphabetisierung, in: MAGAZIN erwachsenenbildung.at, 01/2007, S. 02-12. (Homepage) URL: http://eb-portal.at/magazin/07-1/meb07-1_02_rath.pdf (03.06.2008). 662 vgl. Linde, Andrea: Analphabetismus, in: Tröster, Monika 2002, S. 20. 663 vgl. ebd. 664 vgl. Freire, Paulo: Der Lehrer ist Politiker und Künstler 1981, S. 74.
173
8.2.3 Schulische Gegenmaßnahmen
Als Resultat der alarmierenden Ergebnisse der PISA-Studien (2000, 2003),
der Ziele der UNESCO und der Benchmarks der EU665 sind in Österreich in den
letzten Jahren einige Erneuerungen in der Schulbildung eingetreten. Im
Lehrplan für Volksschulen ist ausdrücklich vorgesehen, „(…) den Unterricht
grundsätzlich am Kind zu orientieren“, die unterschiedlichen Lernvoraus-
setzungen, z.B. die „Entwicklungsstufen und Individuallagen der Schülerinnen
bzw. der Schüler“ durch „differenzierende und individualisierende Maß-
nahmen“666 zu berücksichtigen und ihre bisher gemachten Lernerfahrungen im
Unterricht miteinzubeziehen.667 Zudem ist die Förderung der Lesekompetenz
der Kinder und Jugendlichen, nach dem „Grundsatzerlass zum Unterrichts-
prinzip Leseerziehung“, nicht eine Aufgabe der Grundschule allein, sondern
richtet sich als fächerübergreifender Bildungsauftrag an die „Lehrerinnen und
Lehrer aller Unterrichtsgegenstände und Schularten“.668
Die Tendenz geht dahin, schulisches Lernen zu standardisieren. Anhand
von vorgegebenen Bildungsstandards für die 4. Klasse Volksschule (Deutsch,
Mathematik) und die 4. Klasse AHS oder Hauptschule (Deutsch, Mathematik
und Englisch)669, wird zu Schulende der Lernstand der Schülerinnen und
Schüler in diesen Fächern erhoben. Dabei werden fachliche Basis-
qualifikationen definiert, die als normative Zielvorgaben von allen Schulen
erreicht werden sollen. Die Bildungsstandards befinden sich derzeit
österreichweit an über 100 Schulen in einer Testphase. Sie werden nach ihrer
Evaluierung durchgängig eingesetzt werden.670
Ein weiteres aktuelles Testverfahren für die Grundschule und die 5.-8.
Schulstufe ist das „Salzburger Lese-Screening (SLS)“. Die Schülerinnen und
Schüler erhalten die Aufgabe, möglichst schnell einfache Sätze zu lesen und
an dessen Ende anzuzeichnen, ob die Satzaussage wahr ist oder falsch.
Erhoben werden dadurch die basalen Lesefertigkeiten über die Lese-
665 Zu den Zielen der UNESCO: siehe 2. Kapitel; Benchmarks der EU: siehe 5. Kapitel. 666 Differenzierter und individualisierter Unterricht ist auch für den Sekundarbereich vorgesehen. 667 vgl. Bundesministerium: Verordnung der Bundesministerin BGBl. Nr. 134/1963 in der Fassung BGBl. II Nr. 107/2007 vom 09.05.2007, S. 22. (Homepage) URL: www.bmukk.gv.at/medienpool/14055/lp_vs_gesamt.pdf (03.06.2008). 668 vgl. Bundesministerium: Grundsatzerlass Leseerziehung GZ 29.540/4-V/3c/99, Nr. 18/1999 vom 25.03.1999. (Homepage) URL: www.bmukk.gv.at/schulen/unterricht/prinz/Leseerziehung1594.xml (30.07.2007). 669 Zu den Inhalten siehe unter: www.gemeinsamlernen.at. 670 vgl. Bundesministerium: Bildungsstandards Folder. (Homepage) URL: www.bmukk.gv.at/schulen/unterricht/ba/bildungsstandards.xml (31.07.2007).
174
geschwindigkeit der Kinder und Jugendlichen, das heißt „die Fertigkeit des
fehlerfreien, schnellen und mühelosen Lesens“, in seinem „technischen
Aspekt“, ohne dabei das an „Sprachkompetenz und Wissensvoraussetzungen
gebundene Textverständnis“ ebenfalls zu messen.671 Die Ursachen für die
großen Schwierigkeiten der Kinder beim Lesen lernen werden im Salzburger
Lese-Screening vor allem auf „neurokognitive“ Faktoren reduziert:
Bei zumindest einem beträchtlichen Teil der Kinder mit Anfangs-schwierigkeiten oder mit Schwierigkeiten bei der Automatisierung liegt eine gehirnorganisch bedingte spezifische Behinderung vor, die in relativ vielen Fällen eine genetische Verursachung hat.672
Bei starken „Defiziten der basalen Lesefertigkeit“, so wird betont, handelt
es sich mehrheitlich um eine „spezifische Behinderung“, an der niemand
Schuld trägt und die wie eine Form von „musikalischer Minderbegabung“
angesehen werden kann, allerdings mit belastenden negativen Konsequenzen
für die schulische und berufliche Zukunft der Kinder.673
Im Rahmen der Initiative „LESEFIT. Lesen können heißt lernen können“,
durchgeführt durch das Bildungsministerium und dem Buchklub, sollen
„österreichweite Standards für Leseförderung und –didaktik“, als Grundlage
für den schulischen Leseunterricht entwickelt werden. Weitere Schwerpunkt-
setzungen der Initiative sind vor allem Aktionen, die die Leseförderung zu
Hause in Form einer Lesepartnerschaft zwischen Eltern, Schule und Kind zum
Ziel haben, das Salzburger Lese-Screening mit dem dazugehörenden
Fördermaterial, sowie aktuelle fachliche Informationen, Unterrichtsmaterialien
und Seminarangebote für die Lehrpersonen.674 Einige Maßnahmen der
Initiative sind: der LESEFIT-Rucksack „Sachbücher“ für die Volks- und
Hauptschule, schulinterne und externe Lesepartnerschaften, die Zeitschrift
TRIO für den mehrsprachigen Unterricht (Bosnisch-Kroatisch-Serbisch,
Deutsch und Türkisch), u.a.m.
Eingesetzt wurde diese Initiative als korrigierende Maßnahme auf die PISA
Resultate (2000), worin 14% der getesteten Schülerinnen und Schüler nur
schwache bzw. sehr schwache Leseleistungen erbringen konnten. „Ziel ist es,
671 vgl. Mayringer, Heinz: Salzburger Lese-Screening, in: LESEFIT. (Homepage) URL: www.lesefit.at (31.07.2007). 672 Mayringer, Heinz; Wimmer, Heinz: Volksschul-Test, in: LESEFIT. (Homepage) URL: www.lesefit.at (31.07.2007). 673 vgl. ebd. 674 vgl. Bundesministerium: Fit beim Lesen. (Homepage) URL: www.lesefit.at/projekt.htm (31.07.2007).
175
die Zahl der leseschwachen Schüler/innen zu halbieren und bei allen Kindern
Lust und Freude am Lesen zu wecken und zu stärken“.675 Letzteres ist
erforderlich, da nach PISA (2000, 2003) „(…) fasst die Hälfte der 15-/16
jährigen Schülerinnen und Schüler nicht mit Vergnügen lesen“.676
Alle genannten Maßnahmen fördern in erster Linie die Lesekompetenz und
weniger (wenn überhaupt) die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler im
Schreiben und Rechnen. Wesentliche Kriterien sind, neben dem zweifellos
engagierten Bemühungen vieler Lehrkräfte, sicherlich auch die vorgegebenen
Rahmenbedingungen der Schulen, wie die Schulorganisation (geteiltes oder
Gesamtschulsystem), die Schulautonomie, die Klassengröße, die Anzahl der
Förderstunden, die personalen und finanziellen Ressourcen, usw.
Ob die beinahe unzähbaren Leseförderprojekte, die Testprogramme und
Bildungsstandards den Kindern und Jugendlichen die erforderliche
Unterstützung beim Lernen bieten können oder ob sie ihnen, wie Heike Solga
es ausdrückt, als Sondermaßnahmen einen „‘amtlichen Stempel des
Defizitären‘“ aufdrückt, wird die (Test-)Zukunft zeigen.677
8.2.4 Chancen(un)gleichheit
Bildung ist ein öffentliches Gut und ein Bürgerrecht. Bekanntlich bietet
jedoch das gesellschaftliche Bildungssystem nicht allen die gleichen Chancen.
Verschiedene Studien (PISA, IGLU) zeigen unbestreitbar das Vorhandensein
einer „strukturell angelegte(n) Benachteiligung im Bildungswesen“ auf.678 Zur
Forderung nach Chancengleichheit meint daher R. H. Tawney:
Wer Ungleichheit kritisiert und Gleichheit fordert, verfällt keineswegs, wie gelegentlich behauptet, der romantischen Illusion, die Menschen seien im Blick auf Charakter und Intelligenz gleich. Er glaubt vielmehr, dass die Menschen zwar in ihrer natürlichen Begabung große Unterschiede aufweisen mögen, dass es aber einer zivilisierten Gesellschaft geziemt, Ungleichheiten zu beseitigen, die ihren Ursprung nicht in individuellen Unterschieden, sondern in der [sozialen] Organisation haben.679
675 Bundesministerium: Lesefit, S. 2. (Homepage) URL: www.klassezukunft.at/dbstatisch/index.php?artikel_id=n_lese2&artikel_seiten=n_lese|n_lese2|n_lese3|n_lese4|n_lese5|n_lese6|n_lese7|n_lese8&titel_color=000000&tbl_bgcolor=E5C6F7&tbl_border_color=000000&reform_typ=&zurueck_lnk= (16.08.2007). 676 vgl. Bundesministerium: Lesen fördern!, S. 9/27. (Homepage) URL: www.klassezukunft.at/statisch/zukunft/de/lesen_foerdern.pdf (15.08.2007). 677 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 111. 678 vgl. Egger, Rudolf: Gesellschaft mit beschränkter Bildung 2006, S. 56. 679 Tawney, R. H., zit. in: Sennett, Richard 2004, S. 316.
176
Persönliche Eigenschaften wie Lernbereitschaft, Leistungsfähigkeit, Fleiß
und Intelligenz sind nicht allein ausschlaggebend für den schulischen und
beruflichen Erfolg. Richard Sennett führt folgende entscheidende Faktoren an:
(...) einfache Messungen der Intelligenz vermögen die Ungleichheit im schulischen oder beruflichen Erfolg zwar zu einem gewissen, aber doch nur kleinen Teil zu erklären. Die familiäre und soziale Herkunft, persönliche Motivation und pures Glück haben zusammen größeren Einfluss auf die Gestaltung der Zukunft.680
Ist Bildung somit lediglich ein Glücksfall? Das Glück, in einer intakten
österreichischen Familie geboren und mit wohlhabenden Eltern aus einer
höheren Bildungsschicht aufgewachsen zu sein? Auch hierzulande ist seit
Jahrzehnten unverändert die Höhe des Bildungsabschlusses, die berufliche
Laufbahn, das Einkommen und der gesellschaftliche Status eines Menschen
von der sozialen Herkunft beeinflusst, weshalb Christoph Reinprecht bemerkt:
Berufliche Karrieren stabilisieren sich sehr früh, Bedingungen der Herkunftsfamilie, die sich in der Schullaufbahn festmachen, lassen sich nicht nur schwer korrigieren, sondern prägen den weiteren Lebenslauf, vor allem die berufliche Karriere.681
Das Bildungssystem trägt erheblich zur sozialen Ungleichheit bei. Nach
Ansicht des Autors unterliegen die Ausgangsbedingungen und die
persönlichen Handlungsoptionen jedes Einzelnen beim Erreichen von
Statuspositionen, im Sinne von Pierre Bourdieu, wesentlich der familiären
„Verfügbarkeit an (ökonomischem, kulturellem und sozialem) Kapital (...),
während das Bildungsystem dafür sorgt, dass die oberen sozialen Schichten
bevorzugt werden“.682 Beispielsweise untersuchte eine UNICEF Studie (2002)
die Bildungschancen in den OECD-Ländern mit dem Ergebnis, dass für die
Schullaufbahn und den Bildungserfolg österreichischer Kinder das
Bildungsniveau ihrer Eltern von entscheidender Bedeutung ist:
Österreichischen (sic!-G.G.) Kinder aus Familien mit niedrigem Bildungsstand weisen eine um den Faktor 1,7 erhöhte Wahrscheinlichkeit auf, nur unzureichend Lesen und Schreiben zu lernen. (Spitzenreiter hinsichtlich Chancengleichheit sind Finnland, Irland, Polen mit jeweiligem Faktor 1,4; Deutschland 3,0).683
680 Sennett, Richard: Respekt 2004, S. 105. 681 Reinprecht, Christoph: Die „Illusion der Chancengleichheit“, in: Paulo Freire Zentrum; Österr. HochschülerInnenschaft 2005, S. 135. 682 vgl. ebd., S. 139. 683 UNICEF, zit. in: Egger, Rudolf 2006, S. 69.
177
Auch die PISA-Ergebnisse zeigen, dass in Österreich der sozioökonomische
Hintergrund von stärkerem Einfluss auf die Schulleistungen der Jugendlichen
ist, als in anderen Ländern.684
8.3 Scheitern als Tabu
Es ist ein Teil unserer Kultur, „(…) dass Menschen sich tatsächlich
gedemütigt fühlen, wenn sie um Hilfe bitten oder ihre Schwächen offenbaren
müssen“.685 In persönlichen Lebensberichten kommen Erfahrungen des
Scheiterns und der eigenen Unzulänglichkeit daher kaum vor. „Das Scheitern
ist das große moderne Tabu“, bemerkt Richard Sennett. Er betont: „Wie bei
allem, das man sich auszusprechen weigert, werden sowohl die innere
Besessenheit als auch die Scham dadurch nur größer. Unbehandelt bleibt der
harte innere Satz: ‚Ich bin nicht gut genug’“.686
Wenn es gelingt das Tabu im Laufe der Zeit zu brechen, indem Menschen
sich einander vertrauensvoll öffnen und sich gegenseitig unterstützen, kann
ihre Erzählung eine selbstheilende Wirkung entfalten. Das ist, nach
Auffassung des Autors, „eine Überlebensstrategie für die stetig wachsende
Zahl jener, die im modernen Kapitalismus zum Scheitern verurteilt sind“.687
8.3.1 Scham
Scheitern wird häufig mit dem Gefühl der Scham verbunden. „Scham sei“,
nach den Worten Gerhart Piers, „ein Gefühl der Unvollkommenheit, das sich
auch durch tatsächliche Leistung und Belohnung nicht verdrängen lässt“.688
„Die Angst vor einer Bloßstellung gehört in den Bereich der Scham (...)“,
erklärt dazu Richard Sennett.689 Im schulischen Kontext lässt sie sich gut
beobachten. Als allgemein nachvollziehbares Beispiel für die zu treffende
Unterscheidung zwischen Schuld und Scham führt Richard Sennett eine
Prüfungssituation an: „Wer bei einer Prüfung schummelt, fühlt sich schuldig,
wer dabei versagt, empfindet Scham“.690 Nach Ansicht von Erik Erikson treten
Schamgefühle im Zusammenhang mit einem ungewollten Kontrollverlust auf,
684 vgl. Haahr, Jens H.: Explaining Student Performance, S. 6. (Homepage) URL: wien.arbeiterkammer.at/pictures/d38/Praesentation_PISA_Ergebnisse.pdf (16.07.2007). 685 vgl. Sennett, Richard: Respekt 2004, S. 147. 686 Sennett, Richard: Der flexible Mensch 1998, S. 159. 687 vgl. ebd., S. 185. 688 Piers, Gerhart, zit. in: Sennett, Richard 2004, S. 144. 689 vgl. Sennett, Richard: Respekt 2004, S. 209. 690 ebd., S. 143.
178
wenn ein Mensch „’sich den Blicken der Welt höchst unvorbereitet ausgesetzt’
fühlt, etwa wenn ein Kind, das Lesen lernt, vom Lehrer wegen eines Fehlers
bloßgestellt wird“.691
Christioph W. Aigner beschreibt das emotionale Empfinden von Scham mit
den folgenden Zeilen in einem seiner Texte:
Ich weiß auch kaum noch, was ich lernen soll, auch vor Scham, denn ich stehe verständnismäßig etwa dort, wo wir am Anfang des Schuljahres waren, und ich schäme mich zuzugeben, dass ich alles nur so vage mitbekomme, und frage also niemanden, wie das und dies so geht, es wäre, wie gestehen zu müssen, dass man nicht lesen und schreiben kann. [...]. Ich habe Angst vorm Lernen. Abends über dem Mathematikbuch sitzen und durch Hineinstarren versuchen, etwas zu verstehen. Dieses Verstehenwollen und nicht können, dieses ohnmächtige Formelanstarren, hat mir jedesmal ein tennisballgroßes Loch durch den Bauch gebohrt, einen Tunnel der Hilflosigkeit, worüber ich mit niemandem reden konnte. Danach legst du dich nieder, mitten in Albträume hinein.692
8.3.2 Individuelles Scheitern
Die Schulzeit ist reich an Möglichkeiten, Scham und Schuld zu empfinden
und eigenes oder fremdes Scheitern zu erleben. Thomas Heinze argumentiert:
In der Schule ermöglicht das Versagen eines Schülers den Erfolg eines anderen. Da fast alle Kinder diese Erfahrung machen müssen, entsteht Haß, der in unserer Gesellschaft mit Neid umschrieben wird. Mitvermittelt wird die Angst vor dem Scheitern.693
Die Kinder und Jugendlichen, die die geforderte Klassennorm „in derselben
Zeit dasselbe gelernt (zu-G.G) haben“ nicht erreichen, machen „schnell die
Erfahrung von Diskriminierung, von Versagen und Unzulänglichkeit“.694 Sie
lernen leidvoll, dass sie schlechter abschneiden als ihre Altersgenossen und
reagieren eventuell mit Frustration, vielen Fehlzeiten, Verhaltensweisen, die
den Unterricht stören bis hin zu Aggression. Sie versuchen auf ihre Art mit
den Lernschwierigkeiten in der Schule zurechtzukommen, indem sie z.B.
schriftliche Aufgaben von Geschwistern oder Freunden erledigen lassen.695
Wenn den Kindern und Jugendlichen zu ihren Lernschwierigkeiten erklärt
wird, dass ihnen die „Motivation, der Wille zum Lernen fehlt“, ist es ihnen aus
psychologischer Sicht nahezu unmöglich, „gegen Selbstvorwürfe anzugehen“,
691 Erikson, Erik, zit. in: Sennett, Richard 2004, S. 146. 692 Aigner, Christoph W.: Nichts und nüll und null, in: Die Presse, 23.09.2006, S. VIII. 693 Heinze, Thomas: Schülertaktiken 1980, S. 36. 694 vgl. Döbert, Marion; Hubertus, Peter: Ihr Kreuz ist die Schrift 2000, S. 48. 695 vgl. ebd., S. 50.
179
weil auf diese Weise die „Bedeutung des Lerninhaltes“ herabsetzt wird. Das
lässt sie vermuten: „Irgendetwas muss mit mir nicht stimmen“.696
Und „(…) der Abschied von der Schule ist für viele auch ein Abschied von
den Buchstaben, von dieser grauenhaften Qual, mit der man sich lächerlich
machte“, fügt Peter Bichsel hinzu.697
8.3.3 Institutionelles Scheitern
Heike Solga erforscht die „institutionellen Ursachen des Scheiterns“698 von
„gering qualifizierte(n) Jugendliche(n)“ an den gesellschaftlichen Bildungs-
normen. Mit dieser nicht diskriminierenden Bezeichnung will die Autorin die
„gesellschaftliche Produktion dieser Personengruppe“ veranschaulichen. Der
Begriff „(…) kennzeichnet damit nicht Personen mit geringer Qualifikation,
sondern Personen, die vom Bildungssystem zu wenig qualifiziert und/oder
ohne Zertifikat entlassen wurden“.699 Folglich wird das „Bildungsversagen“
dieser Jugendlichen von der Autorin nicht als deren individueller
Leistungsmangel interpretiert, sondern als „institutionell definiertes und damit
sozial konstituiertes Merkmal“.700
Schulsysteme haben u.a. die Aufgabe Jugendliche in die Gesellschaft zu
integrieren. Sie sind wesentlich bei der Vergabe von Sozialstatus beteiligt.
Mittels „genormten Leistungen“ werden durch Schulnoten und Tests die
individuellen Erfolge der Schülerinnen und Schüler festgestellt, wobei davon
ausgegangen wird, dass alle Kinder die Bildungslaufbahn erfolgreich
abschließen werden. Die Schülerinnen und Schüler lernen anhand der
„hierarchischen Leistungsmessung im Schulalltag (von sehr gut bis sehr
schlecht, von leistungsstark bis leistungsschwach)“, wer sie sind. Die
Bewertungen zeigen auf, wo sie sich im „Vergleich (bzw. im Wettbewerb)“ zu
den anderen Kindern im Klassenverband befinden.701 Heike Solga zitiert
Erving Goffman: „Die Gesellschaft schafft die Mittel zur Kategorisierung von
Personen und den kompletten Satz von Attributen, die man für die Mitglieder
jeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet“.702
696 vgl. Sennett, Richard: Respekt 2004, S. 100. 697 vgl. Bichsel, Peter: Ich kann nicht lesen, in: Kazis, Cornelia 1991, S. 228. 698 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 98. 699 vgl. ebd., S. 97. 700 vgl. ebd., S. 97f. 701 vgl. ebd., S. 98. 702 Goffman, Erving, zit. in: Solga, Heike 2004, S. 98.
180
Durch die schulischen Beurteilungverfahren werden „Abweichungen“, die
die normierten Leistungsstandards unterlaufen, „konstituiert“.703 Heike Solga
bezieht sich dabei auf Howard S. Becker, der die These formuliert, dass
(...) gesellschaftliche Gruppen abweichendes Verhalten dadurch schaffen, daß sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert, und daß sie diese Regeln auf bestimmte Menschen anwenden, die sie zu Außenseitern abstempeln. Von diesem Standpunkt aus ist abweichendes Verhalten keine Qualität der Handlung, die eine Person begeht, sondern vielmehr eine Konsequenz der Anwendung von Regeln durch andere (...).704
Die Abweichungen werden zudem mit demotivierenden Begriffen, wie
„Begabungsmangel, Intelligenzdefizit, Verhaltens- und Lernprobleme
(‚Lernbehinderte’)“ belegt, die ihrerseits zu verringerten Leistungs-
bemühungen der so bezeichneten Personen beitragen können.705 Sobald die
Abweichungen allseits bei den Lehrenden und den Lernenden bekannt sind,
wird deren Verhalten dieser Personengruppe gegenüber von „antizipatorischen
Erwartungen“ beeinflusst. Die Etikettierung wird nun in der Folge zu einem
„Persönlichkeitsmerkmal“ ausgebaut, bei dem im Zuge des „psychologischen
Halo-Effekts“ mit weiteren „negativen Zuschreibungen und Identitäts-
zumutungen“ zu rechnen ist. Von den Lehrenden droht diesen Schülerinnen
und Schülern die „Gefahr eines pädagogischen Pessimismus“, möglicherweise
durch „geringe(re) Leistungserwartungen und –anforderungen sowie verzerrte
Leistungsbewertungen“ und seitens ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler eine
über die Unterrichtszeit hinausgehende Fixierung auf diesen ‚Makel’.706
Als Voraussetzung für die „Integration und gesellschaftliche Teilhabe“ wird
von diesen Kindern und Jugendlichen unter den „Bedingungen der
Ausgrenzung und Diskriminierung“ eine Verbesserung ihrer Leistungsdefizite
gefordert. Zu den Auswirkungen der sich im Schulalltag wiederholenden
„Prozesse von Ablehnung oder Zurückweisung“ zählen „Schulangst, Anomie
(Gefühl der Machtlosigkeit) sowie Entfremdung und Distanzierung leistungs-
schwacher Schüler vom Lernprozess“.707 Ein deutlicher Hinweis sind ebenfalls
die „hohen Schulabbruchs- und Schulverweigerungsquoten“, die im „OECD-
703 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 99. 704 Becker, Howard S.: Außenseiter 1981, S. 8. 705 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 99. 706 vgl. ebd. 707 vgl. ebd., S. 100.
181
Durchschnitt bei 5%“ betragen.708 Studien (TIMSS) belegten folgenden
Zusammenhang: Die Wahrscheinlichkeit der Fehlzeiten steigt an, je geringer
die Schulleistungen des Kindes und „je geringer der Leistungsdurchschnitt der
Schule ist“. Als vorrangige Ursache für das Schulschwänzen wird von den
Kindern und Jugendlichen ein „negatives Verhältnis zu Lehrern sowie zu
Mitschülern“ angegeben. Unter den Jugendlichen, die der Schule fernblieben,
waren viele, die die Klasse ein- oder mehrmals repetieren mussten und für die
dieses „Sitzenbleiben“ gleichbedeutend war mit persönlichen Versagen und
sozialer Diskriminierung.709
Viele Untersuchungen belegen eine enge Verbindung zwischen den
Schulleistungen und der sozialen Anerkennung durch Gleichaltrige. So
beziehen, nach einer Studie von Hanns Petillon, bereits Schulanfängerinnen
und -anfänger die Schulleistungen bei der Wahl von Freunden, Spielgefährten,
Sitznachbarn und Bezugspersonen mit ein. Sehr schwierig ist dabei die soziale
Situation von Repetenten. Sie werden vielfach abgelehnt und isoliert und sind
der „Schadenfreude der Mitschüler ausgesetzt“. Es wird weithin angenommen,
„(…) daß Schulunlust in dem Maße zunimmt, in dem Lehrer und Mitschüler
einem Schulkind die soziale Anerkennung versagen“.710
Schulischer Misserfolg verbunden mit geringer sozialer Anerkennung zieht
eine Reihe von negativen Konsequenzen (insbesondere für Mädchen) nach
sich: innerer Widerstand gegen die Schule, geringere Motivation, Erfolgs-
zuversicht und Lernbereitschaft, sowie abwertende Bemerkungen,
Ausgrenzung, Hänseleien, fehlender positiver Kontakt und keine
Unterstützung seitens der Schülergruppe, usw.711
Aufgrund verschiedener Untersuchungen ist ebenfalls anzunehmen, dass
„Zusammenhänge zwischen dem Lehrerverhalten und dem sozialen Status
eines Schülers“ bestehen. Ihr Verhalten beeinflusst z.B. die Ängstlichkeit,
Lernbereitschaft und das Selbstkonzept der Kinder. Diese Faktoren wiederum
sind wesentlich für die Statusvergabe in der Klasse.712 Allgemein lässt sich
festhalten, dass „(…) ein gutes Verhältnis zum Lehrer das Zurechtkommen
des Kindes mit seinen Mitschülern fördert“.713 Kinder mit schlechteren
708 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 100. 709 vgl. ebd. 710 vgl. Petillon, Hanns: Das Sozialleben des Schulanfängers 1993, S. 123. 711 vgl. ebd., S. 123f. 712 vgl. ebd., S. 125. 713 vgl. ebd., S. 126.
182
Schulleistungen tun sich schwerer, Leistungsdefizite aufzuholen, da sie eher
selten von den Lehrern die erforderliche Zuwendung erhalten und verlieren
zugleich „zunehmend an positiven Kontaktmöglichkeiten in der Gruppe“.714
8.3.4 Identitätszuschreibungen
Im Schulalltag bewerten die Kinder das Verhalten anderer Kinder und das
ihrer Lehrerinnen und Lehrer. Umgekehrt wird auch ihr eigenes Verhalten von
den anderen Schulkindern und den Lehrpersonen bewertet und beurteilt.
Diese Bewertungen erfolgen über „signifikante Symbole“, deren Bedeutung
von allen gemeinsam geteilt wird. Entscheidende signifikante Symbole sind
z.B. Leistungsbeurteilungen der Lehrenden im Unterricht, Noten, Testresultate
und letztlich auch Bildungsabschlüsse, weil sie „(…) für selbstverständlich
gehalten werden und (legitimierte) Maßstäbe für die Beurteilung ange-
messenen Verhaltens in der Schule moderner Gesellschaften darstellen“.715
Die pädagogischen Leistungssolls und Verpflichtungen bilden einen
„intersubjektiven Interpretationsfilter“, der, aufgrund der jeweils erreichten
Schulleistungen, als „Bildungskategorisierung“ Auskünfte über das Handeln
der Kinder in unterschiedlichen Schulsituationen gibt und „(…) zugleich auch
die Selbstwahrnehmung der Schüler und Schülerinnen hinsichtlich ihrer
Leistung im Vergleich zu und in Reaktion auf die anderen formt“.716
Heike Solga erwähnt in ihrer Arbeit George Herbert Mead, der von der
„Herausbildung einer sozialen Identität (‚Me’)“ ausgeht, die „’meiner
Vorstellung von dem Bild, das der andere von mir hat, bzw. auf primitiverer
Stufe meiner Verinnerlichung seiner Erwartungen an mich’“ entspricht.717
Leistungsbezogene Schülerkategorien, generalisiert in „’normkonformes’ oder
‚abweichendes’ Verhalten“, bewirken „Etikettierungen“, durch die sich die
Schülerinnen und Schüler gleichsam von außen betrachten und ihr „Leistungs-
wie auch Sozialverhalten“ an diesen schulischen Fremdbildern orientieren.718
Im Rahmen der sich über Schulleistungen vollziehenden Identitätsbildung
werden neben den „Erwartungen eines anderen (significant other)“ auch „die
eines – in der Abstraktion aller bedeutsamen Anderen – ‚generalisierten
Anderen’ (generalized other)“ reflektiert. Schlechte Schulleistungen werden
714 vgl. Petillon, Hanns: Das Sozialleben des Schulanfängers 1993, S. 128. 715 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 101. 716 vgl. ebd. 717 vgl. ebd. 718 vgl. ebd.
183
durch Letzteren in der Schule in dreifacher Weise als gesellschaftliche
Normabweichung von der Leistungserbringung und dadurch als „individuelles
Scheitern“ dargestellt: Erstens als ein folgenschweres Zuwiderhandeln gegen
gesellschaftlich vorgegebe Bildungsstandards (unattraktive und körperlich
anstrengende Berufe, z.B. in der Müllabfuhr, Straßenreinigung, usw. oder
Arbeitslosigkeit drohen), zweitens als „Dead-end-Erklärung“ der intellektuellen
Fähigkeiten des Kindes („’Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer-
mehr’“) und/oder drittens auch als „(…) soziale Verantwortungslosigkeit, da
sie ihren Beitrag zum Gemeinwohl in Form guter Schulleistungen scheinbar
nicht erbringen wollen“719
Die in ihrem Leistungsverhalten erfolgreicheren Mitschülerinnen und
Mitschüler und die Lehrpersonen begegnen diesen Kindern und Jugendlichen
mit „Ignoranz, Ablehnung, Erniedrigung oder Verurteilung ihres Verhaltens“.
Schülerinnen und Schüler, welchen diese negativen Reaktionen gespiegelt
werden, haben in einem „sozialisatorischen Prozess der Rollenübernahme
(role-taking)“ mit fortwährendem abweisendem Verhalten und negativen
Zuschreibungen ihres Umfeldes umzugehen. Sie lernen, wie andere Personen
auf ihre schlecht(er)en Schulleistungen reagieren und dass diese generell als
„wahrnehmbare, gesellschaftlich hochbewertete sowie als ‚zuverlässig’
bewertete Zeichen zur Charakterisierung von Personen“ gelten.720 Sie lernen
auch mit der ihnen - wegen ihres „‚abweichenden’ Schul- und Lernverhaltens“
- zumeist als selbstverschuldet „(zugeschriebenen) sozialen Identität der
‚Leistungsschwäche’“ zurechtzukommen.721
Im Umgang mit dieser vom Bildungssystem ausgehenden Zuschreibung,
die zu einer „‚institutionalisierten Identitätsbeschädigung’“ führt, stehen den
Schülerinnen und Schülern zwei Möglichkeiten offen: „eine ‚Verdopplung’ ihrer
Anstrengungen als Rebellion und Protest oder ein Sich-Fügen als Anpassung
an das Fremdbild (mit oder ohne Korrektur des individuellen Selbstbildes)“.722
Beide Variationen sind möglich und gestatten damit der Schülerin und dem
Schüler eine „Identitätsinterpretation (role-making)“. Die ‚beschädigte’ soziale
Identität muss nicht gleichzeitig die persönliche Identität verringern, wenn es
gelingt beide Ebenen zu trennen. Vermehrte Anstrengungen der Kinder und
719 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 102. 720 vgl. ebd. 721 vgl. ebd., S. 103. 722 vgl. ebd.
184
Jugendlichen scheitern aber häufig an dem „(institutionalisierten) Fremdbild“
der Mitschülerinnen und Mitschüler sowie der Lehrpersonen, die ihnen mit
ihrer „stereotypen Sichtweise“ Grenzen setzen.
Zum zweiten Weg, dem Rückzug und der verringerten Leistungs-
anstrengungen und Schulverweigerung ist zu ergänzen, dass es sich hier nicht
unbedingt um eine „passive Anpassung, sondern eher um eine Bewahrung
eines Stücks persönlicher Identität“ der als leistungschwach etikettierten
Jugendlichen handelt. Ihre Wahl der Situationen, in welchen sie sich eher
einfinden und welche sie meiden, erlaubt ihren eine „gewisse Souveränität“.723
Edward E. Jones erklärt: „Each decision to connect with the social world will
involve a special effort, a conscious decision of whether the contact is worth
the possible humiliation and further negative reaction“.724
„Selbstselektion und negative Selbsttypisierungsprozesse“ führen oftmals
zu einem Ausbildungsverzicht bei Sonderschul- und Hauptschulabgängern
ohne Schulabschluss. Beispielsweise zeigte die EMNID Studie (1990) über
westdeutsche Jugendliche (20-24 Jahre), dass 70% der Sonderschulabgänger
und 67% der Hauptschabgänger ohne Abschluss sich nie um eine Ausbildung
beworben haben. Als Begründungen dafür nennen diese Jugendlichen ihre
„mangelnde schulische Vorbildung, ihre Resignation auf Grund von
antizipierten Problemen bei der Ausbildungssuche, Motivationsprobleme, ihre
ungenügende berufliche Orientierung und Beratung“.725 Sie geben sich selbst
keine Chance auf einen Ausbildungsplatz, sind „schulmüde“ und wollen nach
der Schule Geld verdienen.
Sie setzen sich dem einfach nicht aus, wohl auch aus „Angst vor
‚Entdeckung’ ihrer fehlenden Schulleistungen“ und entscheiden sorgsam, „(…)
wann sie welche (diskreditierenden) Informationen über sich selbst
preisgeben (wollen)“.726 Andererseits kann ihre „Strategie der Selbstselektion“
zu einer „’normativen Misere’“ führen, indem sich die Jugendlichen „von der
Gesellschaft entfremden bzw. zu ‚Außenseitern’ werden“.727
Heike Solga spricht hier von einem „Teufelskreis, indem sich diese Kinder
und Jugendlichen befinden“. Sie können die geforderten Bildungsnormen nicht
723 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 103f. 724 Jones, Edward E., zit. in: Solga, Heike 2004, S. 104. 725 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 104. 726 vgl. ebd. 727 vgl. ebd.
185
erfüllen und erhalten keine oder zu wenig schulische Förderung. Als Folge von
Etikettierungsprozessen verringert sich ihr schulisches Engagement, wodurch
sich ebenfalls ihre Schulleistungen weiter verschlechtern. Diese werden in
späteren Interaktionen von ihren Partnerinnen und Partnern (zunächst) auf
eine „geringere individuelle Leistungsfähigkeit“ zurückgeführt, ohne zugleich
„blockierte Gelegenheiten“ mitzubedenken. Dadurch kommt es wiederum zu
einer Verringerung des Engagements auch in diesen Kontexten und damit
entgeht den Kindern und Jugendlichen eine weitere „Gelegenheit zum
Kompetenzerwerb“. Ihr Selbstbewusstsein und ihre Lebenszufriedenheit
können sie eher dann bewahren, wenn sie sich möglichst wenig mit Schule
und mit Leistung identifizieren. 728 Die Autorin zitiert Jennifer Crocker:
A vicious cycle may occur in which discrimination and blocked opportunities in a particular domain lead to devaluing of that domain to protect self-esteem, which in turn produces decreased motivations to achieve in that domain. Lack of achievement in that domain is then erroneously interpreted by others as reflecting lack of ability, rather than blocked opportunities.729
8.3.5 Soziales Stigma
Unter Stigmatisierung ist, laut Heike Solga, die auf Gruppen und nicht auf
Einzelne bezogene „Extremform einer negativen Identitätszuschreibung bzw.
Etikettierung in Bezug auf Verhalten und Charakter“ zu verstehen.730 Das
abweichende Verhalten wird nicht nur als negativ beurteilt, sondern führt in
den verschiedensten Lebensbereichen dieser Personen zur „allgegenwärtigen
Defizit-Charakterisierung“, verknüpft mit der „Gefahr, dass es Bestandteil
ihres Selbstkonzeptes wird“. Die Etikettierungen (Stigma-Symbole) erreichen,
im Sinne Erving Goffmans, einen „Masterstatus“ in den verschiedenen
Interaktionszusammenhängen dieser Personen.731
Nach Erving Goffman lassen sich drei Formen von Stigma-Symbolen
ausmachen, die in der Abhandlungen von Heike Solga angegeben werden:
„(1) Abscheulichkeiten des Körpers, (2) Stigmata, die als individuelle
Charakterfehler interpretiert werden (wie Arbeitslosigkeit), und (3)
phylogenetische Stigmata (Rasse, Religion, Nation, Klasse)“.732 Ihre „zutiefst
728 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 105. 729 Crocker, Jennifer, zit. in: Solga, Heike 2004, S. 105. 730 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 106. 731 vgl. ebd. 732 vgl. ebd.
186
diskreditierende und allgegenwärtige Wirkung“ erhalten diese Attribute durch
die folgenden Aspekte:
- sie sind ständig wahrnehmbar, - sie sind „eindeutig“ und erlauben „vermeintlich ‚unfehlbare’
Bewertungen“, - sie sind „’erworbene’ und individuell ‚kontrollierbare’ Merkmale“,
daher wird „ihre Existenz als das Ergebnis ‚unzureichender’ individueller Anstrengungen hinsichtlich der erwarteten und teilweise geforderten ‚Behebung’ gewertet“,
und/oder - sie sind „nicht zu ‚korrigieren’“, da durch die Korrektur keine
vollständige „Normalisierung“ der Person erfolgt, sondern nur eine „’Transformation eines Ich mit einem bestimmten Makel zu einem Ich mit dem Kennzeichen, ein bestimmtes Makel korrigiert zu haben’, (...) (z.B. bei Alkoholkranken)“.733
Die jeweilige Gruppengröße beeinflusst die Gefahr von Stigmatisierungs-
prozessen, welche ansteigt, je kleiner die Gruppe und dadurch „seltener“ und
somit auffälliger das negativ beurteilte Gruppenmerkmal ist. Begründet wird
das auch damit, dass kleinere Gruppen über eine „geringere Definitionsmacht
in Aushandlungsprozessen“ verfügen. Kleine Gruppen von leistungsschwachen
Schulkindern und Jugendlichen sind häufiger homogen bezüglich einer „eher
bildungsfernen Familie und Peer group“, wodurch sie über weniger Kontakt zu
„’high-status link persons“ verfügen. In den eigenen sozialen Kreisen entsteht
weniger „Widerspruch“ hinsichtlich „bildungsferner Verhaltensweisen“, jedoch
kommt es häufiger zu Prozessen einer „‚doppelten negativen Kategorisierung’
durch ihre Umwelt – nämlich ‚leistungs- und sozial schwach’“.734
Im Kontext der Bildungsexpansion und der heutzutage erhöhten Zahl der
Arbeitssuchenden stellt Heike Solga Thesen für mögliche Auswirkungen einer
„geringen Bildung“ und einer „institutionelle(n) Identitätsschädigung“ auf:
Eine stark wachsende Bildungsbeteiligung der Mehrheit erhöht die Diskreditierungsgefahr gegenüber gering qualifizierten Jugendlichen und verstärkt ‚beschädigende’ Selbsttypisierungsprozesse.735
Die Bildungsexpanison in den meisten westlichen Gesellschaften führte,
nach Meinung der Autorin, dazu, dass geringe Bildung von einem Massen- zu
einem „‚Randgruppen’-phänomen“ wurde.736 Die mit diesem Etikett
733 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 106f. 734 vgl. ebd., S. 107. 735 ebd. 736 Verändert wurde durch die Bildungsexpansion auch die Beurteilung von Bildungserfolg und –misserfolg (wobei beispielsweise der Hauptschulabschluss eine
187
bezeichneten Personen bilden „mehr als früher eine normabweichende
Minderheit“ und sind damit gefährdeter, wegen ihrer „geringen Bildung’“ eines
„’individuellen Charakterfehlers’ – dem zweiten Stigma-Typus von Goffman“
bezichtigt zu werden. 737 Sie zitiert CEDEFOP:
Die heutigen gering Qualifizierten befinden sich in einer grundlegend anderen Situation als ihre Eltern. Diese hatten die Arbeitswelt nach Abschluss der Pflichtschule betreten, während die heutigen gering Qualifizierten trotz einer bisweilen beachtlichen Zahl absolvierter Schuljahre Schulversager sind.738
Eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber dem Bildungserfolg und den Bildungszertifikaten führte zu einer erhöhten Wahrnehmbarkeit (Visibilität) von ‚geringer Bildung’.739
In Österreich werden als Folge der allgemein angestiegenen Bildungs-
beteiligung eine „höhere Sekundarbildung“ sowie eine Berufsausbildung als
„(…) obligatorischer Standard für den Arbeitsmarktzugang gesellschaftlich
erwartet“.740 Bildungslaufbahnen und Übergänge in die Arbeitswelt geschehen
zunehmend standardisiert und normalisiert. Die in vielen westlichen Ländern
für alle Gesellschaftsmitglieder geltende stärkere Verpflichtung auf die so
genannte „(…) Normalbiografie – bestehend aus erfolgreichem Schulbesuch,
abgeschlossener Berufs- oder Hochschulausbildung und kontinuierlicher (Voll-
bzw. bei Frauen Teilzeit-)Erwerbstätigkeit (...)“, macht jegliche Abweichung
davon rasch auffällig.741 Für alle Personen, die dieser Normalbiografie nicht
entsprechen können, z.B. wegen ihrer niedrigen oder fehlenden Bildungs-
zertifikate, steigt die Gefahr der Ausgrenzung und Stigmatisierung.742
‚Geringe Bildung’ in Zeiten einer stark erhöhten Bildungsbeteiligung läuft Gefahr, als eine von individuellen – und nicht mehr von sozialen - Faktoren gesteuerte Permeabilität von Bildungsgruppenzugehörigkeiten gewertet und verstärkt mit Interpretationen der Selbstverschuldung verknüpft zu werden.743
Entwertung erfahren hat), sowie die Regelungen bezüglich der Zertifizierungen von Bildungsleistungen und ihre Alterskriterien und Fristen. 737 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 107. 738 CEDEFOP, zit. in: Solga, Heike 2004, S. 107. 739 Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 108. 740 vgl. ebd. 741 vgl. ebd. 742 vgl. ebd., S. 109. 743 ebd.
188
Die Verantwortung für die gelingende und fristgemäße Beendigung der
aufeinanderfolgenden Stufen im Bildungsverlauf der Normalbiografie obliegt
immer mehr der und dem Einzelnen. Nur einen Pflichtschulabschluss
vorweisen zu können oder die Schule gar ohne diesen beendet zu haben, ist
aufgrund der allgemein höheren Bildungsbeteiligung ein zunehmend
belastender Makel geworden. Heike Solga führt nachstehenden Satz von
CEDEFOP an, der die Auswirkungen dieses Makels auf den einzelnen
Menschen näher beschreibt:
Der Begriff ‚gering Qualifizierte’ impliziert einen Mangel an etwas, dass (sic!-G.G.) die Gesellschaft im allgemeinen als positiv wünschenswert ansieht und impliziert daher für die solchermaßen Bezeichneten, dass sie in irgendeiner Weise unzulänglich sind.744
Durch die „Verlängerung der staatlich finanzierten Schulpflicht und der
Öffnung der höheren Bildungseinrichtungen“ scheint nun auch für „Kinder
unterer Schichten“ die Chance auf höhere Bildung leicht(er) gegeben zu sein.
Daher wird vielfach angenommen, ein „Verbleib in der unteren Bildungs-
kategorie“ sei „‘selbstverschuldet‘ und ‚abwendbar‘“. Vollkommen unbeachtet
bleiben damit jedoch die „sozialen Gelegenheitsstrukturen des Bildungs- und
Kompetenzerwerbs“, die das Kind innerhalb seines familiären und schulischen
Kontextes vorfindet. Die Gefahr nimmt zu, von einer Realität gewordenen
„‘Chancengleichheit‘“ auszugehen und die gering qualifizierten Jugendlichen,
die offenbar ihre Chance nicht ergriffen haben als „‘zu dumm‘ oder ‚zu faul‘“
bzw. als „‘lernunzugänglich‘ oder ‚lernungewohnt‘“ zu etikettieren.745
Probleme in der Schule und beim Übergang ins Arbeitsleben werden aus
dieser Perspektive als in ihren „Persönlichkeitseigenschaften zu suchende
Leistungs- und Motivationsdefizite“ interpretiert. Mittels „institutioneller
Sonderbedingungen“ soll ihnen möglich gemacht werden, sich „ihrerseits an
die herrschende Bildungsnorm“ anzupassen ohne dass gleichfalls die
Verwirklichung der „Chancengleichheit durch Strukturveränderungen in der
Bildungs- und Erwerbslandschaft“ in den Blick gerät.746
‚Geringe Bildung’ als Minderheitenstatus bewegt sich immer stärker im Spannungsfeld von Korrekturnotwendigkeit und –unmöglichkeit.747
744 CEDEFOP, zit. in: Solga, Heike 2004, S. 109. 745 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 109f. 746 vgl. ebd., S. 110. 747 ebd.
189
Angesichts der erhöhten Bildungsbeteiligung wird von gering qualifizierten
Jugendlichen erwartet, „ihre“, eher als „individuelle ‚Charakterfehler‘ und
Persönlichkeitseigenschaften“ interpretierten, „Leistungsdefizite“ nachträglich
zu beheben.748 Hilfsangebote für diese Jugendlichen gehen immer noch vom
Vorhandensein eines „weitgehend intakten Arbeitsmarktes und eines weiterhin
für alle als erreichbar gedachten, durchschnittlichen lohnarbeitzentrierten
Lebensentwurfes“ aus.749 Nicht die bestehende Arbeitsplatzknappheit ist
demnach das Problem, sondern die „Fehler“ werden „primär“ bei den gering
qualifizierten Jugendlichen selbst gesucht, weil „(…) sie auf Grund ihrer (zu)
geringen Bildungsleistungen nicht konkurrenzfähig und angesichts der
modernen Berufswelt ‚nicht berufsreif‘ sind“.750
Ihre „Integration“ über Sondermaßnahmen im Rahmen der Berufsbildung
oder der Arbeitsmarktpolitik erscheint vielen gering qualifizierten Jugendlichen
als eine „Verlängerung ihrer ‚institutionellen Aussonderung‘ in der Schule“.751
Voraussetzung für die (Pflicht-)Teilnahme ist für manche, dass sie ihren
„fehlenden Schulabschluss als ein ‚Zeichen ihrer Unfähigkeit‘“ vorweisen und
sich dadurch quasi einem „Prozess der Selbststigmatisierung“ ausliefern.752
Mit diesen meist eher kurzzeitigen „arbeitsmarktpolitisch intendierten –
Hilfsangeboten“ absolvieren die gering qualifizierten Jugendlichen kein klar
strukturiertes aufeinanderfolgendes Qualifizierungsprogramm, viel mehr
ereignet sich ihr Berufseinstieg als ein „‘diffuses Arrangement sich bietender
Gelegenheiten‘“.Damit schwinden ihre Chancen auf eine fortwährende
berufliche Lebensplanung und das Entstehen einer „berufsorientierten
Identität“. Parallel dazu verringert sich erneut das Selbstvertrauen der
Jugendlichen, die diese beruflichen „‘Chancen‘“ als stigmatisierend empfinden
und folglich ihre Motivation und beruflichen Ansprüche herabsetzen. 753
Die Kontinuität ihrer „Maßnahme(n)karrieren“, eines, wie Heike Solga
schreibt, „‘kontinuierlichen Weges ins diskontinuierliche Aus‘“, bilden in Form
von „lückenlosen Lebensläufe(n) des ‚Scheiterns‘ im Bildungs- wie nun auch
748 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 110. 749 vgl. ebd., S. 110f. 750 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 111. 751 vgl. ebd., S. 112. 752 vgl. ebd. 753 vgl. ebd.
190
im Ausbildungs- und Erwerbssystem“ die Basis für verstärkt etikettierende
Fremdtypisierungen:754
Diskreditierung und verengte Gelegenheitsstrukturen können die Motivation und Anstrengungen bei der Suche nach einem Ausbildungs- und (qualifizierten) Arbeitsplatz verringern. Diese geringe(re)n Anstrengungen werden seitens der Gatekeepers im Berufsbildungs-system sowie der Beschäftiger als ein ‚Mangel‘ an Leistungswillen, -motivation und –fähigkeit gewertet und können so zu einer Perpetuierung blockierter Gelegenheiten führen.755
Im Wechselspiel der Selbst- und Fremdtypisierungen entwickelt sich eine
„‘stabilisierte Benachteiligung‘“, die diese Jugendlichen „selbst bei vermehrten
(nachträglichen) Bildungsanstrengungen immer weniger aufbrechen können“
und die sich unerwünschterweise auf ihre beruflichen und persönlichen
Interaktionen und Lebenschancen fortschreibt.756
Wenn Jugendliche an der „Normalbiographie“ scheitern, lernen sie letztlich
sich selbst als nicht normal zu betrachten. Von der Schule, in der sie wegen
ihrer Leistungsdefizite abgelehnt wurden und die sie selbst aufgrund von
zahlreichen Misserfolgserfahrungen abgelehnt haben, sind sie in Sonder-
programmen erneut einer schulähnlichen Situation ausgesetzt, die sie
vermutlich abermals ablehnen werden. Das Scheitern in der Schule setzt sich
hier unter Umständen lebenslang fort, wenn es den Jugendlichen und
Erwachsenen nicht möglich gemacht wird, in respektvoller, ressourcen- und
erwachsenenorientierter Art und Weise erfolgreich Lesen, Schreiben, Rechnen
und Computerkenntnisse zu erlernen. Und das hat nicht nur für die
Betroffenen weitreichende Konsequenzen, wie Marie-Therese Hermanage in
einem Arbeitspapier des Europäischen Parlaments festhält:
The most distressing aspect of life for people living in extreme poverty is not being accepted as full citizens and being considered useless and insignificant members of society. Combating illiteracy is not only a challenge to educationalists and teachers, but to all members of society. By failing to enable all citizens to succeed at school, learn job skills and actively participate in new technology training programmes, our society is depriving itself of a great source of human potential. If non-access to fundamental training and illiteracy are intolerable violations of human rights, this is not only because they deprive some citizens of the tools of reading and writing which are indispensable in our changing society, but also because they reduce them to silence,
754 vgl. Solga, Heike: Das Scheitern gering qualifizierter Jugendlicher, in: Junge, Matthias; Lechner, Götz 2004, S. 113. 755 ebd., S. 114. 756 vgl. ebd., S. 113.
191
non–communication, enforced idleness and thus to social exclusion and de facto non-citizenship.757
8.4 Respekt
Die Gesellschaft verwehrt Erwachsenen, die die Schriftsprache nicht
ausreichend beherrschen, die soziale Anerkennung. Sie erhielten in der Schule
für ihre Leistungen wenig Wertschätzung und wurden als defizitär betrachtet.
Im Ausbildungs- und Erwerbsleben bekommen sie oft ebenfalls wenig
Anerkennung. Die sich daraus ergebenden Folgen untersuchte Otto Rath:
„Mangelnde Wertschätzung hat negative Auswirkungen auf das Selbstbild, auf
das subjektive Wohlbefinden und letztlich auf die Gesundheit“.758 Peter
Hubertus und Sven Nickel sehen in der geringen Anerkennung eine Ursache
für die bestehenden Schriftsprachprobleme: „Was den Betroffenen sowohl im
Elternhaus als auch in der Schule gefehlt hat, ist die Anerkennung der Person
und ihrer Fähigkeiten. Das Nichtlernen ist damit wesentlich als Selbstbild-
problem zu erkennen“.759
Gesellschaftliche Wertschätzung kann, nach Richard Sennett, auf drei
Arten erworben werden: durch die „Entwicklung der eigenen Fähigkeiten und
Fertigkeiten“, durch das Vermögen „für sich selbst sorgen (zu-G.G.) können“
und durch das „Bestreben, den anderen etwas zurückzugeben“.760 Die dabei
entstehenden Ungleichheiten zwischen den Menschen dienen vielfach dazu,
den „ungleichen Zugang zu Ressourcen oder ein geringeres Ansehen von
Menschen“ zu legitimieren.761
Arbeit ist von großem Einfluss auf den Respekt anderer und auf das eigene
Selbstwertgefühl. Der Status eines Menschen hängt stark vom Ansehen der
eigenen Tätigkeit in der Gesellschaft ab. Gering qualifizierte Menschen gelingt
es seltener, anspruchsvollere Arbeitsplätze zu (er-)halten. Sie sind häufiger
von Arbeitslosigkeit bedroht. Arbeit ist zugleich mit moralischen Ansprüchen
besetzt, weshalb nach Ansicht von Richard Sennett „der Unproduktive kaum
auf Mitleid zählen“ kann.762
757 Hermange, Marie-Therese, zit. in: Rath, Otto 45/2004, S. 28. 758 Rath, Otto: Kursbuch Grundbildung, in: ISOTOPIA, 45/2004, S. 157. 759 Hubertus, Peter; Nickel, Sven: „Alphabetisierung von Erwachsenen“, in: Didaktik der deutschen Sprache – ein Handbuch, S. 3. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.de/fileadmin/files/Dateien/Downloads_Texte/Handbuch_Didaktik_der_deutschen_Sprache.pdf (13.05.2007). 760 vgl. Sennett, Richard: Respekt 2004, S. 83f. 761 vgl. ebd., S. 84. 762 vgl. ebd., S. 137.
192
Wer nicht ausreichend mit Buchstaben und Zahlen umzugehen vermag,
erhält demnach wenig soziale Anerkennung und wird häufig vom
gesellschaftlichen Leben und vom Arbeitsmarkt weitgehend ausgegrenzt.
Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.763
In Anlehnung an das Zitat Theodor W. Adornos geht es hier um folgendes:
Basisbildung und Alphabetisierung sind wichtig, jedoch wird es auch weiterhin
Erwachsene geben, die nicht Lesen, Schreiben und Rechnen lernen können
oder wollen. Daher ist zu fragen: Hängt die Wertschätzung und die Würde
eines Menschen ab von ein paar Buchstaben, die jemand kann oder nicht
kann? Was müsste geschehen, dass diese Menschen, wenn schon nicht Liebe,
dann zumindest soziale Anerkennung und Akzeptanz erhalten? Wohl nicht zu
leugnen ist, dass alle Menschen Grenzen haben und diese auch beständig
erleben und dass der Wert und die Würde einer Person nicht von 26
Buchstaben abhängen, sondern von ihrem und seinem Menschsein.
An ihren Fähigkeiten ansetzend, gibt Agneta Lind zu bedenken: „Non-
literate or functionally illiterate women and men are adults with valuable
knowledge, life skills, and relevant work and family experiences, and must
therefore not be treated as ignorant“.764
Richard Sennett befasst sich in einem seiner Bücher ausführlich mit der
Frage: „Wie kann man verhindern, dass Menschen sich angesichts ungleicher
Talente entmutigen lassen oder Ressentiments entwickeln“?765 Es folgen
einige seiner Gedanken:
Mangelnder Respekt mag zwar weniger aggressiv erscheinen als eine direkte Beleidigung, kann aber ebenso verletzend sein. Man wird nicht beleidigt, aber man wird auch nicht beachtet; man wird nicht als ein Mensch angesehen, dessen Anwesenheit etwas zählt.
Wenn die Gesellschaft die Mehrzahl der Menschen so behandelt und nur wenigen besondere Beachtung schenkt, macht sie Respekt zu einem knappen Gut, als gäbe es nicht genug von diesem kostbaren Stoff. Wie viele Hungersnöte, so ist auch diese Knappheit von Menschen gemacht; aber im Unterschied zu Nahrungsmitteln kostet Respekt nichts. Insofern stellt sich die Frage, warum auf diesem Gebiet Knappheit herrschen sollte.766
763 Adorno, Theodor W., zit. in: DUDEN 1998, S. 758. 764 Lind, Agneta: Gender equality in adult basic education programms, in: International Journal of Educational Development, Jg. 26, 02/2006, S. 168. 765 Sennett, Richard: Respekt 2004, S. 120. 766 ebd., S. 15.
193
Wir sind aufgerufen Möglichkeiten zu erkunden, in denen Begegnungen
unter Gleichen gelingen können und in welchen gegenseitiges respektvolles
Verhalten gezeigt werden kann.767 Gleichheit entsteht durch stetige Prozesse
der Anerkennung der Autonomie anderer und das bedeutet vor allem auch,
„(…) dass man an anderen Menschen akzeptiert, was man nicht versteht.
Wenn ich das tue, behandle ich andere als ebenso autonome Wesen wie mich
selbst“.768 Eine Begegnung unter Gleichen setzt nach den Worten Paulo
Freires Selbsterkenntnis voraus:
Wer sich nicht selbst als ebenso sterblich wie jeder andere erkennt, hat noch einen weiten Weg vor sich, ehe er den Punkt der Begegnung erreichen kann. Dort, wo man sich begegnet, gibt es weder totale Ignoranten noch vollkommene Weise – es gibt nur Menschen, die miteinander den Versuch unternehmen, zu dem, was sie schon wissen, hinzuzulernen.769
767 vgl. Sennett, Richard: Respekt 2004, S. 78. 768 vgl. ebd., S. 316f. 769 Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten 1973, S. 74.
194
9. EMPIRISCHE FORSCHUNG
9.1 Zur Methodik
Die für diese Untersuchung gewählten Methoden der Informations-
erhebung, der Datenaufbereitung und der daran anschließenden Auswertung,
welche herkömmlicherweise im Rahmen der qualitativen Forschung zur
Verwendung kommen, werde ich in der ersten Hälfte kurz darstellen und
begründen. Für das Erhebungsverfahren wählte ich das problemzentrierte
Interview nach Andreas Witzel aus. Als Aufbereitungsverfahren diente die
wörtliche Transkription, d.h. die „Übertragung in normales Schriftdeutsch“.770
Die Auswertung der Interviews erfolgte mittels der qualitativen Inhaltsanalyse
nach Philipp Mayring. Die Ergebnisse werden im zweiten Teil bekanntgegeben.
Die insgesamt sechs Interviewpartnerinnen und Interviewpartner sind alle
in die österreichische Alphabetisierungs- und Basisbildungsarbeit als Kurs-
teilnehmende oder Projektverantwortliche eingebunden. Die Teilnehmenden
kannte ich zuvor nicht, zu den Projektverantwortlichen (Brigitte Bauer, Sonja
Muckenhuber und Peter Webhofer) hingegen bestanden bereits Kontakte. Für
die Gruppe der Teilnehmenden und die Gruppe der Projektverantwortlichen
habe ich jeweils eigene Interviewleitfäden erstellt, die in Inhalt und Umfang
variieren. Die Fragen bezogen sich allesamt auf die Motive und Ziele in der
Alphabetisierung und Basisbildung, auf die Lern- und Lehrprozesse in den
Kursen und ihre Auswirkungen auf die befragten Personen. Die Projekt-
verantwortlichen befragte ich zusätzlich noch ausführlicher zu den aktuellen
Kursen bzw. Projekten und über die in Zukunft geplanten Vorhaben. Die
Interviews mit ihnen fanden in den Kurs- und Büroräumen statt.
Bei der Suche nach Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern aus dem
Kreis der Kursteilnehmenden waren mir freundlicherweise einige Trainerinnen
und Trainer behilflich. Die Interviews mit den Lernenden fanden zur Kurszeit
oder im Anschluss daran in den Kursräumen statt. Es war vermutlich ihr
erstes Interview, zu dem sich die Teilnehmerin und die beiden Teilnehmer hier
dankenswerterweise bereit erklärt haben.
Zuerst möchte ich die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner kurz
vorstellen und einzelne Informationen zur Interviewsituation vorausschicken:
770 vgl. Mayring, Philipp: Qualitative Sozialforschung 2002, S. 91.
195
Herr E. steht kurz vor seinem 50 Geburtstag. Aufgewachsen am Land,
besuchte er die achtklassige Volksschule. Nach deren Auflösung wurde er in
die dritte Klasse Hauptschule versetzt, die er ohne Pflichtschulabschluss
verließ. Dank seiner Großeltern konnte er eine Lehre als Betriebsschlosser
beginnen, die er erfolgreich beendete. Nach der Schließung der Firma nützte
er die Möglichkeit, sich zum Stationsgehilfen umschulen zu lassen. Seit dieser
Zeit betreut er Menschen mit Behinderungen. Aufgrund verpflichtender
Aufschulungen bildete Herr E. sich zuerst zum Pflegehelfer und anschließend,
mit Unterstützung durch den Basisbildungskurs, zum Altenfachbetreuer
weiter. Er ist seit ca. drei Jahren im Kurs und nimmt dafür einen langen
Anfahrtsweg inkauf. In der Gesprächssituation war er sehr entgegenkommend
und zeigte mir zum Schluss noch einige seiner eindrucksvollen Texte.
Frau F. ist 46 Jahre alt. Sie besuchte die Volksschule (1. und 2. Klasse)
und wurde anschließend in die Sonderschule versetzt. Nach der Schulzeit
konnte sie sich ihren Berufswunsch, Schneiderin zu werden, nicht erfüllen, da
sie keinen Lehrplatz bekam. Sie arbeitete als Anlernkraft in der Gastronomie,
in der Altenbetreuung und in einer Fabrik. Frau F. ist verheiratet. Sie blieb 18
Jahre lang bei ihren drei Kindern zu Hause. Nach dieser Zeit arbeitete sie
erneut in einer Fabrik, bis sie wegen betrieblicher Einsparungen ihren
Arbeitsplatz verlor. Nun ist sie Mitarbeiterin bei einem Schiliftbetrieb. Am
Wochenende arbeitet sie außerdem auf Parkplätzen als Parkplatzwächterin
und Auskunftsperson für die Urlaubsgäste. Sie besucht den Basisbildungskurs
nunmehr seit 1 ½ Jahren und hat ebenfalls einen langen Anfahrtsweg zum
Kurs zu bewältigen. Frau F. erkundigte sich vor unserem Gespräch, ob sie
hoffentlich eh nur meine Fragen zu beantworten hätte. Im Interview selbst,
erzählte sie dann sehr frei, ausführlich und teilweise sehr humorvoll über sich
und ihr Leben.
Herr M. ist 59 Jahre. Er ist am Land aufgewachsen und hat die
Volksschule nur sehr sporadisch besucht, da er daran keine Freude hatte und
ihn sein Großvater immer zum Viehhandeln mitnahm. Nach der Schulzeit
erlernte er keinen Beruf. Er war allerdings 25 Jahre als Angestellter bei einer
Firma im Außendienst (Verkauf) tätig und ist nunmehr Pensionist. Herr M. ist
geschieden. Er nimmt seit 1 Jahr am Basisbildungskurs (2 Abende pro Woche)
teil. Er sprang freundlicherweise als Interviewpartner ein, als ein anderer
Teilnehmer nicht kommen konnte. Das Interview fand nach dem Kurs statt
und war inhaltlich kurz und prägnant.
196
Frau Sonja Muckenhuber ist 52 Jahre alt. Sie hat die pädagogische
Akademie besucht und darüber hinaus ein Soziologiestudium abgeschlossen.
Seit 12, 13 Jahren ist sie Alphabetisierungstrainerin in der Volkshochschule in
Linz. Bis vor zwei Jahren war sie als Projektleiterin und Trainerin in den
Kursen aktiv. Nun leitet sie das Grundbildungszentrum der Volkshochschule
Linz und ist ebenfalls mit der Entwicklung und Durchführung der Projekte,
Netzwerke und Serviceeinrichtungen zum Themenbereich beschäftigt. Das
Interview mit ihr gelang erst beim dritten Versuch. Unseren ersten Termin
konnte sie krankheitsbedingt nicht wahrnehmen. Beim zweiten Termin hatte
mein Aufnahmegerät leider das Interview nicht aufgezeichnet. Unser dritter
Gesprächstermin war zeitlich knapp bemessen, jedoch zum Glück erfolgreich.
Herr Peter Webhofer ist 30 Jahre alt. Er absolvierte die Ausbildung zum
Hauptschullehrer für Deutsch und Biologie sowie zum Integrationslehrer. Vor
5 Jahren begann er als Trainer in der Alphabetisierung zu arbeiten, indem er
die Regionalstelle in der Obersteiermark eröffnete und leitete. Seit 1 Jahr ist
er nun Projektleiter des Alphabetisierungsprojektes Neustart Grundbildung in
Graz. Außerdem ist er weiterhin als Trainer in den Kursen tätig und bei der
Entwicklung neuer Projekte und der Verbesserung und Sicherung bestehender
Strukturen (Qualitätsstandards, Know-how) beteiligt. Das Gespräch mit ihm
fand ca. 1 Jahr vor allen anderen Interviews statt. Es war mir mit seiner
hilfreichen Unterstützung möglich, die von mir formulierten Fragen an die
Teilnehmenden vorab auf ihre Klarheit und Verständlichkeit zu testen.
Frau Brigitte Bauer ist 48 Jahre alt und vom Beruf Volksschullehrerin.
Nachdem sie sieben Jahre unterrichtet hatte, gab sie ihre Pragmatisierung auf
und übte verschiedene andere Tätigkeiten im In- und Ausland aus. Als sie
Nachhilfe für Kinder in der Volksschule anbot, kam sie persönlich in Kontakt
mit Erwachsenen, die Basisbildungsbedarf hatten. Das bewog sie 1999 die
Alphabetisierungsstelle „abc Lesen und Schreiben für Erwachsene“ in Salzburg
zu gründen. Seit ca. 10 Jahren ist sie nun als Leiterin und Trainerin in dieser
Einrichtung aktiv. Aktuell ist sie mit der Fortführung und Erweiterung der
bestehenden Basisbildungsprojekte und der Entwicklung und Durchführung
neuer Projekte und Netzwerke beschäftigt. Nach dem Interview gab sie mir,
bei Kaffee und Kuchen, noch zusätzliche wertvolle Informationen und Tipps,
die für den Theorieteil dieser Arbeit sehr nützlich waren.
Methodisch erschien es mir gerade bei der Gruppe der Teilnehmenden
ratsamer, ein Gespräch einer schriftliche Erhebung vorzuziehen.
197
9.1.1 Problemzentriertes Interview
Wichtig war mir, die subjektiven Erfahrungen und Sichtweisen der sich zur
Verfügung stellenden Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner über das
Lernen und Lehren in den Basisbildungs- und Alphabetisierungskursen zu
erkunden und sie in einem respektvollen Miteinander ausführlich zu Wort
kommen zu lassen. Daher wählte ich diese Interviewform. In der von Andreas
Witzel als Teil einer Methodenkombination, dem problemzentrierten Interview,
vorgestellten Erhebungsform, kommen die nach Leitfaden halb-strukturiert
geführten Befragungen offenen und vertrauensvollen Gesprächen in möglichst
egalitären Beziehungen gleich. Bedeutsam sind nach Philipp Mayring folgende
Grundgedanken: ● Das Problemzentrierte Interview wählt den sprachlichen Zugang, um seine Fragestellung auf dem Hintergrund subjektiver Bedeutungen, vom Subjekt selbst formuliert, zu eruieren.
● Dazu soll eine Vertrauenssituation zwischen Interviewer und Interviewten entstehen.
● Die Forschung setzt an konkreten gesellschaftlichen Problemen an, deren objektive Seite vorher analysiert wird.
● Die Interviewten werden zwar durch den Interviewleitfaden auf bestimmte Fragestellungen hingelenkt, sollen aber offen, ohne Antwortvorgaben, darauf reagieren.771
Andreas Witzel selbst gibt es als ein „theoriegenerierendes Verfahren“ an,
bei dem der „Erkenntnisgewinn als induktiv-deduktives Wechselspiel“ angelegt
ist.772 Das Vorwissen dient dazu, Fragen zu generieren, die den Erzählfluss
anregen sollen und zugleich den Themenbereich eingrenzen. Nach Philipp
Mayring hat das problemzentrierte Interview folgenden Ablauf:
Problemanalyse
Leitfadenkonstruktion
Pilotphase Leitfadenerprobung und Interviewerschulung
Interviewdurchführung
Sondierungsfragen, Leitfadenfragen, Ad-hoc-Fragen
Aufzeichnung
Abbild 6: Ablaufmodell des problemzentrieren Interviews
771 Mayring, Philipp: Qualitative Sozialforschung 2002, S. 69. 772 vgl. Witzel, Andreas: Das problemzentrierte Interview, in: Forum Qualitative Sozialforschung, Volume 1, 1/2000, S. 1. (Homepage) URL: www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-00/1-00witzel-d.pdf (24.11.2007).
198
Zentrales Ziel dieser Interviewform ist nach Andreas Witzel „(…) eine
möglichst unvoreingenommene Erfassung individueller Handlungen sowie
subjektiver Wahrnehmungen und Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher
Realität“.773 Er entwirft es als ein „‚diskursiv-dialogisches Verfahren‘“, welches
„(…) die Befragten als Experten ihrer Orientierungen und Handlungen begreift,
die im Gespräch die Möglichkeit zunehmender Selbstvergewisserung mit allen
Freiheiten der Korrektur eigener oder der Intervieweraussagen wahrnehmen
können“.774
Für die Arbeit habe ich diese Interviewform auch ausgesucht, weil es sich,
wie Philipp Mayring betont, besonders gut eignet, wenn bereits Vorwissen775
über einen Gegenstandsbereich vorhanden ist, das durch die spezifische
Sichtweise der Befragten verglichen, ergänzt oder auch modifiziert und so zu
einem theoretischen Konzept zusammengefügt werden kann. Zusätzlich wird
bei der Verwendung eines Leitfadens durch deren „teilweise Standardisierung“
die Vergleichbarkeit und Auswertung der Interviews vereinfacht.776
9.1.2 Wörtliche Transkription
Um die gesprochene Sprache für die Auswertung zugänglich zu machen,
muss sie zumeist in eine schriftliche Form gebracht werden. Für den Vorgang
der Transkription gibt es mehrere Wege. Da in dieser Arbeit Expertinnen und
Experten befragt wurden und das Interesse eher an den angesprochenen
Inhalten und Themen als an der von ihnen verwendeten Sprache bestand,
wurde, auch zum Zwecke der besseren Lesbarkeit, eine Transkription in
„normales Schriftdeutsch“ bevorzugt.777 Philipp Mayring erläutert diesen
Vorgang folgendermaßen: „Der Dialekt wird bereinigt, Satzbaufehler werden
behoben, der Stil wird geglättet“.778 Alle Interviews wurden nach dem
Einverständnis der Befragten aufgenommen. Die Gesprächspartnerinnen und
Gesprächspartner konnten ihr transkribiertes und bei den Teilnehmenden
zusätzlich anonymisiertes Interview lesen und es, wenn sie das wünschten,
gegebenfalls auch korrigieren bzw. Streichungen vornehmen.
773 vgl. Witzel, Andreas: Das problemzentrierte Interview, in: Forum Qualitative Sozialforschung, Volume 1, 1/2000, S. 1. (Homepage) URL: www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-00/1-00witzel-d.pdf (24.11.2007). 774 vgl. ebd, S. 4. 775 Lehrgang, Praktikumserfahrungen, Literatur, Tagungen, Kongresse, Gespräche, … 776 vgl. Mayring, Philipp: Qualitative Sozialforschung 2002, S. 70. 777 vgl. ebd., S. 89ff. 778 ebd. S. 91.
199
9.1.3 Qualitative Inhaltsanalyse
Bei der qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring handelt es sich
um einen Auswertungsansatz, mit dem Texte schrittweise und „streng
methodisch kontrolliert“ durchgearbeitet werden können.779 Seine Methode
beinhaltet die folgenden „Grundgedanken: Qualitative Inhaltsanalyse will
Texte systematisch analysieren, indem sie das Material schrittweise mit
theoriegeleitet am Material entwickelten Kategoriensystemen bearbeitet“.780
Mit Hilfe dieser Kategoriensysteme wird festgesetzt, welche Aspekte aus dem
Text herausgesucht werden sollen. Dazu bedarf es transparenter Verfahren,
die erkennbar und nachvollziehbar werden lassen, wie die Kategorien am Text
entwickelt wurden. Der Autor gibt drei Grundformen der qualitativen Inhalts-
analyse an: Zusammenfassung, Explikation und Strukturierung.
Ich orientiere mich hier an der inhaltsanalytischen Zusammenfassung,
deren Zielsetzung Philipp Mayring mit dem folgenden Satz umreißt: „(…) das
Material so zu reduzieren, dass die wesentlichen Inhalte erhalten bleiben,
durch Abstraktion ein überschaubares Korpus zu schaffen, das immer noch ein
Abbild des Grundmaterials ist (…)“.781 Diesen Prozess der Reduktion auf
wesentliche Inhalte verbinde ich, wie es der Autor vorschlägt, mit dem Ansatz
der induktiven Kategorienbildung, welche bestimmte Analyseschritte aufweist:
Gegenstand, Material Ziel der Analyse
Theorie
Festlegen des Selektions- kriteriums und
des Abstraktionsniveaus
Materialdurcharbeitung Kategorienformulierung
Subsumption bzw. neue Kategorienbildung
Revision der Kategorien nach etwa 10-50 % des Materials
Endgültiger
Materialdurchgang
Interpretation, Analyse
Abbild 7: Prozessmodell induktiver Kategorienbildung
779 vgl. Mayring, Philipp: Qualitative Sozialforschung 2002, S. 114. 780 ebd. 781 vgl. ebd., S. 115.
200
Entscheidend für die Bevorzugung dieser Auswertungsform war für mich,
dass sie mir ermöglicht, sehr systematisch zu arbeiten und dabei nahe an der
in Textform vorliegenden subjektiven Problemsicht der Befragten zu bleiben.
9.2 Auswertung der Interviews
Eingang in den Prozess der Auswertung fanden die von mir nach zwei
verschiedenen Leitfäden geführten Interviews mit den Kursteilnehmenden und
den Projektverantwortlichen.782 Die im Interview angesprochenen Themen
sollten die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner anregen, möglichst
frei zu erzählen. Die Teilnehmerin und die beiden Teilnehmer wurden von
einigen Trainerinnen und Trainern direkt ausgesucht und angesprochen.
Infrage kamen Teilnehmende, die sich schon länger in ihrem Kurs befanden
und die sich freiwillig dazu bereit erklärten, mit mir das Interview zu machen.
Bei den drei Projektverantwortlichen war mir in erster Linie wichtig, Personen
mit langjähriger Kurserfahrung aus unterschiedlichen Einrichtungen
auszuwählen. Wegen der ungleichen Fragestellungen habe ich die Ergebnisse
der Interviews für beide Gruppen getrennt ausgearbeitet.
Wie im Prozessmodell induktiver Kategorienbildung783 ersichtlich ist,
beginnt der Auswertungsprozess mit der Festlegung des Gegenstandes der
Analyse und der Formulierung einer theoriegeleiteten Forschungsfrage. Was
nun Theoriegeleitetheit, als wesentliches Element der Inhaltsanalyse und
Kriterium für die zu formulierende Forschungsfrage, bedeutet, erläutert
Philipp Mayring in seiner Argumentation gegen eine sich ausbreitende
Theoriefeindlichkeit:
Begreift man jedoch Theorie als System allgemeiner Sätze über den zu untersuchenden Gegenstand, so stellt sie nichts anderes als die geronnenen Erfahrungen anderer über diesen Gegenstand dar. Theoriegeleitetheit heißt nun, an diese Erfahrungen anzuknüpfen, um einen Erkenntnisfortschritt zu erreichen.784
Gegenstand meiner Analyse war die subjektive Wahrnehmung der
befragten Personen zu den Motiven und Zielen in der Alphabetisierung und
Basisbildung, zu den Lern- und Lehrprozessen in den Kursen und zu den
Veränderungen, die sich daraus für die Lernenden ergeben. Vor aller
theoretischen Auseinandersetzung sammelte ich zunächst am Beginn der
782 Alle Befragten wurden in Österreich geboren und sind hier auch aufgewachsen. 783 Das Modell der induktiven Kategorienbildung ist auf der Seite 199 abgebildet. 784 Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse 1988, S. 47.
201
Diplomarbeit ein schichtenreiches Konglomerat an möglichen Fragestellungen,
die inhaltlich die Interviewleitfäden prägten.785 Während des Arbeitsprozesses
kristallisierten sich durch die Beschäftigung mit den theoretischen Aspekten
sowie den Erfahrungen und Deutungen der Interviewpartnerinnen und Inter-
viewpartner folgende Fragestellung als Ziel der Analyse heraus:
ssss Welche Lerngründe und (Lern-)Erfahrungen Teilnehmender an
Basisbildungskursen werden von den Teilnehmenden selbst und von
den Projektverantwortlichen hauptsächlich genannt?
Im Modell der induktiven Kategorienbildung werden nun als Nächstes
Kategorien - ohne Bezugnahme auf theoretische Konzepte - aus dem Material
heraus entwickelt.786 Entsprechend der Einschätzung von Philipp Mayring ist
induktives Vorgehen innerhalb der qualitativen Ansätze von großer Bedeutung
und lässt sich, gemäß seinen Ausführungen, auf folgende Weise beschreiben:
„Es strebt nach einer möglichst naturalistischen, gegenstandsnahen Abbildung
des Materials ohne Verzerrungen durch Vorannahmen des Forschers, eine
Erfassung des Gegenstands in der Sprache des Materials“.787
Das weitere Vorgehen besteht zunächst darin, ein Selektionskriterium zu
formulieren. Dieses gibt an, zu welcher Thematik Kategorien aus dem Text
heraus gebildet werden sollen und vernachlässigt alles Material, das damit
nicht übereinstimmt. Gleichfalls muss nun das Abstraktionsniveau formuliert
werden, damit ein „einheitliches Kategoriensystem“ erstellt werden kann.788
Als Selektionskriterium für die Kategorienbildung werden bei der Gruppe
der Teilnehmenden die von ihnen im Interview genannten Lerngründe und
(Lern-)Erfahrungen ausgewählt. Lerngründe meint hier Einflüsse von außen,
eigene Gedanken, Wünsche, Interessen, Bedürfnisse, Erlebnisse und Ziele, die
Jugendliche und Erwachsene veranlassen können, im Kurs Lesen, Schreiben
und Rechnen zu lernen. Unter (Lern-)Erfahrungen werden die Gedanken und
Erlebnisse der befragten Teilnehmenden zu den Kursen, dem Lernen (im Kurs,
zuhause und in Zukunft), zu den Trainerinnen und Trainern und den anderen
Teilnehmenden gezählt sowie all ihre Bemerkungen dazu, was sie im Kurs
gelernt bzw. dazugewonnen haben und was von ihnen angewendet wird.
785 Die Fragestellungen sind im Vorwort auf Seite 12 verzeichnet. 786 Die deduktive Kategorienbildung vollzieht sich in der umgekehrten Richtung: von den theoretischen Überlegungen zum Textmaterial. 787 Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse 2007, S. 75. 788 vgl. Mayring, Philipp: Neuere Entwicklungen, in: Mayring, Philipp; Gläser-Zikuda, Michaela 2005, S. 12.
202
Desgleichen werden als Selektionskriterium für die Gruppe der Projekt-
verantwortlichen alle ihre Aussagen zu den Lerngründen789 der Teilnehmenden
und zu deren (Lern-)Erfahrungen ausgewählt. Unter Letzteren summieren sich
die Bemerkungen der Projektverantwortlichen zu zukünftigen Lerninteressen
der Teilnehmenden, dem Sozialgefüge, ihre Erfahrungen, was das Lernen der
Teilnehmenden im Kurs begünstigt, schwierig oder unmöglich macht sowie
was die Erwachsenen gelernt bzw. dazugewonnen haben und was von ihnen
angewendet wird.
Alle Äußerungen der sechs Interviewpartnerinnen und Interviewpartner,
die sich auf persönliche Daten, wie Schul- und Berufswege, Schulerfahrungen
und Familiensituationen beziehen oder die die vielgestaltigen Projekte und
Kurse (z.B. Rahmen- und Arbeitsbedingungen, zukünftige Projekte, usw.)
ausführlich beschreiben, werden demnach nicht aufgenommen. Die Interviews
werden aber zum Nachlesen in voller Länge dem Anhang beigefügt.
Das Abstraktionsniveau der zu entwickelnden Kategorien über Lerngründe
und (Lern-)Erfahrungen der Teilnehmenden legt die Äußerungen beider
Gruppen zwecks besserer Vergleichbarkeit in einer eher allgemein gehaltenen
Form dar, wobei diese allerdings zum Teil mit Beispielen ergänzt wurden.
Bei der Materialdurcharbeitung, dem nächsten Schritt in der induktiven
Kategorienbildung, werden nun die Interviews Zeile für Zeile durchgegangen,
wobei für die Textstellen, die das Selektionskriterium erfüllen, Kategorien
möglichst nahe am Text formuliert werden. Lässt sich jedoch eine Textstelle
nicht unter eine bereits gebildete Kategorie einordnen, ist eine neue Kategorie
zu konstruieren. Wenn kaum mehr neue Kategorien gebildet werden können,
wird überprüft, „(…) ob die Kategorien dem Ziel der Analyse nahe kommen,
ob das Selektionskriterium und das Abstraktionsniveau vernünftig gewählt
worden sind“.790 Gibt es hier eine Veränderung, wird mit der Bearbeitung des
Materials von vorne begonnen. In der Folge entsteht ein Kategoriensystem zu
einem speziellen Thema, dem konkrete Textstellen zugehören.
Der letzte zu vollziehende Schritt in der induktiven Kategorienbildung ist
die Interpretation. Hier sollen nun die subjektiven Sichtweisen der Gespächs-
partnerinnen und Gesprächspartner analysiert werden, mit dem Ziel,
Aussagen über Lerngründe und (Lern-)Erfahrungen Erwachsener im Basis-
bildungskurs treffen zu können.
789 Analog dem Selektionskriterium der Gruppe der Teilnehmenden, S. 201. 790 vgl. Mayring, Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse 2007, S. 76.
203
9.2.1 Ergebnisse der Interviews mit den Teilnehmenden
Bei der Gruppe der Teilnehmenden habe ich sieben zentrale Kategorien
ausgearbeitet und diese nahe an den Antworten der Interviewpartnerin und
der beiden Interviewpartner formuliert. Für die Gruppe der Teilnehmenden
werden die Ergebnisse der so entstandenen Kategoriensysteme im Folgenden
näher ausgeführt791:
Analyse des Interviews mit Herrn M792
Lerngründe:
Schwierigkeiten beim Schreiben und Rechnen
Befragt nach den Gründen für den Beginn des Kurses, betonte Herr M
zunächst seine Fähigkeiten im Lesen, um anschließend auf seine Schwierig-
keiten beim Schreiben und Rechnen zu sprechen zu kommen:
Ja ich habe nicht – ich habe Lesen können. Rechnen habe ich nicht können und Schreiben habe ich auch nicht können. Ich habe nicht so richtig schreiben können. Ich habe lauter Fehler gemacht, beim Schreiben. (Herr M, Zeile 25-27)
Ich habe Lesen können - Lesen habe ich immer können - aber Schreiben hat mir immer Schwierigkeiten gemacht und das Rechnen. (Herr M, Zeile 52-54)
Die Information über den Basisbildungskurs fand er auf einem Zettel,
worauf er sich gleich entschloss dieses Angebot anzunehmen und Kurse im
Schreiben und Rechnen zu belegen:
Jetzt habe ich mir gedacht, ich habe einmal so einen Zettel gefunden wo, P793, da habe ich mir gedacht, da musst jetzt anrufen und dann bin ich hergegangen da und dann habe ich mir noch einen Termin ausgemacht, dann bin ich dahergegangen gleich, in den Kurs da. (Herr M, Zeile 27-31)
Und dann habe ich den zweiten Kurs auch noch, mit Rechnen auch, weil dort hat es mich auch gehabt mit dem Rechnen - sehr - und jetzt mache ich den auch. Jetzt habe ich halt vier Stunden in der Woche. (Herr M, Zeile 31-33)
Den Entschluss, gleich mit beiden Kursen zu beginnen, argumentierte er
im Interview mit den Problemen, die das Schreiben ihm seit der Scheidung
bereitet:
791 Die beiden Interviewleitfäden und die vollständig transkribierten Interviews der Teilnehmenden und Projektverantwortlichen sind im Anhang nachzulesen. 792 Siehe Anhang, Seite 19-22. 793 Verschlüsselter Name des Kurses.
204
Ja das ist für mich – ich habe Erlagscheine nicht ausfüllen können, die Adresse nicht gescheit schreiben können. Meine Frau hat das immer gemacht früher. Ich habe mich scheiden lassen, dann habe ich mir alles selber machen können und das hat mir immer Schwierigkeiten gemacht. Auf das hinaus habe ich mir gedacht, jetzt habe ich das gefunden und jetzt gehe ich daher. (Herr M, Zeile 37-41)
Herr M, der beruflich 25 Jahre lang erfolgreich bei einer Firma in einem
Angestelltenverhältnis tätig war, ohne ausreichend Schreiben und Rechnen zu
können, schilderte im Gespräch sehr genau seine Schwierigkeiten:
Aber früher habe ich was geschrieben, dann habe ich es selber gelesen, dann habe ich es nicht mehr lesen können. Ich habe nicht gewusst was das heißt. Ich habe einfach so dahingezaubert - die Wörter. (Herr M, Zeile 45-48)
Malrechnen habe ich nicht mehr können, weil ich nicht mehr gewusst habe wie das funktioniert. Ich habe gar nicht gewusst wie man das anschreibt, weil mich das nie interessiert hat. Ich habe es auch nie gebraucht. Bei meinem Beruf habe ich das nie gebraucht. Ich habe da ein Formular mitgehabt und da ist das oben gestanden: J794-Verkauf und die habe ich verkauft und bin wieder gefahren. Ich bin in N795 unten gewesen, bei einer Firma, bin da 25 Jahre in einem Angestelltenverhältnis gewesen. (Herr M, Zeile 120-126)
Rechnen und Schreiben für den Alltag, weil man braucht das
Herr M begründete das Lernen im Erwachsenenalter allgemein und für sich
selbst damit, dass die Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen für den
Alltag gut und brauchbar sind:
Na ja, weil das für den Alltag gut ist, weil man braucht das. (Herr M, Zeile 52)
Ich habe auch jeden Tag die Zeitungen gelesen, gelesen, gelesen, gelesen, das habe ich gekonnt, aber das Schreiben und das Rechnen, das hat mich nie so interessiert. Und jetzt brauche ich es halt. (Herr M, Zeile 56-58)
(Lern-)Erfahrungen:
Zukünftiges Lerninteresse - Computer
Herr M arbeitet im Kurs am Computer und das interessiert ihn sehr. Er hat
ein Gerät leihweise vom Haus bekommen. Durch die Beschäftigung mit dem
Computer entstand bei Herrn M das starke Interesse, sich die dafür nötigen
Fähigkeiten in Zukunft anzueignen:
794 Verschlüsselt für den Gerätenamen. 795 Verschlüsselter Name der Stadt.
205
Mache ich auch was ja. Das interessiert mich auch sehr. (Herr M, Zeile 155)
Ja ich habe einen vom Haus gekriegt, leihweise. (Herr M, Zeile 158)
Ich möchte, dass ich mit dem Computer mal richtig arbeiten kann. Das ist das Einzige, was mich auch noch interessiert. (Herr M, Zeile 163-164)
Lernen
Gegenwärtige Schwierigkeiten im Kurs legte Herr M durch die Schilderung
möglicher Fehlerquellen dar, die ihn beim Lernen noch beschäftigen:
Ich mache schon noch Fehler, Riesenfehler, weil das stumme h höre ich hie und da nicht und das lange i nicht und die harten t, na ja die sind nicht so viele. (Herr M, Zeile 43-45)
Na ja schwierig. Die langen i, die was halt bei mir einwenig hängen bleiben. Die langen i weiß ich jetzt, aber das mit harten t und mit weichen d, die haben mich noch und das h, mit stummen h, dass hat mich auch noch immer ein bisserl. (Herr M, Zeile 92-95)
Befragt nach den Bewältigungsstrategien bei Lernschwierigkeiten, betonte
Herr M seine positive Einstellung, wodurch ihm das Lernen immer gelingt:
Das gelingt mir immer. Ich habe eine positive Einstellung. (Herr M, Zeile 99)
Am Wichtigsten im Kurs ist für Herrn M ausdrücklich, dass er was lernt,
dass ihm was hängen bleibt:
Na ja wichtig, dass ich was lerne, dass mir was hängen bleibt drinnen. (Herr M, Zeile 61)
Ja, dass was hängen bleibt da im Hirn drinnen. (Herr M, Zeile 64)
Lehrer/Lehrerin und Gruppe
Für Herrn M ist der Umgang mit dem Lehrer sehr angenehm. Wichtig im
Kurs ist ihm auch, dass ihm die Lehrpersonen immer wohlgesinnt sind:
Ja der Umgang da mit dem Lehrer, das ist sehr angenehm. (Herr M, Zeile 67)
Ja was ist wichtig, dass halt die Lehrpersonen immer klasse sind auf mich, mir immer gut gesinnt sind. (Herr M, Zeile 168-169)
Hilfreich beim Lernen ist für Herrn M die Motivation vom Lehrer und der
Lehrerin, wie die das machen. Das fasziniert ihn, baut ihn auf und gibt ihm ein
gutes Gefühl. Herr M hat anfangs überlegt, wieder mit dem Kurs aufzuhören,
206
weil er sich so „deppert“ vorgekommen ist.796 Dass es ihm nicht zu blöd
wurde lag daran, dass er erkannte, dass die anderen da auch nicht besser
sind, als er selbst:
Gut lernen? Die Motivation vom Lehrer und überhaupt, das fasziniert mich, wie er das macht und die Lehrerin. Die zwei, das baut mich auf. (Herr M, Zeile 79-80)
Ich gehe mit einem guten Gefühl heim und mit einem guten Gefühl hinaus und ich komme auch wieder mit einem guten Gefühl, weil ich mir schon vorher gedacht habe, ich höre wieder auf, mir wird das zu blöd, ich komme mir so deppert vor, aber dann denke ich mir, da sind die anderen auch nicht besser wie ich. (Herr M, Zeile 80-84)
Wie einige, die können die Hausnummer nicht einmal lesen, was das heißt, das habe ich immer gekonnt. (Herr M, Zeile 54-55)
Neben dem Lernen und dem Schreiben ist für Herrn M im Kurs besonders
interessant, dass er da in einer Gruppe ist, in der jede Person das Gleiche hat
und die Fehler der Einzelnen aufgedeckt werden:
Die Gemeinschaft, das Lernen, Schreiben und das. Dass man da eine Gruppe ist und da jeder das Gleiche hat. Von den Fehlern wird dann halt aufgedeckt, wer die Fehler hat da. (Herr M, Zeile 87-89)
Was im Kurs gelernt/dazugewonnen wurde und angewendet wird
Nach Einschätzung von Herrn M hat sich beim Lernen einiges verändert,
weil er jetzt seine eigene Schrift wieder lesen, alles selber ausfüllen und Briefe
an seine Exfrau, den Lehrer und die Lehrerin schreiben kann. Er merkt sich
mehr, es bleibt also schon was hängen und die Rechtschreibung passt auch
besser. Herr M kann jetzt eine Rechnung anschreiben, die Mehrwertsteuer
und die Prozente ausrechnen, zusammenzählen, wegzählen und dividieren. Er
kennt nun die Formeln:
Beim Lernen schon, weil jetzt kann ich meine Schrift selber wieder lesen, was ich einmal früher nicht können habe. (Herr M, Zeile 71-72)
Und jetzt bin ich so weit, dass ich mir alles selber ausfüllen kann, die ganzen Formulare. Ich kann auch meiner Exfrau schreiben. (Herr M, Zeile 41-43)
Und schreiben tu ich viel auch daheim. Ich schreibe einfach wieder. An den Lehrer schreibe ich einen Brief. Wenn es mir taugt, schreibe ich nieder was ich mir denke, schreibe ich einfach auf ein DIN A4 Blatt. Und an die Lehrerin auch. Meinen Alltagsbrief kriegen sie halt wieder. (Herr M, Zeile 148-152)
Merken tue ich mir auch mehr. Es bleibt schon was hängen. (Herr M, Zeile 75)
796 vgl. Interview Herr M, Zeilennummer 80-84, S. 20, siehe Anhang.
207
[Rechtschreibung-G.G.] Das passt auch, ja. (Herr M, Zeile 142)
Ja ich kann eine Rechnung schreiben, ich kann die Mehrwertsteuer ausrechnen, ich kann zusammenzählen, ich kann wegzählen, ich kann dividieren und das Ganze alles, das kann ich jetzt einwenig. Also auch noch nicht so sicher, aber ich kann es jetzt. Ich weiß die Formel, wie die geht. Das habe ich nicht mehr gekonnt. Ich habe die Formel nicht mehr gewusst. (Herr M, Zeile 115-119)
Das Rechnen, dass ich weiß wie viel dass die Mehrwertsteuer ausmacht. Das habe ich nicht gewusst. Das kann ich mir ausrechnen. Prozente kann ich mir auch ausrechnen und das Ganze alles. (Herr M, Zeile 146-148)
Früher hat Herr M „solche Haxen hingehauen“ und jetzt hat er eine schöne
Schrift.797 Durch die Änderung seiner Handschrift änderte sich auch seine
Vorstellung über sich selbst. Er entwickelte gewissermaßen ein neues Ich, weil
Herr M sich jetzt gar nicht mehr vorstellen kann, das er das war, wie er vor
einem Jahr geschrieben hat. Er denkt selbst - wie auch seine Freundin - dass
er das gar nicht war, wenn er an sich zurückdenkt:
Wenn ich meine Schrift jetzt anschaue und was ich vor einem Jahr gemacht habe, das kann ich mir gar nicht vorstellen, dass ich das bin, wie was ich jetzt für Schrift habe. Dass ich mir selber denke, das bin ich gar nicht, wenn ich an mich zurückdenke. Das kann ich gar nicht sein. Meine Freundin sagt auch: „Das gibt es nicht, das bist gar nicht du“, wie ich früher geschrieben habe. Sonst habe ich solche Haxen hingehauen und jetzt habe ich halt eine schöne Schrift. Für mich halt. (Herr M, Zeile 133-139)
Analyse des Interviews mit Frau F798
Lerngründe:
Fast gar nichts schreiben können
Für Frau F stellte der Kursbesuch weder eine berufliche Notwendigkeit dar,
noch gab es dafür private Beweggründe. Wichtig war ihr das Schreiben lernen
selbst, wobei sie von einer gewissen Ambivalenz sprach, weswegen sich ihr
Kursbeginn lange Zeit hinauszögerte:
Ja sicher, weil ich mit dem Schreiben einfach – ich bin wahnsinnig schwach gewesen. Fast gar nichts habe ich schreiben können, muss ich ganz ehrlich sagen. Ich habe das jahrelang mit mir so mitgezogen. Irgendwie hätte es mir getaugt und irgendwie doch nicht. (Frau F, Zeile 39-42)
797 vgl. Interview Herr M, Zeilennummer 138-139, S. 21, siehe Anhang. 798 Siehe Anhang, Seite 11-18.
208
Vor dem Kursbeginn hatte Frau F einige Hürden zu überwinden. Die Fahrt
zum Kurs stellte sich als ein massives Problem heraus, weil die Distanz von
ihrem Wohnort zum Kursangebot zu groß war und dieses damit, noch ohne
Führerschein, für sie unereichbar blieb:
Und dann habe ich wahnsinnige Probleme gehabt. Ich bin in R.799 daheim. Wo ist das, der nächste Kurs – entweder in H.800- C.801 habe ich nicht gewusst – H. ist mir zu weit, muss ich ganz ehrlich sagen. Ich werde mich nicht da - den ganzen Tag – ich kann mir das auch nicht so erlauben. Dann habe ich keinen Führerschein noch gehabt dort und ja, ich habe hundert andere Ausreden gehabt. (Frau F, Zeile 42-47)
Als sie von einem etwas näher gelegenen Kursangebot aus der Zeitung
erfuhr, hatte sie inzwischen - mit 38 Jahren - den Führerschein gemacht. Sie
wartete dennoch ein ganzes Jahr, denn sie hatte, wie sie es ausdrückte,
„wahnsinnige Probleme“ damit und „war zu feig“, um sich anzumelden:802
Und dann habe ich es in der Zeitung gelesen, den D.803 Kurs. Den Zettel habe ich mir einmal herausgerissen und habe den durchstudiert. Lesen kann ich Gott sei Dank. Ich habe den immer wieder gelesen und immer wieder, aber irgendwie habe ich mir gedacht: „C.804, na ja“. (Frau F, Zeile 47-51)
Inzwischen habe ich aber den Führerschein gehabt. Ich habe mit 38 Jahren den Führerschein gemacht (Frau F, Zeile 51-52)
Dann habe ich den Zettel in den Küchenkasten hingeworfen und ich muss sagen, er ist ein ganzes Jahr da drinnen gelegen. Immer wieder habe ich ihn mir irgendwann herausgefangen und eines Tages habe ich mir gedacht: „Na ja, probieren kann ich es ja einmal, anrufen kann ich ja. Die kennen mich ja eigentlich noch nicht“. Ich habe wahnsinnige Probleme gehabt mit dem, muss ich sagen. Und dann habe ich die Nummer gewählt, aber ich habe es einfach nicht hineingedrückt. Ich war zu feig, wie man das so schön sagt. (Frau F, Zeile 52-59)
Sehr wichtig in diesem Entscheidungsfindungsprozess war für Frau F ihr
Mann, dem gegenüber sie sich zuerst mit ihren Problemen „outete“. Durch die
ablehnende Haltung ihres Mannes hatte Frau F damals gedacht, den Kurs
nicht zu besuchen, weil das Kursangebot zu weit entfernt lag und sie dann mit
dem Auto auch in der Stadt fahren müsste:
Dann wieder und dann habe ich das meinem Mann erzählt. Ich meine, der hat das nicht alles – er hat schon gewusst, dass ich sehr schwach bin beim Schreiben, aber dass ich fast nichts kann, das hat er die
799 Verschlüsselter Name des Bundeslandes. 800 Verschlüsselter Name der 1. Stadt. 801 Verschlüsselter Name der 2. Stadt. 802 vgl. Interview Frau F, Zeilennummer 57-59, S. 12, siehe Anhang. 803 Verschlüsselter Name der Kurseinrichtung. 804 Verschlüsselter Name der 2. Stadt.
209
ganzen Jahre nicht mitgekriegt, weil ich habe – das ist einfach so gewesen. Und dann sage ich zu ihm, dass da ein Kurs wäre. Dann sagt er gleich: „Nein C. so weit und dies und das“. Na ja und dann bin ich irgendwie wieder hinuntergesackt und habe mir gedacht: „Nein das ist zu weit. Ich muss in der Stadt fahren und ich bin ja nur auf dem Land mit dem Auto unterwegs“. Stadt – da habe ich schon wieder alle Zustände gekriegt. (Frau F, Zeile 59-67)
Motiviert, den Kurs doch zu besuchen, wurde Frau F von ihrer jüngsten
Tochter, die als einziges ihrer drei Kinder von ihren Schwierigkeiten wusste.
Ihre Tochter war Frau F auch gegenüber ihrem Mann eine wertvolle Hilfe:
Meine jüngste Tochter, die ist die einzige, die weiß, dass ich wahnsinnige Schwierigkeiten habe. Meinen anderen zwei habe ich das eigentlich gar nie so gesagt. Und sie sagt dann zu mir: „Weißt du was Mama, du machst den Kurs. Das ist ja doch was Tolles, wenn du dich weiterbildest, usw. Ich bin so stolz auf dich und so“. Und da hat es mir wieder einen Dings gegeben. (Frau F, Zeile 68-72)
Und mein Mann hat dann wieder herumgejammert. Und das Dirndl ist ihn richtig angefaucht, muss ich sagen. Sie hat gesagt: „Sei doch froh, dass die Mama sich weiterbilden will. Und das C. ist ja kein aus der Welt. In einer Stunde ist sie auch draußen. Ob sie jetzt so durch die Gegend fährt oder in den Kurs fährt“. (Frau F, Zeile 72-77)
Nach zwei Wochen bekam Frau F die für sie sehr wichtige Zustimmung
ihres Mannes zur Teilnahme am Kurs. Am nächsten Tag rief sie an und ließ
sich vom Kursleiter einen Plan zuschicken. Als dieser nun von drei Jahren
sprach, überlegte Frau F noch einmal und entschied sich dann entgültig dafür,
sich anzumelden. Bei der Fahrt zum Kurs in die Stadt unterstützte und
begleitete Frau F dann zweimal ihre Freundin:
Die nächsten vierzehn Tage war Stille. Nach zwei Wochen sagt mein Mann dann zu mir: „Hast du dich schon angemeldet“? Eigentlich habe ich eine Bestätigung von meinem Mann einfach noch einmal gebraucht. Und der sagt: „Na du bist komisch. Du meldest dich an“, hat er gesagt „das andere werden wir schon irgendwie kriegen“. (Frau F, Zeile 77-81)
So. Am nächsten Tag habe ich wieder die Nummer gewählt, dann ist der T.805 am Telefon gewesen und dem habe ich gesagt, er soll mir einen Plan schicken, weil ich weiß ja überhaupt nicht, wo das ist. Und dann hat er so geredet von 3 Jahren. Da habe ich mir gedacht: „Oh, 3 Jahre“. Da ist mir wieder einmal alles in die Dings gefallen. Aber ich habe mir gedacht: „Ist Wurst, ich schaue mir das einfach an“. (Frau F, Zeile 81-86)
Ich habe einen Termin ausgemacht. Ich habe dann meine Freundin gefragt, die sehr viel in der Stadt fährt, ob sie mit mir einmal her fährt und sie hat das gemacht. Ja, dann war das erste Gespräch da und wir
805 Verschlüsselter Name des Trainers.
210
haben einfach einen Termin ausgemacht. Das war im Februar, da bin ich dann eingestiegen. Und das zweite Mal ist meine Freundin mit mir gefahren. Ich habe gesagt, wenn ich einen Fehler mache, dann soll sie mir das sagen. Aber es ist eigentlich eh alles gut gegangen. (Frau F, Zeile 86-93)
Das Schreiben lernen, weil das im Leben dazugehört und ganz wichtig ist, um ohne zu schwitzen was ausfüllen zu können, sich nicht verstecken zu brauchen oder zum Dichten anfangen zu müssen
Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen, so argumentierte Frau F, das
gehöre im Leben einfach dazu und sei ganz wichtig, auch noch mit 45:
Na ja, weil einfach das im Leben dazu gehört. Das ist ganz wichtig. Wenn einer sagt, sagen wir mit 45: „Pah jetzt brauche ich das nicht mehr, weil meine Zeit ist schon ausgelaufen“, das ist ein Blödsinn. Da hat man ja noch - das ist ja die Hälfte erst von deinem Leben. (Frau F, Zeile 146-149)
Lesen und Rechnen bereiteten Frau F weniger Probleme. Sie will Schreiben
lernen, um ohne zu schwitzen was ausfüllen zu können, sich nicht verstecken
zu brauchen oder zum Dichten anfangen zu müssen:
Na ja Rechnen, Lesen – Lesen muss ich auch noch - vielleicht bei schwierigen Sachen - noch lernen, aber da beim Lesen habe ich weniger Probleme. Das Schreiben wünsche ich mir schon sehr, muss ich sagen, dass ich einfach einmal, wie soll ich sagen, dass ich nicht zum Schwitzen anfange, wenn ich irgendwo was ausfüllen muss. Das ist das Erste schon. (Frau F, Zeile 100-104)
Wenn du schreiben kannst, dann brauchst du dich nicht verstecken, kommt mir vor oder dass du anfängst zu dichten, warum dass dir die Hand weh tut, oder warum dass dir jetzt auf einmal schlecht wird, oder irgendwie. (Frau F, Zeile 104-107)
(Lern-)Erfahrungen:
Zukünftige Lerninteressen – Reiki, Karten legen, Abschalten, Hand auflegen, Buch schreiben
Frau F nützt die Chance besser schreiben zu lernen, weil sie jetzt Reiki-
Kurse besucht und sich darin weiter ausbilden lassen möchte. Ihr Interesse an
dieser Ausbildung ist groß, da sie sehr viel Energie hat. Sie hofft, dass ihr
dafür durch den Kurs „im Kopf auch was hängen geblieben sein“806 wird:
Wünsche hätte ich genug, aber es ist halt noch ein Traum. Ich würde gern – wie soll ich sagen. Ich mache jetzt dann Kurse, Reiki Kurse, weil ich sehr viel Energie habe und da möchte ich mich eigentlich weiter ausbilden lassen. Jetzt mache ich einmal die ersten zwei Grade und nächstes Jahr möchte ich dann den dritten machen. Das ist dann
806 vgl. Interview Frau F, Zeilennummer 179-181, S. 14, siehe Anhang.
211
der Schwerste. Das würde mich sehr interessieren, weil, ja ich meine, Energie habe ich sehr viel, das haben sie mir eigentlich auch schon gesagt, dass ich das habe. Das ist da. (Frau F, Zeile 132-138)
Ich meine nur die Kurse, die ich jetzt mache - den mache ich jetzt auch, weil das ist nur alles mit Energie zum Arbeiten und das geht jetzt nebenbei. Und nächstes Jahr möchte ich dann den dritten Grad machen und bis dorthin wird wohl was - im Kopf auch was hängen geblieben sein. (Frau F, Zeile 177-181)
Und dass ich da, wenn ich fertig bin mit meinem ganzen Kurs, dass mir etwas hängen geblieben ist. (Frau F, Zeile 211-213)
Bei all ihren Ausbildungswünschen, wie Reiki, Karten legen, Abschalten
und Hand auflegen, brachte Frau F immer wieder deutlich zum Ausdruck, dass
vorwiegend Interesse, Spaß und die eigenen Fähigkeiten ihre Antriebfedern
sind. Sie hat sehr konkrete Vorstellungen davon, was sie nach den drei Jahren
Kurs machen will, wenn sie das Schreiben besser kann. Sie wünscht sich, dass
sie ihre Träume bis zu ihrem 50. Geburtstag verwirklichen kann:
Ich tu gerne Karten legen beispielsweise. Da würde ich mich mit dem noch weiter befassen. Ich würde auch gern Kurse machen, beispielsweise ja Karten legen, in die Richtung mich weiter ausbilden lassen. Aber zuerst muss ich halt das Schreiben ein bisserl besser können. Das ist mein Traum. (Frau F, Zeile 138-142)
Weil es sind viele, die das nicht können, einfach ausschalten. Und da möchte ich mich einfach weiter mit dem befassen. Befassen tu ich mich eigentlich eh schon seit 2004, aber es ist halt zuerst der Schritt. Wenn ich das einmal nach 3 Jahren, ich meine halbwegs kann, weil das andere musst du dann eh immer selber wieder dazu lernen, dann werde ich mich weiter befassen. (Frau F, Zeile 172-177)
Ich will das jetzt schaffen, das was ich jetzt vor habe, aber bis zu meinem 50er möchte ich das schon schaffen. Das ich dann einfach – dass das was ich gesagt habe, Karten legen und Hand auflegen, dass macht mir wahnsinnig viel Spaß. Ich will das mit Leuten machen, die Probleme haben. Das würde mich total interessieren. Und wenn ich da noch mal in die Schule gehen muss, wäre mir das auch Wurst. Das würde mir total Spaß machen. (Frau F, Zeile 342-348)
Frau F will schreiben können, damit sie sich eines Tages hinsetzen kann,
um eine Geschichte, ihr Erlebnis aufzuschreiben. Sie meint, dass ihr dann so
viel einfallen würde, dass da ein Buch entstehen könnte. Dieses Bedürfnis
wird immer stärker. Könnte sie richtig schreiben, würde sie Bücher schreiben.
Sie hofft, dass es ihr jetzt, in der zweiten Lebenhälfte, besser ergehen möge:
Ich will das einfach, dass ich mich einmal hinsetzen kann und einfach eine Geschichte für mich, mein Erlebnis aufschreiben kann. Das würde ich sagen, weil mir würden so viele Sachen einfallen, dass da ein Buch zusammenkäme, muss ich ehrlich sagen. Das würde mich interessieren. Und früher habe ich das Bedürfnis eigentlich nicht so
212
gehabt, aber jetzt wird es immer mehr und immer mehr. (Frau F, Zeile 107-112)
Und das ist einfach – darum sage ich, wenn ich richtig schreiben könnte, würde ich Bücher schreiben, weil mich das [Engelkarten legen] einfach so interessiert. Und ich denke mir, jetzt ist meine zweite Hälfte da, vielleicht geht es mir jetzt besser. (Frau F, Zeile 365-368)
Schule
Seit 1½ Jahren ist Frau F bereits im Kurs, der ihr großen Spaß bereitet.
Die Zeit vergeht ihr darin, wie sie freudig erzählte, viel zu schnell:
Und das macht mir wahnsinnig viel Spaß jetzt. Wenn ich denke, dass jetzt schon 1½ Jahre vorbei sind. Hoffentlich verlaufen die nächsten 1 ½ nicht so schnell. (Frau F, Zeile 209-211)
Mir macht das – die Schule einfach total Spaß. (Frau F, Zeile 339-340)
Lernen
Das Schreiben lernen spielt eine sehr große Rolle im Leben von Frau F. Sie
hat dazu eine passende Metapher für sich gefunden:
Ich habe jetzt einen Spruch gelesen und das ist echt sehr interessant gewesen, warum ein Kind das erste Mal, wenn es hinfällt wieder aufsteht und wieder geht. Das muss ja das lernen und das ist so ähnlich beim Schreiben ja auch. Wie oft, dass ich auf die Nase gefallen bin und du musst wieder aufstehen und denkst dir: „So und jetzt gehe ich das nächste Mal“. (Frau F, Zeile 149-154)
Neben dem Schreiben - das ihr im Kurs wichtiger ist, als das Erlernen des
Computers - bezeichnete Frau F als besonders interessant, wenn sie wieder
etwas Neues lernt. Gleichzeitig empfindet sie es aber auch als schwierig,
wieder etwas Neues zu lernen, weil sie dann eine Blockade überwinden muss:
Ja. Es [Computer-G.G.] ist nicht das Wichtigste für mich. Es ist da, aber für mich ist einfach das Wichtige das Schreiben und wenn ich das Schreiben kann, dann glaube ich, dass das auch geht. (Frau F, Zeile 218-220)
Interessant, hm? Ja, dass man wieder irgendetwas Neues lernt, das ist immer interessant. (Frau F, Zeile 236-237)
Ja wenn man wieder etwas Neues lernt, dann ist es für mich wieder – ja dann habe ich eine Blockade, wie man das sagt. Aber wenn ich es dann öfter anschaue und so, nachher geht das auch wieder. (Frau F, Zeile 231-233)
Befragt nach den Bewältigungsstrategien bei Lernschwierigkeiten, erzählte
Frau F von ihren Erkenntnissen und Erfahrungen mit dem Lernen zuhause, im
Speziellen mit dem Lernen für Ansagen, wobei sie ihr enormer Ehrgeiz
optimistisch stimmt, sich das für sie schwierige Hören der Buchstaben künftig
213
auch noch besser anzueignen. Frau F hat neben ihrem Ehrgeiz jetzt auch
genug Energie für das Lernen, um die an sie gestellten Aufgaben bewältigen
zu können:
Ich meine sicher, ich höre das noch nicht so richtig, wenn der T. irgendetwas ansagt, den Buchstaben, das fällt mir noch ziemlich schwer, aber ich werde das schätze ich auch noch hinkriegen. Ich habe einen wahnsinnigen Ehrgeiz derzeit. (Frau F, Zeile 116-119)
Weil ich sitze wirklich lange dabei bei Ansagen zum Lernen, dass ich mir oft denke, früher hätte ich die Energie nicht gehabt und jetzt habe ich sie aber. (Frau F, Zeile 154-156)
Frau F schilderte ihre Mühen beim Lernen für die letzte Ansage, wo sie
zunächst einmal alles hinwarf, weil ihr das Lernen nicht gelingen wollte. Sie
setzte sich mit ruhiger Musik in ihren Garten, um total abzuschalten. Nach
dem Abschalten ging es ihr wieder gut und als sie dann das Lernen wieder
aufnahm, war sie darin erfolgreich:
Na ja, ich sage, du bist nicht immer gleich aufgelegt, sagen wir so. Einmal geht es ein bisserl besser, nachher geht es wieder schlechter. Sagen wir, daheim ist es das Gleiche, wenn du beim Lernen bist. Dann fliegen halt wieder mal die Bücher hinüber, ach geh huit807 weg. Aber das ist einfach so und dann fängst du sie halt wieder her. (Frau F, Zeile 243-247)
Letzte Woche habe ich, vorletzte Woche, weil letzte Woche war der T. nicht da, da haben wir eine Ansage zum Lernen gehabt. Ich habe gelernt und gelernt und da habe ich mir gedacht: „Nein, ich kann das nicht. Das ist ein Wahnsinn“. Und dann, muss ich ehrlich sagen, habe ich das alles einmal hingeschmissen. Das ist das Gute, dass ich das kann. (Frau F, Zeile 156-160)
Ich setze mich dann hin, tu den Kopfhörer auf und tu meine ruhige Musik hinein und dann schalte ich total ab. Das kann ich und das ist das Gute, muss ich dazu sagen. Da bin ich eine Stunde in meinem Garten gesessen und dann habe ich total abgeschaltet. Nach der Stunde ist es mir so gut gegangen. Ich habe mir gedacht, so jetzt probiere ich das und dann habe ich das gekonnt. (Frau F, Zeile 160-165)
Lernen ist etwas, was sich nicht erzwingen lässt, meinte Frau F im
Interview. Sie ist deshalb sehr glücklich über ihre Fähigkeit, total abschalten
zu können, weil ihr hinterher das Lernen viel leichter gelingt:
Es ist einfach so. Du willst oft irgendwas erzwingen und das geht aber nicht. Da sitzt du vielleicht noch zwei Stunden dabei und nachher schreibst du vielleicht noch einmal alles falsch. (Frau F, Zeile 165-168)
Weil ich das kann, und das taugt mir einfach so, da kann ich total ausschalten, dann träume ich einfach irgendwo woanders hin und das
807 Fluggeräusch.
214
ist das Gute. Nach dieser Stunde war ich wieder so fit, da war der Kopf leer, dann ist das wieder gegangen und ich habe das zusammengebracht. Und das ist das Schönste. Da bin ich wieder glücklich, dass ich diese Gabe habe. (Frau F, Zeile 168-172)
Weil ich habe heute den ganzen Vormittag – sagen wir den ganzen Vormittag bin ich allein – da bleibt mein Buch einfach auf dem Tisch liegen. Ich stehe wieder auf, gehe Kochen nebenbei, dann setze ich mich wieder hin und probiere es wieder. Oder ich sauge wieder durch die Gegend und wenn das noch nicht gelingt, dann habe ich eh gesagt, setze ich mich einfach hin und gehe ich in die Tiefe, wie man das sagt, schalte ab und dann, nach dem geht es mir eigentlich immer wieder gut. Da kann ich machen was ich will. Wenn ich mich wirklich nicht wohl fühle mit dem Ganzen und das wirklich nicht in den Kopf hineingeht, da bin ich darauf gekommen, das mache ich einfach und danach geht das viel leichter. Darum taugt mir das einfach, dass ich das kann. Da fühle ich mich so richtig wohl. (Frau F, Zeile 247-257)
Ihren Wunsch nach mehr Ansagen begründete Frau F im Gespräch damit,
dass sie dann daheim, neben der Hausarbeit, wirklich acht Stunden am Tag
lernen muss. Sie berichtete von ihrer Lernstrategie, nach der sie bei der
letzten Ansage vorgegangen war:
Ja weil das einfach – du musst daheim lernen, du sitzt wirklich dabei. Es ist ja nicht, dass ich jetzt eine Stunde lerne und dann kann ich das. Ich sitze wirklich lange dabei. Ich meine jetzt haben wir 18 Zeilen gelernt, das sind 100 Wörter und ich muss ehrlich sagen, am Dienstag war ich im Kurs, am Abend habe ich dann die Aufgabe noch schnell gemacht und dann bin ich Mittwoch und Donnerstag fast den ganzen Tag nur dabei gesessen und habe gelernt. (Frau F, Zeile 385-390)
Schon unterbrochen wieder mal, inzwischen muss ich mal Kochen gehen und dann muss ich wieder mal abschalten und so, aber im Laufe des Tages habe ich hundertprozentig meine 8 Stunden gelernt. Ich meine, ich sage dann schon wieder zu mir selber, denke ich mir: „Mein Gott. Jetzt hast du eine Ansage mit 18 Zeilen, 100 Wörter sind das, du muss da so lernen. Der andere schaut es an, ph und der kann es“. (Frau F, Zeile 391-396)
Frau F empfindet es durchaus als eine „schwere Last“, so viel lernen zu
müssen, aber wenn sie es schließlich kann, dann ist sie sehr stolz auf sich,
weil sie sich wieder etwas gemerkt hat.808 Unterstützt wird sie beim Lernen
von ihrer jüngsten Tochter:
Es ist schon eine schwere Last auch so wieder, aber wenn du das nachher kannst, dann bist du stolz. Total. Und dann denke ich mir, so jetzt hast du das wieder, jetzt haben wir wieder was und das wirst du dir merken. (Frau F, Zeile 396-399)
Weil Mittwoch und Donnerstag habe ich gelernt, Freitag – ich habe mir einfach gesagt, bis Samstag muss ich das können, weil am Sonntag
808 vgl. Interview Frau F, Zeilennummer 396-397, S. 18, siehe Anhang.
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will ich meine Ruhe haben. Das war es. Und Mittwoch und Donnerstag habe ich gelernt, Freitag habe ich dann meine jüngste Tochter gefragt, ob sie mir das ansagt. Dann habe ich fünf Fehler gemacht. Ich war stolz mit fünf Fehlern. Ich habe mir gedacht: „Passt“. Und Samstag habe ich dann auch wieder weiter, das, die fünf Fehler, die ich da gemacht habe wieder geübt, dann habe ich sie wieder gefragt, ob sie mir ansagt. Passt, angesagt, ein Fehler. „Passt“, habe ich mir gedacht. Am Sonntag habe ich dann nichts gemacht. (Frau F, Zeile 399-408)
Am Montag habe ich es mir noch einmal angeschaut und am Montag am Abend hat dann der T. angerufen, dass er krank ist. Da habe ich mir gedacht: „Na ja ist eh Wurst. Kann man nichts machen. Jetzt habe ich so gelernt“. Und dann habe ich mir gedacht: „Nein“. Am Dienstag bin ich dann Rad fahren gegangen. Ich habe die ganze Woche nichts mehr gemacht, muss ich auch dazu sagen. Und jetzt am Montag habe ich mir gedacht: „So und jetzt muss ich es mir anschauen, weil ich wäre nur neugierig, was mir eigentlich hängen geblieben ist“. Na ja ich habe schon wieder ein paar Fehler hinein gemacht, aber zum großen Teil habe ich mir das endlich gemerkt. Und ich muss sagen, ich war sehr stolz auf mich selber. (Frau F, Zeile 408-417)
Kursleiter und Kollegen
Hilfreich beim Lernen ist Frau F vor allem Ruhe, frische Luft und Wasser.
Am Kursleiter schätzt sie sehr, dass er Ruhe ausstahlt, genau erklärt und die
Inhalte, die nicht gleich verstanden wurden, noch einmal erklärt. Er geht auch
auf die von der Gruppe geäußerten Bedürfnisse ein:
Die Ruhe, frische Luft und ein Glas Wasser - und einen Kursleiter, der Ruhe ausstrahlt. Das ist er eh, der T., muss ich sagen. Er ist sehr ruhig, er erklärt genau und wenn einer das nicht so schnell begreift, erklärt er es noch einmal. Das ist das Wichtigste. (Frau F, Zeile 224-227)
Ja das sagen wir meistens eh, wenn wir was haben wollen. Zum Beispiel jetzt haben wir gesagt, wir wollen mehr Ansagen haben, aber da waren alle einverstanden draußen, dass wir daheim lernen können und dass er uns dann das ansagt. Das war unser Bedürfnis eigentlich. Er ist auf uns eh eingegangen. Er hat das eh gemacht. (Frau F, Zeile 378-382)
Für Frau F ist das Wichtigste im Kurs, dass ihre Kollegen gleich sind so wie
sie selbst und ebenfalls beim Schreiben noch Fehler machen. Könnten diese
schon super schreiben, würde sie sich hinuntergesetzt und verloren fühlen:
Ja, dass auch meine Kollegen, dass das alles passt, muss ich sagen. Und das Beste ist, dass sie so sind wie ich. Wenn einer vielleicht gescheiter wäre wie ich, dann hätte ich vielleicht eh schon wieder ein großes Problem mit mir. Weil dann hätte ich vielleicht ein bisserl ein Problem mit – dann würde ich mich irgendwie hinuntergesetzt fühlen und zusammen mit denen lernen würde ich vielleicht – nein das passt so, weil jeder so ist wie ich und das passt genau. Ich bin gemein aber - es ist so. (Frau F, Zeile 187-193)
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Das ist das Wichtigste, weil wenn ich jetzt irgendwen kriege, der einfach super schreiben kann schon und alles, dann würde ich mich irgendwie verloren fühlen. Und so macht auch einer – der andere macht drei Fehler, der andere zwei Fehler, der andere hat ein Glück gehabt, der hat einmal keinen Fehler, aber die sind gleich so wie ich und das gefällt mir. (Frau F, Zeile 196-200)
Was im Kurs gelernt/dazugewonnen wurde und angewendet wird
Mit der zunächst angstbesetzten Fahrt zum Kurs in die Stadt hat sich der
Lebensraum von Frau F auf angenehme Weise erweitert:
Beim dritten Mal bin ich dann selber hergefahren. Geschwitzt habe ich sehr viel, aber ich bin hergekommen. Und seit dem geht es mir eigentlich recht gut in der Stadt. Ich bin auch so schon durch die Gegend gefahren. Mir taugt es voll, muss ich sagen. (Frau F, Zeile 93-96)
Und dann habe ich das, dass ich da heraus fahren kann. (Frau F, Zeile 339)
Frau F erzählte, dass sie nun schon mehr schreiben kann und es jetzt gar
nicht mehr so schwer findet. Die Zusammenschreibung oder auseinander, die
Bedeutung der Hauptwörter und Tunwörter, das ABC und das Hören der
Buchstaben, das alles hat sie bereits im Kurs gelernt. Insgesamt fühlt sich
Frau F viel wohler. Sie hat, wie sie erwähnte, an Selbstvertrauen gewonnen,
wurde selbständiger und traut sich nun mehr:
Und wenn ich irgendwo hingehe, dann denke ich mir eigentlich ist das gar nicht so schwer, weil zum großen Teil ist das entweder zusammengeschrieben oder auseinander. (Frau F, Zeile 112-115)
Und einfach, dass ich schon ein bisserl was höre, sagen wir, wenn man was sagt. (Frau F, Zeile 208-209)
Das Hauptwort und die Tunwörter, das habe ich alles eigentlich da herinnen gelernt, muss ich sagen, was das bedeutet. (Frau F, Zeile 115-116)
Das ABC habe ich auch nicht können und das kann ich jetzt auch perfekt und gewisse Sachen einfach, was Hauptwörter sind, was Tunwörter sind und so auch einfach. Ja ich fühle mich viel wohler jetzt. (Frau F, Zeile 213-215)
Ja, dass ich mehr Selbstvertrauen habe und dass ich ein bisserl mehr schreiben kann, weil wie ich hergekommen bin, da war das ehrlich gesagt, ja das kannst vergessen, das was ich schreiben habe können. (Frau F, Zeile 206-208)
Ja sicher, weil ich ein bisserl selbständiger geworden bin. Ich traue mir mehr. (Frau F, Zeile 338)
Lesen und Schreiben sind bei Frau F in ihre Interessensgebiete einge-
bunden: den Engelkarten, Briefen und Büchern, z.B. über Krafttiere. Schwere
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Wörter schlägt Frau F im Wörterbuch nach oder informiert sich bei ihrer
jüngsten Tochter darüber, was diese bedeuten. Früher hätte sie das nicht
gemacht. Jetzt tut sie viel mehr zuhause, hat mehr Ehrgeiz und mehr Pläne:
Im Alltag. Ja lesen tu ich sehr viel von - was ich jetzt gerade lese. Mit Engelkarten, Briefe, da befasse ich mich sehr viel. Mit Karten, da habe ich wahnsinnig viele Bücher daheim, mit Krafttieren. Und da lese ich halt sehr viel. Mich interessiert das sehr. Früher habe ich Romane gelesen, so richtige Schnulzen, dass ich dagesessen bin und geweint habe und jetzt interessieren mich die – ja das interessiert mich einfach so viel. (Frau F, Zeile 352-357)
Schreiben tu ich eigentlich auch viel mit - wenn ich Engelkarten lege beispielsweise und dann schreibe ich das auf was herausgekommen ist und was vorher gewesen ist. (Frau F, Zeile 363-365)
Und die ganz schweren Wörter, die ich nicht weiß was das eigentlich heißen soll, die suche ich mir alle vom Wörterbuch heraus oder lasse sie mir von meiner jüngsten Tochter erklären, was das ist. Und das, ja das taugt mir total muss ich sagen. (Frau F, Zeile 357-360)
Und ich tu daheim viel mehr jetzt. Wenn ich was lese, dann lege ich es weg und will ich nachschauen. Das hätte ich früher nie gemacht. Einfach mehr Ehrgeiz und ich habe einfach mehr Pläne. (Frau F, Zeile 340-342)
Analyse des Interviews mit Herrn E809
Lerngründe:
Handikap Schreiben
Herr E war im vorhergehenden Beruf erfolgreich, da bei seiner Tätigkeit
als Betriebsschlosser sein handwerkliches Geschick und nicht das Schreiben
im Vordergrund stand. Als seine Firma aber geschlossen wurde, machte ihm
die Umschulung in der Stiftung das Handikap mit dem Schreiben bewusst.
Nach einer ergebnislosen Suche - es gab damals noch keine Angebote - wurde
einmal im Fernsehen über das Thema berichtet und Herr E stieg gleich in die
Grundbildung ein:
In meinem vorhergehenden Beruf an sich war es nicht so relevant, also da war eher das Handwerkliche gefragt. Und eben dann, durch die Umschulung in der Stiftung, ist mir das Handikap mit dem Schreiben bewusst geworden. (Herr E, Zeile 51-53)
Da hat es auf einmal eine Stiftung gegeben, die Möglichkeit zur Umschulung. Ich habe mir dann gedacht: „Na ja probierst du es halt, obwohl mit einem Handikap das Ganze sicher nicht einfach sein wird“. (Herr E, Zeile 28-31)
809 Siehe Anhang, Seite 6-10.
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Ich habe dann zu suchen angefangen, habe aber eigentlich nichts gefunden in dem Bereich. Also es ist auch nichts angeboten worden. In einer Fernsehsendung war da einmal ein Thema. Ich habe angerufen, habe mich auch dementsprechend informiert und bin gleich in die Grundbildung eingestiegen. (Herr E, Zeile 54-58)
Aus seinen Antworten lässt sich die existenzielle Bedeutung erahnen, die
das Schreiben für ihn jetzt - im Gegensatz zur Schulzeit - hat:
Und dazumal war es mir auch nicht bewusst, wie wichtig dass das ist. Aber jetzt merke ich das schon, dass das das Um und Auf ist in unserer heutigen Gesellschaft, weil sonst kannst du kaum existieren. Ich meine, existieren schon, aber nicht auf einem gewissen Standard. (Herr E, Zeile 179-182)
Herr E ergänzte, wie die ausschließlich mündliche Kommunikation sich auf
seine Freundschaften und Bekanntschaften ausgewirkt hat, wenn aus der
Ferne Briefe und Karten ankamen „(…) und selber bist du eigentlich nicht der
Mensch, der was schreibt“.810 Er schilderte:
Ich habe das so in den Jahren gemerkt, es lösen sich dann viele Freundschaften und Bekanntschaften, weil man nur mündlich kommuniziert, aber die einen sind dort und die anderen sind dort und dann kommen halt die ersten Briefe oder Karten und selber bist du eigentlich nicht der Mensch, der was schreibt. Es wird halt dann immer weniger und die Kontakte brechen früher oder später ab. Das hat mich auch oft betroffen gemacht, weil das zum Teil sehr intensive Bekanntschaften waren und dann hat sich das auf einmal einfach aufgelöst und natürlich von meiner Seite her war so etwas nicht. (Herr E, Zeile 182-190)
Schreiben für die Arbeit, den beruflichen Aufstieg und die Weiterentwicklung.
Besser Schreiben lernt Herr E spezifisch für seine Arbeit, für seinen
beruflichen Aufstieg und für die Weiterentwicklung, da die Beherrschung einer
„dementsprechende(n) Rechtschreibung“ in seinem Bereich vorausgesetzt
wird.811 In Zukunft wäre für ihn der Aufstieg zum Abteilungsleiter oder
Bereichsleiter möglicherweise noch interessant, obwohl Herr E diese Angebote
bisher - wegen des Handikaps mit dem Schreiben –abgelehnt hat:
Aber der Ausschlag war eher so in dem Bereich wo ich jetzt arbeite, wo es auch eine gewisse Voraussetzung sein sollte oder sein muss, dass man eine dementsprechende Rechtschreibung unter Anführungs-zeichen beherrscht. (Herr E, Zeile 58-61)
Also so spezifisch für meinen Beruf, jetzt auch einfach für die Weiterentwicklung. (Herr E, Zeile 65-66)
810 vgl. Interview Herr E, Zeilennummer 186, S. 9, siehe Anhang. 811 vgl. Interview Herr E, Zeilennummer 58-61, S. 7, siehe Anhang.
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Und auch so in Zukunft, denke ich, wo halt im Bereich immer die Möglichkeit vom Aufstieg besteht, was nicht mehr unbedingt so relevant ist, aber vielleicht noch interessant wäre, dass du Abteilungsleiter oder Bereichsleiter wirst, zumindest was mir immer wieder angeboten worden ist. Auch jetzt wieder, wo mein Vorgesetzter in Karenz geht und mir nahe gelegt hat, ich soll die Vertretung übernehmen. Und natürlich unter Anführungszeichen mit dem Handikap ist es nicht so einfach, jetzt speziell: Viele Protokolle schreiben, Berichte schreiben und so Sachen, wo ich mir schon noch schwer tue unter Anführungszeichen, das zu formulieren und zu schreiben und auch dann vorzutragen in einem Plenum oder sonst irgendwo einfach zu diskutieren und was vorzubringen. (Herr E, Zeile 71-82)
Herr E nannte im Interview auch wichtige allgemeine Vorteile, die das
Erlernen des Lesens, Schreibens und Rechnens mit sich bringt:
Warum? Na ja, weil es an sich ja die Grundvoraussetzung ist, dass man sich in unserer heutigen Gesellschaft weiterentwickeln kann, dass man nicht irgendwie abrutscht in die Armut. Und auch sonst denke ich, ist es ganz wichtig, wenn man eine Familie mit Kindern hat, dass man eben die gesellschaftlichen Aufgaben erfüllen kann. (Herr E, Zeile 86-90)
(Lern-)Erfahrungen:
Zukünftige Lerninteressen – Verbessern, Selbstsicherheit, Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Sicherheit, auch in der Öffentlichkeit
Herr E konnte durch die Unterstützung vom Kurs die Ausbildung zum
Altenfachbetreuer abschließen. Er will nun in Zukunft nicht wieder etwas
Neues lernen, sondern seine Fähigkeiten im Schreiben verbessern und mehr
Selbstsicherheit sowie größeres Selbstbewusstsein erlangen. Im Kurs fällt ihm
das Schreiben leicht, aber unter fremden Menschen oder in der Öffentlichkeit
ist es für ihn, wie wenn dann das Gehirn total abschaltet und ihm das Denken
unmöglich macht. Er will im Kurs mehr Selbstvertrauen und mehr Sicherheit
gewinnen und seine Schwierigkeiten mit dem Schreiben in der Öffentlichkeit
besser in den Griff bekommen:
Na ja als Nächstes - ich meine jetzt rückblickend war eben die AFB einmal ganz wichtig. Jetzt in die Zukunft gesehen, so konkret an sich eigentlich nicht. Einfach nur verbessern, einfach mehr Selbstsicherheit, mehr Selbstbewusstsein, also auch in der Öffentlichkeit. Ich meine, so jetzt im Kurs tue ich mir leicht mit dem Schreiben, aber sobald du unter fremde Menschen bist oder in der Öffentlichkeit bist, dann schleichen sich die alten Fehler immer wieder ein, kommt das alte Muster hervor. (Herr E, Zeile 228-234)
Das ich da mehr Selbstvertrauen auch kriege, mehr Sicherheit einfach. Wenn du wirklich einmal rausgehen musst und da irgendwo auf ein Plakat was schreiben musst, das ist irgendwie, wie wenn das Gehirn
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total abschaltet, so ist das dann für mich. Da kann ich dann überhaupt nicht denken. Das läuft dann irgendwie so unterbewusst ab, wenn ich das tue. Das muss ich noch besser in Griff kriegen. (Herr E, Zeile 234-239)
Ein zentraler Bestandteil seiner beruflichen Tätigkeit wird in Zukunft die
Dokumentation am Computer sein, weswegen Herr E sich künftig auch damit
mehr beschäftigen muss:
Ja gezwungenermaßen habe ich mich damit auseinander gesetzt, weil beruflich jetzt so der nächste Schritt ist, dass die ganze Dokumentation auf Computer ablaufen wird. Bis jetzt ist es noch nicht so. Wir haben ein Dienstbuch. In Zukunft muss ich mich da mehr engagieren. (Herr E, Zeile 217-220)
Thema Alphabetisierung und Angebote
Befragt, was im Kurs für ihn besonders schwierig sei, kam Herr E auf den
relativen Aufwand zu sprechen, der ihm durch die Fahrten zum Kurs entsteht.
Er kann wegen der weiten Fahrtstrecke und den Turnusdiensten in seinem
Arbeitsbereich den Kurs nicht regelmäßig besuchen:
Schwierig. Wenn ich jetzt Bezug nehme auf das, dass mir das ein relativer Aufwand ist immer daherzukommen, zum Beispiel. (Herr E, Zeile 144-145)
Ich fahre einmal die Woche runter. Und auch nicht immer regelmäßig, weil ich fahre doch - also eine Strecke sind circa 90 km. Es ist auch dienstlich nicht immer einfach, dass ich mir da freihalte, weil wir Turnusdienste haben. Ich versuche es halt, dass ich so oft wie möglich runterkomme. (Herr E, Zeile 44-47)
Sein weiter Anfahrtsweg entsteht wegen dem sehr geringen, nur auf die
Landeshauptstädte konzentrierten, Angebot, welches dadurch, wie Herr E
anmerkt, für viele Menschen ohne Führerschein unerreichbar bleibt:
Das Angebot ist sehr gering, weil es das an sich nur in den Landeshauptstädten gibt und für viele also auch kein Zugang ist, weil ja unter Anführungszeichen auch viele nicht den Führerschein haben, wegen der Rechtschreibschwäche, wo sich viele nicht getraut haben, dass sie den machen. (Herr E, Zeile 145-149)
Herrn E sind zwei Themen wichtig: Das Thema Alphabetisierung sollte,
seiner Meinung nach, mehr öffentlich gemacht werden. Wichtig ist ihm ferner,
dass künftig auch in den Regionen bessere Zukunftsmöglichkeiten vorhanden
sind. Er geht davon aus, dass es bei einer stärkeren Sensibilisierung der
Öffentlichkeit vielen Menschen leichter fallen würde, in der Heimatregion ein
Kursangebot zu besuchen, weil es dann nicht mehr so problematisch wäre,
wenn die eigene Anonymität verloren geht:
221
Ja, das was mir wichtig ist: Ich meine, dass das Thema mehr öffentlich gemacht gehört und dass es auch bessere Zukunftsmöglichkeiten geben sollte, zum Beispiel auch in den Regionen draußen. (Herr E, Zeile 246-248)
Obwohl das immer wieder schwierig ist, weil doch die Anonymität verloren geht, die für die meisten, also zumindest für den Großteil äußerst wichtig ist. Und natürlich in der Heimatregion ist es dann schwierig, wenn da unter Anführungszeichen Alphabetisierung angeboten wird. Da geht man dann wahrscheinlich nicht hin, weil da könnte vielleicht doch der Nachbar oder irgendein Bekannter dabei sitzen und dann - ja. (Herr E, Zeile 248-254)
Wenn die Öffentlichkeit mehr sensibilisiert würde dafür, dann würde das vielleicht ein bisserl anders ausschauen, glaube ich halt. Weil früher bei Themen wie Homosexualität oder Aids oder sonst irgendwas - das ist genauso irgendwie so ein stigmatisiertes Thema, also von daher. (Herr E, Zeile 254-257)
Lernen
Sehr wichtig ist Herrn E, dass er im Kurs die Chance erhält, sich weiterzu-
entwickeln. Ebenfalls sehr wichtig sind ihm die Möglichkeit zur Eigenaktivität,
zur verstärkten Auseinandersetzung mit vorbereiteten Themenbereichen und
zu inhaltlichen Mitgestaltung:
Für mich persönlich einmal, dass ich mich halt einfach weiterentwickeln kann, dass man Themen einbringen kann und dass man sich dann verstärkt damit befasst. Sie bereiten irgendwelche Unterlagen vor und dass man dann in dem Bereich auch etwas macht. (Herr E, Zeile 93-96)
Bestehende Probleme mit dem Schreiben brachte Herr E in Zusammen-
hang mit seinem Beruf, der Fahrt zum Kurs und der Arbeit zuhause, die
seinen Ehrgeiz und seine Motivation schmälern, daheim noch was zu tun. Zum
Kurs runterzufahren ist ihm wichtig. Das Lernen dort ist, seiner Erfahrung
nach, aber zu wenig, da erst durch ständiges Wiederholen und Aufarbeiten die
Inhalte einsickern und hängen bleiben, was somit nicht immer der Fall ist:
Dass natürlich schon noch immer gewisse Defizite vorhanden sind, das werde ich nicht abstreiten. Das liegt aber dann zum Teil am Ehrgeiz auch wieder, weil Beruf und zum Kurs runterfahren und auch daheim gibt es Arbeit und so Sachen. Es ist halt dann nicht immer die Motivation da, also daheim, dass man dann noch was tut. (Herr E, Zeile 111-115)
Von daher ist es mir eben wichtig, dass ich runterkomme und dass ich mich dann auch motivieren kann zu den drei Einheiten, die wir hier sind. Aber im Prinzip ist es zu wenig, dass die Sachen einsickern einmal, dass du sicher immer wiederholen sollst, aufarbeiten sollst, dass auch einiges hängen bleibt, was nicht immer der Fall ist. (Herr E, Zeile 115-119)
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Hilfreich beim Lernen im Kurs ist Herrn E, wenn er versteht, warum ein
Wort so geschrieben wird. Schwieriger als das Verstehen ist für ihn aber das
Behalten. Dafür müssen, seiner Überzeugung nach, spezifische Techniken
entwickelt werden, damit nicht immer nachgesehen werden muss, warum das
Wort so geschrieben wird, sondern dass das automatisch abläuft. Was für
andere selbstverständlich ist, beispielsweise was es für ein Wort ist und wie es
geschrieben wird, muss Herr E beim Schreiben oft überlegen:
Auch das Verständnis dann, dass ich verstehe, warum ist das eigentlich so, warum schreibt man das so. (Herr E, Zeile 127-128)
Beim Lernen. Ja so der Zugang, das Verstehen ist da, aber das Behalten dann im Kopf, das ist immer das Schwierige. Man muss spezifische Techniken entwickeln, dass man das auch dann behält, dass man nicht immer wieder nachschauen muss, warum man das so schreibt, sondern, dass das irgendwie automatisch wäre. (Herr E, Zeile 154-158)
Die Zeitwörter, Hauptwörter, Eigenschaftswörter, wenn du die schreibst und du musst immer überlegen: Ist das ein Zeitwort oder ist das ein Eigenschaftswort oder so? Das was für den anderen selbstverständlich ist, muss ich dann oft überlegen: Was ist es jetzt eigentlich für ein Wort? Schreibe ich es klein oder groß? (Herr E, Zeile 158-162)
Trainer und Gruppe
Hilfreich beim Lernen sind für Herrn E vor allem die Trainer, die Art der
Vermittlung und die Methoden. Wesentlich ist, aus seiner Erfahrung, ebenso
eine funktionierende Gruppe, in der die Teilnehmenden gut zusammenpassen,
ohne dass es Spannungen gibt:
Ja, ich meine die Trainer, das ist das Um und Auf, wie die das vermitteln, wie die das rüberbringen und mit was für Methoden das angegangen wird. (Herr E, Zeile 125-127)
Wichtig ist einmal, dass die Gruppe funktioniert. Es sind unruhige Leute drinnen gewesen, die natürlich das Gefüge eher gestört haben, wo das dann nicht so gut funktioniert hat. (Herr E, Zeile 123-125)
Ja schwierig so vom Kurs her selber? Na eben wie ich schon erwähnt habe, wenn jetzt da Teilnehmer sind, die nicht unbedingt in die Gruppe gut hineinpassen oder dass es Spannungen gibt. (Herr E, Zeile 149-151)
Große Bedeutung hat für Herrn E die Gruppe. Am wichtigsten sind ihm da
die Zusammengehörigkeit der Kursteilnehmenden, „(…) weil wir gleich gesinnt
sind“812 und der gemeinsame Austausch, wie es anderen mit dem Handikap
812 vgl. Interview Herr E, Zeilennummer 96-97, S. 7, siehe Anhang.
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geht. Sich auszutauschen ist nur im Kurs möglich, weil es das Thema in der
allgemeinen Gesellschaft dem Anschein nach nicht gibt. Ganz wichtig ist ihm
außerdem, dass man sich durch die Gruppe nicht alleine gelassen fühlt. Er
erwähnt zusätzlich die verschiedenen Leistungsgruppen für Teilnehmende mit
unterschiedlichen Handikaps im Kursangebot, in welchen, wie er betont, ein
gutes Klima zwischen den Teilnehmern und Trainern besteht:
Einfach auch die Zusammengehörigkeit, weil wir gleich gesinnt sind. Natürlich auch mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden, also Handikaps, was gruppenspezifisch gelöst wird, wo es dann verschiedene Gruppen gibt, Leistungsgruppen, wo ein gutes Klima mit den Teilnehmern und den Trainern herrscht. (Herr E, Zeile 96-100)
Der Austausch einfach auch, weil so kann man in der allgemeinen Gesellschaft - hast du eh schon gesagt, dass es eben kein Thema nicht ist, weil es das anscheinend nicht gibt. Und von daher kann man sich da auch gut austauschen, wie es wem anderen geht zum Beispiel, mit dem. (Herr E, Zeile 100-104)
Das ist eigentlich ganz wichtig, dass man sich nicht alleine fühlt, also alleine gelassen. (Herr E, Zeile 104-105)
Interessant sind für Herrn E alle Menschen, die am Kurs teilnehmen. Er
hat viele Leute schon kennen gelernt – vom selbständigen Unternehmer bis
zum Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger - und dabei festgestellt, dass alle
Schichten betroffen sind, nicht nur die sozial Schwachen:
Interessant? Interessant sind alle Menschen, die in den Kurs kommen, aus den verschiedensten Richtungen, was man eigentlich gar nicht glaubt. (Herr E, Zeile 132-133)
Ich meine, ich habe relativ viele Leute schon kennen gelernt, angefangen von Unternehmern, die 20 Leute unter sich haben, die selbständig sind, bis eben zum Arbeitslosen oder Sozialhilfeempfänger. Die Palette ist riesig. Das ist natürlich schon spannend, in was für Bereiche, dass sich das eigentlich abspielt. (Herr E, Zeile 133-138)
Ich habe mir gedacht, das sind Leute, die eher aus sozial schwachen Familien herauskommen oder die eben nicht die dementsprechende Förderung gehabt haben. Es betrifft eigentlich unter Anführungszeichen alle Schichten, nicht nur die sozial Schwachen. (Herr E, Zeile 138-141)
Was im Kurs gelernt/dazugewonnen wurde und angewendet wird
Seit dem Kursbeginn hat Herr E bei sich eine Entwicklung bemerkt. Es
haben sich bestimmte Bereiche verbessert. Er verfügt nun über mehr Selbst-
sicherheit, Selbstvertrauen und Selbstachtung und fühlt sich jetzt auch, durch
die anderen Teilnehmer, nicht mehr alleine gelassen:
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Ich persönlich habe schon gemerkt, dass ich eine gewisse Entwicklung mitgemacht habe, also dass sich gewisse Bereiche einfach verbessert haben. (Herr E, Zeile 109-110)
Also schon etwas. Zumindest eine gewisse Selbstsicherheit entwickelt man schon, ein bisserl mehr Selbstvertrauen auch. Man fühlt sich nicht alleine gelassen, so auf die Art, eben durch die anderen Teilnehmer. Und ja, vielleicht ein bisserl mehr Selbstachtung oder so. (Herr E, Zeile 194-197)
Ganz wichtig war ihm die Aufschulung zum Altenfachbetreuer, die er vor
zwei Jahren absolvierte und bei der ihm der Kurs sehr viel gebracht hat:
Ich habe dann die Aufschulung zum Pflegehelfer gemacht und jetzt, also vor zwei Jahren, durch die Unterstützung da vom Grundkurs, habe ich eben die Aufschulung zum AFB, also zum Altenfachbetreuer, gemacht. (Herr E, Zeile 35-38)
Wie ich die Aufschulung zum AFB gemacht habe, eh durch die Unterstützung da vom Kurs, also jetzt in der Begleitung von der Projektarbeit, die ich machen habe müssen, diese zu überprüfen und um weiterzukommen, korrigieren und so. Wo man auf Sachen dann darauf aufmerksam gemacht wird, was vielleicht ein bisserl besser passt, besser formuliert wäre oder so. Und da hat mir das schon sehr viel gebracht. (Herr E, Zeile 66-71)
Herr E erzählte, dass er vorwiegend in seiner Arbeit schreibt, weil dort
eine Dokumentationspflicht besteht. Beim Protokoll schreiben ist schon noch
eine gewisse Angst vorhanden. Dieser Angst begegnet er, indem er sich dann
Notizen macht, diese zuhause besser ausarbeitet und zur Sicherheit vielleicht
noch kontrollieren läßt. Briefe schreibt er keine, da sein Bekanntenkreis relativ
klein geworden ist. Karten hingegen schon, wobei Herr E versucht, nicht nur
„alles Liebe“ zu schreiben, sondern auch ein paar Sätze zu formulieren:
Ja das ist alles spezifisch bezogen auf meine Arbeit, eben weil dann da eine gewisse Dokumentationspflicht ist, also was so passiert im Laufe des Tages, vom Ablauf her. (Herr E, Zeile 201-203)
Es sind dann immer wieder auch bei Teambesprechungen Protokolle zum Schreiben, was halt so alphabetisch abläuft. Da ist man halt dran und dann muss man das Protokoll schreiben, wo natürlich schon auch noch eine gewisse Angst vorhanden ist. Da macht man sich halt irgendwie so Notizen und arbeitet das daheim nachher ein wenig besser aus und vielleicht lässt man es dann noch kontrollieren, zur Sicherheit. (Herr E, Zeile 203-208)
Ja, aber Briefe schreibe ich in dem Sinne nicht, da der Bekanntenkreis relativ klein geworden ist. Karten schon, so Weihnachtsgrüße, Geburtstagsgrüße und so Sachen. Ich versuche dann schon ein paar Sätze zu formulieren und so, dass nicht nur „alles Liebe“ da steht, sondern auch ein bisserl mehr. (Herr E, Zeile 211-214)
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Einige Gemeinsamkeiten und Besonderheiten:
Von den beiden Interviewpartnern, Herrn E und Herrn M, wurden bei der
Entscheidung für den Kurs keine anderen Personen einbezogen. Für Frau F
hingegen war die Bestätigung ihres Mannes zu Beginn sehr wichtig, um ihre
Furcht vor der Kursanmeldung zu überwinden. Trotz der Hürden aufgrund der
weiten Fahrtstrecke und des zunächst fehlenden Führerscheins sowie der
anfänglich vorhandenen Bedenken und ablehnenden Haltung ihres Mannes,
überwog bei Frau F die Unterstützung aus dem Familien- und Freundeskreis,
die ihr den Kursbesuch schließlich ermöglichte. Frau F ist die Einzige, die im
Interview erzählte, dass sie von anderen (Mann, jüngste Tochter, Kursleiter,
Freundin) bei der Anmeldung unterstützt wurde und die die Hilfe der Tochter
beim Lernen auch weiterhin nutzt.
Die weite Fahrtstrecke haben im Interview zwei Personen angesprochen,
wobei sie für Herrn E, zusätzlich zu seiner Arbeit zuhause und im Beruf, einen
relativen Aufwand bedeutet. Er fügte hinzu, dass die Angebote sehr gering
und nur in den Landeshauptstädten vorhanden sind, weswegen viele Personen
ohne Führerschein keinen Zugang haben. Für Frau F stellt das Fahren zum
Kurs in die Stadt, nach anfänglicher Besorgnis, dagegen eine willkommene
Erweiterung ihrer Handlungskompetenz und ihres Lebensraumes dar.
Schwierigkeiten mit dem Schreiben erwähnten alle drei Teilnehmenden,
wobei auch das Rechnen einem Interviewpartner große Probleme bereitete,
jedoch konnten alle Befragten vor Beginn des Kurses bereits ausreichend
Lesen.813 Die persönlichen Wünsche und Interessen, die die Teilnehmenden
durch das Auffrischen des Schreibens bzw. Rechnens im eigenen Leben
verwirklichen wollen, sind naturgemäß vielfältig. Die vorwiegend genannten
Motive waren: Die selbständige Bewältigung schriftlicher und rechnerischer
Anforderungen im Alltag, die für Herrn M nach seiner Scheidung notwendig
wurde; für Herrn E ist das Schreiben die Voraussetzung für den Beruf, den
beruflichen Aufstieg und die persönliche Weiterentwicklung sowie die
Bedingung, um auf einem gewissen Standard existieren und persönliche
Kontakte aufrechterhalten zu können; Frau F wünscht sich das Schreiben, um
ohne zu schwitzen etwas ausfüllen zu können, um sich nicht verstecken und
813 Damit bestätigt sich die Beobachtung von Marion Döbert und Peter Hubertus, dass die Zahl der Erwachsenen, die Lesen können, jedoch nicht ausreichend Schreiben, größer sei, als die Zahl der Erwachsenen, die Probleme mit dem Lesen und dem Schreiben haben. Bei aller nötigen Aufmerksamkeit auf die Leseförderung in der Schulbildung, sollte demzufolge die Förderung des Schreibens in Zukunft vorrangig sein.
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zum Dichten anfangen zu müssen und sich individuelle Lerninteressen und
Wünsche (Reiki, Karten legen, Abschalten, Handauflegen, Bücher schreiben)
erfüllen zu können. Die Teilnehmenden erwarten sich von den Trainerinnen
und Trainern im Kurs, dass sie bei der Erreichung ihrer Wünsche, Interessen
und Bedürfnisse wesentlich unterstützt werden.
Für die befragten Personen ist es von großer Bedeutung, in einer Gruppe
von Gleichen bzw. Gleichgesinnten zu sein. Im Kurs sind die anderen im
Schreiben auch nicht besser und machen ebenso Fehler, meinten dazu Frau F
und Herr M. Man kann sich im Kurs austauschen, was in der allgemeinen
Gesellschaft nicht möglich wäre und man fühlt sich nicht mehr alleine
gelassen, argumentierte Herr E. Für ihn ist die Zusammengehörigkeit in einer
funktionierenden Gruppe wichtig. Obendrein erlebt er es als sehr spannend,
im Kurs neue Leute aus den unterschiedlichsten sozialen Kontexten kennen zu
lernen - wohl auch deshalb, weil, wie er sagte, sein Bekanntenkreis durch das
Handikap relativ klein geworden ist.
Die Trainer und ihre Art der Vermittlung bezeichnete Herr E als das Um
und Auf, um im Kurs gut lernen zu können. Die Lehrpersonen sind für Herrn M
angenehm, faszinierend, aufbauend und vermitteln ihm ein gutes Gefühl im
Kurs. Dass sie ihm wohlgesonnen sind, ist ihm wahrscheinlich auch deswegen
besonders wichtig, weil er bei seinem Lehrer in der Schulzeit das Gegenteil
erlebt hat. Wesentlich bei der Vermittlung durch den Kursleiter ist für Frau F
eine ruhige Atmosphäre, genaue Erklärungen, Wiederholungen und dass auf
die Bedürfnisse der Gruppe (Ansagen) eingegangen wird.
Sehr bedeutsam für alle drei Teilnehmenden ist das Behalten, dass, wie es
mehrmals in ähnlicher Weise formuliert wurde, auch was hängen bleibt. Sie
lernen, je nach verfügbarer Zeit und Energie sowie vorhandenem Ehrgeiz,
deshalb auch zuhause weiter. Frau F erzählte beispielsweise von ihrem
stundenlangen Lernen für die letzte Ansage und ihrem Stolz auf sich selbst,
wenn sie das Gelernte dann kann, weil sie sich wieder etwas gemerkt hat.
Alle drei Personen konnten sich im Kurs weitere Kenntnisse im Schreiben
und Rechnen aneignen und zugleich in ihrem Leben einiges verändern. Herrn
E war es durch die Kurs-Unterstützung möglich, Altenfachbetreuer zu werden.
Er hat jetzt mehr Selbstsicherheit, -vertrauen, -achtung und fühlt sich nicht
mehr alleine gelassen. Frau F konnte neue Perspektiven entwickeln, ist
selbständiger geworden, traut sich mehr und lernt voll Energie, Ehrgeiz und
Freude. Alle schreiben wieder im Alltags- bzw. Berufsleben, wobei Herr M sich,
dank seiner jetzigen Schrift, dabei in einen neuen Menschen verwandelt fühlt.
227
9.2.2 Ergebnisse der Interviews mit den Projektverantwortlichen
Aus den Interviews mit der Gruppe der Projektverantwortlichen habe ich
sechs zentrale Kategorien ausgearbeitet, die nahe an den Antworten der
beiden Gesprächspartnerinnen und des Gesprächspartners formuliert wurden.
Die entstandenen Kategoriensysteme für die Projektverantwortlichen werden
im Folgenden näher dargestellt:
Analyse des Interviews mit Frau Sonja Muckenhuber814
Lerngründe:
Leidensdruck, Ängste, wirtschaftliche Notwendigkeiten und Kinder
Frau Sonja Muckenhuber gibt die Motive und Ziele von Jugendlichen und
Erwachsenen wieder, die Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Demzufolge
kommen diese Menschen weder aus freien Stücken in die Kurse, noch leben
sie unter tollen Lebensbedingungen. Sie glauben zumeist, sich verstecken zu
müssen. Ein immenser Leidensdruck und die Angst, mit den Problemen beim
Lesen, Schreiben und Rechnen entdeckt zu werden, wie auch bestehende
Arbeitslosigkeit oder die Sorge um den Arbeitsplatz, führen zum Kursbesuch:
Motive und Ziele. Immer, es ist immer ein immenser Leidensdruck. So freiwillig und aus einer tollen Lebenssituation ist noch nie jemand gekommen. Es sind meist Ängste, die daraus resultieren, weil sich die Betroffenen verstecken müssen oder glauben sich verstecken zu müssen. Und die Angst ist einfach die Angst, entdeckt zu werden. Manchmal sind es wirtschaftliche Notwendigkeiten, also Arbeitslosigkeit oder die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Sehr oft sind es eben diese Ängste. (Sonja Muckenhuber, Zeile 291-297)
Als Personengruppen, die Ziel der Ängste sind, nannte Sonja Muckenhuber
Partner, Partnerinnen, Arbeitskollegen und vielfach Kinder. Die Erwachsenen
befürchten, sich vor den Kindern zu blamieren und für diese blamabel zu sein:
Es sind Partner, Partnerinnen, es können Arbeitskollegen sein, die Ziel dieser Ängste sind oder ganz ganz häufig Kinder. Kinder, wenn sie geboren werden oder Kinder, wenn sie in die Schule kommen. Einfach die Angst, dass die Kinder entdecken, die Eltern können nicht – oder der Vater oder die Mutter kann nicht Lesen, nicht Schreiben oder nicht Lesen oder nicht Schreiben. Und dann ist es nicht so sehr, dass sich die Erwachsenen – natürlich auch, aber nicht so sehr, dass sie sich fürchten, sich vor ihren Kindern zu blamieren, sondern, dass das für die Kinder eine immense Blamage ist. Die fürchten für die Kinder, dass sie für die Kinder blamabel sind und dass die Kinder durch die Eltern dann wieder eine Blamage durch Kollegen, Schulkollegen, usw. ertragen müssen. (Sonja Muckenhuber, Zeile 297-307)
814 Siehe Anhang, Seite 24-31.
228
Die wirtschaftliche Unabhängigkeit ist den Teilnehmenden wegen ihrer
finanziellen Unsicherheiten zu Beginn sehr wichtig, sagte Sonja Muckenhuber.
Haben sie allerdings durch die Trainerinnen und Trainer im Gespräch den
emanzipatorischen Anspruch, wie Persönlichkeitsentfaltung und Zugang zu
unterschiedlichen persönlichen kulturellen Bereichen erfahren, so ist ihnen das
überaus wertvoll:
Von Seiten der Teilnehmer und Teilnehmerinnen ist auch der funktionale Anspruch ein sehr starker, also einfach die wirtschaftliche Unabhängigkeit. Der emanzipatorische Anspruch ist sicher da, wird aber teilweise erst von den Trainern, Trainerinnen oder in den Gesprächen den Teilnehmern bewusst gemacht. Die sind einfach auf der Bedürfnispyramide relativ weit unten, aufgrund dieser finanziellen Unsicherheiten und haben natürlich den emanzipatorischen Anspruch, ich meine, ja, das sind ja vollwertige Menschen, aber er ist ihnen noch nicht so bewusst. Wenn sie einmal so was wie Persönlichkeits-entfaltung, Zugang zu verschiedenen persönlichen kulturellen Bereichen und so erfahren haben, dann ist ihnen das sehr viel wert, das schon. (Sonja Muckenhuber, Zeile 148-158)
(Lern-)Erfahrungen:
Zukünftige Lerninteressen – Englisch, Fremdsprachen und innerbetriebliche Weiterbildungen
Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben (große) Pläne und lernen auch
weiter, berichtete Sonja Muckenhuber. Sehr viele entscheiden sich dabei für
Englisch oder Fremdsprachen. Manche Personen wollen an innerbetrieblichen
Weiterbildungen teilnehmen und besuchen deshalb die Kurse:
Ja, auf jeden Fall. Pläne hat jeder und jede. Es haben alle Pläne, große Pläne und es lernt auch jeder weiter. Ich kann mich jetzt nicht erinnern - ich kann mich natürlich nicht an alle erinnern, die meisten bleiben eh relativ lange bei uns im Kurs und machen dann irgendwas. Sei das jetzt Englisch, Englisch oder Fremdsprachen machen ganz ganz viele. Manche haben sich aber auch dann zu innerbetrieblichen Weiter-bildungen angemeldet. Das war dann auch die Motivation herzukommen: „Ich kann dann an den innerbetrieblichen Weiter-bildungen teilnehmen“. (Sonja Muckenhuber, Zeile 351-358)
Sozialgefüge
Zu Beginn wollen die Teilnehmenden möglichst schnell richtig Lesen und
Schreiben können. Nach einigen Wochen ist ihnen das soziale Gefüge, der
soziale (Schon-)Raum im Kurs mindestens ebenso wichtig, betonte Sonja
Muckenhuber. Auch wenn sie bereits Lesen und Schreiben können, kommen
viele wegen der Freundschaften und dem Austausch wieder in den Kurs:
229
Wenn die TeilnehmerInnen herkommen, dann ist das Allerwichtigste für sie, dass sie Lesen und Schreiben lernen können, perfekt und möglichst schnell. Wenn die Teilnehmer und Teilnehmerinnen dann länger im Kurs sind – mit länger meine ich schon einige Wochen – dann stelle ich fest, dass das soziale Gefüge, dieser soziale Raum und auch der soziale Schonraum, mindestens genauso wichtig ist für die Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Das zeigt sich auch daran, dass dann viele ein oder zwei Jahre, nachdem sie schon schreiben und lesen können, zumindest in dem Ausmaß, in dem sie es lernen wollten, trotzdem wieder kommen. Sie kommen trotzdem wieder, weil ihnen einfach die Freundschaften wichtig sind, die sie geschlossen haben. Freundschaften auf Zeit sind es natürlich nur, wobei ihnen der Austausch wichtig ist. Einfach dieses Sozialgefüge, die neue Welt, die sie da auch kennen gelernt haben. (Sonja Muckenhuber, Zeile 189-201)
Positive Lernerfahrungen
Positive Lernerfahrungen entstehen bei den Teilnehmenden, wenn stark
auf ihre vorhandenen Ressourcen aufgebaut wird und sie mit ihrem Wissen
und Können bestärkt werden, hob Sonja Muckenhuber hervor. Wesentlich ist
immer auch Zeit für Entspannung, Spaß und für Beziehungen einzuplanen und
für ein angenehmes Klima zwischen allen Beteiligten zu sorgen:
Herangeführt zur positiven Lernerfahrung werden sie einfach, in dem ganz stark auf die Ressourcen der Teilnehmer aufgebaut wird und alles Positive oder das Wissen, was da ist, ganz bewusst einfach bestärkt wird. Sie werden bestärkt in dem, was sie können. (Sonja Muckenhuber, Zeile 216-219)
Und das Lernen selber oder der Kursablauf selber wird so gestaltet, dass möglichst auch immer Zeit ist für einen Entspannungsfaktor, einen Spaßfaktor, einen Beziehungsfaktor. Das Gruppenklima, das Klima zwischen TrainerInnen und TeilnehmerInnen sollte stimmen, da bemühen wir uns, dass wir daran arbeiten. Zwischen den Teilnehmer-Innen untereinander natürlich auch. (Sonja Muckenhuber, Zeile 224-229)
Nicht lernen, was man sich erhofft hat - Kursabbruch
Lernen einzelne Teilnehmende an manchen Tagen nicht das, was sie sich
erhofften, wird das mit der betreffenden Person reflektiert und besprochen.
Sie werden dadurch, wie Sonja Muckenhuber hinzufügte, im „Versagen“, im
Nichterreichen gesetzter Ziele, aufgefangen:
Es gibt natürlich Kurstage, an denen der Teilnehmer nicht das lernt, was er sich erhofft hat. Er kommt her und glaubt: „Heute komme ich heim und kann die S-Schreibung supertoll“. Die Dinge werden aber gemeinsam mit den Teilnehmern reflektiert und besprochen. Sie werden aufgefangen, im Versagen unter Anführungszeichen jetzt, also im Nichterreichen gesteckter Ziele. (Sonja Muckenhuber, Zeile 219-224)
230
Gelingen die Lernerfolge nicht, kann das auch am Konzept, den Methoden
oder dem Thema liegen, was gemeinsam mit den Teilnehmenden reflektiert
wird. Nach diesem Gespräch wird wieder eine neue Methode, ein neuer Inhalt
ausprobiert. Manchesmal bestehen allerdings auch organische Ursachen:
Es könnte natürlich einmal sein, dass das Konzept nicht passt, das didaktische, methodische Konzept, dass einfach die Schritte zu groß waren, dass man sich geirrt hat. Das muss und wird auch, das passiert auch, wird reflektiert, wird von Trainer, Trainerinnen gemeinsam mit Teilnehmer, Teilnehmerinnen reflektiert und auch von den TrainerInnen untereinander. Dass die Methode nicht gepasst hat, dass das Thema für den Teilnehmenden nicht gepasst hat also, dass es einfach nicht gelungen ist, die Motivation des Teilnehmers zu wecken. In der Regel dann, wenn das Thema zu weit weg war von der Lebensrealität des Teilnehmers. Dann kann es natürlich organische Ursachen geben, also ganz schlecht sehen, ganz schlecht hören. Das wird dann in der Regel abgeklärt. (Sonja Muckenhuber, Zeile 257-267)
Sonja Muckenhuber erwähnte, dass die Trainerinnen und Trainer mit
niemanden im Kurs bisher entgültig gescheitert sind, wobei sie einräumt, dass
das von Seiten der Teilnehmenden anders aussehen mag. Selten kann es
schon vorkommen, dass eine Person den Kurs abbricht:
Langfristig gescheitert – also ich kann mich nicht erinnern, dass wir mit irgendeinem Teilnehmer oder einer Teilnehmerin entgültig gescheitert wären. Das mag von Seiten der Teilnehmer und Teilnehmerinnen anders aussehen. Es kommt natürlich schon vor, dass ab und zu ein Teilnehmer den Kurs abbricht, aber wirklich selten. Da wird bei uns dann so damit umgegangen, dass man anruft und fragt, warum und was sind die Gründe und gibt es irgendwas von unserer Seite, was nicht gepasst hat oder eben andere. (Sonja Muckenhuber, Zeile 273-279)
Was im Kurs gelernt/dazugewonnen wurde und was angewendet wird
Durch das Lernen im Kurs kann sich einiges im Leben der Teilnehmenden
verändern, berichtete Sonja Muckenhuber. Persönliche Veränderungen gibt es
auf jeden Fall, denn eine größere Sicherheit und mehr Wirklichkeit, die man
sich zu beschreiten traut, haben in den Kursen bisher alle gewonnen:
Sicherheit gewinnt jeder und ein Stück mehr Wirklichkeit, die man sich zu beschreiten traut, hat bis jetzt auch jeder gewonnen. Im Kleinen oder auch im Großen. Sei es jetzt nur, dass man in Bibliotheken geht oder dass man vor der Auslage einer Buchhandlung stehen bleibt und erkennt, ja ok, das ist das Buch und das könnte man eventuell auch kaufen und vielleicht sogar etwas lesen drinnen. (Sonja Muckenhuber, Zeile 313-318)
Die Teilnehmenden erlangen eine größere persönliche Unabhängigkeit, da
sie nicht mehr auf andere Personen beim Lesen und Schreiben angewiesen
231
sind. Sie erreichen zudem eine größere wirtschaftliche Unabhängigkeit sowie
höhere berufliche Stabilität und Flexibilität. Durch den Kursbesuch bekommen
sie nicht unbedingt einen anderen Arbeitsplatz, aber sie haben bessere
Chancen, berufliche Ziele zu erreichen, erläuterte Sonja Muckenhuber:
Das andere ist natürlich diese persönliche größere Unabhängigkeit. Man ist nicht mehr auf Freunde, Partner, wie auch immer angewiesen, die einem dann helfen müssen beim Lesen von Formularen oder beim Ausfüllen von Formularen oder was auch immer, Kartenschreiben und natürlich auch eine größere wirtschaftliche Unabhängigkeit, eine höhere berufliche Stabilität und auch Flexibilität. Das muss nicht zwangsläufig damit verbunden sein, also das heißt nicht, dass man durch den Kurs einen anderen Arbeitsplatz kriegt, aber man hat größere Möglichkeiten, ein beruflich gestecktes Ziel zu erreichen. (Sonja Muckenhuber, Zeile 319-327)
Sonja Muckenhuber erzählte, wie ein Teilnehmer sein Berufsziel erreichte,
indem er seine Berufsausbildung zum Altenfachbetreuer abschließen konnte:
Der befriedigendste Teil war für mich sicherlich der, als ein Teilnehmer geschafft hat seine Berufsausbildung abzuschließen mit einer Hausarbeit, mit einer schriftlichen Hausarbeit über 29 Seiten. Der hat sein Berufziel, seinen Berufswunsch sich erfüllen können. Er ist eben Altenfachbetreuer geworden, hat den Kurs absolviert, hat zum Schluß auch die Arbeit geschrieben und diese Arbeit dann präsentiert in einer Powerpoint und hat das gut geschafft. (Sonja Muckenhuber, Zeile 106-111)
Lesen und Schreiben zu können bzw. den Kurs zu besuchen führt, nach
den Erfahrungen Sonja Muckenhubers, zu einem größeren Selbstwertgefühl
und zur Feststellung von Teilnehmenden, jetzt ein anderer Mensch zu sein
und über größere Freiheit und Selbstsicherheit zu verfügen. Es befördert ihre
wirtschaftliche und persönliche Unabhängigkeit, weil Bildung den Erwachsenen
den Zugang zu Freiheit und Selbstbestimmung eröffnet:
Der Grund ist einfach der, natürlich eine Steigerung des Selbst-wertgefühls. Ich habe das ja erlebt. Das ist einfach meine Erfahrung. Und es sind auch Aussagen von Teilnehmer, Teilnehmerinnen, die dann eben sagen: „Seit ich Lesen und Schreiben kann oder seit ich den Kurs besuche bin ich ein anderer Mensch, freier, selbstsicherer“. Genau so sind die Worte der Teilnehmer, Teilnehmerinnen. Und das andere ist die wirtschaftliche und die persönliche Unabhängigkeit. Bildung befreit, ja, es ist einfach so. Bildung ist wirklich ganz ein wichtiger Schlüssel zur Freiheit, zur Selbstbestimmung. (Sonja Muckenhuber, Zeile 178-185)
Den Teilnehmenden ist die Sicherheit, die sie im Kurs erfahren, und auch
die Sicherheit im Verlassen von Sicherheiten, äußerst wichtig. Sie brauchen
232
sie, um wieder Mut oder Kraft für die nächsten Schritte zu finden, teilte Sonja
Muckenhuber mit:
Die Sicherheit, die sie dann da erfahren und diese Sicherheit im Verlassen von Sicherheiten, das ist auch etwas, was sie da erfahren. Das ist ihnen dann ganz, ganz, ganz wichtig. Das brauchen sie einfach, das sagen sie auch. Sie brauchen und erleben das. Das gibt ihnen wieder Mut oder Kraft für die nächsten Schritte, wieder ein Stück Neues zu erfahren. Sie würden es anders - sie sagen zumindest - sie würden es anders nicht schaffen. (Sonja Muckenhuber, Zeile 203-209)
Die Erwachsenen wenden das Erlernte mit großer Freude an. Voller
Begeisterung wird den Kindern oder Enkelkindern vorgelesen. Es werden
Karten und Berichte geschrieben, Formulare ausgefüllt und alltägliche schrift-
sprachliche Anforderungen mit in den Kurs genommen:
Ja, sie wenden es an. Sie wenden es auf jeden Fall an. Sie wenden es an, indem sie den Kindern oder Enkelkindern Bücher vorlesen, mit ganz großer Begeisterung. Indem sie einfach Karten schreiben, indem sie Formulare ausfüllen, indem sie Berichte schreiben. Sie bringen auch die konkreten alltäglichen Anforderungen mit in den Kurs. Sie bringen z.B. Formulare mit, die ausgefüllt werden müssen oder wie eben Volkszählung war, vor zwei Jahren glaube ich, sind fast alle mit diesen Volkszählungsformularen gekommen, die eh wirklich ganz schön geschmalzen waren. Die waren eh nicht einfach. Und das wird natürlich dann auch, ja selbstverständlich, mit großer Freude angewandt. Das ist ja der springende Punkt, das Erlernte wirklich anwenden zu können. (Sonja Muckenhuber, Zeile 337-347)
Analyse des Interviews mit Herrn Peter Webhofer815
Lerngründe:
Beruflich und selber weiter zu kommen, Kinder und soziale Kontakte
Herrn Peter Webhofers Basisbildungskurse sind im arbeitsmarktpolitischen
Bereich angesiedelt. Ein sehr starkes Motiv für den Kursbesuch ist deshalb das
den Teilnehmenden versprochene Glück, wieder eine Arbeitsstelle zu finden:
Bei uns hängt das sehr stark oft natürlich mit dem versprochenen Glück zusammen, sich wieder irgendwie in einen Arbeitsmarkt zu integrieren, Arbeit zu finden oder eine relativ stabilere Geschichte zu finden. Das ist ein sehr starkes Motiv eigentlich bei Teilnehmern, hängt auch damit zusammen, dass wir natürlich sehr stark in diesem arbeits-marktpolitischen Bereich arbeiten. (Peter Webhofer, Zeile 352-356)
Ihre Kinder in der Volksschule unterstützen zu können, ist für Mütter
immer wieder ein Motiv, in die Kurse zu kommen, berichtete Peter Webhofer.
815 Siehe Anhang, Seite 32-41.
233
Aus seiner Erfahrung sind die Wünsche für sich etwas zu tun, wieder eine
Beschäftigung zu finden und keine Angst mehr beim Ausfüllen haben zu
müssen, weitere, zunehmend häufiger werdende Lerngründe Erwachsener,
wie auch die Beobachtung, dass die Schriftsprachlichkeit zunimmt:
Die Kinderbetreuungsgeschichten sind auch immer wieder sehr wichtig, wo Mütter sagen: „Ich muss jetzt was tun, damit mein Kind, das in die Volksschule kommt, von mir unterstützt werden kann und damit ich dem helfen kann“. In letzter Zeit immer häufiger wird so ein bisserl auch dieses: „Ich muss was für mich tun“. „Es kann so nicht weiter gehen, ich brauche ein bisserl eine Beschäftigung“. „Ich halte diese Angst nicht mehr aus, wenn ich irgendwo etwas ausfüllen muss“. „Ich merke, die Schriftsprachlichkeit wird mehr“. Das Selbst-Empowerment eigentlich fast, diese Selbsttriebfeder als Motiv wird häufiger. (Peter Webhofer, Zeile 357-365)
Lesen und Schreiben besser zu erlernen ist, seinen Ausführungen nach,
ganz selten ein Motiv für den Kursbesuch. Es geht den Teilnehmenden meist
um die berufliche und persönliche Weiterentwicklung und darum, soziale
Kontakte zu schließen. Sie erhoffen sich, im Kurs jemanden kennen zu lernen,
mit dem oder mit der sie sich austauschen können und gegebenenfalls dort
vielleicht sogar eine Partnerin oder einen Partner zu finden:
Lesen und Schreiben als Motiv ist bei den meisten Teilnehmern zu wenig. Das merken wir in der Öffentlichkeitsarbeit. Lesen und Schreiben besser können ist ganz selten ein Motiv. Es geht sehr häufig darum, einfach beruflich weiter zu kommen, selber weiter zu kommen und der Punkt, den ich noch vergessen habe, soziale Kontakte zu finden. Das ist sicher auch ein starkes Motiv von Leuten in den Kurs zu kommen, dass sie sagen: „Möglicherweise lerne ich jemanden kennen, mit dem ich mich dann ein bisserl austauschen kann“, bis hin zu - man müsste das einmal genauer nachvollziehen, aber ich glaube, dass ein großer Teil unserer Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind wirklich in ganz einsamen Verhältnissen, also haben keine Partner und da könnte das auch ein starkes Motiv sein. Das weiß man ja aus den Motiven von der Weiterbildung überhaupt, dass Partnerwahl ein starkes Motiv ist, Weiterbildungen in Anspruch zu nehmen. (Peter Webhofer, Zeile 365-377)
Peter Webhofer erwähnte ferner, dass seine anfängliche Vorstellung, die
Teilnehmenden würden freiwillig in die Kurse kommen und freiwillig lernen,
unzutreffend war:
Das heißt, mein erster Zugang war, das werden wohl Erwachsene sein, die freiwillig kommen und die freiwillig lernen. Das war ein sehr naiver, wie sich dann herausgestellt hat. (Peter Webhofer, Zeile 44-46)
(Lern-)Erfahrungen:
234
Zukünftige Lerninteressen – Interesse an unterschiedlichen Alltagsvorgängen und an Weiterbildungsinhalten steigt
Der Wunsch weiterzulernen, besteht bei den Teilnehmenden durchaus,
aber nicht bei jeder Person.816 In den Kursen wird natürlich versucht, die
Teilnehmenden für Bildung zu begeistern, betonte Peter Webhofer. Er brachte
dazu ein Beispiel von einem Teilnehmenden, der seinen Job kündigte, eine
Ausbildung in der Krankenpflege positiv beendete und neue Interessens-
gebiete entwickeln konnte. Ein wachsendes Interesse an verschiedenen
Alltagsvorgängen und auch an Weiterbildungsinhalten lässt sich, nach seinen
Beobachtungen, bei mehreren Teilnehmenden erkennen:
Wir haben ein paar ganz tolle VorzeigeteilnehmerInnen, die - also ein Fall aus der Obersteiermark, der dann seinen Job gekündigt hat, was eher weniger positiv war, aber was sehr stark sicher mit uns zusammengehängt hat, weil es einfach ein sehr unterdrückender Job war, der jetzt eine Krankenpfleger oder Hilfspflegeausbildung begonnen hat, die dann auch positiv abgeschlossen hat, der sich einfach für neue Sachen zu interessieren begonnen hat. Das ist schon etwas, was wir eigentlich bei mehreren KursteilnehmerInnen beobachten können, dass das Interesse steigt an unterschiedlichen Alltagsvorgängen und auch natürlich an Inhalten von Weiterbildungen. (Peter Webhofer, Zeile 422-431)
Peter Webhofer erwähnte, dass ein den Kursen angefügtes kleines
internes Seminarangebot, bestehend aus politischer Bildung, Projekten und
Diavorträgen, sehr gut angenommen wurde, was möglicherweise wiederum
für das Interesse der Teilnehmenden an Weiterbildung sprechen könnte.
Häufig machen die Erwachsenen weiterführende Kurse oder Ausbildungen
nicht freiwillig. Dennoch ist Peter Webhofer der Überzeugung, dass die Kurs-
teilnehmenden eher bereit sind, sich auf Weiterbildungen einzulassen, da sie
Lernen - vielleicht das erste Mal in ihrem Leben - als etwas Positives erfahren
haben, das ihnen was bringt, das ihr Weltbild verändert und ihnen Horizonte
eröffnet817:
Grundsätzlich glaube ich schon, dass die Personen, die jetzt bei uns so diese Grundkenntnisse auffrischen, eher bereit sind, sich in Weiterbildungen, auf neue Weiterbildungsgeschichten einzulassen. Sehr oft sind halt diese Weiterbildungen irgendwie für diese Zielgruppe auch funktional sehr stark dominiert. Das heißt, das ist ein AMS-Kurs,
816 Peter Webhofer gibt dabei zu bedenken, dass der Anspruch, dass jeder Mensch weiterlernen und mit dem lebenslangen Lernen beginnen muss, dieser Personengruppe eher schadet als nützt, weil sie häufig damit überfordert sind. 817 Peter Webhofer wies darauf hin, dass die Teilnahme am Weiterbildungsangebot anderer Bildungsanbieter wegen der entstehenden Kosten und der neuerlich zu überwindenden Hemmschwelle für die Teilnehmenden vermutlich noch schwierig ist.
235
wo sie halt dann irgendwie reingeschickt werden oder das ist sonst irgendeine Ausbildung, die sie machen müssen, die sie oft nicht freiwillig machen. Aber ich glaube, wir tragen schon stark dazu bei, dass einfach Lernen das erste Mal im Leben vielleicht als etwas Positives gesehen werden kann, das was bringt, das das Weltbild verändert, das Horizonte aufmacht.(Peter Webhofer, Zeile 444-453)
Sozialgefüge
Eine sehr motivierende Erfahrung für die Kursteilnehmenden ist das
soziale Erlebnis, weil sie hier Personen treffen, die ein gleiches Schicksal teilen
und mit denen sie sich austauschen können. Diesen Aspekt des Sozialen
bezeichnete Peter Webhofer als ihr mögliches Gegenprogramm, das die
Teilnehmenden zum Kursbesuch motivieren kann, wenn auch der Lernerfolg
sehr niedrig ist oder ausbleibt:
Was häufig auch als Lernerfahrung passiert oder als Motivation für den Kurs passiert ist, wenn die Lernerfahrung ausbleibt, dann trotz allem das soziale Erlebnis. Das merken wir sehr stark bei Teilnehmern, die kommen jetzt weniger deshalb, dass sie vier S-Schreibungsregeln oder vier S-Fehler nicht mehr machen, sondern die kommen sehr häufig deshalb, weil sie da Personen getroffen haben in den Kursen, die ein gleiches Schicksal teilen, die sich auch austauschen wollen und so weiter und so fort. Also dieser Aspekt des Sozialen ist eine ganz starke Triebfeder dann auch, wenn auch der Lernerfolg einmal ausbleibt. Und das ist so vielleicht unser Gegenprogramm dazu, dass wir versuchen, wenn der Lernerfolg sehr niedrig ist, wenn er ausbleibt, wenn es so Durstphasen gibt, dass wir dann aufgrund dieses Sozialgefüges dann trotz allem die Leute motivieren können, weiterhin zu kommen. (Peter Webhofer, Zeile 308-320)
Positive Lernerfahrungen
Ganz wesentlich für die Teilnehmenden ist es, geliebt - was vielleicht
einwenig zu hoch gegriffen sein mag - aber angenommen und akzeptiert zu
werden, formulierte Peter Webhofer. Seiner Erfahrung nach ist das für relativ
viele Teilnehmende ein vollkommen neues Erlebnis, erstmals nicht nur als
Außenseiter betrachtet zu werden:
Aus meiner Erfahrung ist es ganz stark das, der Punkt geliebt, angenommen, akzeptiert zu werden. Geliebt ist vielleicht ein bisserl zu hoch gegriffen, aber so das angenommen und akzeptiert zu werden. Wir haben relativ, also aus meiner Erfahrung relativ viele TeilnehmerInnen immer wieder gehabt, die das in ihrem ganzen Leben überhaupt noch nie erlebt haben, wie das ist, wenn sie nicht nur als Außenseiter angesehen worden sind. (Peter Webhofer, Zeile 211-216)
Die Teilnehmenden wollen in erster Linie als Menschen wahrgenommen
und in sehr langsamer und persönlicher Art und Weise wieder mit dem Lesen
236
und Schreiben konfrontiert werden, äußerte Peter Webhofer. Ihre Angst zu
Beginn ist groß, dass es so wie in der Schule mit Tests weitergeht. Eine erste
wichtige Erfahrung ist oft die, wo sie merken, dass der Kurs vielleicht
einwenig etwas anderes ist, ihre negativen Schulerfahrungen sich nicht, wie
befürchtet, fortsetzen und vor allem auch, dass die Leute sie hier mögen:
Ich glaube, dass das ein ganz ein zentraler Punkt ist, zu sagen, die Teilnehmer erwarten sich schon, dass sie Lesen und Schreiben lernen, natürlich, aber die Teilnehmer mögen in erster Linie einfach als Menschen dort wahrgenommen werden und in einer sehr langsamen Art und Weise und sehr persönlichen Art und Weise mit dem Lesen und Schreiben wieder konfrontiert werden. Also das ist oft so eine große Angst, wenn Leute zu uns kommen, dass die glauben: „Da geht die Geschichte jetzt so weiter, wie es in der Schule angefangen hat und ich muss da einen Test schreiben und um Gottes willen was passiert, wenn ich da einen Fehler mache“. Und das ist dann oft so der erste große wichtige Punkt, wo sie merken: Na ja, es ist möglicherweise ein bisserl etwas anderes und die Leute mögen mich“. Das ist auch ein wichtiger, ganz wichtiger Punkt. (Peter Webhofer, Zeile 216-227)
Oft haben die Teilnehmenden noch nie positive Lernerfahrungen mit dem
Lesen, Schreiben und Rechnen gemacht. Um ihre negativen Lernerfahrungen
und Ängste zum Großteil auszugleichen, besteht, nach der Überzeugung von
Peter Webhofer, die zentralste Herausforderung darin, ihre negative Selbst-
einschätzung ins Wanken zu bringen. Dies geschieht meist, wenn er ihnen auf
einen ersten Text eine postive und ermutigende Rückmeldung gibt, dass das
Geschriebene gar nicht so schlecht wäre. Die Teilnehmenden überlegen sich
dann möglicherweise, dass sie doch nicht so schlecht sind, wie sie immer
angenommen hatten:
Also diese negativen Lernerfahrungen, die kann ich nur sehr sehr stark unterstreichen. Die Personen kommen oft zu uns und haben noch überhaupt nie erlebt, wie es ist, etwas zu können also im schriftsprachlichen Bereich oder im Bereich des Lesens oder auch der Mathematik. Die haben noch nie positive Lernerfahrungen gemacht und das ist so eigentlich die zentralste Herausforderung überhaupt einmal auch den Leuten einmal zu sagen: „Na ja, so schlimm ist es nicht“. Ich habe das immer so gehalten, wenn ich so einen ersten Text in der Hand gehabt habe von Leuten, der halt so ein bisserl von Rechtschreibfehlern und sonstigen grammatikalischen Geschichten gestrotzt hat und man hat die Rückmeldung gegeben: „Du so schlecht ist es ja gar nicht, wie du das glaubst“, dass diese Selbsteinschätzung ein bisserl mal über den Haufen geworfen wurde und dann hat man meistens eine Kettenreaktion ausgelöst. Das war ganz lustig zu beobachten, wo man dann gesehen hat, aha möglicherweise überlegen sich die Leute jetzt: „Na ja, bin ich doch nicht so schlecht, wie ich mir das immer gedacht habe? Das sagt mir jetzt ein Lehrer oder ein Trainer, dass das eigentlich gar nicht so schlecht ist“. Und dadurch hat
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man einmal einen Großteil dieser Ängste und negativen Erfahrungen dann wieder wettgemacht. (Peter Webhofer, Zeile 233-250)
Ein wesentlicher Punkt für die Motivation der Teilnehmenden ist, ihnen im
Kurs möglichst viele sehr niederschwellige, kleine positive Lernerfahrungen zu
vermitteln. Peter Webhofer fiel auf, dass es nötig ist, ihnen ihre Fortschritte
aufzuzeigen, da sie sie häufig selbst nicht sehen können, weil ihr Blick ein
sehr negativ gerichteter ist. Durch zwei von ihnen zu verschiedenen Zeiten
geschrieben Texten, sollen die Teilnehmenden in den Reflexionsgesprächen
erkennen, was sie dazugelernt haben und dass sie was dazugelernt haben:
Und ich glaube, der Punkt ist dann der, im Laufe des Unterrichts oder des Kurses einfach möglichst viele sehr niederschwellige, kleine positive Lernerfahrungen zu vermitteln. Das ist so ein zentraler Aufgabenbereich des Alphabetisierungstrainers, der Trainerin, dass sie immer wieder kleine Lernerfahrungen, wie klein die auch immer sind, erstens den Teilnehmern vermittelt und zweitens die TeilnehmerInnen auch so weit bringt, diese Lernerfolge, diese kleinen Geschichten zu sehen. Das ist oft ein Punkt, der mir sehr stark aufgefallen ist. Wenn man so nach einem Jahr oder einem halben Jahr mit Teilnehmern Reflexionsrunden eingezogen hat, haben die gesagt: „Na ja, so viel gelernt habe ich nicht“. Und wenn ich dann zwei Texte gehabt habe, den einen vom Jänner und den anderen vom Juli, haben sie dann gesehen: „Nein um Gottes willen, das hätte ich damals nie und nimmer so schreiben können“. Das heißt, es geht auch ein Stück weit darum einfach den Leuten zu zeigen, was sie dazugelernt haben und dass sie was dazugelernt haben. Da ist oft der Blick nicht da, weil er ein sehr negativ gerichteter ist, halt weil ihnen das noch nie jemand auch vermitteln hat können oder weil sie das auch nie sehen haben dürfen, dass sie gewisse Fortschritte machen. Und das ist so das, was Alphabetisierung eigentlich ausmacht, diese kleinen Fortschritte einfach sichtbar zu machen und daraus Motivation für die Teilnehmer oder daraus Motivationsanlässe eigentlich für die Teilnehmer ableiten zu können. (Peter Webhofer, Zeile 250-270)
Positive Lernerfahrungen der Teilnehmenden sind auf unterschiedlichsten
Wegen möglich. Sehr erfolgreich war der Versuch, gemeinsam mit einigen
Lernenden eine Literaturzeitschrift als Projekt zu entwickeln, erzählte Peter
Webhofer. Eigene Texte für die Zeitschrift zu schreiben, sie zu gestalten und
herauszugeben, ist für diese Gruppe nach wie vor sehr motivierend:
Der interessanteste Teil war eigentlich ein lustiger Versuch, nämlich ich habe probiert mit den Teilnehmern eine Zeitung als Projekt zu gestalten und durchzuführen. Also wo ich immer davon ausgegangen bin, dass es möglich sein könnte Personen, die jetzt nicht gut lesen und schreiben können, zum Lesen und Schreiben zu motivieren, indem sie eigene Texte schreiben. Und ich habe dann eine Literaturzeitschrift - das ist jetzt ein bisserl hochgestochen - einfach gegründet mit ihnen, habe das als Projekt gemeinsam entwickelt und die ist mittlerweile österreichweit downloadbar. Wir basteln gerade an der 7. Auflage. Und
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das ist eine irrsinnig starke Motivationsgeschichte immer noch für diese Gruppe, die das entwickelt hat. (Peter Webhofer, Zeile 88-97)
Die Teilnehmenden haben unterschiedliche Lern- und Lehrbedürfnisse,
daher muss sehr individuell erforscht werden, was die jeweiligen Personen
motiviert, was sie brauchen, wo ihre persönlichen Schwächen sind und auch
ihre Stärken, auf die sehr schnell aufgebaut werden kann. Eine individuelle,
persönliche Betreuung ist der Schlüssel zu erfolgreichen Lernerfahrungen, hob
Peter Webhofer hervor, wie auch ein möglichst selbsttätiger, realitätsnaher,
inhaltlich am persönlichen Leben der Teilnehmenden orientierter Unterricht:
Es gibt TeilnehmerInnen bei uns, die brauchen eine sehr starke LehrerInnenpersönlichkeit, die dann denen zumindest zeitweise sagt, wie was und wann passieren muss. Es gibt auch Leute bei uns, die sehr frei arbeiten können und ihre Lernerfahrungen am besten dann machen, wenn sie selber sehen, was sie geleistet haben. Der Punkt ist der, dass wahrscheinlich diese Frage nicht eindeutig mit einer Methode beantwortet werden kann, sondern mit einer Einstellung eigentlich nämlich, dass man sehr individuell schauen muss und forschen muss fast, was motiviert die Personen, was brauchen die Personen, wo sind ihre persönlichen Schwächen und wo sind auch die Stärken, auf die man sehr schnell aufbauen kann. Also so ganz eine starke Individualisierung, eine ganz eine starke auch möglicherweise persönliche Betreuung ist sozusagen der Schlüssel zum Erfolg, würde ich jetzt sagen. Und je selbsttätiger natürlich und je realitätsnaher der Unterricht abläuft, desto besser ist es. Also je praxisnaher und je am richtigen persönlichen Leben orientiert die Inhalte sind, desto erfolgreicher wird wahrscheinlich Basisbildungsunterricht werden. (Peter Webhofer, Zeile 275-290)
Lesen und Schreiben zu lernen gelingt nicht - Kursbeendigung
Wenn Lernen nicht gelingt, wird es für die Trainerinnen und Trainer und
die Beteiligten meist relativ schwierig, erklärte Peter Webhofer. Realistisch
betrachtet wird es immer Teilnehmende geben, die Lesen und Schreiben, aus
welchen Gründen auch immer, selbst im Kurs nicht lernen können. Mit kleinen
Motivationsschritten wird versucht, die Teilnehmenden zu motivieren. Wenn
jedoch das Lernen nicht geht, weil z.B. irgendwelche komplexen Problemlagen
vorhanden sind, die derzeit nicht bearbeitbar sind oder wofür vielleicht die
Trainerinnen oder Trainer die falschen Ansprechspartner sind, bieten sie den
Erwachsenen auch an, den Kurs zu beenden. Manche beenden den Kurs auch
selber, wenn sie nach einem halben Jahr keinen Lernerfolg bemerken:
Ja, was passiert, wenn es nicht gelingt? Dann wird es meistens relativ schwierig, also für den Trainer und für die Beteiligten. Grundsätzlich muss man schon auch dazu sagen, dass es nicht gelingt, jedem Lesen und Schreiben beizubringen. Das wär ein sehr hohes Ziel, das schaffen
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wir nicht. Also da muss man auch irgendwie realistisch bleiben. Es wird immer Personen geben, die es halt aus welchen Gründen auch immer auch bei uns nicht erlernen können. (Peter Webhofer, Zeile 294-300)
Und wir versuchen so gut als möglich eben mit diesen kleinen Motivationsschritten die Leute zu motivieren, müssen allerdings auch zur Kenntnis nehmen, wenn jemand sagt: „Das geht nicht“. Oder wenn wir merken, das geht nicht, dass wir möglicherweise die falschen Ansprechpartner sind, dass es da irgendwelche komplexen Problem-lagen gibt, die für uns derzeit nicht bearbeitbar sind und bieten den Leuten dann auch an einmal, das auch zu beenden. Manche beenden es auch selber, wenn sie merken: „Da komme ich jetzt ein halbes Jahr und da wird gar nichts“, dann beenden sie das selber. (Peter Webhofer, Zeile 300-308)
Was im Kurs gelernt/dazugewonnen wurde und was angewendet wird
Der Kursbesuch kann persönliche Veränderungen bei den Teilnehmenden
bewirken.818 Peter Webhofer brachte dazu ein Beispiel:
Und das kann dann durchaus sein, dass - wir die Rückmeldung gekriegt haben einmal in der Obersteiermark von einer AMS-Beraterin: „Wir haben nicht mehr gewusst, was wir mit dieser Dame machen sollen und seitdem sie bei euch ist, ist sie zumindest so aufgeblüht, dass sie grüßt, dass sie relativ pünktlich kommt“ und so weiter und so fort. Das sind alles so kleine Randerfolge, die jetzt auf dem ersten Blick mit dem Lesen und Schreiben einmal nichts zu tun haben, die aber in den Kursen bei uns passieren. (Peter Webhofer, Zeile 342-349)
Sie haben mehr Sicherheit und weniger Angst, teilte Peter Webhofer mit.
Die Teilnehmenden sind sich sicherer, z.B. am AMS oder wenn sie etwas
ausfüllen müssen. Sie trauen sich mehr, trauen sich irgendwo anzurufen,
können Informationen nachschauen und tun sich oft im Alltag leichter. Ein
sehr wichtiger Punkt ist auch, dass ihre Selbstsicherheit kommt, dass sich
etwas zutrauen, eventuell einen neuen Beruf oder eine neue Perspektive. Sie
trauen sich zu, dass sie selber etwas bewegen können:
Ich denke mir, bei uns geht es sehr häufig um die Reduzierung von Angst. Das ist etwas, was die TeilnehmerInnen wahrscheinlich sehr schnell spüren und was wir auch zurückgemeldet kriegen: „Ich bin einfach sicherer, wenn ich zum AMS gehe“. „Ich bin sicherer, wenn ich irgendwo was ausfüllen muss“. „Ich traue mich jetzt irgendwo anrufen und kriege eine Information und weiß, wo ich ungefähr nachschauen kann“. Das heißt, diese Sicherheit und diese Angst, die sie dann nicht mehr haben, ist wahrscheinlich eine sehr starke Geschichte. Sie tun sich auch im Regelfall im Alltag einfach leichter. (Peter Webhofer, Zeile 385-393)
818 Peter Webhober regte an, den Fokus in der Alphabetisierung und Basisbildung, statt rein auf inhaltliche Dinge, die das Lesen und Schreiben betreffen, sehr stark auf die Veränderungen zu richten, die sich in einer Person ereignen.
240
Das ist, denke ich mir, ein sehr wichtiger Punkt, wo man einfach merkt, diese Selbstsicherheit kommt, das sich etwas zutrauen, möglicherweise sich einen neuen Beruf, eine neue Perspektive zutrauen, dass man selber etwas bewegen kann. Das ist eine starke Nutzengeschichte. (Peter Webhofer, Zeile 396-399)
Auf die Frage, ob die Teilnehmenden das Erlernte im Alltag anwenden,
beschrieb Peter Webhofer unterschiedliche Phänomene. Er berichtete von der
Wende mancher Teilnehmenden, die sich fast zu Nachwuchsschriftstellerinnen
oder Nachwuchsschriftstellern entwickeln. Viele versuchen selbstbewusster
oder das erste Mal private Angelegenheiten mit Schriftsprache zu erledigen,
die beispielsweise Erlagscheine ausfüllen oder eine Zeitung lesen. Sie tun im
Alltag mehr im schriftsprachlichen Bereich und beschäftigen sich mehr damit:
Wir haben da unterschiedliche Phänomene. Wir haben TeilnehmerInnen, die fast so zu NachwuchsschriftstellerInnen mutieren, sage ich jetzt einmal, die sehr viel schreiben, auch im privaten Bereich, auch um des Schreibens willen Texte schreiben. Wir haben viele Teilnehmer, die dann selbstbewusster oder das erste Mal so in ihrem Leben auch private Geschichten versuchen mit Schriftsprachlichkeit zu erledigen. Ob das jetzt das Ausfüllen von einem Erlagschein ist, ob das jetzt das Lesen von einer Zeitung ist. Das heißt, es hat meistens Auswirkungen so im ganz normalen Alltagsleben, wo man wirklich merkt, die Teilnehmer tun mehr schriftsprachlich. Sie tun sich mehr mit Schriftsprachlichkeit beschäftigen. (Peter Webhofer, Zeile 403-412)
Analyse des Interviews mit Frau Brigitte Bauer819
Lerngründe:
Selbständig Leben, mehr Selbstwert, einen besseren Arbeitsplatz und Kinder
Aus den vielen verschiedenen Motiven lässt sich, den Ausführungen von
Frau Brigitte Bauer entsprechend, ein Grundmotiv erkennen, der Wunsch nach
einem selbständigen Leben, nach mehr Selbstwert und einem bestärkten
Selbstwertgefühl. Statt sich zu verstecken und immer jemanden fragen zu
müssen, wollen die Erwachsenen ein selbstbestimmtes Leben führen können:
Da gibt es ganz viele verschiedene Motive, also Wünsche, Bedürfnisse alles ganz verschieden. Es gibt natürlich ein Hauptziel oder ein Grundmotiv, das immer wieder auftaucht, das ist dieses selbstständige Leben, auch dieser Wunsch nach mehr Selbstwert, nach einem bestärkten Selbstwertgefühl, das wird von ganz vielen wirklich dezidiert formuliert: „Ich fühle mich so klein. Ich möchte selbstbestimmt mein Leben führen. Ich habe genug davon, dass ich
819 Siehe Anhang, Seite 24-31.
241
jemanden immer fragen muss. Ich habe genug von dem Verstecken“. (Brigitte Bauer, Zeile 382-388)
Der zweitmeistgenannte Lerngrund ist der Wunsch nach einem besseren
Arbeitsplatz. Vor allem Frauen, betonte Brigitte Bauer, wollen ihre Kinder in
der Schule unterstützen können, um ihnen dasselbe Schicksal zu ersparen:
Auch der Wunsch nach einem besseren Arbeitsplatz, das ist wirklich immer auch so gleich der zweitmeistgenannte Punkt. Sie wollen ihren Kindern dasselbe Schicksal ersparen, das kommt sehr oft vor, vor allem von Frauen, die ihre Kinder in der Schulzeit unterstützen wollen. Das sind so die Hauptmotive, ja. (Brigitte Bauer, Zeile 388-392)
(Lern-)Erfahrungen:
Zukünftige Lerninteressen – Übergangsmodul Schreiben, Lesen auffrischen und sich selbst entdecken, Englisch- oder Gitarrekurs
Viele, wenn auch nicht alle, absolvieren weitere Kurse, wobei Brigitte
Bauer ein gemeinsames Übergangsmodul mit der Volkshochschule in Salzburg
erwähnte, dass den Teilnehmenden ermöglicht, in einem öffentlichen Rahmen
Schreiben und Lesen aufzufrischen und sich selbst zu entdecken. Die Leiterin
dieses Übergangsmoduls ist zugleich auch für den externen Hauptschul-
abschluss zuständig. Sie bietet den Teilnehmenden des Übergangmoduls an,
weiterführende Ausbildungen zu besuchen. Manche nehmen dann an einem
Englisch- oder Gitarrekurs teil, gab Brigitte Bauer an, aber sie gehen wieder in
die Öffentlichkeit und sind nicht mehr so isoliert:
Das heißt, sie bietet dann auch den Leuten, die diesen Kurs besuchen an, einmal zu schnuppern und zu schauen, ob nicht eine weiter-führende Ausbildung für sie interessant wäre, bzw. manche machen dann einen Englischkurs, es gibt andere, die machen einen Gitarrekurs, aber sie gehen wieder in die Öffentlichkeit, sie besuchen öffentliche Räume, sie sind nicht mehr so isoliert. (Brigitte Bauer, Zeile 449-454)
Positive Lernerfahrungen
Nach den Worten von Brigitte Bauer ist es für die Teilnehmerinnen und
Teilnehmer sehr wichtig, dass sie mit ihren Wünschen und Bedürfnissen ernst
genommen werden und auch Rücksicht auf ihre Möglichkeiten genommen
wird. An erster Stelle steht daher die Zusammenarbeit der Trainerinnen und
Trainer mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, ein partnerschaftlicher
Umgang und die individuelle Betreuung:
Das Wichtigste ist, dass sie ernst genommen werden, dass sie individuell betreut werden, dass es einen partnerschaftlichen Umgang gibt, dass es ein Zusammenarbeiten gibt, ein Ernstnehmen ihrer Wünsche, ihrer Bedürfnisse, ein Rücksichtnehmen auf ihre Möglich-
242
keiten, sonst ist Lernen gar nicht möglich. (Brigitte Bauer, Zeile 279-283)
Die Erwachsenen müssen in der ersten Lerneinheit schon gemerkt haben,
dass sie lernen können und sie müssen sich irgendetwas mitnehmen können,
hob Brigitte Bauer hervor, etwas, was sie zuvor nicht gewusst haben und was
sie nun mit Sicherheit wissen:
Einer von unseren Eckpfeilern im „abc“ ist wirklich das, dass die Erwachsenen, die da sozusagen zur ersten Lerneinheit herkommen, also die Erstgespräche sind da schon vorbei, dass sie wirklich so hinausgehen müssen, dass sie schon gemerkt haben, dass sie lernen können. Sie müssen sich irgendetwas mitnehmen können, wo sie sagen können: „Das habe ich gelernt. Ich habe mir das gemerkt. Das ist etwas, was ich vorher nicht gewusst habe und das weiß ich jetzt und das weiß ich mit Sicherheit und da gibt es keine Unsicherheiten“. (Brigitte Bauer, Zeile 289-296)
Im Erstgespräch gilt es zu erfahren, wo die Bedürfnisse und Kenntnisse
der Kursinteressenten grob liegen, bemerkte Brigitte Bauer. In der ersten
Einheit ist es wesentlich, einen Punkt zu finden, an den man andocken kann,
damit ihnen neue, positive Lernerfahrungen möglich werden. Das bedeutet,
möglichst natlos an ihrem vorhandenen Wissensstand und ihren Kenntnissen
anzuknüpfen:
Das ist möglich und das ist dann möglich, wenn in den Erstgesprächen aufmerksam zugehört worden ist. Wenn man im Erstgespräch eine Atmosphäre schafft, dass man erfahrt möglichst, wo die Bedürfnisse liegen und wo die Kenntnisse auch so grob liegen. Sie können sich ja gut beschreiben in ihrem Alltagsleben. Und dann muss man natürlich in der ersten Einheit einen Punkt finden, wo man genau andocken kann, also einen Punkt finden, zu dem man Brücken schlagen kann, dass eine neue Lernerfahrung oder eine erste positive Lernerfahrung möglich ist. Das heißt, den Unterricht so machen, dass man nahtlos an das vorhandene Wissen und den Kenntnisstand anknüpfen kann und wenn es nur in einem ganz kleinen Teilbereich ist, aber das soll wirklich halten, das soll nahtlos anschließen. (Brigitte Bauer, Zeile 296-306)
Brigitte Bauer setzt dabei zu Beginn auf Einzelunterricht und erst später
auf die Gruppenarbeit, um die individuelle Betreuung zu gewährleisten:
Jeder und jede braucht, sucht was anderes, hat andere Lernerfahrungen, hat einen anderen Erfahrungshintergrund, hat einen anderen Kenntnisstand, Wissensstand. Ideal ist der Einzelunterricht. Da widme ich mich einer Person, da kann ich zurückfragen als Trainer, als Trainerin und wenn ich aus einer Methodenvielfalt schöpfen kann, dann werde ich auch das Passende finden, das wirklich das Lernen vorantreibt, beflügelt und auch Spaß macht, dass gemeinsam gelernt wird. (Brigitte Bauer, Zeile 309-315)
243
Positive Lernerfahrungen sind schwierig oder gar nicht möglich - mit dem Kurs aufhören
Es kann daran liegen, dass der Punkt nicht gefunden wurde, wo an das
vorhandene Wissen und Können angeschlossen werden kann. Das lässt sich,
so erläuterte Brigitte Bauer, dann sehr schnell wieder aufheben:
Kaum passiert es - also ich sage jetzt einmal, am schnellsten findet man halt dann wirklich den Punkt, wenn es daran liegt, dass ich vielleicht irgendwo falsch angeschlossen habe. Erstens merke ich es gut und gern, bzw. man hat ja dann auch so ein Vertrauensverhältnis, dass die Kursteilnehmer dann sagen: „Nein, also das ist mir jetzt wirklich zu schwierig. Da weiß ich jetzt nicht, was du meinst“ oder so. Also das lässt sich dann auch am schnellsten eigentlich wieder aufheben, wenn es uns zwei betrifft, weil es ja auch dieses Vertrauensverhältnis gibt und auch meine Bitte immer wieder, mir sofort zurückzumelden, wenn irgendwas nicht passt. (Brigitte Bauer, Zeile 351-360)
Von Seiten der Teilnehmenden kann Lernen nicht möglich sein, wenn sie
voller Sorgen oder halb krank sind beispielsweise und wenn großer Druck in
ihrer Arbeit oder zuhause auf ihnen lastet:
Es gibt ganz viele verschiedene Möglichkeiten. Es kann auch einfach daran liegen, dass – es gibt Tage, da kann man sich nicht so konzentrieren, da ist Lernen nicht wirklich so möglich, auch im Kurs hier, weil man voller Sorgen ist oder weil man halb krank ist. (Brigitte Bauer, Zeile 327-330)
Schon psychische Belastung, das ist oft auch so, wenn daheim wirklich - wenn sie unter einem großen Druck stehen, weil die Arbeitssituation so schwierig ist oder weil es daheim gerade so schwierig ist, da ist Lernen wirklich auch schwierig. (Brigitte Bauer, Zeile 348-351)
Manchmal können auch äußere Faktoren die Ursache für einen Lernstill-
stand sein, erwähnte Brigitte Bauer in einem Beispiel:
Ich habe auch einen Kursteilnehmer schon einmal gehabt, der ist wirklich, also der hat das selber auch festgestellt, da ist es wirklich zu einem Lernstillstand gekommen. Das waren Faktoren, die einfach, sage ich jetzt einmal, von außen beeinflusst waren. Er hätte quasi bei uns so viel lernen sollen, dass er an einem Lehrgang teilnehmen kann oder an einem Kurs, einen weiterführenden, den er eigentlich nicht machen wollte, aber der Arbeitgeber wollte, dass er ihn macht. Das heißt, wenn er bei uns noch mehr Lernfortschritte gemacht hätte, hätte er den wirklich besuchen müssen. Und das ist halt dann ideal, wenn man psychologische Beratung hat – also wir haben kursbegleitende psychologische Beratung durch eine Therapeutin. Diese Beratungs-stunden hat er in Anspruch genommen. Das ist so ein typisches Beispiel von – er ist dann draufgekommen, er will den Kurs eigentlich gar nicht machen und es ist genug, was er gelernt hat und er hat einfach sehr sehr viel gelernt. Der Kurs war nicht mehr nötig und es war einfach ein Gespräch mit dem Arbeitgeber nötig oder mit der
244
Arbeitgeberin. Das ist auch eine Möglichkeit, wie es dann zu Lernstillstand kommen kann. (Brigitte Bauer, Zeile 330-346)
Brigitte Bauer unterstreicht, dass bisher durch die individuelle Betreuung
nie jemand aufgehört hat, weil ihr oder sein Lernversuch gescheitert wäre:
Durch diese individuelle Betreuung, da ist – da gibt es - es hat auch bei uns nie wer aufgehört, weil er gesagt hätte, da wäre was – also dieser Lernversuch ist gescheitert. Also ich sage, ich kenne das auch nicht wirklich. Ich kenne es wirklich nicht. (Brigitte Bauer, Zeile 371-375)
Was im Kurs gelernt/dazugewonnen wurde und was angewendet wird
Brigitte Bauer erzählte von Teilnehmenden, die voller Freude jetzt ihrem
Enkelkind in der Schule helfen und auch eine Gutenachtgeschichte ohne Angst
vorlesen können. Auch wenn sie keine weiterführenden Kurse besuchen,
haben wirklich alle Freude am Lernen gefunden:
Andere wiederum beschränken sich darauf, dass sie sich freuen, dass sie ihrem Enkelkind jetzt wirklich in der Schule helfen können und auch einmal die Gutenachtgeschichte immer vorlesen können, ohne dass sie Angst haben, sich zu verlesen. Die besuchen keine weiterführenden Kurse. Aber was wir auch in unseren Evaluationen immer abfragen, das ist, ob sie Freude am Lernen gefunden haben und das wird wirklich durchgängig mit ja beantwortet. (Brigitte Bauer, Zeile 454-460)
Es kann sich durch den Kursbesuch sehr viel im Leben der Teilnehmenden
verändern und es verändert sich auch sehr viel, hob Brigitte Bauer hervor.
Veränderungen, die über das Erlernen der Schriftsprache hinausgehen, die
den Teilnehmenden ermöglichen, geeignete Strategien zu entwickeln, um im
Leben besser durchzukommen. Sie erfahren sich im Kurs selbst als Lernende
und erkennen, dass sie nicht, wie geglaubt, zu dumm dazu sind. Das eröffnet
ihnen Schritt für Schritt den Zugang zu einem selbstbestimmten Leben:
Es geht um Strategien im Leben, um: „Wie komme ich besser durch?“, aber schon auch was allein dieses Erlebnis ausmacht: „Ja, ich bin eine Lernende“ und „Nein, ich bin nicht, wie gemeint, eine und womöglich die Einzige, die es nicht geschafft hat, weil ich immer geglaubt habe, ich bin zu dumm zum Lernen“. Also allein dieses, was es ausmacht, zu merken: „Ich bin eine Lernende. Ich bin nicht zu dumm. Ich muss es nur einmal gescheit erklärt kriegen und ich kann mir ganz viel selbstständig erarbeiten“. Das öffnet Türen in jeglichem Bereich. Also, heißen tut das einfach wirklich Schritt für Schritt den Weg in ein selbstbestimmtes Leben zu gehen. (Brigitte Bauer, Zeile 400-409)
Es kann für die Teilnehmenden eine Trennung bedeuten, ein Lösen aus
einer Abhängigkeitsbeziehung, da sich ihnen erst jetzt die Chance bietet, es
alleine zu schaffen:
245
Es ist wirklich so und das kann alles Mögliche auslösen. Das kann auslösen Trennungen von Beziehungen, die keine Liebesbeziehungen waren, sondern nur mehr Abhängigkeitsbeziehungen und die halt irgendwie aufrecht erhalten worden sind und jetzt sieht man die Chance, dass man sich allein durchs Leben werkt und das wirklich allein schafft, erstmalig die Möglichkeit. (Brigitte Bauer, Zeile 409-414)
Verändern kann sich auch, dass die Teilnehmenden eine Arbeit oder einen
besseren Arbeitsplatz finden. Sie können jetzt vor anderen Personen Einträge
machen, ohne sich zu genieren. Bei allen Teilnehmenden lässt sich feststellen,
dass das Lernen im Kurs den auf ihnen lastenden Druck verringert und es sie,
wie Brigitte Bauer formulierte, beflügelt:
Und es kann auch heißen, wirklich einen besseren Arbeitsplatz oder einen Arbeitsplatz überhaupt zu finden. Es kann auch nur heißen, endlich einmal in Ruhe mit meinen FreundInnen auf den Berg gehen und wissen, ich kann jetzt in das Hüttenbuch neben meinen FreundInnen einen Eintrag machen, ohne dass ich mich genieren muss. Es wird ganz viel Druck genommen und es beflügelt, also das kann man durchgängig bei allen Kursteilnehmerinnen und Kursteil-nehmern feststellen. (Brigitte Bauer, Zeile 414-420)
Basisbildung lässt die Chancen steigen, einen Arbeitsplatz zu finden und
eigenes Geld zu verdienen, aber es führt nicht zwingend zu einer Arbeitsstelle.
Brigitte Bauer erzählte, dass im letzten Projekt vier von achtzehn Frauen
einen Arbeitsplatz gefunden haben. Andere wieder schaffen es endlich, sich
vor den eigenen Freunden zu outen und sind nun diesen Druck los:
Es gibt in Österreich noch kein Grundgehalt und Basiseinkommen und so lange das so ist – ich kann schon sagen, dass Basisbildung führt nicht zwingend zu einem Arbeitsplatz, das ist nicht so, also da würden wir unseren KursteilnehmerInnen was vorlügen, aber die Chancen steigen, dass ich einen Arbeitsplatz finde. Das ist wirklich so und das haben wir auch in den Projekten, also im letzten gerade gesehen. Da haben vier Frauen von achtzehn einen Arbeitsplatz gefunden, was wirklich ein sehr gutes Ergebnis ist, was ja eher schon ein Traumergebnis ist, aber was eben auch möglich ist. Und das ist jetzt nicht so, das sage ich jetzt einmal, das freut mich mindestens so, wenn ich weiß, das ist eigentlich der sehnlichste Wunsch, dass ich einmal endlich mein Geld verdiene, als wenn eine andere Frau sagt, sie hat sich jetzt endlich geoutet ihren Freundinnen gegenüber und ist diesen Druck los. Also, das sind alles Feste, die zu feiern sind. (Brigitte Bauer, Zeile 252-264)
Wichtig ist, dass die Teilnehmenden sich außerhalb des Kurses trauen, ihre
Schriftsprachkenntnisse anzuwenden und sich möglichst viele Gelegenheiten
suchen, um in Gegenwart anderer zu schreiben. Brigitte Bauer erwähnte hier,
dass sie beginnen, für andere Notizen zu schreiben und Erlagscheine im
246
öffentlichen Raum auszufüllen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhalten
viele Arbeitsaufgaben für zuhause, die sie ebenfalls dabei unterstützen:
Eben ganz bewusst Notizen schreiben für andere, ganz bewusst – es gibt Kursteilnehmer, die gehen auf die Post und füllen dort Erlagscheine im öffentlichen Raum aus, weil sie wissen, sie wollen das jetzt üben - nebenbei gehen Leute vorbei - und sie wollen einmal endlich von diesem Stress wegkommen. Zusätzlich, dass sie halt auch wirklich viel Arbeitsaufgaben mit nach Hause bekommen, die selbstständige Kontrolle erlauben, das heißt: Auslagern aus dem Kursraum ist einer von unseren Eckpfeilern, weil es nichts nutzt, wenn im Kursschonraum alphabetisiert wird oder jemand Basisbildung sich erarbeitet und draußen dann, sich nicht traut anwenden. (Brigitte Bauer, Zeile 427-436)
Einige Gemeinsamkeiten und Besonderheiten:
Die Motive, um im Erwachsenenalter mit einem Basisbildungskurs zu
beginnen, sind, nach den Erfahrungen von Sonja Muckenhuber, hauptsächlich
ein immenser Leidensdruck, Ängste - vor allem die Angst entdeckt zu werden,
Kinder und wirtschaftliche Notwendigkeiten, wie z.B. Arbeitslosigkeit oder die
Angst um den Arbeitsplatz. Die Erwachsenen verstecken sich und fürchten,
von ihren Partnerinnen und Partnern, Arbeitskollegen oder Kindern entdeckt
zu werden. Sie fürchten, sich vor ihren Kindern zu blamieren, aber noch viel
mehr fürchten sie, für ihre Kinder blamabel zu sein.
Diese Erwachsenen kommen nicht freiwillig in die Kurse, äußerten Sonja
Muckenhuber wie auch Peter Webhofer. Seine Kurse finden im arbeitsmarkt-
politischen Bereich statt, weswegen der Wunsch, wieder eine Arbeit zu finden
und beruflich weiter zu kommen, bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern
vorrangig anzutreffen ist. Ihre Kinder in der Schule unterstützen zu können,
stellt meist für Mütter einen wichtigen Lerngrund da, teilte Peter Webhofer
mit. Etwas häufiger wird in seinen Kursen nun das Motiv genannt, was für sich
tun zu wollen, um selber weiter zu kommen. Die Erwachsenen wollen auch
keine Angst mehr beim Ausfüllen von Formularen haben, da sie merken, dass
die Schriftsprachlichkeit zunimmt. Ein starkes Motiv für den Kursbesuch ist
ferner der Wunsch, soziale Kontakte zu finden, sich auszutauschen vermutlich
bis hin zur Partnerwahl. Lesen und Schreiben besser zu können ist hingegen
ganz selten ein Motiv, hob Peter Webhofer hervor.
Brigitte Bauer gab ein Hauptziel an, dass in ihren Kursen immer wieder
genannt wird, den Wunsch der Teilnehmenden nach einem selbstständigen
Leben, nach mehr Selbstwert und einem bestärkten Selbstwertgefühl. Sie
wollen ihr Leben selbst bestimmen können, nicht mehr ständig andere fragen
247
müssen und es nicht mehr nötig haben, sich zu verstecken. Der zweitmeist-
genannte Wunsch ist der nach einem besseren Arbeitsplatz. Ferner erwähnte
Brigitte Bauer, wie zuvor auch Peter Webhofer, dass vor allem Frauen ihren
Kindern in der Schule helfen wollen, um ihnen dasselbe Schicksal zu ersparen.
Zwei Personen sprachen die Gruppe an. Eine sehr wesentliche Erfahrung
für die Teilnehmenden ist das Sozialgefüge, erklärte Sonja Muckenhuber.
Kommen die Erwachsenen in die Kurse, wollen sie möglichst schnell und
perfekt Lesen und Schreiben lernen, doch schon nach einigen Wochen, sind
ihnen der soziale (Schon-)Raum, die entstandenen Freundschaften und der
Austausch gleichermaßen wichtig. Peter Webhofer erwähnte ebenfalls das
Sozialgefüge, das auf die Lernenden motivierend wirkt, wenn auch ihr
Lernerfolg einmal gering ist oder ausbleibt. Die Teilnehmenden kommen sehr
häufig in die Kurse, weil sie dort Personen mit gleichem Schicksal getroffen
haben, die sich auch austauschen wollen.
Seiner Ansicht nach ist für die Erwachsenen das Wichtigste im Kurs geliebt
– was vielleicht einwenig zu hoch gegriffen sein mag – aber angenommen und
akzeptiert zu werden, da viele das in ihrem ganzen Leben noch nie erlebt
haben, weil sie immer nur als Außenseiter angesehen worden sind. Sie
möchten im Kurs vor allem als Menschen wahrgenommen und in langsamer
und persönlicher Art und Weise wieder mit dem Lesen und Schreiben
konfrontiert werden. Ein erstes bedeutsames, angstreduzierendes Moment ist
ihre Erleichterung angesichts dessen, dass der Kurs anderes ist als sie, in
Erinnerung an ihre Schulzeit, zuvor befürchteten. Sehr wichtig ist auch ihre
Erfahrung, dass sie von den Leuten dort gemocht werden, betonte Peter
Webhofer. Für Brigitte Bauer ist das Wichtigste, dass die Erwachsenen mit
ihren Wünschen und Bedürfnissen ernst genommen und individuell betreut
werden und dass ein partnerschaftlicher Umgang gepflegt wird, in welchem
zusammengearbeitet und Rücksicht auf ihre Möglichkeiten genommen wird.
Um (erste) positive Lernerfahrungen der Erwachsenen zu begünstigen, ist
es nach der Überzeugung aller drei befragten Personen wesentlich, auf deren
vorhandenen individuellen Wissens- und Kenntnisstand aufzubauen. Brigitte
Bauer hält es ihrerseits für zentral, dass die Erwachsenen bereits in der ersten
Lerneinheit merken müssen, dass sie lernen können. Sie müssen sich etwas
gemerkt haben, was sie zuvor nicht wussten und was sie jetzt mit Sicherheit
wissen. Das gelingt, wenn im Erstgespräch die Bedürfnisse und Kenntnisse
der Erwachsenen aufmerksam erhoben werden und natlos an ihr vorhandenes
Wissen und Können angeknüpft wird. Sie setzt dabei auf Einzelunterricht zu
248
Beginn, Methodenvielfalt und bestens geschulte Trainerinnen und Trainer.
Unerlässlich für positive Lernerfahrungen ist, nach Sonja Muckenhuber, auf
den Ressourcen der Teilnehmenden aufzubauen, sie in ihrem Wissen und
Können zu bestärken und im „Versagen“, im Nichtereichen gesetzter Ziele,
aufzufangen. Sie fügte hinzu, dass im Kursablauf auch Zeit für Entspannung,
Spaß und Beziehungen eingeplant wird und zusätzlich das Klima zwischen den
Beteiligten stimmen sollte. Neben dem Vermeiden jedes schulischen Settings
betont sie ausdrücklich die Notwendigkeit geschulter Trainerinnen und Trainer
mit persönlichen Fähigkeiten, wie Empathie, die die Gradwanderung zwischen
Lernautonomie und dem Bedürfnis der Teilnehmenden nach Orientierung
beherrschen.
Peter Webhofer beabsichtigt zunächst die negative Selbsteinschätzung der
Erwachsenen durch eine positive Rückmeldung auf ihren ersten Text ins
Wanken zu bringen. Während des Kurses sollen ihnen möglichst viele kleine
positive Lernerfolge vermittelt werden, die ihnen aufzeigen, dass sie
Fortschritte machen und so zu Motivationsanlässen werden. Sie sollen
erkennen können, was sie gelernt haben und dass sie was gelernt haben. Er
berichtete außerdem von seinem erfolgreichen Projekt, wo er eine Literatur-
zeitschrift gemeinsam mit einer Gruppe Teilnehmender gegründet hat. Diese
Zeitschrift zu gestalten und herauszugeben sowie eigene Texte dafür zu
schreiben, ist für diese Gruppe nach wie vor sehr motivierend. Wesentlich für
den Lernerfolg ist es, individuell zu forschen, was die Erwachsenen motiviert,
was sie brauchen, wo ihre Schwächen liegen und auch ihre Stärken, auf die
rasch aufgebaut werden kann. Den Schlüssel zum Erfolg sieht Peter Webhofer
in einer ganz starken individuellen und persönlichen Betreuung und in einem
sehr selbsttätigen, realitätsnahen und inhaltlich praxisnah, am persönlichen
Leben orientierten Unterricht.
Unterschiedlich waren die Antworten der beiden Interviewpartnerinnen
und des Interviewpartners zu ihren Erfahrungen mit sich sehr lange nicht
einstellenden oder ausbleibenden Lernerfolgen bei den Teilnehmenden. Sonja
Muckenhuber nannte als mögliche Gründe dafür, dass es sein könnte, dass
das Konzept, die Methode oder das Thema für diese Person nicht gepasst hat
sowie vorhandene organische Ursachen. Brigitte Bauer erwähnte, dass sie
dann möglicherweise den Punkt zum Ansetzen nicht gefunden hat oder dass
äußere Faktoren, wie Krankheit, Sorgen, belastende Situationen in der Arbeit
oder zuhause den Teilnehmenden das Lernen erschweren. Beide sprachen von
kurzfristigen Missverständnissen bzw. kleineren, interimistischen Misserfolgen,
249
die vorkommen können und verwehrten sich gegen das in der Fragestellung
vorkommende Wort Scheitern, welches für Sonja Muckenhuber langfristig und
entgültig bedeutet.820 Sie hob hervor, sich nicht erinnern zu können, je mit
einem Teilnehmenden entgültig gescheitert zu sein, wobei sie jedoch
einräumt, dass das für die Teilnehmenden anders aussehen mag. Sie
bemerkte, es komme natürlich schon vor, dass ab und zu eine Person den
Kurs abbricht, allerdings ganz selten. In den Kursen von Brigitte Bauer hat
durch die individuelle Betreuung nie jemand aufgehört, weil der Lernerfolg
gescheitert wäre. Sie betonte, dass sie das nicht kenne und dass es da um ein
Scheitern am Lernen eigentlich nie gegangen ist.
Peter Webhofers Erfahrung ist, dass es meistens relativ schwierig für die
Trainerinnen und Trainer und für die Beteiligten wird, wenn das Lernen nicht
gelingt. Jeder Person Lesen und Schreiben beizubringen, bezeichnete er als
ein sehr hohes Ziel, das sie im Kurs nicht schaffen. Er erwähnte, dass es
immer Personen geben wird, die es, aus den verschiedensten Gründen, auch
bei ihnen nicht erlernen können. Die Teilnehmenden werden im Kurs mit
kleinen Motivationsschritten so gut als möglich motiviert. Wenn das nicht
geht, weil z.B. komplexe Problemlagen bestehen, die im Kurs zur Zeit nicht
bearbeitbar sind oder die Trainerinnen und Trainer möglicherweise die
verkehrten Ansprechspartner sind, so bieten sie diesen Personen auch an, den
Kurs zu beenden. Manche Teilnehmende beenden den Kurs auch selbst, wenn
ihr Lernerfolg über einen längeren Zeitraum ausbleibt. Scheitern gehört, nach
seinem Dafürhalten, zum Alltag der Trainerinnen und Trainer und zu ihrem
professionellen Zugang, auch wenn es nicht immer ganz leicht ist.821 Es ist ein
Teil des Lernens, ergänzte Peter Webhofer, denn: „Wenn man nicht scheitert,
wird man wahrscheinlich nicht sehr viel lernen können“.822 Er ist der
Überzeugung, dass es fast nicht möglich ist, dass eine Person gar nichts lernt,
dass das Gelernte aber nicht immer den Erwartungen der Trainerinnen und
Trainer entsprechen muss. Beispielsweise können auch Veränderungen in der
Person kleine Randerfolge im Kurs sein, nicht nur ihre Lernerfolge mit dem
Lesen und Schreiben.
Die Veränderungen, die sich durch das Erlernen des Lesens, Schreibens
820 Die Autorin war bei der Erstellung der Frage nicht davon ausgegangen. 821 Die Gegensätzlichkeit zwischen den Interviewantworten ist sehr interessant. Ob das an den unterschiedlichen Personengruppen liegt, an der freiwilligen oder unfreiwilligen Teilnahme oder an ganz anderen Dingen, müsste erst noch untersucht werden. 822 Interview Herr Peter Webhofer, Zeilennummer 326-327, S. 38, siehe Anhang.
250
und Rechnens im Leben der Teilnehmenden ereignen können, sind nach den
Worten Brigitte Bauers folgende: Die Erwachsenen können voller Freude ihren
Enkelkindern in der Schule helfen und ihnen ohne Angst etwas vorlesen. Sie
haben Freude am Lernen gefunden und Strategien entwickelt, besser durchs
Leben zu kommen. Es ist ihnen schrittweise möglich, ein selbstbestimmtes
Leben zu führen, weil sie sich im Kurs selbst als Lernende erfahren haben und
feststellen konnten, dass sie lernen können und nicht zu dumm dazu sind. Sie
sind jetzt imstande ihre Abhängigkeitsbeziehungen aufzugeben, da sie sich
zutrauen, es auch alleine zu schaffen. Sie können nun im öffentlichen Raum
neben anderen schreiben, ohne sich genieren zu müssen. Der Kursbesuch
erhöht ihre Chancen, wieder eine Arbeit zu finden und eigenes Geld zu
verdienen oder einen besseren Arbeitsplatz zu erlangen. Manche schaffen es,
sich den Freunden gegenüber zu outen, aber bei allen sinkt eindeutig der
Druck, der auf ihnen lastet, und sie werden beflügelt. Viele, wenn auch nicht
alle, beginnen mit weiterführenden Kursen, doch auf alle Fälle gehen sie
wieder in die Öffentlichkeit und sind nicht mehr so isoliert.
Nach Peter Webhofer zeigen sich die Veränderungen insbesondere in der
reduzierten Angst der Teilnehmenden und der größeren Sicherheit, wenn sie
z.B. zum AMS gehen oder irgendwo etwas ausfüllen müssen. Infolge ihrer
größeren Selbstsicherheit, beginnen sie, sich etwas zuzutrauen, beispielsweise
einen neuen Beruf, eine neue Perspektive und dass sie selbst etwas bewegen
können. Sie wenden die Schriftsprache selbstbewusster oder das erste Mal in
ihrem Leben an und tun sich damit im Alltag leichter. Einzelne werden fast zu
Nachwuchsschriftstellerinnen oder Nachwuchsschriftstellern, jedenfalls tun alle
nun mehr schriftsprachlich im Alltag und beschäftigen sich mehr damit. Nicht
jede und jeder lernt weiter, aber der Wunsch dazu existiert durchaus, weil
Lernen nun als positiv betrachtet wird und das Interesse an unterschiedlichen
Alltagsvorgängen und Weiterbildungsinhalten bei allen deutlich wächst.
Sonja Muckenhuber berichtete ebenso von der gewonnenen Sicherheit der
Erwachsenen und der größeren Wirklichkeit, die sie sich nun zu beschreiten
trauen. Sie erlangen mehr persönliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit, ein
höheres Selbstwertgefühl und größere Selbstsicherheit. Manche fühlen sich
auch wie ein anderer Mensch. Sie haben bessere Möglichkeiten, berufliche
Ziele zu erreichen und verfügen über eine größere berufliche Stabilität und
Flexibilität. Die Teilnehmenden wenden die im Kurs erlernten Fertigkeiten mit
großer Freude an. Alle haben Pläne und lernen weiter oder sie machen inner-
betriebliche Weiterbildungen.
251
SCHLUSSWORT
In dieser Arbeit habe ich mich ausführlich mit Alphabetisierung und Basis-
bildung befasst und beabsichtigt, geographische, historische, bildungs-
politische und gesellschaftliche Bezüge darzustellen sowie die persönlichen
Sichtweisen Erwachsener, die Lesen, Schreiben und Rechnen wieder erlernen,
einzubringen. Drei Fragen waren während der Bearbeitung tonangebend: Was
soll, wie gelingt und was bringt Alphabetisierung und Basisbildung? Eingangs
wurde durch unterschiedliche Definitionsansätze verdeutlicht, dass diese
kontext- und zeitabhängige Konstrukte sind, die willkürlich aus einer
bestimmten Perspektive und zumeist mit konkreten Absichten formuliert
werden. Illustriert wurde dies durch Geschichten, Gedichte und Berichte aus
einigen Ländern, die von Kollonialmächten besetzt wurden und durch die
internationalen Alphabetisierungsbestrebungen seit 1945.
Diese Arbeit stützt sich auf die Theorie Paulo Freires, der daran erinnerte,
dass Bildung niemals neutral ist. Das bedeutet: Bildung kann befreien, aber
auch unterdrücken und verlangt daher nach einer klaren Entscheidung, die in
der Einstellung und Haltung im Umgang mit den Lernenden deutlich wird.
Gegenüber den Traditionen in anderen Ländern steckt Alphabetisierung
und Basisbildung in Österreich noch in den Kinderschuhen. Zur Basisbildung
gehören hierzulande, nach einer Definition des Netzwerks „Basisbildung und
Alphabetisierung“, die Bereiche „Lesen, Schreiben, Rechnen und Umgang mit
dem PC“ sowie die „Fähigkeit des autonomen Lernens“.823 Die Vertreterinnen
und Vertreter des Netzwerks verstehen unter einer ausreichenden
Basisbildung das Niveau, „das einem guten Pflichtschulabschluss entspricht“,
ergänzt mit der „Kompetenz, sich selbstständig Wissen zu erarbeiten“.824
Untersuchungen der OECD und Schätzungen des Europäischen Parlaments
zufolge wird von 10-20% Erwachsenen ausgegangen, deren Lese- und
Schreibkenntnisse nicht für das Alltags- und Berufsleben ausreichen. Konkret
wären das „675.000 bis 1,4 Millionen“ Menschen im erwerbfähigen Alter in
Österreich, informiert das Netzwerk „Basisbildung und Alphabetisierung“.825
823 vgl. Netzwerk „Basisbildung und Alphabetisierung“ in Österreich. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/fileadmin/pdf/Infoarchiv/Definition_von_Basisbildung.pdf (29.06.2008). 824 vgl. ebd. 825 vgl. Netzwerk „Basisbildung und Alphabetisierung“ in Österreich. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/fileadmin/pdf/Infoarchiv/Zahlen_und_Fakten.pdf (29.06.2008).
252
Daneben werden bei bis zu 50% der erwachsenen Bevölkerung zu geringe
Kenntnisse im Rechnen angenommen. In diese Richtung weisen auch die
Resultate der PISA-Studie (2003), die offenbaren, dass 20% der getesteten
Jugendlichen (15-16 Jahre) gar nicht oder nicht sinnentnehmend lesen
können. Auch die PISA-Studie (2006) erbrachte, dass jede bzw. jeder fünfte
Jugendliche dieser Altersgruppe so geringe Kenntnisse im Lesen aufweist,
„,dass dadurch das private und gesellschaftliche Leben beeinträchtigt werden
kann‘“.826 Die genannten Zahlen unterstreichen, wie dringend notwendig
ausreichend Basisbildungsangebote in Österreich sind, die der betreffenden
Person, ihren Kindern (aufgrund der sozialen Vererbung) aber auch volkswirt-
schaftlich von enormen Nutzen sind.827
Meine Arbeit erforschte die Lerngründe und die (Lern-)Erfahrungen
Teilnehmender in Basisbildungsangeboten. Kenntnisse im Lesen, Schreiben
und Rechnen sind von großer Bedeutung in unserem gesellschaftlichen Leben.
Diese Fertigkeiten nicht ausreichend zu vermögen hat zur Folge, dass sehr
viele Erwachsene ein zurückgezogenes Leben in ständiger Furcht und unter
permanenten Druck führen. Das Lernen in den Kursen reduziert diese Ängste,
es ermöglicht den Erwachsenen ein selbstbestimmtes Leben zu leben, mehr
persönliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erreichen, es erhöht ihre
Chancen einen Arbeitsplatz zu finden, ihn zu halten oder zu verbessern, es
ermöglicht ihnen, ihren Kindern in der Schule zu helfen, an der Gesellschaft
teilzunehmen, ins lebenslange Lernen einzusteigen, Freundschaften zu
pflegen, ihren Interessen nachzugehen und vieles andere mehr. Das gelingt,
wenn genügend Basisbildungsangebote auch in den Regionen zur Verfügung
stehen und wenn das Lesen-, Schreiben- und Rechnen-Lernen nicht länger
nur auf die Kindheit beschränkt bleibt sondern das Recht auf (Basis-)Bildung
im Erwachsenenalter gesellschaftlich anerkannt wird. Dann erst wird diesen
Erwachsenen ein Leben ohne Angst und inmitten unserer Gesellschaft
möglich.
826 vgl. Netzwerk „Basisbildung und Alphabetisierung“ in Österreich. (Homepage) URL: www.alphabetisierung.at/fileadmin/pdf/Infoarchiv/Zahlen_und_Fakten.pdf (29.06.2008). 827 Zum volkswirtschaftlichen Nutzen siehe z.B.: BASS: Volkswirtschaftliche Kosten der Leseschwäche in der Schweiz. (Homepage) URL: www.lesen-schreiben-schweiz.ch/UserFiles/File/Zusammenfassung%20%20BASS%20April07_dt.pdf.
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