barents spektakel. frankfurter allgemeine zeitung

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Z4 Bilder und Zeiten Frankfurter Allgemeine Zeitung · 16. April 2011 · Nr. 90 FRANKFURTER ANTHOLOGIE Redaktion Marcel Reich-Ranicki D ass Liebe blind macht für das geliebte Objekt, wissen wir seit Plutarch, und dass in der deutschsprachigen Lyrik im- mer mehr Anglizismen verwendet werden, spätestens seit der Jahrtausendwende. Aber für manche Begriffe gibt es einfach keine stimmige Übersetzung: „blind date“ zum Beispiel ist so ein Fall, jene Bezeichnung für ein Treffen mit einer Person, die man vorher nur schriftlich oder telefonisch kontaktiert hat und die man sich im Hinblick auf eine mögliche Affäre, ein Ver- hältnis oder eine Partnerschaft genauer ansehen möchte. Das englische „blind“ bedeutet bekanntlich dasselbe wie das deut- sche „blind“, und hier schafft das Eigenschaftswort eine herr- lich doppeldeutige Ironie. Denn weniger „blind aus Liebe“ als bei so einem quasi abgekarteten Spiel, dem Eignungstest für die Partnerschaft nach gewissen Kriterien, kann man schwer sein. Fest steht, dass sich keines der großen Liebespaare der Weltliteratur auf diese Weise gefunden hätte. „Blind date“ findet sich in Doris Runges neuestem Gedicht- band „was da auftaucht“; der Text wird getragen von einer me- lancholischen Grundstimmung, wie sie typisch ist für Doris Runges lyrisches Temperament. Der Leser soll keinesfalls zu viel erwarten: „es muss ja nicht / gleich sein“, diese ersten bei- den Zeilen sparen das Wort „Liebe“ aus und drängen es da- durch umso mehr in den Sinn. Vielleicht, denkt man, könnte sie sich doch noch ereignen? Dies zumindest wird nicht ausge- schlossen, zumal die Dichterin den Dingen mit geradezu groß- zügiger Geste Zeit einräumt. Damit wird ganz nebenbei die Schnelligkeit der Bedürfnisbefriedigung kritisiert, die charak- teristisch für die heutige Konsumkultur geworden ist. Das Wort „nicht“ kommt zweimal vor, genauso häufig wie „keine“ („keine / liebe“, „jedenfalls keine / fürs leben“). Diese beiden doppelten Verneinungen bestimmen den interpunktionslosen und durchweg kleingeschriebenen Text: Was alles fehlt, davon handelt das Gedicht. Doch muss dies eigentlich so sein? Durch eine hübsche Ver- schiebung wird dem Alltag jedenfalls eine Poesie zugespro- chen, die umso ungeheuerlicher erscheint, je beiläufiger sie da- herkommt, nämlich „zwischen tür und / engel abflug“. Der be- liebte Ausdruck „zwischen Tür und Angel“ – wieder ein Hin- weis auf die Alltagshektik – wird lustvoll verändert, aus „An- gel“ wird „Engel“, fast könnte man sich verlesen, das englische Wort „angel“ fällt einem ein, aber es bleibt nicht dabei: „En- gels Abflug“ – so lautet für Doris Runge die präzise lyrische Verortung einer Zeit, in der alles Mögliche passieren könnte oder eben nicht. Das Hinterfragen jedes einzelnen Worts ist längst ebenso ein Kennzeichen Runges wie die Kürze der Gedichte. Die 1943 geborene Autorin, die bisher acht schmale Lyrikbände veröf- fentlicht hat, verzichtet auf alles sprachliche Blendwerk; sie hat das Weglassen zu ihrem poetischen Prinzip gemacht, sie spricht nur an der Grenze zum Schweigen. In dieser Welt – und das ist Doris Runges sprachliche Utopie – haben Wörter noch eine Bedeutung, jedes einzelne. Wenn sich der Lesende also bei diesem Text zu guter Letzt fragt, wozu das ganze „blind date“ überhaupt nütze sein soll, wo doch so viel nicht machbar ist und keine Liebe erhofft werden darf, so ist er Runges Sprachrätsellösung ganz nahe. Das Gedicht enthält eine sanfte Mahnung in der Erinne- rung daran, dass echte Liebesgeschichten grundsätzlich Ent- wicklungsgeschichten und entsprechend kompliziert zu erle- ben sind. Man verliebt sich aufgrund von Prägungen in eine be- stimmte Person – und findet sich in der Liebe endlich selbst. Man war sein Leben lang darauf geeicht, dass die Capulets ein besonders übler Familienschlag sind, und stellt fest, dass dem nicht so ist; man kämpft mit sich, mit den Umständen; liebt glücklich oder unglücklich, aber man liebt, und dieser Zustand ist der allerlebendigste. Doris Runge hat einmal gesagt: „Jedes Leben ist irgendwo auch ein Gleichnis. Und bei aller Individualität sind die Sorgen und Nöte der Menschen die gleichen. Wie fremd sie sich sind und wie sie ihr Glück suchen – das ist der Stoff, aus dem meine Gedichte sind.“ Hier ist es die Sehnsucht nach Liebe, die allen Menschen angeboren ist, der sich die Autorin einmal mehr an- genommen hat, und es ist kein Zufall, dass weder ein „Ich“ noch ein „Du“ in dem kleinen Text vorkommen, da letztlich von der Einsamkeit des Menschen berichtet wird, die ihn solch absurde Aktionen wie das „blind date“ erfinden lässt – und ihn zuallerletzt doch nicht vor jenem einzigen „blind date“ retten kann, das alle Menschen haben, ob sie wollen oder nicht: dem Rendezvous mit dem Tod. Dies ist eine zweite Lesart von Run- ges Gedicht, und erst durch sie wird man der vollen Brillanz des kleinen Textes gerecht. Doris Runge: „was da auftaucht“. Gedichte. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010. 90 S., geb., 14,99 €. Silke Scheuermann Blindflug mit Anfassen es muss ja nicht gleich sein nicht hier sein zwischen tür und engel abflug und ankunft in zugigen höfen es könnte im sommer sein wenn man den schatten liebt es wird keine liebe sein jedenfalls keine fürs leben Von Sebastian Balzter K irkenes hat oft genug gekämpft. Gegen die Stürme und die Dunkelheit im Win- ter, wenn die Sonne es sechs Wochen lang nicht über die Berge im Süden schafft. Ge- gen die deutschen Besatzer in Norwegen und ein sowjetisches Bombardement, das von der Fünftausend-Einwohner-Stadt an der Küste der Barentssee 1944 nur noch Ruinen übrig- ließ. Gegen die Strukturschwäche, gegen die in der Finnmark kein Kraut gewachsen schien. Den Kampf um die Arktis aber, den nun man- che Geopolitiker und Sicherheitsexperten vor- hersagen, weil Russland, Norwegen und die an- deren Anrainerstaaten auf die im Eismeer ver- borgenen Gas- und Ölfelder spekulieren, will Kirkenes nicht mitmachen. Stattdessen hat sich die Kleinstadt im äußersten nordöstlichen Zipfel Norwegens der Verständigung über die Landesgrenzen hinweg verschrieben. Einmal im Jahr nimmt sich Kirkenes die Freiheit, sich wie eine internationale Metropo- le zu fühlen, um diese Position darzustellen: mit „Barents Spektakel“, Europas nördlichs- tem Kulturfest. „Mind the map!“ heißt das Mot- to diesmal, zur Eröffnung ist sogar die norwegi- sche Königin Sonja angereist. So lang ist ihr Reich: Wäre sie die 2500 Kilometer von Oslo aus nach Süden statt nach Norden geflogen, stünde sie auf der Piazza Navona in Rom statt zwischen Taxistand und Shopping-Mall auf der Dr.-Wessels-Straße mitten in Kirkenes. Die Winternacht ist sternklar, später wird ein Nordlicht über den Himmel flackern. Die Köni- gin trägt Pelz. Die Bewohner der Finnmark müssen robust sein, um den Widrigkeiten ihrer Heimat zu trot- zen. Nackter Fels, Moos und Gras, kratzige Bü- sche und im Windschatten höchstens ein paar magere Birken, so sieht die Landschaft im Som- mer aus. Jetzt im Winter ist sie ein Schwarz- weißfilm, in dem Flüsse und Seen die einzige Abwechslung vom Schnee sind. Einen Früh- ling, so sagen zumindest die Zugereisten, gibt es hier nicht; der Mai sei der schlimmste aller Monate, weil immer noch keine Blüte zu sehen ist und das Tauwetter die Straßen aufweicht. Luba Kusownikowa hat sich davon nicht schrecken lassen. Sie ist die künstlerische Leite- rin des Barentsspektakels. Vor vier Jahren ist sie aus ihrer russischen Heimat nach Kirkenes gezogen, wo alle Straßen auch auf Kyrillisch ausgeschildert sind – nicht nur aus symboli- schen Gründen, sondern auch wegen der vie- len Einkaufs- und Arbeitspendler. In Moskau sei es ihr zu langweilig geworden, behauptet Kusownikowa kokett und schüttelt ihre langen rotbraunen Locken dazu. Gewissermaßen ist sie durch den Umzug sogar in ihre Heimat zu- rückgekehrt: Ihre Geburtsstadt am Weißen Meer, nicht weit von Archangelsk, genießt zweifelhafte Berühmtheit als Fertigungsstätte für die sowjetische Atom-U-Boot-Flotte. Nach Norwegen gelockt hat Kusownikowa eine kleine Gruppe von Künstlerinnen aus Kir- kenes, die nach einem Bild von Edvard Munch als „Pikene på broen“ firmieren – die „Mäd- chen auf der Brücke“. Vor acht Jahren, damals noch ohne Kusownikowa, haben sie das Ba- rentsspektakel ins Leben gerufen. Inzwischen ist die Russin dank ihrer unverwechselbaren Quirligkeit zum personifizierten Programm des Festivals geworden. „Lasst uns die Gren- zen herausfordern und die Karten neu zeich- nen“, so formuliert sie mit geradezu missiona- risch guter Laune und dezentem russischen Ak- zent ihr Anliegen. Rund zweihundert Künstler aus dem Rest von Norwegen, aus Moskau und Sankt Peters- burg, aus dem Baltikum, aus Deutschland und Italien sind Kusownikowas Einladung gefolgt. Mehr als 500 000 Euro lassen sich, Wirtschafts- krise hin oder her, das norwegische Außen- und Kulturministerium sowie eine Handvoll weiterer Sponsoren das Spektakel kosten. Es passt einfach zu gut zu dem, was die Regierung in Oslo nicht müde wird zu betonen: Der Nor- den ist der Kern ihrer außenpolitischen Strate- gie. Denn Kirkenes ist nur zwanzig Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt; während des Kalten Kriegs verlief hier eine der wenigen direkten Nahtstellen von Sowjetunion und Nato. Heute soll aus der Gegend eine Modell- region werden, in der sich das wirtschaftliche Interesse an Bodenschätzen und Transport- routen mit kulturellem Verständnis ver- schränkt. Gerade haben sich die norwegische und die russische Regierung nach jahrzehnte- langen Streitigkeiten auf eine gemeinsame See- grenze geeinigt, Konflikte mit dem Nachbarn im Osten sind zu vermeiden. Außer der Königin ist deshalb auch der Außenminister nach Kirkenes gekommen. Nach den mitternächtlichen Eröffnungsanspra- chen spazieren beide gemeinsam mit Luba Kusownikowa die Hauptstraße hinab, von den neben und hinter ihnen gehenden Schaulusti- gen nur durch die unsichtbare Grenze des Re- spekts getrennt. So unkompliziert ist Norwe- gen manchmal. Die Spitze des Umzugs bildet die Hobbyblasmusikkapelle der Stadt. Die Musiker sind nicht die Einzigen, die in dieser Nacht Uniform tragen: Ein Grenzkom- missar, Oberst der norwegischen Armee, erläu- tert das für einen Teil der Festivalausstellung genutzte Material. Sechs Paar Originalgrenz- pfosten, die norwegischen gelb gestrichen, die russischen rot-grün, stehen sich im Abstand von wenigen Metern in der Stadtmitte gegen- über, am linken Straßenrand die russischen, rechts die norwegischen. So verlegt Martin Traavik, ein aus Norwegen stammender Künst- ler, mit einer einfachen Idee die Peripherie ins Zentrum und nimmt damit einen der Grundge- danken des Festivals auf. Aus massivem Holz seien die Pfosten, berichtet der Oberst, ein Sä- gewerk ganz in der Nähe habe sie ehedem gelie- fert. „Martin“, lobt er dann den Künstler in ver- söhnlich-väterlichem Ton, „du hast aus mei- nen Pfosten etwas sehr Gutes gemacht.“ Militärischen Drill dagegen versucht später der finnische Akkordeonist Kimmo Pohjonen zu verbreiten. Doch sein rustikaler Ton und sei- ne martialische Aufmachung sind reine Par- odie. Mit kehligen Lauten treibt er in der Rolle eines unbarmherzigen Schleifers die in Ringer- tracht angetretenen Statisten an, nimmt dabei genussvoll die Klischees ihrer vermeintlichen Heimatländer Russland, Finnland und Norwe- gen aufs Korn und streckt sie dann mit einer Salve aus seinem Instrument nieder. Das als Kampfabend getarnte Konzert, dem die von einer Balalaika begleiteten Auftritte von Faust- kämpfern und eine ins Moderne gewendete Aufführung norwegischer Volkstänze vorange- gangen sind, ist in diesem Jahr der Höhepunkt des Festivals. Das Publikum in der in den Fels gesprengten Turnhalle von Kirkenes johlt, in der ersten Reihe applaudiert die Königin, ne- ben ihr hält es Luba Kusownikowa kaum noch auf ihrem Platz. Dass außer den Staatsgrenzen und jenen zwischen Klischee und Wirklichkeit auch die Grenzen zwischen Land und Wasser flüchtig sein können, zeigt der Italiener Stefano Cagol mit einer Videoinstallation, die in einem leer- geräumten Laden im Obergeschoss der Shop- ping-Mall von Kirkenes gezeigt wird. Zur Eröff- nung führt das von norwegischen Youtube-Be- suchern als Kultband gehandelte Männerduo Polka-Bjørn eine Komposition für Jodler und Akkordeon auf, zu deren Klängen die Königin am Endpunkt der kleinen Prozession durch die Stadt die Stufen hinaufsteigt. Rolltreppen sind nichts für gekrönte Häupter. Cagol stammt aus Trient, er kam im vergan- genen November zum ersten Mal in die Finn- mark, ein „Artist in Residence“-Stipendium fi- nanzierte den vierwöchigen Arbeitsaufenthalt. „Es war die ideale Jahreszeit für mein Projekt, weil es damals nichts anderes als Zwielicht gab“, berichtet er. So verschwimmen in seinen grauschattierten Filmen die salzigen Wellen der Barentssee mit dem Sand, die Holzbalken eines Schuppens mit dem Horizont. So zurückhaltend der Italiener auftritt, so extrovertiert gibt sich auf dem Marktplatz von Kirkenes die aus Münster und Leipzig angereis- te Theatertruppe Titanick. Vor einer Schloten und Hochöfen nachempfundenen, ins Licht von Fackeln getauchten Kulisse bearbeiten sechs Instrumentalisten in historisierenden Ge- wändern mit Hämmern, Schweißgeräten und Lötkolben brachial die metallischen Klangkör- per der vor ihnen aufgebauten Kessel und Roh- re. Den Takt gibt ein in einem Käfig über dem Publikum stehender Dirigent mit weißer Perü- cke vor, dazu läuft vom Band ein Popsound, der vom Sphärischen ins Dramatische gleitet. Auf der Bühne fliegen Funken; ein Feuerwerk schließt die „Hochofensinfonie“ ab, mit der das Theater in dieser Saison durch Deutsch- land tourt. Sie sei grenzenlos begeistert, sagt die Königin von einem Balkon herab, als die letzte Rakete verglüht ist und der Duft von ab- gefackeltem Brennstoff sich verflüchtigt hat. So einen Kalauer darf nur sie sich erlauben. Allerdings passt die von den Gästen aus Deutschland verbreitete Ruhrgebietsstim- mung wirklich gut zu Kirkenes. Die Stadt, die sich ihre Zukunft in Hochglanz-Businessplä- nen als Service- und Logistikzentrum für den Abbau der Gasreserven in der Barentssee aus- malt, die nach Schätzungen der Förderkonzer- ne mehrere Milliarden Dollar wert sind, hat eine Vergangenheit als Erzhafen und Arbeiter- siedlung. Die Grube im Süden der Stadt, die im neunzehnten Jahrhundert mit deutschem Kapi- tal in den Fels getrieben wurde, lag einige Jah- re still. Doch die steigenden Rohstoffpreise ha- ben den Abbau inzwischen wieder rentabel ge- macht. Der neue Betreiber der Grube ist ein Konzern aus Australien. Geld kennt schon lan- ge keine Grenzen mehr. Nur der Königin sind hier Kalauer gestattet Doris Runge blind date Je harscher die Natur, desto wichtiger die Kultur: Jedes Jahr zum Barentsspektakel darf sich die norwegische Kleinstadt Kirkenes für eine Woche wie eine Metropole fühlen. Kultur bringt Farbe ins Weiß des Winters: Nördlich des Polarkreises werden in der norwegischen Stadt Kirkenes große Kreise gezogen. Foto Balzter Königin Sonja bei der Eröffnung des Barents Spektakels Foto Festival

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http://2011.barentsspektakel.no/nor/news/7 Stefano Cagol spends his last week in residency in Kirkenes, and is finishing the shooting for the video within his project «Evoke Provoke (the border)». The artist comes from Trento, the border area between Italy and Austria, and was excited to experience Kirkenes as a borderland in transition. In Cagol’s project, EVOKE means to recall consequences of the past and recent events and changes, while PROVOKE means to stimulate the border, maybe first of all – mental borders. The videofilm, as well as site-specific installations around the town, will be Cagol’s contribution to the exhibition within the annual festival Barents Spektakel 2011.

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Z 4 Bilder und Zeiten Frankfurter Allgemeine Zeitung · 16. April 2011 · Nr. 90

� FRANKFURTER ANTHOLOGIE Redaktion Marcel Reich-Ranicki

D ass Liebe blind macht für das geliebte Objekt, wissen wirseit Plutarch, und dass in der deutschsprachigen Lyrik im-

mer mehr Anglizismen verwendet werden, spätestens seit derJahrtausendwende. Aber für manche Begriffe gibt es einfachkeine stimmige Übersetzung: „blind date“ zum Beispiel ist soein Fall, jene Bezeichnung für ein Treffen mit einer Person, dieman vorher nur schriftlich oder telefonisch kontaktiert hatund die man sich im Hinblick auf eine mögliche Affäre, ein Ver-hältnis oder eine Partnerschaft genauer ansehen möchte. Dasenglische „blind“ bedeutet bekanntlich dasselbe wie das deut-sche „blind“, und hier schafft das Eigenschaftswort eine herr-lich doppeldeutige Ironie. Denn weniger „blind aus Liebe“ alsbei so einem quasi abgekarteten Spiel, dem Eignungstest fürdie Partnerschaft nach gewissen Kriterien, kann man schwersein. Fest steht, dass sich keines der großen Liebespaare derWeltliteratur auf diese Weise gefunden hätte.

„Blind date“ findet sich in Doris Runges neuestem Gedicht-band „was da auftaucht“; der Text wird getragen von einer me-lancholischen Grundstimmung, wie sie typisch ist für DorisRunges lyrisches Temperament. Der Leser soll keinesfalls zuviel erwarten: „es muss ja nicht / gleich sein“, diese ersten bei-den Zeilen sparen das Wort „Liebe“ aus und drängen es da-durch umso mehr in den Sinn. Vielleicht, denkt man, könntesie sich doch noch ereignen? Dies zumindest wird nicht ausge-schlossen, zumal die Dichterin den Dingen mit geradezu groß-zügiger Geste Zeit einräumt. Damit wird ganz nebenbei dieSchnelligkeit der Bedürfnisbefriedigung kritisiert, die charak-teristisch für die heutige Konsumkultur geworden ist. DasWort „nicht“ kommt zweimal vor, genauso häufig wie „keine“(„keine / liebe“, „jedenfalls keine / fürs leben“). Diese beidendoppelten Verneinungen bestimmen den interpunktionslosen

und durchweg kleingeschriebenen Text: Was alles fehlt, davonhandelt das Gedicht.

Doch muss dies eigentlich so sein? Durch eine hübsche Ver-schiebung wird dem Alltag jedenfalls eine Poesie zugespro-chen, die umso ungeheuerlicher erscheint, je beiläufiger sie da-herkommt, nämlich „zwischen tür und / engel abflug“. Der be-liebte Ausdruck „zwischen Tür und Angel“ – wieder ein Hin-weis auf die Alltagshektik – wird lustvoll verändert, aus „An-gel“ wird „Engel“, fast könnte man sich verlesen, das englischeWort „angel“ fällt einem ein, aber es bleibt nicht dabei: „En-gels Abflug“ – so lautet für Doris Runge die präzise lyrischeVerortung einer Zeit, in der alles Mögliche passieren könnteoder eben nicht.

Das Hinterfragen jedes einzelnen Worts ist längst ebensoein Kennzeichen Runges wie die Kürze der Gedichte. Die 1943geborene Autorin, die bisher acht schmale Lyrikbände veröf-fentlicht hat, verzichtet auf alles sprachliche Blendwerk; siehat das Weglassen zu ihrem poetischen Prinzip gemacht, siespricht nur an der Grenze zum Schweigen. In dieser Welt – unddas ist Doris Runges sprachliche Utopie – haben Wörter nocheine Bedeutung, jedes einzelne. Wenn sich der Lesende alsobei diesem Text zu guter Letzt fragt, wozu das ganze „blinddate“ überhaupt nütze sein soll, wo doch so viel nicht machbarist und keine Liebe erhofft werden darf, so ist er RungesSprachrätsellösung ganz nahe.

Das Gedicht enthält eine sanfte Mahnung in der Erinne-rung daran, dass echte Liebesgeschichten grundsätzlich Ent-wicklungsgeschichten und entsprechend kompliziert zu erle-ben sind. Man verliebt sich aufgrund von Prägungen in eine be-stimmte Person – und findet sich in der Liebe endlich selbst.Man war sein Leben lang darauf geeicht, dass die Capulets ein

besonders übler Familienschlag sind, und stellt fest, dass demnicht so ist; man kämpft mit sich, mit den Umständen; liebtglücklich oder unglücklich, aber man liebt, und dieser Zustandist der allerlebendigste.

Doris Runge hat einmal gesagt: „Jedes Leben ist irgendwoauch ein Gleichnis. Und bei aller Individualität sind die Sorgenund Nöte der Menschen die gleichen. Wie fremd sie sich sindund wie sie ihr Glück suchen – das ist der Stoff, aus dem meineGedichte sind.“ Hier ist es die Sehnsucht nach Liebe, die allenMenschen angeboren ist, der sich die Autorin einmal mehr an-genommen hat, und es ist kein Zufall, dass weder ein „Ich“noch ein „Du“ in dem kleinen Text vorkommen, da letztlichvon der Einsamkeit des Menschen berichtet wird, die ihn solchabsurde Aktionen wie das „blind date“ erfinden lässt – und ihnzuallerletzt doch nicht vor jenem einzigen „blind date“ rettenkann, das alle Menschen haben, ob sie wollen oder nicht: demRendezvous mit dem Tod. Dies ist eine zweite Lesart von Run-ges Gedicht, und erst durch sie wird man der vollen Brillanzdes kleinen Textes gerecht.

� Doris Runge: „was da auftaucht“. Gedichte.Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010. 90 S., geb., 14,99 €.

Silke Scheuermann

Blindflug mit Anfassenes muss ja nichtgleich seinnicht hier seinzwischen tür undengel abflugund ankunftin zugigen höfenes könnteim sommer seinwenn manden schatten liebtes wird keineliebe seinjedenfalls keinefürs leben

Von Sebastian Balzter

K irkenes hat oft genug gekämpft. Gegendie Stürme und die Dunkelheit im Win-ter, wenn die Sonne es sechs Wochen

lang nicht über die Berge im Süden schafft. Ge-gen die deutschen Besatzer in Norwegen undein sowjetisches Bombardement, das von derFünftausend-Einwohner-Stadt an der Küsteder Barentssee 1944 nur noch Ruinen übrig-ließ. Gegen die Strukturschwäche, gegen die inder Finnmark kein Kraut gewachsen schien.Den Kampf um die Arktis aber, den nun man-che Geopolitiker und Sicherheitsexperten vor-hersagen, weil Russland, Norwegen und die an-deren Anrainerstaaten auf die im Eismeer ver-borgenen Gas- und Ölfelder spekulieren, willKirkenes nicht mitmachen. Stattdessen hatsich die Kleinstadt im äußersten nordöstlichenZipfel Norwegens der Verständigung über dieLandesgrenzen hinweg verschrieben.

Einmal im Jahr nimmt sich Kirkenes dieFreiheit, sich wie eine internationale Metropo-le zu fühlen, um diese Position darzustellen:mit „Barents Spektakel“, Europas nördlichs-tem Kulturfest. „Mind the map!“ heißt das Mot-to diesmal, zur Eröffnung ist sogar die norwegi-sche Königin Sonja angereist. So lang ist ihrReich: Wäre sie die 2500 Kilometer von Osloaus nach Süden statt nach Norden geflogen,stünde sie auf der Piazza Navona in Rom stattzwischen Taxistand und Shopping-Mall aufder Dr.-Wessels-Straße mitten in Kirkenes.Die Winternacht ist sternklar, später wird einNordlicht über den Himmel flackern. Die Köni-gin trägt Pelz.

Die Bewohner der Finnmark müssen robustsein, um den Widrigkeiten ihrer Heimat zu trot-zen. Nackter Fels, Moos und Gras, kratzige Bü-sche und im Windschatten höchstens ein paarmagere Birken, so sieht die Landschaft im Som-mer aus. Jetzt im Winter ist sie ein Schwarz-weißfilm, in dem Flüsse und Seen die einzigeAbwechslung vom Schnee sind. Einen Früh-ling, so sagen zumindest die Zugereisten, gibtes hier nicht; der Mai sei der schlimmste allerMonate, weil immer noch keine Blüte zu sehenist und das Tauwetter die Straßen aufweicht.

Luba Kusownikowa hat sich davon nichtschrecken lassen. Sie ist die künstlerische Leite-rin des Barentsspektakels. Vor vier Jahren istsie aus ihrer russischen Heimat nach Kirkenesgezogen, wo alle Straßen auch auf Kyrillischausgeschildert sind – nicht nur aus symboli-schen Gründen, sondern auch wegen der vie-len Einkaufs- und Arbeitspendler. In Moskausei es ihr zu langweilig geworden, behauptetKusownikowa kokett und schüttelt ihre langenrotbraunen Locken dazu. Gewissermaßen istsie durch den Umzug sogar in ihre Heimat zu-rückgekehrt: Ihre Geburtsstadt am WeißenMeer, nicht weit von Archangelsk, genießtzweifelhafte Berühmtheit als Fertigungsstättefür die sowjetische Atom-U-Boot-Flotte.

Nach Norwegen gelockt hat Kusownikowaeine kleine Gruppe von Künstlerinnen aus Kir-kenes, die nach einem Bild von Edvard Munchals „Pikene på broen“ firmieren – die „Mäd-chen auf der Brücke“. Vor acht Jahren, damalsnoch ohne Kusownikowa, haben sie das Ba-rentsspektakel ins Leben gerufen. Inzwischenist die Russin dank ihrer unverwechselbarenQuirligkeit zum personifizierten Programmdes Festivals geworden. „Lasst uns die Gren-zen herausfordern und die Karten neu zeich-nen“, so formuliert sie mit geradezu missiona-risch guter Laune und dezentem russischen Ak-zent ihr Anliegen.

Rund zweihundert Künstler aus dem Restvon Norwegen, aus Moskau und Sankt Peters-

burg, aus dem Baltikum, aus Deutschland undItalien sind Kusownikowas Einladung gefolgt.Mehr als 500 000 Euro lassen sich, Wirtschafts-krise hin oder her, das norwegische Außen-und Kulturministerium sowie eine Handvollweiterer Sponsoren das Spektakel kosten. Espasst einfach zu gut zu dem, was die Regierungin Oslo nicht müde wird zu betonen: Der Nor-den ist der Kern ihrer außenpolitischen Strate-gie. Denn Kirkenes ist nur zwanzig Kilometervon der Grenze zu Russland entfernt; währenddes Kalten Kriegs verlief hier eine der wenigendirekten Nahtstellen von Sowjetunion undNato. Heute soll aus der Gegend eine Modell-region werden, in der sich das wirtschaftlicheInteresse an Bodenschätzen und Transport-routen mit kulturellem Verständnis ver-schränkt. Gerade haben sich die norwegischeund die russische Regierung nach jahrzehnte-langen Streitigkeiten auf eine gemeinsame See-grenze geeinigt, Konflikte mit dem Nachbarnim Osten sind zu vermeiden.

Außer der Königin ist deshalb auch derAußenminister nach Kirkenes gekommen.Nach den mitternächtlichen Eröffnungsanspra-chen spazieren beide gemeinsam mit LubaKusownikowa die Hauptstraße hinab, von den

neben und hinter ihnen gehenden Schaulusti-gen nur durch die unsichtbare Grenze des Re-spekts getrennt. So unkompliziert ist Norwe-gen manchmal. Die Spitze des Umzugs bildetdie Hobbyblasmusikkapelle der Stadt.

Die Musiker sind nicht die Einzigen, die indieser Nacht Uniform tragen: Ein Grenzkom-missar, Oberst der norwegischen Armee, erläu-tert das für einen Teil der Festivalausstellunggenutzte Material. Sechs Paar Originalgrenz-pfosten, die norwegischen gelb gestrichen, dierussischen rot-grün, stehen sich im Abstandvon wenigen Metern in der Stadtmitte gegen-über, am linken Straßenrand die russischen,rechts die norwegischen. So verlegt MartinTraavik, ein aus Norwegen stammender Künst-ler, mit einer einfachen Idee die Peripherie insZentrum und nimmt damit einen der Grundge-danken des Festivals auf. Aus massivem Holzseien die Pfosten, berichtet der Oberst, ein Sä-gewerk ganz in der Nähe habe sie ehedem gelie-fert. „Martin“, lobt er dann den Künstler in ver-söhnlich-väterlichem Ton, „du hast aus mei-nen Pfosten etwas sehr Gutes gemacht.“

Militärischen Drill dagegen versucht späterder finnische Akkordeonist Kimmo Pohjonenzu verbreiten. Doch sein rustikaler Ton und sei-

ne martialische Aufmachung sind reine Par-odie. Mit kehligen Lauten treibt er in der Rolleeines unbarmherzigen Schleifers die in Ringer-tracht angetretenen Statisten an, nimmt dabeigenussvoll die Klischees ihrer vermeintlichenHeimatländer Russland, Finnland und Norwe-gen aufs Korn und streckt sie dann mit einerSalve aus seinem Instrument nieder. Das alsKampfabend getarnte Konzert, dem die voneiner Balalaika begleiteten Auftritte von Faust-kämpfern und eine ins Moderne gewendeteAufführung norwegischer Volkstänze vorange-gangen sind, ist in diesem Jahr der Höhepunktdes Festivals. Das Publikum in der in den Felsgesprengten Turnhalle von Kirkenes johlt, inder ersten Reihe applaudiert die Königin, ne-ben ihr hält es Luba Kusownikowa kaum nochauf ihrem Platz.

Dass außer den Staatsgrenzen und jenenzwischen Klischee und Wirklichkeit auch dieGrenzen zwischen Land und Wasser flüchtigsein können, zeigt der Italiener Stefano Cagolmit einer Videoinstallation, die in einem leer-geräumten Laden im Obergeschoss der Shop-ping-Mall von Kirkenes gezeigt wird. Zur Eröff-nung führt das von norwegischen Youtube-Be-suchern als Kultband gehandelte MännerduoPolka-Bjørn eine Komposition für Jodler undAkkordeon auf, zu deren Klängen die Königinam Endpunkt der kleinen Prozession durch dieStadt die Stufen hinaufsteigt. Rolltreppen sindnichts für gekrönte Häupter.

Cagol stammt aus Trient, er kam im vergan-genen November zum ersten Mal in die Finn-mark, ein „Artist in Residence“-Stipendium fi-nanzierte den vierwöchigen Arbeitsaufenthalt.„Es war die ideale Jahreszeit für mein Projekt,weil es damals nichts anderes als Zwielichtgab“, berichtet er. So verschwimmen in seinengrauschattierten Filmen die salzigen Wellender Barentssee mit dem Sand, die Holzbalkeneines Schuppens mit dem Horizont.

So zurückhaltend der Italiener auftritt, soextrovertiert gibt sich auf dem Marktplatz vonKirkenes die aus Münster und Leipzig angereis-te Theatertruppe Titanick. Vor einer Schlotenund Hochöfen nachempfundenen, ins Lichtvon Fackeln getauchten Kulisse bearbeitensechs Instrumentalisten in historisierenden Ge-wändern mit Hämmern, Schweißgeräten undLötkolben brachial die metallischen Klangkör-per der vor ihnen aufgebauten Kessel und Roh-re. Den Takt gibt ein in einem Käfig über demPublikum stehender Dirigent mit weißer Perü-cke vor, dazu läuft vom Band ein Popsound,der vom Sphärischen ins Dramatische gleitet.Auf der Bühne fliegen Funken; ein Feuerwerkschließt die „Hochofensinfonie“ ab, mit derdas Theater in dieser Saison durch Deutsch-land tourt. Sie sei grenzenlos begeistert, sagtdie Königin von einem Balkon herab, als dieletzte Rakete verglüht ist und der Duft von ab-gefackeltem Brennstoff sich verflüchtigt hat.So einen Kalauer darf nur sie sich erlauben.

Allerdings passt die von den Gästen ausDeutschland verbreitete Ruhrgebietsstim-mung wirklich gut zu Kirkenes. Die Stadt, diesich ihre Zukunft in Hochglanz-Businessplä-nen als Service- und Logistikzentrum für denAbbau der Gasreserven in der Barentssee aus-malt, die nach Schätzungen der Förderkonzer-ne mehrere Milliarden Dollar wert sind, hateine Vergangenheit als Erzhafen und Arbeiter-siedlung. Die Grube im Süden der Stadt, die imneunzehnten Jahrhundert mit deutschem Kapi-tal in den Fels getrieben wurde, lag einige Jah-re still. Doch die steigenden Rohstoffpreise ha-ben den Abbau inzwischen wieder rentabel ge-macht. Der neue Betreiber der Grube ist einKonzern aus Australien. Geld kennt schon lan-ge keine Grenzen mehr.

Nur der Königinsind hier Kalauer gestattet

Doris Runge

blind date

Je harscher die Natur,desto wichtiger die Kultur:Jedes Jahr zum Barentsspektakeldarf sich die norwegischeKleinstadt Kirkenesfür eine Woche wie eineMetropole fühlen.

Kultur bringt Farbe ins Weiß des Winters: Nördlich des Polarkreises werden in der norwegischen Stadt Kirkenes große Kreise gezogen. Foto Balzter

Königin Sonja bei der Eröffnung desBarents Spektakels Foto Festival