Ausgabe 03 2013 Teilhaben - strassenfeger

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1,50 Euro, davon 90 Cent für den Verkäufer www.strassenfeger.org strassen| feger Mit Hartz-IV-Ratgeber! Interview mit dem Bundespräsidenten Joachim Gauck Bildungs- und Teilhabepaket ist ein Bürokratiemonster Zu Besuch bei Jenny De la Torre TEILHABEN TEILHABEN Soziale Straßenzeitung Ausgabe 03 Februar 2013

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Teilhaben - mit folgenden Themen: Interview mit dem Bundespräsidenten Joachim Gauck Bildungs- und Teilhabepaket ist ein Bürokratiemonster Zu Besuch bei Jenny De la Torre

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1,50 Euro, davon 90 Cent für den Verkäufer

www.strassenfeger.org

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Mit Hartz-IV-Ratgeber!

Interview mit dem Bundespräsidenten Joachim GauckBildungs- und Teilhabepaket ist ein BürokratiemonsterZu Besuch bei Jenny De la Torre

TEILHABENTEILHABEN

Soziale Straßenzeitung

Ausgabe 03 Februar 2013

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KulturtippsAus unserer Redaktion 22/23

TitelExklusiv-Interview mit dem Bundespräsidenten 3-7 Joachim Gauck

Bildung passt nicht in ein Paket 8

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – seit 9einem Jahr gibt es keinen Hygienecontainer mehr am Bahnhof Zoo

Zu Besuch bei der Obdachlosenärztin 10/11Jenny De la Torre

Rabattkarten – Spare, spare, Häusle baue 12

Von wegen Freiheit – Gängelei in den Jobcentern 13

Bürger-Fensehen: ALEX Offener Kanal Berlin 14

Gemeinsam kann man Großes schaffen 15

Vorletzte SeiteLeserbriefe, Impressum, Vorschau 31

MittendrinVon Kptn Graubär 30

VereinDie Spendenkampagne „One Warm Winter“ – Das 16/17Leben ist kein U-Bahnhof

Verkäufer„Haben Sie Interesse am strassenfeger?“ 18/19Vier Porträts von Verkäufern

strassenfeger radioabgeordnetenwatch schafft Transparenz in der Politik 21

SportBerliner Sechstagerennen 2013 – Schnelle Runden, 26/27Erdbeerbowle und ein Strauß bunter Melodien

Hartz-IV-RatgeberSanktionen Teil 6 29

BrennpunktChristoph Butterwegge – lieber Armut oder Arm ab? 20

AktuellObdachlosentheater „Ratten 07“ feiert 20jähriges 24/25Jubiläum

Anonyme Alkoholiker 28

Die soziale Straßenzeitung strassenfeger wird vom Verein mob – obdachlose machen mobil e.V. herausgegeben. Das Grundprinzip des strassenfeger ist: Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe! Der strassenfeger wird produziert von einem Team ehrenamtlicher Autoren, die aus allen sozialen Schichten kommen. Der Verkauf des strassenfeger bietet obdachlosen, wohnungslosen und armen Menschen die Möglichkeit zur selbstbestimmten Arbeit. Sie können selbst entscheiden, wo und wann sie den strassenfeger anbieten. Die Verkäufer erhalten einen Verkäuferausweis, der auf Verlangen vorzuzeigen ist. Der Verein mob e.V. fi nanziert durch den Verkauf des strassenfeger soziale Projekte wie die Notübernachtung und den sozialen Treffpunkt „Kaffee Bankrott“ in der Prenzlauer Allee 87. Der Verein erhält keine staatliche Unterstützung. Der Verein beauftragt niemanden, Spenden für das Projekt an der Haustür zu sammeln!

Spenden für die Aktion „Ein Dach über dem Kopf“ bitte an:mob e.V., Bank für Sozialwirtschaft, BLZ: 100 205 00, Kto.: 32838 01

Liebe Leser_innen,

vor ein paar Monaten hatte ich die Idee, mal beim Bundespräsidenten ein Interview für den strassenfeger anzufragen. Die Antwort aus dem Bundespräsidialamt liess nicht lange auf sich warten: „Ja“, hieß es, „Bundespräsident Joachim Gauck ist damit einverstanden.“ Einzige Bedingung, das Interview soll allen sozialen Straßenzeitungen in Deutschland zur Verfügung gestellt werden. Damit hatte ich selbstredend kein Problem. Meine Freude war riesig: Denn zum ersten Mal gewährte ein Bundespräsident einem Chefredakteur einer Straßenzeitung ein exklusives Interview. Als Termin hatte das Bundespräsidialamt den 21. November 2012 vorgeschlagen, doch eine Erkrankung von Joachim Gauck liess das geplante Treffen erst mal platzen. Ich dachte schon, das war’s. Doch weit gefehlt, der Bundespräsident und dessen Sprecherin bemühten sich intensiv um einen neuen Termin, und das bei einem äußerst eng gestrickten Terminkalender. Am 9. Januar war es dann soweit: Mein Freund, der Fotograf Robert Conrad, und ich waren um 11 Uhr ins Schloss Bellevue einbestellt. Etwas aufgeregt waren wir beide schon und fuhren deshalb auch überpünktlich zum Schloss. Dort wurden wir dann über den roten Teppich ins Amtszimmer des Bundespräsidenten geführt, der uns überaus herzlich empfi ng. Vor dem Interview wech-selten wir ein paar Worte über unsere Herkunft – alle drei stammen wir aus Mecklenburg-Vorpommern – und dann starteten wir das gut einstündige Interview. Joachim Gauck stand uns äußerst sachkundig und aufgeschlossen Rede und Antwort, auch bei den schwierigen Fragen zum sozialen Alltag in Deutschland. Das komplette Interview können Sie, liebe Leser_innen, hier in dieser Ausgabe lesen.

Wir wären aber nicht der strassenfeger, wenn wir zum Titelthema ‚Teilhabe‘ nicht noch ein paar ganz wichtige Artikel zum sozialen Alltag in Deutschland parat hätten. Wichtig war uns vor allem zu zeigen, wie Menschen, die ganz unten sind, trotzdem versuchen teilzuhaben am gesellschaftlichen Leben in diesem Land. Da sind z. B. die Verkäufer des strassenfeger, die Macher des Obdachlosentheaters „Ratten 07“, die schon seit nunmehr 20 Jahren aktiv sind. Wir schildern aber auch, wie Menschen sich für ‚die da ganz unten‘ engagieren; Jenny De la Torre ist so ein Beispiel. Und – wir berichten über die famose Spendenkampagne „One Warm Winter – Das Leben ist kein U-Bahnhof“, die wir wieder mit der Kreuzberger Werbeagentur DOJO gestemmt haben.

Viel Spaß beim Lesen und viel Ermutigung wünscht IhnenAndreas Düllick

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Das Schloss Bellevue in Berlin, Amtssitz des Bundespräsidenten

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„Du hast eine Verantwortung für Dein Leben, achte darauf. Aber wer sich nicht mehr selbst helfen kann, dem muss geholfen werden.“Bundespräsident Joachim Gauck über Freiheit, Armut, Obdachlosigkeit, soziale Straßenzeitungen

Am 18. März 2012 wählte die Bundesversammlung Joachim Gauck zum elften Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland.

Joachim Gauck wurde 1940 in Rostock geboren. Nach dem Abitur studierte er Theologie. Von 1965 bis 1990 stand er im Dienst der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs und arbeitete viele Jahre als Pastor. Schon als Jugendlicher trat Joachim Gauck in Opposition zur Diktatur in der DDR. 1989 gehörte er zu den Mitbegrün-dern des Neuen Forums und wurde in Rostock dessen Sprecher. Joachim Gauck war Mitinitiator des kirchlichen und öffentlichen Widerstandes gegen die SED-Diktatur. Er leitete die wöchentlichen „Friedensgebete“, aus denen die Protestdemonstrationen hervorgingen.

Im März 1990 zog Joachim Gauck als Abgeordneter der Bürgerbe-wegungen, die sich im Bündnis 90 zusammengeschlossen hatten, in die zum ersten Mal frei gewählte Volkskammer ein. Joachim Gauck wurde zum Vorsitzenden des Parlamentarischen Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit gewählt. Zum 3. Oktober 1990 berief ihn Bundespräsident Richard von Weizsä-cker auf Vorschlag der Bundesregierung zum Sonderbeauftragten der

Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehema-ligen Staatssicherheitsdienstes. Von 1991 bis 2000 war Joachim Gauck Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR.

Für sein Wirken wurde Joachim Gauck mit zahlreichen Ehrungen und Preisen ausgezeichnet, darunter die Theodor-Heuss-Medaille, der Geschwister-Scholl-Preis, der Europäische Menschenrechtspreis und der Ludwig-Börne-Preis. Er ist Ehrendoktor der Universitäten Rostock, Jena und Augsburg.

Im Auftrag der sozialen Straßenzeitungen in Deutschland sprach strassenfeger-Chefredakteur Andreas Düllick mit dem Bundespräsi-denten über Freiheit und Verantwortung, Soziales und Armut, soziale Straßenzeitung, das hohe Amt, aber auch über Privates.

Andreas Dülllick: Sehr geehrter Herr Bundespräsident: Das heraus-ragende Thema in Ihrem Leben ist die Freiheit. Warum ist das so?Joachim Gauck: Weil ich sie zu lange nicht gehabt habe. Man sehnt sich häufig nach dem, was man nicht hat. Wenn man es erlangt, wird es allerdings schnell alltäglich.

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Bundespräsident Joachim Gauck beantwortet die Fragen von strassenfeger-Chefredakteur Andreas Düllick

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Der Bundespräsident war informiert und schlagfertig

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A. D.: Sie Sind jetzt fast ein Jahr lang Bundespräsident. Wie fällt Ihre Bilanz der bisherigen Amtszeit aus?J. G.: Ich freue mich darüber, dass es mir gelingt, in Kontakt mit vielen Bürgerinnen und Bürgern zu kommen, dass ich manche ermuntern kann, sich aktiv in diese Gesellschaft einzubringen, dass ich immer mehr ehrenamtlich engagierte Frauen und Männer kennen lerne. Wenn ich erlebe, dass die Bürgergesellschaft stärker wird, dann macht mich das glücklich.

A. D.: Welche Gestaltungsmöglichkeiten haben Sie als Bundespräsident und wie nutzen Sie diese Möglichkeiten?J. G.: Na, zunächst mal darf sich niemand vorstellen, der Bundesprä-sident sei eine Art letzte Instanz, die es richten kann, wenn andere in der Politik etwas falsch machen. Der Bundespräsident kann die Verwaltung nicht anweisen. Er kann keine Gesetze erlassen, sondern nur prüfen, ob es verfassungsrechtliche Bedenken gibt. Er kann die Politik nicht so unmittelbar gestalten wie ein Kanzler oder Minister; aber er kann in Reden oder Interviews deuten und vermitteln, was gerade im Land geschieht. Er kann Diskussionen anstoßen oder moderieren. Ich betrachte den Bundespräsidenten auch als eine Art Übersetzer zwischen der operativen Politik und den Bürgern. Er hört sich deren Fragen und Nöte an und debattiert sie mit Regierungsmitgliedern oder Parlamentariern. Außerdem kann er Menschen motivieren, indem er sie einlädt oder auszeichnet. Und natürlich vertritt das Staatsoberhaupt die Bundesrepublik im Ausland.

A. D.: Lassen Sie uns zum Thema Armut kommen. Das Fazit des aktu-ellen Armuts- und Reichtumsbericht „Lebenslagen in Deutschland“ ist: Die Armen werden immer ärmer, die Reichen immer reicher! Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat in seinem Armutsbericht 2012 festgestellt, dass 2011 mit einer Armutsgefährdungsquote von 15,1 Prozent ein absoluter Höchststand seit der Vereinigung erreicht wurde. Wie bewerten Sie das?J. G.: Bitte haben Sie Verständnis, dass ich keinen Bericht kommentieren kann, der jetzt, Anfang Januar, noch nicht veröffentlicht ist. Was ich aber sagen kann ist, dass ich froh darüber bin, wie intensiv sich die Wohlfahrtsverbände um die Lebenschancen benachteiligter Menschen kümmern.

Wenn wir uns dem Phänomen Armut in Deutschland nähern, dann müssen wir fragen: Sind die Menschen, die wir als Arme bezeichnen,

ausgeschlossen aus der Gesellschaft? Fällt es Ihnen schwerer, aktive Bürger zu sein? Haben sie von vornherein keine Chancen auf ein gutes Leben? Dort, wo wir diese Fragen mit Ja beantworten müssen, beginnt für mich das Problem. Der, der unten ist, muss hoch kommen können. Eine Vita wie die von Gerhard Schröder – gestartet in sehr bescheidenen Verhältnissen, Kanzler des größten Landes in Europa geworden- muss möglich sein- und zwar sehr viel öfter und sehr viel selbstverständlicher als zu Zeiten des jungen Schröders. Wenn wir es dauerhaft nicht schaffen, Kindern aus unterschiedlichen Elternhäusern wenigstens annähernd gleiche Chancen mit auf den Weg zu geben, dann läuft etwas ganz falsch. Eine meiner Grundüberzeugungen ist: Anstrengung muss sich lohnen. Aufstieg, Verbesserung der eigenen Lage – das muss möglich sein, unabhängig von der Herkunft, durch Einsatz in der Schule oder im Beruf. Woran ich allerdings nicht glaube, ist eine Gesellschaft, in der es allen Menschen gleich gut geht. Kein System garantiert Gleichheit. Es wird immer Unterschiede geben zwischen denen, die mehr und denen, die weniger haben. Hinnehmbar ist das allerdings nur so lange die Menschen gleiche Rechte haben, Staat und Gesellschaft sich um gleiche Chancen für alle bemühen und so lange Menschen nicht derart wenig Mittel zur Verfügung stehen, dass sie vom gesellschaftlichen Leben faktisch ausgeschlossen sind.

Es gibt einen demokratischen Ansatz, allzu große Unterschiede zu beheben: Über höhere Steuern für Bezieher höherer Einkommen einen Sozialstaat und so auch mehr Möglichkeiten für Arme zu schaffen.

A. D.: Die Nationale Armutskonferenz hat in ihrem „Schattenbericht 2012“ Lösungen eingefordert, um Menschen mit geringem Einkommen ein dem Grundgesetz entsprechendes Leben in Würde zu ermöglichen und diese Menschen am gesellschaftlichen Leben in Deutschland teilhaben zu lassen. Aber kann ein Mensch, der Hartz IV, Sozialhilfe oder eine kleine Altersrente bezieht, tatsächlich am gesellschaftlichen Leben teilhaben und dieses sogar gestalten? J. G.: Vielleicht nicht so einfach wie ein wohlhabender Mensch. Aber auch der Mann oder die Frau in bescheidenen Verhältnissen können und sollen politische, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Prozesse in diesem Land mit gestalten. Zunächst mal sind Menschen Wähler. In freien Wahlen ist jede Stimme wertvoll. Wer nicht wählt, macht sich ohnmächtiger als er ist. Darüber hinaus sind Menschen imstande sich zu verbünden und gegen ungerechte Verhältnisse zu protestieren. Sie sind imstande, einer Partei beizutreten, sich gewerkschaftlich

Der Bundespäsident lässt sich über die Sorgen und Nöte der Obdachlosen informieren

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lzu organisieren, eine Bürgerinitiative zu unterstützen, an

kulturellen Aktivitäten teilzunehmen, in der Umweltbewegung, im Sport mitzumachen… Nehmen sie die Straßenfußball-Europameisterschaft der Obdachlosen, organisiert vom katho-lischen Männerfürsorgeverein München: Das ist doch eine tolle Sache die zeigt: Selbst in sehr schwierigen Lebenssituationen geht was.

Ich glaube, dass viele Menschen, die nicht Teil der herkömmlichen Arbeitswelt sind, unter-schätzen, welche Möglichkeiten sie haben, als aktive Bürger diese Gesellschaft positiv zu prägen. Aber es gibt viele Beispiele die zeigen, man kann etwas auf die Beine stellen. Anders ausgedrückt: Arme, arbeitslose Menschen sind nicht nur Transferempfänger. Sie sollten, so weit es irgendwie möglich ist, Verantwortung für sich übernehmen. Deswegen freue ich mich über alle Angebote, die sie dabei unterstützen, ihr Leben zu gestalten. Ich wünsche mir z. B. im Bereich der Jobcenter und Arbeitsagen-turen ausreichend Mittel und Möglichkeiten, um die Menschen die langzeitarbeitslos sind, in Trainingsprogramme zu bringen, mit deren Hilfe sie es schaffen, selbstständig vorwärts zu gehen. Anders ausgedrückt: Ich bin gegen eine rein paternalistische Fürsorgepolitik und für einen Sozialstaat, der die großen Lebensrisiken absichert und vor allem auch vorsorgt und ermächtigt.

A. D.: Können Sie als Bundespräsident diese Menschen, die oft ausge-grenzt werden, ermutigen?J. G.: Ja, indem ich das sage, was ich gerade gesagt habe. Guckt, was möglich ist. Es fängt manchmal klein an, zum Beispiel indem man eine soziale Straßenzeitung verkauft. Fast jeder Mensch hat Potenziale, die zu heben sich lohnt. Natürlich gibt es Männer und Frauen, die diese Kraft nicht mehr haben, die sehr krank oder einer Sucht verfallen sind. Für sie muss es ausreichend staatliche Fürsorge geben.

A. D.: Ich möchte jetzt das Thema ‚Obdachlosigkeit’ ansprechen. In Rostock ist am 1. November 2012 ein 54-jähriger wohnungsloser Mann in einem öffentlichen Park erfroren. Am frühen Morgen war er von einem Passanten auf dem Boden liegend entdeckt worden. Der alarmierte Notarzt konnte Frank M. nicht mehr helfen. In Deutschland

waren 2010 nach Schätzung der Bundesgemeinschaft Wohnungslo-senhilfe (BAGW) 248.000 Menschen wohnungslos. 22.000 Menschen lebten ohne jede Unterkunft auf der Straße. Offizielle Zahlen gibt

es nicht. Während die USA und die meisten europäischen Staaten die Zahlen jährlich offiziell bekannt geben, weigert sich die jeweilige Bundesregierung seit Jahrzehnten, einen gesetzlichen Auftrag an das Bundes-amt für Statistik zu geben. Wie sehen Sie das Problem ‚Obdachlosigkeit‘?J. G.: Als Bundespräsident möchte ich das Handeln der Bundesregierung nicht kommen-tieren. Was ich aber sagen kann und sagen will: Der Staat und die Wohlfahrtsverbände finden sich mit Obdachlosigkeit nicht ab. Sie bekämpfen sie auf vielfältige Weise. Es gibt eine medizinische Grundversorgung für Kranke; es gibt Beratung für Süchtige oder Überschuldete; es gibt Notunterkünfte für die Nacht, Kleiderkammern, Suppenküchen, Kältebusse, Nottelefone und manches mehr. Ich bin sehr froh, wenn diese Angebote auch angenommen werden. Natürlich weiß ich, dass etwa die Situation in Notunterkünften manchmal sehr schwierig ist, dass es zu Übergriffen oder Diebstählen kommt und manche Obdachlose es unter anderem deshalb vorziehen, draußen zu schlafen. Und es gibt, das haben wir in Gesprächen mit Sozialarbei-

tern erfahren, auch Menschen, die sich in solchen Anlaufstellen unfrei fühlen und sie deshalb nicht aufsuchen. Das muss man akzeptieren.

Allerdings dürfen wir niemals nachlassen, jenen zu helfen, die nicht mehr für sich selbst sorgen können. Und wir sollten denen Respekt entgegenbringen und sie stärken, die Hilfe leisten: Mäßig bezahlte Sozialarbeiter etwa, die Obdachlose in einen Kältebus aufnehmen oder die zu Treffpunkten von Wohnungslosen fahren und sie versorgen; Ärzte, die neben ihrer regulären Arbeit unentgeltlich Menschen aufsuchen, die es nicht mehr alleine in eine Praxis schaffen; oder ehrenamtlich engagierte Bürger, die in Stadtmissionen Essen ausgeben.

Was ich noch mal betonen möchte: Wir dürfen nicht aufhören, jedem Einzelnen zu sagen, „Du hast eine Verantwortung für Dein Leben, achte darauf“. Aber wer sich nicht mehr selbst helfen kann, dem muss geholfen werden. Wenn wir das nicht tun, berauben wir diese Menschen ihrer

Dieses Interview war das erste eines Bundespräsidenten für die sozialen Straßenzeitungen in Deutschland

Ganz offiziell!

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Würde. Mag sein, dass manche es Überversorgung nennen. Ich nenne es Solidarität.

A. D.: Sie haben sicher in vielen Punkten Recht. Aber es ist leider so, dass der Staat gerade auch im Bereich der Obdachlosenhilfe einiges abbaut. Nehmen wir als Beispiel den sozialen Brennpunkt Bahnhof Zoo. Dort gab es einen Hygienecontainer, den das Bezirksamt Charlotten-burg -Wilmersdorf unterhielt. Dort konnten Obdachlose ihre Notdurft verrichten, sich waschen und duschen und sogar ihre Wäsche waschen. Aus Kostengründen wurde dieser Sanitärcontainer entfernt.J. G.: Ich kann zu diesem konkreten Fall, den ich aus eigener Anschauung noch nicht kenne, nichts sagen. Aber ganz grundsätzlich frage ich mich angesichts mancher Entscheidungen schon: Achten wir die Würde derer, die zu wenig haben, wirklich immer so, wie wir müssten? Dort, wo die Antwort Nein lautet, akzeptiere ich Ihre Kritik. Wir wollen keine Situationen, die Menschen in Würdelosigkeit und Ausgeschlossensein bringen. Wir wollen Hilfsbedürftigen helfen. Und dazu gehört, dass wir es ihnen ermöglichen, sich zu waschen oder auf die Toilette zu gehen.

A. D: Kaufen Sie eigentlich die soziale Straßenzeitungen?J. G.: Bis zu meiner Wahl war ich viel zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs und habe oft soziale Straßenzei-tungen gekauft und gelesen. Jetzt komme ich seltener dazu. Aber wenn ich es schaffe, dann stelle ich fest, dass ich die Artikel zum Teil richtig anregend finde. Und deswegen reicht es mir auch nicht, dem jeweiligen Verkäufer einfach nur zwei Euro zu geben, die Zeitung aber nicht zu nehmen. Ich finde es toll, dass Zeitungsmacher und Verkäufer so aktiv sind, dass sie unter schwierigen Bedingungen die Ärmel hochkrempeln. Die Straßenzeitungen und Ihre Verkäufer stehen für folgende wichtige Botschaft: „Schaut her, wir leiden nicht nur, sondern wir machen etwas. Wir stellen soziale Themen in den Fokus!’ Da dürfen Sie ruhig ein wenig übertreiben, um die Schläfrigen aufzuwecken. Reich werden die Autoren und die Verkäufer der Straßenzeitungen nicht. Aber sie zeigen anderen und sich selbst die Möglichkeiten, die in ihnen stecken. Sie ermächtigen sich und ihre Mitmenschen. Das verdient Respekt.

A. D.: Hatten Sie schon mal die Möglichkeit, mit einem Verkäufer einer sozialen Straßenzeitung zu sprechen?J. G.: Ja, die hatte ich, zuletzt zwischen Weihnachten und Neujahr. Bei diesen Gesprächen stelle ich fest: Die Verkäufer sind wie alle anderen Menschen mal sehr freundlich, mal sind sie eben Muffelköppe die schimpfen, wenn man einfach vorbeigeht. Aber selbst dann finde ich es gut, dass sie die Zeitungen verkaufen.

Hin und wieder denke ich auch an meine Zeit, als ich mit der Sammel-büchse im sozialistischen Neubaugebiet Rostock-Evershagen vor der Kaufhalle stand und als Christ etwas tat, was die Kommunisten nicht so toll fanden, nämlich Spenden für Benachteiligte zu sammeln. Auch wenn ich natürlich nicht so arm war wie viele der Zeitungsverkäufer: Ich kenne das unschöne Gefühl, nicht beachtet zu werden.

A. D.: Viele soziale Straßenzeitungen in Deutschland kämpfen mit dem Problem, dass Verkäufer aus dem öffentlichen Raum vertrieben werden. Das betrifft Plätze vor Supermärkten, Bahnhöfen etc. Wie sehen Sie das?J. G.: Wenn ich das Wort ‚Vertreibung‘ höre, dann werde ich ganz allergisch. Ich will zwar Hausrechte nicht einfach in Frage stellen aber der öffentliche Raum gehört der Öffentlichkeit, und zur Öffentlichkeit gehören auch Obdachlose. Es sind Bürgerinnen und Bürger und diejenigen, die gut und sicher leben und die sich durch den Anblick von Menschen gestört fühlen, die aus einem anderen Milieu kommen, die tun mir einfach nur leid. Diese Menschen sollten auch nicht die Maßstäbe setzen. Unsere Maßstäbe setzt das Grundgesetz. Und da steht als erster Satz: „Die Würde des Men-schen ist unantastbar“. Deshalb halte ich nichts von Ausgrenzung.

A. D.: Bleiben Ihnen als Bundespräsident, der stets mit Limousine und Leibwächtern unterwegs ist, noch Möglichkeiten, die reale Welt zu erleben?J. G.: Es ist schwerer als früher, ohne das Amt, aber es ist möglich. So erfahre ich viel von Bürgern, die an der Basis arbeiten und mir davon berichten. Außerdem lerne ich bei meinen Reisen in die Regionen auch Bereiche kennen, in denen nicht alles rund läuft, in denen es gesellschaftliche Konflikte gibt oder Ausgrenzung und Armut. Und ich bekomme auch viel über Familienangehörige in Rostock mit. Meine jüngste Tochter arbeitet als Beraterin im sozialen Bereich, ihr Mann leitet unter anderem Obdachloseneinrichtungen. Da werde ich oft gefragt: ‚Sag mal Papa, weißt Du das eigentlich?’. Wenn nicht, gebe ich das natürlich zu.

A. D.: Sie haben jeden Tag eine Menge wichtiger Termine wahrzuneh-men. Bleibt da noch ein Quäntchen Zeit für das Privatleben, dafür, mal die Seele baumeln zu lassen? Oder gibt es diese Ruhepausen überhaupt nicht mehr?J. G.: Doch, es gibt sie. Aber manchmal fallen sie ein bisschen kurz aus. Ich habe früher gedacht: Du wirst mal Rentner, dann legst du die Füße hoch, liest viel und hörst schöne Musik. So ist es nicht gekommen. Aber dagegen steht, dass ich als Bundespräsident ein wunderbares und sehr verantwortungsvolles Amt habe. Es gibt also überhaupt keinen Grund, den Mond anzuheulen.

A. D.: Was wünschen Sie sich persönlich für das Jahr 2013 persönlich bzw. für Ihre Arbeit als Bundespräsident?J. G.: Ich möchte mir den guten Kontakt zu den Menschen erhalten. Ich möchte nicht abheben in eine Sphäre, wo es nur gekrönte Häupter oder Präsidenten gibt. Meine Existenz ist nicht deshalb reizvoll für mich, weil ich im Schloss arbeite, sondern weil ich als Bürger im Schloss arbeite. Und ich träume davon, die aktive und gleichzeitig solidarische Bürgergesellschaft noch weiter mit Leben zu füllen.

A. D.: Herr Bundespräsident, gibt es etwas, was Sie den sozialen Straßenzeitungen in Deutschland für 2013 noch auf den Weg geben möchten?J. G.: Es gibt etwas, was mich sehr freut wenn ich Sie sehe: Da sind nicht nur die Schwierigkeiten, die Sie bewältigen, wenn Sie Geld für Duckkosten oder andere notwendige Ausgaben organisieren. Ich bin ganz grundsätzlich beeindruckt von dem Engagement, das in den Straßenzeitungen steckt. Zwar gibt es den Staat und seine Sozialgesetze, außerdem existieren Institutionen der Fürsorge. Aber wir brauchen auch Menschen wie Sie, die ein soziales Gewissen haben und andere Menschen an deren soziales Gewissen erinnern. Deshalb wünsche ich Ihnen allen Kraft, dieses Werk fortzusetzen. Und ich hoffe, dass Sie genügend Unterstützung dafür erhalten. Außerdem verspreche ich, auch weiterhin nicht achtlos an Ihren Verkäufern vorbeizugehen.

A. D.: Im Namen der sozialen Straßenzeitungen in Deutschland wünsche ich Ihnen viel Kraft für das hohe Amt und persönlich viel Glück und Gesundheit! n

Mecklenburg-Vorpommern im Herzen

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8 www.berlin.de/sen/bwf/bildungspaket

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l Bildung passt nicht in ein PaketDas Bildungs- und Teilhabepaket wird am 1. April 2013 zwei Jahre alt. Die Idee des Pakets: Kinder aus Familien mit geringem Einkommen bekommen finanzielle Hilfe.

Lara sitzt mit anderen Schülern in einem gemütlichen Arbeitszimmer. Warmes Holz, viele Bücher, in einer Vase stehen

Frischblumen. Der Nachhilfelehrer, adrett in Pullunder und hellem Hemd, gibt sich die größte Mühe. So macht Englischunterricht Spaß, das Mädchen hat sichtlich Freude. „Dog, cow, elephant“: Die fremden Vokabeln sitzen. Lernen kann so einfach sein – zumindest, wenn man dem Werbevideo für das Bildungspaket glauben darf. „Mitmachen möglich machen“ ist am Ende des vom Bundessozialministerium in Auftrag gegebenen Films zu lesen. Die Bot-schaft ist klar: Bedürftige Kinder, die zuvor von Bildung ausgeschlossen waren, sind ab sofort dabei. Laras Zukunft scheint gerettet.

Geld für Schulbedarf, Mittagessen und FreizeitDas Bildungs- und Teilhabepaket trat am 1. April 2011 in Kraft. Es bietet Kindern, deren Eltern Hartz IV, Wohngeld oder den Kinder-zuschlag für Geringverdiener beziehen, Geld für Schulbedarf, Vereinsmitgliedschaften und mehr. Bedürftige Familien können seitdem Gutscheine für Sport oder Mittagessen für Heranwachsende beantragen. Bedeutet: Jene Kinder können beispielsweise an der Klassenfahrt teilnehmen, die Musikschule besuchen oder einem Sportverein beitreten. Zudem werden auch die Ausstattung für die Schule sowie Schülerfahrkosten gefördert. 70 Euro gibt es zu Beginn des Schuljahres für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf, 30 Euro zum Beginn der zweiten Schuljahreshälfte als pauschale Geldleistung gewährt.

„Es ist der richtige Ansatz“„Mit dem Bildungspaket denken wir zum ersten Mal in den Hartz-Gesetzen wirklich vom Kind her. Es ist der richtige Ansatz, nicht mehr Geld mit der Gießkanne auszuschütten, sondern etwas im Leben der Kinder ganz konkret zu verändern. Es macht eben einen Unterschied, ob Kinder beim Schulmittagessen danebensitzen und nicht mitessen können oder ob sie

daran teilnehmen können“, sagte Ursula von der Leyen (CDU), Bundes-ministerin für Arbeit und Soziales, während einer Bundestags-Debatte im Februar 2011.

Kinder haben einen Anrecht auf das Bildungspaket, wenn ihre Eltern nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II leistungsberechtigt sind oder Sozialhilfe nach dem SGB XII beziehen, nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz oder Wohngeld oder den Kinderzuschlag nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) bekommen. Leistungen werden für bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gewährt, zum Mitmachen in Kultur, Sport und Freizeit, aber nur bis zum Ende des 18. Lebensjahres. In Berlin gilt zudem: Der

„berlinpass“, ein Dokument mit Passbild, dient als Nachweis für den Anspruch auf Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket. Nur wer diesen „berlinpass“ vorweist, kann im nächsten Schritt Zuschüsse beantragen. Entsprechende Formulare gibt es im Jobcenter, bei den Sozialämtern und Familienkassen.

Unkenntnis und fehlende AngeboteAber wird das Paket genutzt? Unzureichend, meint der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Die Nachfrage nach staatlich finanziertem Nachhilfeunterricht, Vereinsbeiträgen oder Musikstunden laufe noch immer schleppend. Hinderlich bei der Inanspruchnahme von Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket sind Unkenntnis und fehlende Angebote vor Ort. Letzteres ist beispielsweise der Fall, wenn Kinder-tagesstätte oder Schule bisher keine Ausflüge durchgeführt haben, wenn kein Mittagessen angeboten wird oder wenn das Interesse an einer Vereinsmitgliedschaft fehlt. Auch wer auf dem Land lebt, schaut oft in die Röhre. Denn Fahrtkostenzuschüsse sieht das Bildungspaket nur für Fahrten zur Schule vor, nicht aber zum Schwimmbad oder zum Karate-Unterricht. Hinzu kommt die Sache mit dem Papier: „Es ist kein Bürokratiemonster“, vereidigt von der Leyen immer wieder. Doch Vereine beklagen den hohen Verwaltungsaufwand, den das Paket mit sich bringen würde. Letztendlich kann nur ein Teil der formal begünstigten Familien alle Möglichkeiten des Bildungspaketes tatsächlich in Anspruch nehmen. An fehlenden Angeboten für Kinder und Jugendliche wird das Bildungspaket kaum etwas ändern können.

n Anne Juliane Wirth

Übersicht über die Leistungen des Bildungspaket & Formulare:

Über so ein „Teilhabepaket“ würde sich manche Familie freuen!

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l„Die Würde des Menschen ist unantastbar“Seit gut einem Jahr gibt es keinen Hygienecontainer mehr am Bahnhof Zoo!

Sie haben nichts. Rein gar nichts. Einige tausend Menschen leben in Berlin auf der Straße; niemand kennt die Anzahl

genau. Wohl 800 von ihnen suchen jeden Tag die Jebensstraße am Bahnhof Zoo auf. Das hat gute Gründe. Etliche Einrichtungen, Initiativen – fast alle staatlich gefördert und von der Politik gewollt – unterbreiten hier ihre Hilfsangebote für diese Menschen am äußersten Rande des Randes: die Caritas Arztambulanz mit dem Arztmobil, die Evangelische Bahnhofsmission, die soziale Straßenzeitung strassenfeger mit ihrem Vertriebswagen, der Fixpunkt e.V. mit zwei Beratungsbussen, die Straßensozialarbeiter von Gangway, von KuB (Kontakt- und Bera-tungsstelle) Hilfen für junge Menschen in Not und andere. Alles wird zum Kampf, wenn man wohnungs-los ist, nichts besitzt. Ich merke das, wenn ich z. B. für zwei Minuten vor die Tür der Bahnhofsmission trete, um gelegentlich eine Zigarette zu rauchen. „Hast du Handschuhe für mich, eine Mütze, Schuhe, eine Hose?“ Oder: „Kann ich bitte telefo-nieren?“ Fast immer sagt jemand: „Ich habe Hunger.“ Sofort stürmen mehrere Menschen auf mich ein. Nichts ist für sie selbstverständlich. Von gar nichts gibt es viel!

Aber egal wie heruntergewirtschaftet ein Mensch zu sein scheint, er besitzt Stolz und Scham und Würde. Vieles können hilfebedürftige Menschen in der Jebensstraße erhalten: in der Bahnhofsmission z. B. etwas Gutes gegen den Hunger, immerhin Schlafsäcke gegen die Kälte, warme Bekleidung im Winter, wenn die Zeit reicht auch Beratung oder einfach ein Gespräch, ein kurzes Abtauchen in die Wärme bei den Minusgraden. Es gibt Einwegrasierer, Tampons, Hygieneartikel.

Häufig wird auch gefragt: „Kann ich bitte mal die Toilette benutzen?“ Hier müssen wir passen, das geht leider nicht. Unser Abflusssystem ist restlos veraltert, oft verstopft – dann stauen sich übertretende Fäkalien bis in mein Büro. Klar werden Ausnahmen gemacht – aber selten. Und so müssen Frauen weiterhin – auch in dieser klirrenden Kälte – in der Jebensstraße ihre Hosen herunterlassen, Männer im Stehen urinieren. Wie das „große Geschäft“ verrichtet wird, möchte ich hier nicht beschreiben. Es ist auch unbeschreiblich.

Das ist einfach schlimm, wenn auch Scham und Würde abhanden kommen. Eben durch die Not.

Bis Ende 2011 gab es um die Ecke einen sogenannten Hygienecontainer; bei der Errichtung vor Jahren war er prima ausgestattet mit Waschma-schine, Duschen mit warmem Wasser, Toiletten für Frauen und Männer. So machten auch Zahnpasta und Bürste Sinn, auch die Tampons. Etwas Schutz, ein ganz kleines Stück Normalität. Nach Jahren waren viele

Angebote im Container eingeschränkt, es blieben aber die Waschbecken und die Toiletten. Essentials!

Dem Betreiber, dem Bezirksamt Char-lottenburg Wilmersdorf, fehlte das Geld für den laufenden Unterhalt und enorme Reparaturen; so wurde das Angebot leider eingestellt, der Container wurde entsorgt. Alternativen gibt es vor Ort nicht, die näch-sten Wohnungsloseneinrichtungen sind über 30 Minuten Fußweg entfernt. Es ist nicht gut, sich an diesen Zustand zu gewöhnen. Nicht gut für die betroffenen Menschen, aber sicher auch nicht für die übrigen Anrainer in der Jebensstraße, zu denen ja u. a. auch das Oberverwaltungsgericht Berlin und das Museum für Fotografie gehören.

Einige Arbeitsgruppen tagten in der Zwi-schenzeit zu diesem Missstand; greifbare Ergebnisse konnten bislang noch nicht erzielt werden. Viele Berliner wollen helfen, möchten für den Container spenden. Einige

brachten kleinere Beträge in der Bahnhofsmission vorbei, so konnten wir Menschen das Geld für die öffentliche Toilette am Zoo geben. Immerhin: Zwei Sponsoren stellten verbindlich größere Beträge für den regelmä-ßigen Unterhalt in Aussicht, zusammen 15.000 Euro.

Ein Anfang? Der regelmäßige Unterhalt würde wohl bei jährlich knapp 50.000 Euro liegen, mit Waschmaschinen, Duschen, einer kleinen Hygienestation. Ist das Glas halb voll oder halb leer? Für die Planer wohl noch halb voll. Für die betroffenen Wohnungslosen ist es schon lange ganz leer!

In Artikel 1, Absatz 1 des deutsches Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dieser Grundastz mutiert in der Jebensstraße täglich leider für viele wohnungslose Menschen zur Lyrik.

n Dieter Puhl, Leiter der Bahnhofsmission am Zoo

Der Hygienecontainer war sehr beliebt bei den Obdachlosen am Bahnhof Zoo!

Waschbecken & Toiletten aus Edelstahl

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10 „So ein Haus – und noch ein Gärtchen dazu“Ende 2002 gründete Dr. Jenny De la Torre die nach ihr benannte Stiftung mit dem Ziel, ein ganzheitliches Gesundheitszen-trum für Obdachlose aufzubauen. Das ist ihr mithilfe von vielen ehrenamtlichen Helfern, Spendern und der Stadt Berlin gelungen, denn seit über sechs Jahren gibt es eine solche Einrichtung in der Pflugstraße 12 in Berlin-Mitte, wo Menschen ohne Krankenversicherung nicht nur kostenlos ärztlich behandelt werden, sondern wo vielen auch geholfen wird, aus der Obdachlosigkeit auszusteigen.

Es gibt Träume, die wahr werden, auch wenn etwas anders, als einst gedacht. Ein gutes Beispiel dafür ist Jenny De la Torre Castro. Die 1954 in der Kleinstadt Nazca unweit der peruanischen Südküste

geborene und im Anden-Städtchen Puquio aufgewachsene zielstrebige und warmherzige Frau wusste schon als kleines Mädchen, dass sie Ärztin wird. Die Liebe zu den Menschen, vor allem jenen, die in Armut leben, hat die Tochter eines Kaufmanns und einer Bibliothekarin von ihren Eltern gelernt. Als Erwachsene wollte sie in einem Armenviertel in Peru eine Arztpraxis aufmachen und die Leute umsonst behandeln. So begann sie 1973, Medizin in der Stadt Ica in Süd-Peru zu studieren.

Eine Postkarte aus Rostock 33 Jahre später und über 11.000 Kilometer von Ica entfernt ging Jennys Traum in Erfüllung: Am 6. September 2006 eröffnete sie ein Gesundheitszentrum für Obdachlose in der ruhigen Pflugstraße 12 in Berlin-Mitte. Es befindet sich in einem schönen zweistöckigen Haus mit einer Klinkerfassade und einem großen Garten. Dass dieses Gesundheitszentrum entstehen konnte, ist die Folge eines glücklichen Zufalls: Die Medizinstudentin De la Torre erfuhr aus einer Postkarte, die ihr eine Bekannte aus Rostock geschickt hatte, dass man sich um ein Studienstipendium in der DDR bewerben kann. „Da habe ich zu meinen Kommilitoninnen gesagt: ‚Komm, wir machen das auch.‘ Es wirkte am Anfang wie ein Scherz, und die anderen meinten: ‚Nein, das ist mir zu weit, ich bleibe lieber zu Hause.‘ Am Ende habe ich das allein durchgezogen“, erinnert sie sich. „Ich versuchte, ein solches Stipendium zu bekommen und fuhr zur DDR-Botschaft nach Lima, denn ich fand es sehr interessant und wichtig, in Deutschland zu studieren, wo die Wissenschaft hoch entwickelt war.“

Nach der Wende im Keller 1976 kam Jenny De la Torre Castro nach Leipzig, wo sie zuerst im Herder-Institut Deutsch lernte und dann an der Karl-Marx-Universität Medizin studierte. 1983 zog sie nach Berlin, um an der Charité eine fachärztliche Ausbildung zur Kinderchirurgin zu machen. 1990 schloss sie dort die Ausbildung als Fachärztin ab und promovierte. 1986 wurde ihr Sohn geboren, und sie kehrte kurz darauf nach Peru zurück, um als Ärztin zu arbeiten. Doch ihr Abschluss wurde nicht anerkannt. 1990 startete sie noch einen Versuch, ihrem Heimatland als Medizinerin zu dienen, doch die bürokratischen Hürden waren zu hoch, um dort ihren Beruf auszuüben und Menschen in den Barridas genannten Armenvierteln ärztlich zu versorgen. In Berlin schien sie am Anfang auch nicht besonders willkommen zu sein. Weil sie nur über ein Touristenvisum

verfügte, bekam sie keine Arbeitserlaubnis. Nachdem sie 1992 die Aufenthaltsgenehmigung schließlich erhielt, arbeitete Jenny zuerst an einem Projekt für in Not geratene Schwangere und Mütter, wurde dann ab 1994 von MUT (Medizin und Technik – Gesellschaft der Gesundheit), einem gemeinnützigen Unternehmen der Ärztekammer Berlin in der

„niederschwelligen medizinischen und sozialpädagogischen Betreuung von Obdachlosen“ beschäftigt. Ihr Arbeitsplatz lag am Ostbahnhof, genau in dessen Keller: ein winziger fensterloser Raum ohne Telefon, Dusche, Toilette, vom DRK zur Verfügung gestellt.

Die Obdachlosen vom Ostbahnhof Der Kontakt mit Menschen, die auf der Straße ihr Dasein fristen, wurde für die Peruanerin zu einem Erlebnis, das nicht nur ihr Leben, sondern vor allem ihr Weltbild erschütterte und veränderte: „Ich war eigentlich darauf vorbereitet, in meine Heimat zurückzukehren um mich dort mit dem Elend auseinander zu setzen. Ich war nicht darauf vorbereitet, so etwas in Deutschland zu sehen. Wir wussten ja, dass es ein Sozialhilfesystem in Deutschland gibt. Die Menschen haben Recht auf Arbeitslosengeld und Krankenversicherung. Es besteht ein funktionie-rendes Netzt an staatlicher Hilfe, die jeder theoretisch annehmen kann, sodass alle aufgefangen werden können. Aber ich habe gesehen, dass viele Menschen, hauptsächlich aus dem westlichen Teil der Stadt oder

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Jenny De la Torre hat ein Herz für Obdachlose

Gesundheitszentrum für Obdachlose in der Pflugstraße 12

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Jenny De la Torre-StiftungPflugstraße 1210115 Berlin Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag von 8 bis 15 Uhr, Freitag von 8 bis 14 Uhr

8 www.delatorre-stiftung.de

aus den alten Bundesländern, so kaputt waren, was ich einfach nicht glauben konnte.“ Sie kam mit Verwahrlosung in Berührung, „obwohl ich früher dieses Wort nicht kannte.“ Sie merkte, dass die Patienten, die in ihre Sprechstunde kamen, sich aufgegeben haben, denn anders konnte sie sich ihren Zustand nicht erklären: „Dass die Leute angewachsene Socken haben, kann man sich bei der schlimmsten Armut überhaupt nicht vorstellen. Aber ich habe das mit eigenen Augen gesehen: Kleidung, die mit der Haut verwachsen ist, weil sie ewig nicht ausgezogen wurde; Läuse, Schleppe, Krätze und andere Infektionen der Haut, die tagelang, monatelang nicht behandelt wurden. Und das alles mitten in Berlin!“

Nur mit Worten ist nicht zu helfen Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass es am Ostbahnhof eine Stelle gibt, wo die körperlichen und seelischen Leiden der in Not Geratenen mit viel Respekt und Empathie behandelt werden, obwohl es dort, wie Frau Dr. De la Torre Castro sagt, „kein Geld für Verbandstoff, für Medikamente, für nichts gab. Wir mussten alles aus Spenden finanzieren; wir sind auf die Suche nach Kleidung und nach Medikamenten gegangen, denn nur mit Worten ist den Obdachlosen nicht zu helfen. Damals habe ich gemerkt, dass die medizinische Behandlung allein unzureichend ist, um die Leute weg von der Straße zu bekommen. Dazu brauchen sie Sozialarbeiter, Rechtsanwälte, Psychologen und deren massive Unterstützung, weil Obdachlosigkeit bedeutet, kein Zuhause, keine Familie, keine Freunde, keinen Ausweis zu haben und häufig süchtig zu sein. Obdachlosigkeit ist ein außerordentlich komplexes Problem, das ganzheitlich behandelt werden muss. Weil die Leute kein Geld beziehen, fahren sie schwarz,

machen sich strafbar und gehen ins Gefängnis. Gewalt spielt auch eine Rolle, sodass sie wieder im Gefängnis landen. Ihr Leben ist also ein Teufelskreis. Ich verstand, dass ich ihn mit meinen Salben nicht unterbrechen kann, denn die Hilfe, die sie brauchen, ist, von der Straße weg zu kommen.“ Schon damals hat Jenny De la Torre Castro von einem Haus geträumt, in dem die Obdachlosen unentgeltlich und umfassend betreut werden, wo ihnen ein Team aus Ärzten und anderen Fachleuten zu einem gesunden Körper und einem gesunden Geist, zu einem festen Wohnsitz und einem würdigen Leben verhelfen kann. „Das war so, als würde man von einem Lottogewinn träumen: So ein Haus und vielleicht noch ein Gärtchen dazu wären ja perfekt, dann könnten wir dort dieses und jenes machen.“

Eine Ärztin ist kein Engel Jenny De La Torres Einsatz für die Obdachlosen vom Ostbahnhof war ein Thema, das von den Medien gern aufgegriffen und häufig verbrei-tet wurde. Man nannte sie „Mutter Teresa aus Berlin“ und „Engel der Obdachlosen“, was sie zwar öffentlich und entschieden bestritt, denn sie ist die Mutter ihres Sohnes und kein Engel, sondern eine Ärztin, doch das half ihr, bekannt zu werden, um der Verwirklichung ihres Traums näher zu kommen. 1997 verlieh ihr Roman Herzog das Bundesver-dienstkreuz, 2002 wurde sie mit der „Goldene Henne“ der Zeitschrift Superillu ausgezeichnet. Mit dem Preisgeld von 25.000 Euro gründete sie die Jenny De la Torre Stiftung: „Damit hatte ich ein Instrument in der Hand, mit dem ich arbeiten und Spenden sammeln konnte.“ 2003 wurde ihre ganze Stelle bei der MUT auf eine halbe Stelle reduziert: Das wollte die Ärztin nicht hinnehmen und kündigte, sodass sie sich von nun an um ihre Stiftung ausgiebig kümmern konnte. 2004 bekam sie vom Bezirksamt Berlin-Mitte das Haus in der Pflugstraße 12 für zehn Jahre mietfrei zur Verfügung und konnte dort ihr Gesundheitszentrum für Obdachlose etablieren. „Weil das Gebäude in einem sehr schlechten Zustand war, musste hier alles neu gemacht werden: Türen. Fenster, Wände, Fußböden, Heizung. Viele Leute, die beim Aufbau angepackt haben, haben das ehrenamtlich getan.“ Mittlerweile hat die Stiftung das Haus gekauft.

Immer in Bewegung Das Gesundheitszentrum für Obdachlose in Berlin ist ein Musterbeispiel des sozialen Engagements. In dem ansehnlichen alten Klinkerhaus, direkt neben der End- und Starthaltestelle der Straßenbahn 6 gelegen, arbeiten heute neben der hauptamtlichen Ärztin Dr. De la Torre neun ehrenamtliche, meistens pensionierte Fachärzte, darunter drei Hau-tärzte, zwei Internisten, zwei Orthopäden, eine Zahnärztin und eine Augenärztin, ferner eine ehrenamtliche Psychologin, ein Krankenpfleger, zwei ehrenamtliche Rechtsanwälte, eine Sozialarbeiterin und eine ehrenamtliche Friseurin, deren kostenlose Dienstleistungen sich einer großer Beliebtheit erfreuen. Das Zentrum hat auch eine Suppenküche mit zwei Mitarbeitern und eine Kleiderkammer, in der ebenfalls zwei Mitarbeiter beschäftigt sind. Weil die Patienten, unter denen sich 83 Prozent Männer befinden, vor dem Arztbesuch duschen können, werden neben Kleidung, Schlaf- und Rucksäcken auch Hygieneartikel und Hand-tücher verteilt. „Alles, was Sie hier sehen, sind Sach- oder Geldspenden. Es sind ungefähr 200.000 Euro im Jahr notwendig, damit das Zentrum funktionieren kann.“ Was ihr besonders am Herzen liegt, ist es, den Menschen zu helfen, nicht mehr auf der Straße leben zu müssen. „Die Zahl der Aussteiger ist schwer zu benennen, denn Obdachlose sind immer in Bewegung, doch es gibt Erfolge. Letztens ist zu mir ein Mann aus Italien gekommen, der dort geheiratet hat. Er sagte, dass er jetzt eine Familie sowie eine Arbeit habe und uns einfach für sein Glück danken und umarmen wollte.“ Was Jenny De la Torre Castro „selbstverständlich auch sehr gefreut“ hat.

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Behandlungszimmer der Augenärztin im Gesundheitszentrum für Obdachlose

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8 www.visitberlin.de8 www.citytourcard.com8 www.berlin.de/sen/soziales/sicherung/berlinpass/

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l Spare, spare, Häusle baueDas kulturelle Angebot in Berlin lässt sich mit Rabattkarten günstiger genießen

„Spare in der Zeit, so hast du in der Not“, heißt es. Das gilt zwar nicht mehr, da selbst Tagesgeldzinsen nicht einmal die Inflation ausgleichen, aber Sparen macht trotzdem Spaß. Schließlich klingt Schnäppchen machen so ähnlich wie Schnippchen schlagen, und wer tut das nicht gerne. Besonders unter Touristen sind Inklusivkarten beliebt, die nicht nur die Kosten für den öffentlichen Personennahverkehr beinhalten, sondern auch Eintritte für Sehenswürdigkeiten. Praktisch dabei ist außerdem, dass durch das Angebot der Vergünstigungen dem Besucher die Suche nach den Standorten schon abgenommen wurde. So lässt sich schnell eine Tour entlang der Attraktionen absolvieren. Wie teuer so eine Rabattkarte ist, hängt davon ab, welche Zonen man befahren möchte (AB oder ABC) und wie viele Rabatte für Museen und Muss-sehens inbegriffen sind.

Kompliziert: die „Berlin WelcomeCard“Die bekannteste ist mit Sicherheit die „Berlin WelcomeCard“ der „Berlin Tourismus & Kongress GmbH“. Eine Dreitageskarte kostet 24,50 Euro, auch eine Zwei- und Fünftagevariante gibt es. Man bekommt sie prak-tischerweise nicht nur im Internet, sondern auch an den Schaltern der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) und der Deutschen Bahn (DB) sowie an touristischen Zielpunkten der Stadt. Leider muss man sich vorher gut überlegen, welche Zonen man befahren wird, denn es ist nicht willkommen, auf die „WelcomeCard“ einen Anschlussfahrschein (1,60 Euro) für den Bereich C zu lösen. Wer einen Abstecher nach Potsdam machen möchte, der muss dann erneut einen BC- (2,80 Euro) oder ABC-Fahrschein (3,10 Euro) lösen. Neben freier Fahrt kann der freie Bürger Ermäßigungen bei rund 200 Partnern genießen, die 25 bis 50 Prozent betragen sollen. Der ADAC kam kürzlich in einem Test auf einen durchschnittlichen Rabatt von weniger als 30 Prozent, was das größte Problem der Berliner Inklusivkarten verdeutlicht: Wer nicht innerhalb kürzester Zeit intensiv die Angebote nutzt, spart wenig bis gar nichts gegenüber dem Einzelkauf der Fahr- und Eintrittskarten. Aber wer will schon durch bedeutende Museen und vorbei an weltberühmten Exponaten hetzen, nur um ein paar Euro Rabatt zu ergattern? Zwar gibt es auch die Variante „WelcomeCard Museumsinsel AB“ für 34 Euro, in der zumindest die Eintrittspreise der Museumsinsel enthalten sind, aber auch hier stellt sich die Zeitfrage.

Etwas verwirrend: die „Berlin CityTourCard“Eine weitere Rabattkarte ist die „Berlin CityTourCard“ und wird ebenfalls von der „Berlin Tourismus & Kongress GmbH“ herausgegeben. Die Dreitageskarte kostet 22,90 Euro. Auch hier ist der ÖPNV inbegriffen (AB), die Anzahl der Ermäßigungen ist jedoch mit 48 deutlich geringer im Vergleich zur „WelcomeCard“. Ob sie also ein Schnäppchen ist, hängt stark davon ab, ob ausgerechnet die Attraktionen enthalten sind, die man sehen möchte und ob die Rabatte hoch genug sind. Denn auch drei Tagesfahrscheine und ein Spaziergang an der Spree kosten nur 19,50 Euro. Dass es zwei so ähnlichpreisige Touristenkarten zumal vom selben Unternehmen gibt, ist verwirrend und eigentlich überflüssig.

Ziemlich perfekt: der „berlinpass“Die Königin unter den Rabattkarten ist mit großem Abstand freilich der „berlinpass“, der seit Januar 2009 von der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales angeboten wird. Der richtet sich jedoch nur an Berliner, die im Sozialleistungsbezug sind. Die Ersparnisse und Angebote sind enorm. Allein der Monatsfahrschein der BVG kostet mit nur 36 Euro über die Hälfte weniger als der reguläre Preis. Die Inhaber des sechs Monate gültigen Passes haben Zugriff auf eine große Auswahl an Vergünstigungen aller Bereiche. So gelten geringere Kursgebühren an den Volkshochschulen, es gibt kostenlose Jahreskarten für die Berliner Bibliotheken, gesenkte Tarife in Schwimmbädern und Sportvereinen, und auch Besuche von Theatern und Museen sind deutlich günstiger. Erhältlich ist er kostenlos gegen Nachweis der Bedürftigkeit bei den Bürgerämtern der Bezirke. Für dieses Angebot, das Bedürftige weiterhin am sozialen und kulturellen Leben teilhaben lässt, gebührt der Stadt ein dickes Lob. (Wird ja mal Zeit.) Fest steht aber auch, dass man mit Berlinrabattkarten so richtig nur dann spart, wenn es einem ohnehin schon dreckig geht.

Für alle anderen (Gering- und Normalverdiener) gilt daher: Schaffe, schaffe, Häusle baue.

n Boris „Pfennigfuchser“ Nowack

Info:

Wirklich günstig wird Berlin erst mit dem berlinpass für Bedürftige

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lFreiheit? Wo denn?Versprechen und Wirklichkeit – Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Freiheit

Freiheit ist, platt gesagt, die Möglichkeit, ohne Zwang unter mindestens zwei Möglichkeiten wählen zu können: Das ist zunächst die Möglichkeit, unter

Optionen des Handelns frei wählen zu können. Neben der Freiheit des Handelns wird noch von Willensfreiheit gesprochen. Hier geht es um selbst gesteckte Ziele. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland kommt das Wort „Freiheit“ oft vor, doch von Freiheit an sich ist keine Rede. Artikel 1 sagt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Der Artikel 2 gewährleistet im Absatz 1 das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und im Absatz 2 das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die eigene Persönlichkeit kann sich nur entfalten, wenn die Wahrung der Menschenwürde Ziel staatlichen Handelns ist. Weder Knecht noch Sklave können frei handeln.

Wirklichkeit in „Jobcenter“Ich lebe nach vielen Jahren der Mittellosigkeit von Arbeitslosengeld II, bin wie hunderttausende andere Mitbürger Berlins „Kunde“ in einem der zwölf „Job-center“. Ich muss sagen, dass ich in der Regel korrekt behandelt werde. In der Regel heißt, ich musste einige Male mein Recht durchsetzen, ein Mal mit Antrag auf einstweilige Anordnung beim Sozialgericht Berlin. Weil ich die Gremien der Woh-nungslosenhilfe regelmäßig besuche, kenne ich mich einigermaßen gut in den wichtigen Bestimmungen der Sozialgesetzbücher aus. Deshalb habe ich einige Menschen begleitet und in meiner Gegenwart sind die „Kunden“ dann auch als Kunden behandelt worden.

Ein typisches Beispiel: Hannes lebte ohne Strom. Er hatte wie viele andere „Kunden“ seinen Obolus an Vattenfall nicht bezahlt, wurde vergeblich gemahnt, und irgendwann wurde der Saft abgestellt. Er beantragte die Übernahme der Schulden und wurde von seiner zuständigen Sachbear-beiterin wegen einer laufenden Abzahlung abgeschmettert. So krass,

dass Hannes regelrecht Angst hatte, den Weg noch einmal zu gehen. Mit mir hat er sich dann aufgemacht. Nach langem Warten über die vielen Stationen ging es dann wie von selbst. Seine Stromschulden wurden als Darlehen übernommen, und obgleich da noch andere Schulden waren, wurden die Raten nicht verdoppelt, sondern blieben bei zehn Prozent des Regelsatzes, ganz so wie es das Sozialgesetzbuch und die Sozialgerichte vorschreiben. Dass das nicht die Regel ist, beweisen die vielen Klagen bei den Sozialgerichten. Das Sozialgericht Berlin hat Anfang dieses Jahres wegen der Klageflut von „Kunden“ der „Jobcenter“ neun Richter einstel-len müssen. Seit Jahren sind zwei Drittel der Richter an diesem Gericht mit Klagen zum SGB II befasst. Jedes Jahr gibt es fast dreißigtausend Klagen! Die Wahrung der Menschenwürde sieht anders aus.

Das Problem sind nicht Fehler der MitarbeiterZu den Zeiten, als das Bundessozialhilfegesetz galt, war längst nicht alles in Ordnung, aber die Mitarbeiter in den Sozialämtern waren persönlich erreich- und ansprechbar. Callcenter mit unzureichend informierten Mitarbeitern sind kein Ersatz für persönliche Gespräche, erst recht nicht in strittigen Fällen. Das deutet auf eine gewisse Systematik für die Missachtung der Menschenwürde und damit der freien Entschei-dung ohne Zwang hin. Der Jesuitenpater und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach unterstellt der Hartz-Kommission den Willen, sich mit den Menschen ohne Arbeit zu befassen, kritisiert aber, dass die Kommission über die Armen, aber nicht mit den Armen gesprochen hatte. Apropos Hinterzimmer. Ein Richter am Hessischen Sozialgerichtshof hat bei einer

Veranstaltung zur Auseinan-dersetzung um den Regelsatz erklärt, dass das sozialö-konomische Minimum als Regelsatz der Sozialhilfe im Hinterzimmer ausgekungelt wurde. Menschenwürde sieht anders aus.

Zurück zu Hartz. Ich habe 2007 aus dem Munde eines Pol it ikwissenschaf tlers hören müssen, dass in der Kommission wesentlich mehr Förderung empfohlen wurde, als das SGB II enthielt. In den Beratungen des Gesetzes in den Ausschüssen hat die

Union die ganzen Melde- und Sanktionsmechanismen durchsetzen können. Die SPD hatte dafür die zentrale Führung dieser Center durch die Bundesagentur für Arbeit und damit durch das damals von der SPD geführte Bundesministerium für Arbeit und Soziales erhalten. Die Folge ist eine Flut von Dienstanweisungen an die Mitarbeiter vor Ort. Das ist die für die betroffenen Menschen schlechteste Lösung. Die Politiker haben in ihrem Hauen und Stechen Freiheitsrechte eingeschränkt. Grundgesetz ist eben eine Sache, die Wirklichkeit in Amtsstuben die andere. Das dürfen wir „Kunden“ ihnen im Wahljahr aufs Butterbrot schmieren.

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Jobcenter in Berlin

Sozialgericht Berlin (Blick vom Humboldthafen)

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Alex Offener Kanal BerlinGeschichte des Offenen Kanal Berlin und Erläuterung des neuen Sendekonzepts

Die Tradition der Offenen Kanäle in Deutschland ist noch nicht so lang wie man denkt. Los ging es in Ludwigshafen am 1. Januar 1984. Der erste

Offene Kanal wurde eröffnet. Schon die 68er führten Diskussionen über die Teilhabe des einzelnen Bürgers an Rundfunk und Fernsehen. Offene Kanäle sind als Bürgerplattform gedacht, wo sich die Menschen mitteilen, einbringen, darstellen und ihre Meinung – worüber auch immer – äußern können. Der Bürger sollen bezüglich Medien einbezogen werden, die Möglichkeit haben Medienkompetenz zu erwerben. Dabei geht es nicht nur um die Gestaltung von Sendungen, sondern auch um technisches Know-how, wie das Bedienen von Schnittplätzen, Fernsehkameras und auch das Hörfunksendepults. Hierbei ging es überwiegend um Einzelnutzer, die ihre Sendezeit frei buchen und die von ihnen konzipierte Sendung anbieten konnten. An Gruppen war zu Anfang überhaupt noch nicht gedacht worden.

Der offene Kanal Berlin, der seinen Sitz seit Sendebeginn auf dem ehe-maligen AEG-Werksgelände im Bezirk Wedding hat, war bei Gründung ein Teil des Kabelpilotprojektes und bestand aus einer Fernsehsendung des Vereins „Berliner Bürgergemeinschaft e. V.“. Der Verein verfügte über ein Zeitfenster im Mischkanal. Zwei Vereine hatte der Kabelrat für dieses Fenster zugelassen. Eben jene erwähnte „Berliner Bürgergemeinschaft e. V.“ und „Offener Kanal Berlin e. V.“. Richtig kompliziert wurde es ab dem 14. Oktober 1985: Der Kabelrat bestätigt die Nutzungsordnungen zweier weiterer Vereine, was zur Folge hatte, dass Sendezeiten und Produktionskapazitäten zwischen vier Vereinen aufgeteilt wurden, was die Organisation des Senders erschwerte, auch weil die Vereine unterschiedliche Zulassungsbedingungen hatten. Dies führte oft zu kuriosen Missverständnissen und erschwerte den Sendebetrieb erheb-lich. 1986 wurde dann eine einheitliche Nutzungsordnung eingeführt und 1987 wurde der Offene Kanal der Medienanstalt Berlin Brandenburg angegliedert und damit öffentlich-rechtlich.

Zwischendurch gab es immer und immer wieder die Diskussionen über die inhaltliche und technische Qualität vieler Sendungen, die ich in meiner aktiven Zeit intensiv erlebte. Da standen dann, gerade im kleinen Studio Leute, die sich eine geschlagene Stunde vor die Kamera stellten und teilweise sogar alkoholisiert, zusammenhangloses Zeug quatschten oder kuriose Theorien über weiß ich was vertraten, die in keiner Weise nachvollziehbar waren. An manchen Tagen, oft bevorzugt an den Wochenenden, sah man oft stundenlang „Hare Krishna“ betende Leute, was nach gewisser Zeit viele Zuschauer nervte und zu zahlreichen Beschwerden führte. Dilettantische „Moderatoren“ quälten sich durch schlecht bis gar nicht konzipierte Sendungen.

Die technische Qualität mancher Sendungen war schlicht unzumutbar. Das ging los mit chaotischen Schnitten bei Livesendungen oder Sendebeiträgen vom Band und setze sich mit einem nicht anzuse-henden Geflimmer und verschwommen Bildern von alten x-mal überspielten, verbrauchten 1,50

DM-Videobändern fort. Die Zuschauer schalteten nicht mehr ein und Quoten zwischen 0 und 0,5 Prozent wurden OKB-Alltag. Der offene Kanal Berlin wurde praktisch vom Zuschauer ignoriert. Dies alles mündete 2000 in eine große Krise, die den offenen Kanal Berlin kurz vor der Abschaltung sah.

Die Folge dieses ganzen Ärgers und Imageverlustes des Offenen Kanals war, dass 2008 eine Reform des Offenen Kanals von den Mitarbeitern und der Medienanstalt Berlin Brandenburg beschlossen wurde. Am 27.09.2009 stellte der Offene Kanal Berlin in alter Form seinen Sende-betrieb ein und wurde durch Alex Offener Kanal ersetzt, der wesentlich höhere inhaltliche und technische Ansprüche stellt als sein Vorgänger.

Die frei verfügbaren Sendezeiten für einfache Bürger sind erheblich eingeschränkt. Sendungen mit religiösen und spirituellen Inhalten sind im Kaleidoskop, wie das Zeitfenster für Einzelnutzer genannt wird, nur beschränkt zugelassen. Derartige Sendungen können nur noch montags bis freitags 6 bis 6 Uhr 45 und samstags und sonntags 7 Uhr 45 bis 9 Uhr 30 gesendet werden. Die Kaleidoskop-Zeiten sind montags bis freitags 2 bis 11 Uhr 15 und samstags und sonntags 2 bis 9 Uhr 30.

Im normalen Sendebetrieb des Alex ist eine freie Buchung durch Bürger/innen nicht möglich. Von der Leitung des Alex werden Sendungen bestimmt, die dem Ziel folgen, Zuschauer zu binden und Quote zu machen. Mag sein, dass dies auch von Fall zu Fall gelingt. Aber sollte dies der Sinn offener Kanäle sein? Kommt dies nicht irgendwie doch einer Zensur nahe? Wenn die Leitung Sendungen von Bürger/innen bestimmt, die ins Programm aufgenommen werden, ist immer die Möglichkeit der Willkür oder Sympathieentscheidung gegeben. Dazu kommt auch noch, dass das Kaleidoskop-Fenster zu Zeiten gesendet wird, die quotenschwach sind und fast nicht eingeschaltet werden. Es besteht die Gefahr, dass gute oder sehr gute Kaleidoskop-Sendungen dadurch untergehen. Sehr gut finde ich die Entscheidung, dass bei erheblichen Inhalts- und Konzepti-onsmängeln sowie technisch schlechter Qualität, gebuchte Sendezeiten im Kaleidoskop aberkannt werden können. Schwierig finde ich, dass dies nur die Leitung des Senders entscheidet. Vielleicht könnte ein noch zu gründender Nutzerrat dies gemeinsam mit der Leitung entscheiden, gerade um Sympathie- und Willkürentscheidungen zu erschweren.

n Detlef Flister

Aus dem Offenen Kanal Berlin wird ALEX

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lGemeinsam kann man Großes schaffenGenossenschaften als selbst organisierte Wirtschaftseinheiten

Wo immer einzeln Han-delnde zu schwach sind, ihre Interessen und

Erfolge im Wirtschaftsleben durchzusetzen, schließen sie sich zusammen und bilden Genossenschaften, die sich dem Handel und Konsum, dem Einkauf, dem Vertrieb und der Produktion, dem Wohnungsbau oder dem Kreditwesen widmen. Genossenschaften sind demo-kratisch geführte Wirtschafts-unternehmen und der Hilfe und Selbsthilfe verpflichtet. Das Genossenschaftsgesetz definiert sie als „Gesellschaften von nicht geschlossener Mitgliederzahl, welche die Förderung des Erwerbs oder der Wirtschaft ihrer Mitglieder mittels gemein-schaftlichen Geschäftsbetriebes bezwecken.“

Ein Blick zurückDie Genossenschaften haben ihren Ursprung in den demokratischen Bewegungen des Vormärz im 19. Jahrhundert und in der Arbeiterbe-wegung. Friedrich Wilhelm Raiffeisen schuf mit seinem Hilfsverein ein Instrument zur Unterstützung armer Landwirte, das diese bei Missernten vor Wucherern schützte und Kredite für die Modernisierung bot. Hermann Schulze-Delitzsch gründete Handwerkergenossenschaften und erste Volksbanken. In Eilenburg wurde 1850 die erste Konsumgenossenschaft gegründet, um die Arbeiterschaft mit guten Lebensmitteln zu angemes-senen Preisen zu versorgen.

Organisation der GenossenschaftenDie innere Organisationsstruktur der Genossenschaften ist streng demokratisch. Jedes Mitglied hat in den Entscheidungsgremien nur eine Stimme, unabhängig davon, wie hoch seine Einlage ist. Man kann sich also mit Geld keine Macht in der Genossenschaft kaufen. Jeder kann jederzeit Mitglied der Genossenschaft werden, wenn er eine Einlage einzahlt und der Vorstand dem Beitrittsantrag zustimmt. Jedes Mitglied hat von Anfang an gleiche Rechte. Die Geschäftsberichte sind für alle Mit-glieder öffentlich. Auf die einzelnen Einlagen werden jährlich Gewinne ausgeschüttet, die in der Regel bedeutend höher sind als die Sparzinsen. Wirtschaftliches Ziel der Genossenschaften ist nicht eine Profitmaximie-rung, wie sie Aktiengesellschaften oder anderen Kapitalgesellschaften eigen ist, sondern die förderliche Entwicklung der Genossenschaft. Da die Genossenschaften in der Regel im überschaubaren regionalen Raum wirtschaften, sind sie eher geeignet, auf die örtlichen Bedürfnisse einzugehen.

Genossenschaften in BerlinIn Berlin sind zahlreiche Genossenschaften tätig und spielen im Wirt-schaftsleben der Stadt eine wichtige Rolle. Die Berliner Volksbank ist eine Genossenschaftsbank, die größte in Deutschland mit über neun Milliarden Euro Bilanzsumme. Die Zeitung „tageszeitung“ (TAZ) ist genossenschaftlich organisiert. Die „EDEKA“ ist eine Einkaufsgenos-senschaft des Einzelhandels. Besonders wichtig sind die zahlreichen Wohnungsbaugenossenschaften. Sie sind seit der Wende zum 20. Jahr-

hundert entstanden, um der Wohnungsnot zu begegnen und den armen Bevölkerungsteilen würdige und gesunde Wohnungen zu schaffen. Wer Mitglied einer Wohnungsbaugenossenschaft ist, entscheidet mit, wie die Miete und notwendige Erhaltungs- und Sanierungsmaßnahmen gestaltet werden, und einen Verkauf seiner Wohnung an Immobilien-spekulanten muss er nicht befürchten.

Der KonsumDie Konsumgenossenschaften waren die populärste Form der Gemein-wirtschaft. Sie waren die Alternative zum Krämerladen, wo die Arbeiter-familien ihr sauer verdientes Geld für oft überteuerte und minderwertige Produkte des Lebensunterhalts verloren. Der Konsum, wie die Läden vereinfacht hießen, garantierte günstige Preise und unverfälschte Waren mit korrektem Gewicht. Im Konsum wurde immer bar bezahlt, was einer Schuldabhängigkeit und Verelendung vorbeugte. Im Gegensatz zum übrigen Einzelhandel gab es keine Rabattmarken für drei Prozent, sondern Rückvergütung aus dem Geschäftsgewinn für die Mitglieder. Wer viel im Konsum kaufte, konnte auch mit hoher Rückvergütung rechnen. Ich erinnere mich gut daran, wie das immer ein zweites Weihnachtsgeld war. Um von Boykottmaßnahmen unabhängig zu sein, gründeten die Genossenschaften die „Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consum-vereine m.b.H.“ (GEG), die nicht nur als Käufer auf den Großmärkten auftrat, sondern auch eigene Produktionsstätten unterhielt. Die Marke

„GEG“ bürgte für Qualität.

Dem Einzelhandel war der Konsum ein Dorn im Auge. In der Nazizeit wurden die Konsumgenossenschaften gleichgeschaltet und in die Arbeitsfront eingegliedert. Die „EDEKA“ forderte ihre Mitglieder zur Mitarbeit in den NS-Organisationen auf. Als nach dem Krieg die Konsumgenossenschaften wieder aufblühten, wurde 1954 mit dem Verbot der Rückvergütung erneut schwerer Schaden zugefügt. Seit den 1960er Jahren konnten die Konsumläden nicht mehr mit den Discountern mithalten. Die Umsätze und Erträge gingen zurück. Auch die Umwand-lung in die „co op AG“ brachte keine Rettung. Ein Bericht des „Spiegel“ über schwere Bilanzfälschungen der AG war das unrühmliche Ende der Konsumgenossenschaftsbewegung.

n Manfred Wolff

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Postkarte, 1905: Erstes Zentrallager der Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consumvereine m. b. H., GEG, in Hamburg, Engelstraße 31, eröffnet 1902, ab 1903 mit Kaffee-Großrösterei.

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„One Warm Winter“ – Das Leben ist kein U-Bahnhof! Eine famose Spendenkampagne für die Obdachlosen in Berlin!

Mittlerweile zum dritten Mal haben die soziale Straßenzeitung strassenfeger und die Kreuzberger Werbeagentur DOJO die Spen-

denkampagne „One Warm Winter“ gestemmt. Das Motto 2013: „Das Leben ist kein U-Bahnhof!“. Mit dieser frech-frischen Kampagne sollen erneut Geld- und Kleiderspenden für Obdachlose eingebracht werden. Denn: Der Winter in Berlin ist kalt. Sehr kalt. Im vergangenen Jahr wurden Temperaturen unter minus 10°C gemessen und auch in diesem Jahr ist es ähnlich. Für tausende Obdachlose in der Hauptstadt bedeutet dies nicht nur die schwerste Zeit des Jahres – viele erkranken oder sterben im schlimm-sten Fall aufgrund der permanenten Unterkühlung. Der Grund: Notunterkünfte sind häufig überfüllt, und an den meisten Ausgabestellen herrscht akuter Mangel an ausreichender Winterkleidung. Deshalb wollen wir auch 2013 wieder helfen.

Mit dabei in diesem Jahr war auch das Online-

Rabatt-Portals „Groupon“. Die Idee dahinter: Der junge, populäre Anbieter von Online-Rabatt-Aktionen unterstützt One Warm Winter mit einem Charity-Deal. Nutzer konnten über die Plattform einen Euro spenden. Wir waren sehr gespannt, ob das funktioniert.

Doch was wäre so eine Charitykampagne ohne Stars, die Ihr Gesicht für das soziale Engagement hinhalten: Diesmal waren es die Musiker Arnim Teutoburg-Weiß, Sänger und Frontmann der mehr-fach ausgezeichneten Band „Beatsteaks“, Jennifer Weist, Sängerin und Frontfrau der Deutschrock-

Band „Jennifer Rostock“, Marteria, Rap-Musiker, der mit seinem Hit „Lila Wolken” seit September und bis heute die Spitze der deutschen Charts anführt, und MC Fitti, Rap-Musiker, der mit dem Track „30 Grad“ dieses Jahr den Berliner Sommerhit gelandet hat. Außerdem dabei: Komet, Kiezlegende und Tau-sendsassa, der sich nicht nur im Nachtleben Berlins einer großen Bekannt- und Beliebtheit erfreut, und selbstverständlich Wilson Gonzales Ochsenknecht, Schauspieler, Musiker und Kampagnen-Unterstützer der ersten Stunde. Perfekt ins Bild gesetzt wurden sie vom Fotografen Oliver Rath. Der Star-Fotograf hat bereits deutsche Berühmtheiten wie Karl Lager-feld porträtiert und u.a. den RTL-Spendenmarathon „Wir Helfen Kindern” in diesem Jahr begleitet. Er ist ebenfalls Botschafter der Kampagne und damit auch als Plakatmotiv auf den Straßen Berlins zu entdecken.

Doch wir haben nicht nur auf die Plakataktion gesetzt: Am 18. Januar die „One Warm Winter-Spendenparty“ im Club „Bi Nuu“ im U-Bhanhof Schlesisches Tor statt: Rund tausend Gäste verfolgten dort den Liveauftritt von MC Fitti und Marteria und feierten mit den prominenten Kampagnenbotschaftern bis in die frühen Morgen-stunden. Darüber hinaus konnten mehr als 350

Sophie Guggenberger (Groupon) stellt die Aktion vor

Kleidungsausgabe bei mob e.V. Unsere Mitarbeiterin Mara verteilt gespendete Kleidungsstücke am Bahnhof Zoo und am Ostbahnhof

Großes mediales Interesse

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„One Warm Winter“ – Das Leben ist kein U-Bahnhof! Eine famose Spendenkampagne für die Obdachlosen in Berlin!

Kleidungsstücke als Spenden entgegen genommen werden, die bereits vergangene Woche in Teilen vom strassenfeger an Bedürftige ausgegeben wurden.

Und auch den Nutzern des Online-Rabatt-Portals „Groupon“ wurde beim Gedanken an das Kältehil-feprogramm des strassenfeger warm ums Herz: Zwischen dem 10. und 20. Januar erzielte der One Warm Winter Charity-Deal eine beachtliche

Summe in Höhe von 35.000 Euro. Ein Spendenaufkommen, das alle Betei-ligten erfreut und gleichermaßen die Wichtigkeit und Akzeptanz dieses ehrenamtlichen Projekts unterstrei-cht. Sophie Guggenberger, Unter-nehmenssprecherin von „Groupon“, dazu: „Diese Kampagne hat all unsere Erwartungen übertroffen. One Warm

Winter begeisterte unsere Nutzer und Mitarbeiter gleichermaßen und wir sind stolz darauf, mit allen gemeinsam, zur richtigen Zeit einen derart wichtigen Beitrag zur Kältehilfe in Berlin leisten zu können.“

Übrigens: Die Kampagne läuft natürlich weiter. Auf der Webseite www.onewarmwinter.org, die für die aktuelle Kampagne optimiert wurde, erhalten die Besucher nicht nur Informationen zur Kälteproblematik, sie können direkt spenden und ihren eigenen Beitrag leisten, um Bedürftigen einen wär-meren Winter zu ermöglichen. Das Prinzip ist einfach: Mit einem Klick einen Euro spenden

und damit einen direkten Beitrag für die notwen-dige Kleidung leisten. Als besonderer Anreiz wird der Spendengeber – via Facebook-Feature – zum symbolischen Teil der Jacke. Am 04.02.2013 haben wir vor der Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo über die Ergebnisse der Kampagne

informiert. Und – wir haben die ersten, von den Spendengeldern One Warm Winter-Kampagne angeschafften Hoodies, Mützen, Schals, Strümpfe und Handschuhe sowie die auf der Charity-Party im „Bi Nuu“ gespendeten Jacken und anderen Kleidungsstücke ausgegeben. Jetzt sind wir dran, bei namhaften Herstellern hoch-wertige, warme Winterjacken und Thermounterwäsche günstig einzukaufen.

Höchst zufrieden mit den Resultaten ist auch DOJO-Kampagnenchef Daniel Uppen-brock: „Wir sind sehr froh, dass wir gemeinsam mit unseren Partnern, allen voran dem strassenfeger und „Groupon“,

deutschlandweit so viele Menschen erreichen konn-ten. Die Plakatkampagne war auch in diesem Jahr wieder ein voller Erfolg und wir haben es geschafft, vor allem junge Menschen für die Kälteproblematik zu sensibilisieren.“

Deshalb an dieser Stelle noch einmal ein großes Dankeschön an alle Unterstützer und Spender! Ihr habt den Winter ein wenig wärmer für viele Menschen gemacht!

n Andreas Düllick

Info:

Unsere Mitarbeiterin Mara verteilt gespendete Kleidungsstücke am Bahnhof Zoo und am Ostbahnhof

Marteria feiert mit der Crowd auf der Charity-Party im Bi Nuu

One Warm Winter allerorten

Hier werden die gespendeten Kleidungsstücke sortiert

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r „Haben Sie Interesse am strassenfeger?“Die Straßenzeitung „strassenfeger“ ist ein Hilfeangebot zur Selbsthilfe des gemeinützigen Vereins mob – obdachlose machen mobil. Die Hintergründe, mit denen Menschen diese soziale Straßenzeitung verkaufen, sind sehr verschieden. Unsere Redakteurin Jutta H. stellt hier vier ganz verschiedene Verkäufer vor

Marcin, 36:Marcin verkauft den strassenfeger an Orten, an denen viel los ist, am Potsdamer Platz zum Beispiel. „Wenn ich sehe, dass irgendwo eine Veranstaltung zu Ende ist“, sagt er,

„laufe ich schnell dorthin.“ Er, der fast zwei Meter groß ist, spricht dann die Leute an: „Haben Sie Interesse an der Obdachlosenzeitung strassenfe-ger?“ Er sagt, er habe festgestellt, dass vor allem Frauen ihm eine Zeitung abkauften.

Marcin lebt, mit Unterbrechungen, seit 16 Jahren in Deutschland. Sein Deutsch ist fehlerlos. Geboren und aufgewachsen ist er in Landsberg an der Warthe in Polen. Hier hat er 1996 auch Abitur gemacht und einige Semester Germanistik studiert.

Auf Fotos aus dieser Zeit sieht man ihn mit seiner damaligen Freundin während eines Spanien-Urlaubs. Nichts deutet auf das hin, was dann kommt.

Er fängt an, Drogen zu konsumieren. Was als spielerisches Ausprobieren beginnt, manifestiert sich zur handfesten Sucht. Geld muss her. Er verkauft sein Motorrad, begeht Diebstähle. In Berlin, wo er inzwischen

lebt, wird er zum Obdachlosen. Acht Jahre lang schläft er in Treppenhäusern, in der U-Bahn,

in Notunterkünften, hat „kaputte, offene Beine“, wie sie auch andere Drogenab-

hängige haben. Wiederholt muss er ins Gefängnis, auch in der Psychiatrie ist er einige Zeit untergebracht.

„Drogen haben mein Leben kaputt gemacht“, sagt er in der Rückschau. Im August letzten Jahres hat er aufgehört, welche zu nehmen. Von

heute auf morgen, ohne ärztliche Unterstützung. „Ich hatte die Schnauze

voll von Gefängnis und Sucht. Außerdem werde ich älter.“ Eine Sozialarbeiterin

kümmert sich um ihn. Mit ihrer Hilfe hat er eine Wohnung gefunden. Auch Hartz IV kriegt er

inzwischen, ist bei der AOK krankenversichert.

Nach Polen wolle er nicht zurück, sagt er, auch wenn da noch seine Familie sei. Zu lange schon sei er in Deutschland. Irgendwann will er viel-leicht sein Germanistikstudium wieder aufnehmen. Oder „Suchtkranken helfen, wie ich einer war“. Kraftsport will er machen, um wieder in Form zu kommen. Aber erst einmal verkauft er weiter den strassenfeger: „Ich brauche noch Zeit, um wieder auf die Beine zu kommen.“ n

Adriana, 39:Täglich morgens packt Adriana eine Zahl strassenfeger-Zeitungen in ihre Umhängetasche und macht sich auf den Weg. Vor verschiedenen Supermärkten bietet sie den dort ein- und ausgehenden Kunden den strassenfeger an. Manche Standplätze sind begehrt, deshalb spricht sie sich mit anderen Straßenzeitungsverkäufern ab und wechselt von einem zum anderen Supermarkt.

Die Kunden mögen die hübsche Frau gern, die da mit der Zeitung steht. „Sehr freundlich“ seien die Leute zu ihr, sagt Adriana. Obwohl sie kaum deutsch spreche, komme man miteinander ins Gespräch. Sie ist dankbar, dass sie durch den Zeitungsverkauf die Möglichkeit hat, über die Runden zu kommen.Adriana stammt aus Tirgoviste, einer Kleinstadt im Süden Rumäniens. Wie so viele andere Rumänen auch, hat sie das Land verlassen, um im westlichen Ausland Arbeit zu suchen. Zusammen mit ihrem Mann ist sie vor zwei Jahren nach Berlin gekommen. Schnell mussten die beiden sehen, dass für sie, zumindest solange Deutschland

seinen Arbeitsmarkt für Rumänen und Bulgaren verschlossen hält, praktisch keine Chance besteht, legal hier zu arbeiten.

Eine Zeit lang sind die beiden zurück nach Rumänien gegangen, weil ihr Mann an Krebs erkrankt war. Im letzten November ist er daran gestorben. Adriana ist alleine zurück nach Deutschland gekommen. „Dort, wo ich herkomme, gibt es keine Chance, Arbeit zu finden.“ Ihre drei Kinder hat sie in ihrer Wohnung in Rumänien zurückgelassen.

Die Mädchen sind 17, 15 und 7 Jahre alt. Die beiden älteren kümmern sich um die kleine Schwester. Alle drei gehen zur Schule. „Das Sozialgeld, das wir vom Staat bekommen, ist sehr sehr klein“, sagt Adriana, umgerechnet seien es etwa 50 Euro im Monat.

Adriana schickt ihren Kindern regelmäßig etwas Geld, das sie hier durch den strassenfeger-Verkauf

einnimmt. Sie selber lebt in Berlin unter sehr einfachen Bedingungen, schläft im Winter in Notunterkünften, im

Sommer draußen im Park. Erst zu Ostern wird sie ihre Kinder in Rumänien besuchen. Sie hofft, dass sie eines Tages ihre

kleinste Tochter zu sich nach Berlin holen kann. n

„Ich hatte die Schnauze voll von Gefängnis und Sucht“

„In Rumänien gibt es keine Chance, Arbeit zu finden.“

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Florian, 21:Florian verkauft den strassenfeger vor dem Berliner Hauptbahnhof, an der Seite, die zum Regierungsviertel zeigt. Reisende, Touristen strömen hier ein und aus. Einige verweilen eine Zigarette lang vor dem Bahn-hofseingang. „Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht Interesse am Obdachlosenmagazin strassenfeger?“ ist der Satz, mit dem Florian seine potenziellen Kunden anspricht.

Die meisten Leute sind ihm wohl gesonnen. Wer ihm eine Zeitung abkauft, rundet die ein Euro fünfzig, die sie kostet, in der Regel auf zwei Euro auf. Doch manchmal hört er auch den Satz: „Geh arbeiten, Junge!“ Dann entgegnet er: „Das tue ich gerade. So kann ich ehrlich Geld verdienen, ich will nämlich nicht kriminell sein.“

Nach Berlin gekommen ist er 2009. Sein Elternhaus in Magdeburg war für ihn nie das, was er hätte ein „Zuhause“ nennen können. Das, was man als Kind an emotionaler Nahrung braucht, um mit Zuversicht und Selbstvertrauen groß zu werden, hat es dort nicht gege-ben. Mit elf landete er das erste Mal in einem Heim. Es folgten Psychiatrieaufenthalte und weitere Heime. Schon früh haben Drogen ihm dabei geholfen, sich zu betäuben.

Uwe, 68: Die Leute für sich einnehmen, das kann Uwe gut. Als im strassenfeger ein Artikel über das Berliner Flughafen-Desaster steht, wirbt er in der S-Bahn für Artikel und Zeitung mit dem abgewandelten Walter-Ulbricht-Satz „Niemand hat die Absicht einen Flughafen zu bauen.“ Da lachen alle im Abteil.

Der Verkauf von Straßenzeitungen in der S-Bahn ist eigentlich verboten. Doch die Sicherheitsleute lassen Uwe gewähren. „Die kennen mich“, sagt er, „mit denen habe ich ein gutes Auskommen.“ Das habe damit zu tun, vermutet er, dass er „seriös“ daherkomme, gut gekleidet sei, und dass es außerdem keine Alkohol-Fahne gebe bei ihm. Niemals. „Mit Alkohol kann man mich jagen.“Uwe ist in der DDR groß geworden. Bereits mit 14 beginnt er eine Lehre als „Straßenbauer“. Als die abgeschlossen ist, will er

„nach Westberlin rüber“. Doch sein Fluchtversuch scheitert, er muss für fast ein halbes Jahr ins Gefängnis, vom 1.1.1962 bis zum 29.6.1962. Genau ein Tag zu kurz, um später eine Haftentschädigung zu erhalten.

Er heiratet, zieht mit seiner Frau sechs Kinder groß. Viele Jahre arbeitet er als „Hoch-druckkesselwärter“, viele Jahre in anderen Berufen. Als die Mauer fällt, findet er Arbeit im Westen, die ganze Familie zieht mit ihm um. Doch nach 25 Jahren geht die Ehe in die Brüche und für Uwe beginnen die Probleme.

Morgens fährt er zum Bahnhof Zoo und kauft dort die strassenfeger- Zeitungen

für den Tag. Mit den Zeitungen unterm Arm zieht er los. Jeden Tag. Sucht kennt keine Feiertage.

Eine Wohnung hat er keine. Vor kurzem hätte er ins Betreute

Wohnen ziehen können. Aber als er einen Termin nicht ein-

gehalten hat, ging das nicht mehr. Während der kalten

Wintermonate übernachtet er jetzt in Berlins größter

Notunterkunft in der Lehrter Straße. Sie liegt gleich um die Ecke zum

Hauptbahnhof.

Es soll nicht immer so weiter-gehen, in Florians Kopf gibt

es Wünsche und Pläne. Das mit dem Platz im Betreuten Wohnen,

das will er noch mal angehen. Außerdem seinen Schulabschluss

nachholen, was Voraussetzung dafür ist, eine Ausbildung als Koch

anfangen zu können. Einen Platz dafür hat er schon zugesagt bekommen,

der wartet auf ihn. n

Mit einem Haufen Schulden kommt er Mitte der 90er Jahre in Berlin an. Jahrelang lebt er in Wohnheimen, rutscht in HartzIV-Bezug. 1997 verkauft er dann erstmals den strassenfeger, der damals gerade erst das Licht der Welt erblickt hat.

Heute wohnt Uwe in einer kleinen Wohnung in Spandau. Er erhält Rente. Da die – es fehlen Arbeitsbescheide aus DDR-Zeiten – sehr gering ist, zahlt das Sozialamt ergänzende Grundsicherung. Ein Ausweis bescheinigt ihm

zudem eine „Schwerbeschädigung“ von 70 Prozent. „Wegen Hirn- und

Herzsachen und einer Sache mit der Wirbelsäule“, erklärt er.

Das Geld, das ihm monatlich zur Verfügung steht, reiche ihm „vorne und hinten nicht“, sagt er, „ich möchte mir mal was kaufen und kann es nicht.“ Um vernünftig zu essen, gute Schuhe zu kaufen, dafür sei das Geld einfach zu wenig. Also zieht er mehrmals die Woche los, steigt in die S-Bahn und ermuntert mit flotten Sprüchen die Leute zum Kauf des strassenfeger. n

„Geh’ arbeiten, Junge.“ – „Das mache ich gerade.“

„Mit Alkohol kann man mich jagen.“

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„Armut im Alter – Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung“, herausgegeben von Christoph Butterwegge, Gerd Bosbach, Matthias W. Birkwald, Campus Verlag, Frankfurt/M., 2012

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ktLieber Armut oder Arm ab?Laut Wissenschaftlern folgt nach der Infantilisierung nun wieder die Reseniorisierung der Armut

Kürzlich sah ich eine alte Folge der amerikanischen Serie „Kojak – Einsatz in Manhattan“. Telly Savalas spielt darin

den gewieften Kriminalkommissar Theo Kojak einer New Yorker Polizeidienststelle, der unbestechlich und stets einen Lolly lutschend in der Unterwelt des Big Apple aufräumt. Am Ende der Folge steht er einem korrupten Anwalt gegenüber, dem gleich der Prozess gemacht wird. Der Anwalt lächelt: „Ich habe die besten Anwälte der Stadt auf meiner Seite.“ „Selbst die können Sie da nicht raushauen“, antwortet Kojak. Darauf der Anwalt: „Für 500 Dollar die Stunde bringen die alles fertig!“ Kojak: „Meine Männer bekommen acht Dollar die Stunde und sie haben Sie trotzdem drangekriegt.“ Natür-lich wird der Anwalt verknackt.

Was mir von der Folge im Gedächtnis geblieben ist, sind die acht Dollar Stundenlohn. Die Serie stammt aus den Siebzigern. Rund 40 Jahre sind seither vergangen. Und dennoch sind acht, sagen wir Euro, Stundenlohn weiterhin etwas völlig Normales. Wer zehn oder etwas mehr bekommt, selbst nach einem Studium, darf froh sein. Aber auch Gehälter um etwa die Hälfte weniger sind in Deutschland immer noch verbreitet. Wie ist das möglich?

Der Niedriglohnsektor, der sich seit den Arbeitsmarkt- und Sozialre-formen mit der Einführung von Hartz IV immer weiter ausgebreitet und längst etabliert hat, macht inzwischen fast ein Viertel aller Arbeitsverhältnisse aus. Dieser und die zunehmende Anzahl befristeter Arbeitsverhältnisse mit wenig Sicherheit für die Angestellten sind laut Christoph Butterwegge die Hauptursache, dass immer mehr Menschen heute schon und erst recht im Alter nicht von ihrem Einkommen und ihrer Rente leben können. Butterwegge ist Politikwissenschaftler an der Universität Köln und befasst sich seit langem mit sozialen Themen und der Armutsentwicklung in Deutschland. Von der Partei DIE LINKE war er als möglicher Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen worden, weil er für die Partei entscheidende Themen wie Armut und Sozialstaat „ausgezeichnet präsentiert“, wie es der damalige LINKE-Vorsitzende Klaus Ernst begründet hat.

Butterwegge stimmte damals zunächst zu, weil er mit seiner Kandidatur Themen ansprechen wollte, die er bei Joachim Gauck vermisste: die soziale Spaltung unseres Landes, die wachsende Schere zwischen arm und reich sowie die Gefahr rechtspopulistischer Tendenzen. „Gauck berücksichtigte diese soziale Dimension in seinem Freiheitsbegriff nicht“, sagte Butterwegge in einem Interview auf rrb-Inforadio. „Die in der DDR so vermisste Reisefreiheit nützt einem nichts, wenn man nicht das Geld hat, um zu verreisen. Ein nicht zu großes Maß an Ungleichheit ist daher die Voraussetzung für Freiheit.“

Die Lösung sieht der Wissenschaftler vor allem in der Anhebung des Rentenversicherungsbeitrags auf das Niveau wie zum Ende der Neun-ziger Jahre und in der stärkeren Beteiligung der Arbeitgeber an den Sozialabgaben. Durchsetzen muss das die Politik, darauf aufmerksam machen darf auch ein Bundespräsident. Insofern hat dieses Amt für Butterwegge auch eine größere Bedeutung, als sie ihm von vielen Bürgern oft zugeschrieben wird – lediglich die eines „Grüßaugusts“. Denn durch das Aufgreifen oder auf Weglassen bestimmter Themen in Reden, könne der Bundespräsident erheblichen Einfl uss auf die gesell-schaftliche Entwicklung und die öffentliche Diskussion und somit auf die politischen Entscheidungsträger in der Regierung nehmen.

Der Mindestlohn in Deutschland hätte längst der erste Schritt sein können, um Armut vorzubeugen. Seit Jahren diskutiert man über 8,50 Euro. Etwas über dem Gehalt der New Yorker Kriminalpolizei vor vierzig Jahren. In Frankreich sind es seit diesem Jahr 9,43 Euro. Spätestens die nächste Bundestagswahl sollte bei uns ebenfalls darüber entscheiden. Und das entscheidet der Wähler.

n Boris „Poverino“ Nowack

Lektüre:

Armut im Alter

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zTransparenz in der Politik „Da machen wir weiter Druck.“

Gregor Hackmack von www.abgeordnetenwatch.de im Interview mit dem strassenfeger radio

Teilhabe an der Gesellschaft setzt immer auch die Möglichkeit zur Beteiligung des Individuums an den Entwicklungsprozessen der Gemeinschaft voraus. Für die Politik bedeutet dies, sich

transparent gegenüber den eigenen Wählern aufzustellen. Da genau dies aber längst nicht alle Volksvertreter so sehen, gibt es die Onlineplattform www.abgeordnetenwatch.de. Im Dezember 2004 gegründet von Gregor Hackmack und Boris Hekele, bietet diese Plattform eine Art öffentlichen Dialog und Vermittlung zwischen den Abgeordneten aller Parlamente und den Bürgern an. Guido Fahrendholz sprach für strassenfeger radio mit Gregor Hackmack über die Arbeit des Portals.

Guido Fahrendholz: Was war für Euch 2012 besonders wichtig?Gregor Hackmack: Wir sind in 31 Kommunen und Gemeinden neu gestartet. Damit sind wir jetzt bei 52 Kommunalparlamenten in Städten und Gemeinden aktiv, bei acht Landtagen, dem Bundestag und dem Europaparlament. Damit sind wir 2012 gut gewachsen und gut gewapp-net für das Bundestagswahljahr 2013. Dann haben wir noch mehrere Auslandsprojekte gestartet. Das Aufsehenerregendste war sicherlich, unser Portal zwei Jahre nach der Revolution nach Tunesien zu bringen. Seit Oktober sind wir auch in Irland präsent.

G. F.: Aber es gab wieder ordentlich Gegenwind?G. H.: Ja, und hauptsächlich wieder in der Debatte um Nebeneinkünfte unserer Parlamentarier. Wir haben dazu eine Liste zusammengestellt mit den zehn Topverdienern im Bundestag. Davon waren allein neun aus CDU und FDP, worauf hin es auch ziemlich schnell ganz ruhig in der Regierung wurde in der Diskussion um die strengere Transparenzregeln. Zwar haben uns die Regierungsparteien diese zugesichert, aber sie sind noch nicht umgesetzt. Man versucht es anscheinend bis zu den Bundestagswahlen zu verzögern, damit die Wähler davon keine Kenntnis über die Nebeneinkünfte ihrer Abgeordneten erhalten. Da machen wir weiter Druck. Auch die Abgeordnetenbestechung ist in Deutschland noch immer nicht strafbar, anders als fast überall in der demokratischen Welt. Dazu haben wir einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, den Abgeordneten vorgelegt und machen jetzt Druck über Bundesrat, Bundestag und über die Öffentlichkeit.

G. F.: Ein ganz akuten Fall: Ein Volksvertreter hielt sein Transparenz-versprechen nicht und beschwert sich jetzt auch noch darüber, dass ihr ihn daran erinnert?!G. H.: Michael Fuchs, der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und damit ein sehr einfl ussreicher Abgeordneter, hat zum wiederholten Male wesentliche seiner zahlreichen Nebentä-tigkeiten nicht angemeldet. Eine dieser Nebentätigkeiten ist besonders problematisch, deshalb versuchte er offensichtlich, diese zu verschlei-ern. Es handelt sich dabei angeblich um eine Vortragstätigkeit für

„Hakluyt-Society“*, tatsächlich verbirgt sich dahinter aber die britische Geheimdienstfi rma „Hakluyt & Company“, die von ehemaligen „MI6“-Geheimdienstagenten gegründet wurde. Diese bietet sich Unternehmen an, Organisationen auszuspionieren. Beispielsweise hatte diese Firma im Auftrag von „Shell“ einen Mann bei „Greenpeace“ eingeschleust, als es um die Ölplattform Brent Spar ging. Es ist also eine sehr dubiose Firma, für die Michael Fuchs Vorträge gehalten haben will. Auf unsere Anfrage hin konnte oder wollte er uns aber nicht mitteilen, wann und wo er zu welchem Thema diese Vorträge gehalten hat, sodass wir vermuten, diese Honorare könnten auch in anderer Sache gezahlt worden sein.

G. F.: War der Mann nicht schon einmal wegen anderer Vorträge in der Schusslinie?G. H.: Ja genau, auch in Hongkong hat er Vorträge gehalten und diese nicht gemeldet. Das Problematische an solchen Vortragstätigkeiten ist, wenn nicht zu bewerten ist, ob sie nur als Tarnveranstaltung dienen, um

dem Politiker Geld zukommen zu lassen, oder ob es sich tatsächlich um einen harmlosen Vortrag handelte. Es ist beispielsweise schwer erklärbar, warum ausgerechnet eine solche Geheimdienstfi rma wie „Hakluyt & Company“, die für „BP“, „Shell“ und andere multinationale Konzerne arbeitet, sich ausgerechnet von Michael Fuchs die Welt erklären lassen möchte. n

* Die „Hakluyt Society“ ist ein gemeinnütziger Verein, der haupt-sächlich wissenschaftliche Texte über die Entdeckerzeit publiziert. Auf Anfrage von www.abgeordnetenwatch.de erklärte der Verein, einen Michael Fuchs nicht zu kennen. Erst nach Recherchen von abgeordnetenwatch und dem Nachrichtenmagazin „Stern“ änderte die Bundestagsverwaltung am 07.01.2013 den Namen des Auftraggebers in „Hakluyt & Company“.Quelle: Lobbypedia

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Ausstellung„Erzwungenes Finale – Ende der Vorstellung“

Mit der Ausstellung „Erzwungenes Finale- Ende der Vorstellung“ soll an die berühmten Bühnenkünstler, Schauspieler, Sänger, Kabarettisten

und Regisseure in Deutschland erinnert werden, die in den 1930er Jahren aus politischen oder rassischen Gründen von den Nationalsozialisten mit einem Auf-trittsverbot belegt waren, ins Exil getrieben oder ermordet wurden. Dazu gehörten unter anderem Schauspielerinnen wie Elisabeth Bergner, Helene Weigel und Schauspieler wie Erwin Geschon-neck, Sängerinnen wie Fritzi Massary und Sänger wie Ernst Busch und Theater-Regisseure wie Max Reinhardt. Die Ausstellung wird am 5. Februar um 19.30 Uhr eröffnet. Um 21 Uhr wird die Dokumentation „Totentanz. Kabarett hinter Stacheldraht.“ gezeigt. Zur Einführung gibt es ein Gespräch zwischen Lea Rosh und Volker Kühn.

Noch bis zum 3. März

von Dienstag bis Sonntag von 12 Uhr bis 18 Uhr

Eintritt frei! Aber der Personal-ausweis oder der Reisepass zur Ausweisung sollten mitgebracht werden.

Freundeskreis Willy-Brandt-Haus e.V.Stresemannstr. 2810963 Berlin

Info: www.willy-brandt-haus.deBildnachweis: © bpk

Theater„Kebab-Connection”

Ibo, kreativchaotischer Deutsch-Türke und absoluter Bewunderer von Bruce Lee, hat eine Vision: Er wird den ersten Deutschen Kung-Fu-Film

drehen. Der Kinowerbespot für die Dönerbude seines Onkels verärgert diesen zwar

– einen türkischen Laden soll man nicht im Zusammen-hang mit Messerkämpfen darstellen – schlägt aber ein wie eine Bombe: Der Umsatz des Imbisses steigt rasant, zum Leidwesen des griechischen Restaurantbe-sitzers gegenüber. Ibo wird gefeiert, doch als seine Freundin Titzi ihm ihre Schwangerschaft eröffnet, gerät sein Leben durchei-nander. „Kebab Connection“ ist eine transkulturelle Komödie, eine moderne Romeo und Julia Geschichte und ungewöhnliche Lie-

beserklärung an das Leben in der Metropole. Anno Saul, der schon den Film realisierte, inszeniert die Geschichte für das GRIPS.

Am 15. und am 16. Februar, um 19.30 Uhr

Eintritt: 20 Euro/ermäßigt: elf Euro

Kartenbestellung: per Telefon unter 030- 39747477

GRIPS Theater Altonaer Str. 2210557 Berlin

Info und Bildnachweis: www.grips-theater.de

Fotografie„Lichtblick“

Der Berliner Fotograf André Ober-müller präsentiert eine Auswahl seiner schönsten, im Botanischen Garten Berlin entstandenen, Arbeiten. Die von Juli bis Oktober 2012 fotografierten Motive führen zurück zu den Anfängen seiner fotografischen Laufbahn. Spontan, dem Licht folgend, werden ohne technische Hilfsmittel wie Blitze oder Aufheller Pflanzen in ihrem natürlichen Umfeld dargestellt, um die eigenen, in der Natur empfun-denen positiven Emotionen auf die Bilder zu übertragen. Obermüller zeigt eine Serie, die Grafisches in der Botanik betont, Strukturen und Lichtlinien herausstellt und eine Nähe zur impressionistischen Malerei besitzt. Das ungewöhn-liche Licht- und Schattenspiel der gezeigten Aufnahmen ist ein Resultat der vor Ort vorgefundenen Wetter- und Lichtverhältnisse, die ihre besondere Akzentuierung durch das Zusammenspiel von Händen, Armen oder Oberkörper des Fotografen erhalten. Alle 35 Exponate von Obermüller können

erworben werden.

Noch bis zum 10. März

täglich von 10 Uhr bis 18 Uhr

Eintritt: für das Museum 2,50 Euro/ ermäßigt: 1,50 Euro. Die Ausstellung selbst ist eintrittsfrei.

Botanisches MuseumKönigin-Luise-Str. 6-814195 Berlin

Info: www.bgbm.orgBildnachweis: © André Obermüller 2012

Leute treffen„Social Media Club“

Berlin gehört zu den aktivsten Social Media Gemeinden Deutsch-lands. Ständig entstehen neue Veranstaltungen, Workshops und Barcamps rund um das Thema

Social Media. Der Social Media Club Berlin e.V. möchte durch regelmäßige Treffen die Berliner Strukturen bündeln und das Netz-werk auch offline fördern. Seit dem 10. September 2009 treffen sich die Protagonisten der Szene und natürlich auch alle Interessierten regelmäßig, um gemeinsam über aktuelle Fragestellungen aus den Bereichen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu diskutieren. Die Veranstaltungen fanden zunächst im Wechsel bei den gastgebenden Agenturen Aperto und Saint Elmo’s statt. Seit Ende 2010 wurde mit dem Grünen Salon, Berlin eine neue und größere Location bezogen, um der enormen Nachfrage nach den Events gerecht zu werden. Wer sich an der Diskussion beteiligen möchte, kann einfach an einem der monatlichen Treffen teilnehmen.

Das nächste Treffen findet am 18. Februar statt, um 20 Uhr

Eintritt frei!

Grüner SalonRosa-Luxemburg-Platz 210178 Berlin

Info:www.gruener-salon.deBildnachweis: www.social-mediaclub.ca

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Zusammengestellt von Laura

Schicken Sie uns Ihre schrägen, skurrilen, famosen und preiswerten Veranstaltungstipps an:

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Chanson„Eine Frau-Jasmin Tabatabai”

„Eine Frau“ ist einer von mehreren Songs des gleichnamigen Albums, die ihr auf den Leib geschrieben wurden. Aber auch Holländer, Mey und Tucholsky verkörpert Tabatabai authentisch.

Eigentlich muss man im Zusam-menhang mit Jasmin Tabatabai ihre Mitwirkung bei „Bandits“ nicht mehr erwähnen, um zu wissen, dass sie neben schauspielerischem Talent auch stimmlich begabt ist. Bislang hat sich Tabatabai aber immer von ihrer pop-rockigen Seite gezeigt, seit sie in der Verfilmung von „Gripsholm“ mit dem Schwei-zer Musiker und Produzenten David Klein Songs aufnahm, ist auch sie dem Jazz verfallen und erhält für ihr Album „Eine Frau“ mit dem Jazz-Echo-Award bereits die erste Auszeichnung. Tabatabais Repertoire der melancholisch-groovenden Liederwelt reicht von den 1920er Jahren bis heute!

Vom 15. bis zum 17. Februar, um 20 Uhr

Eintritt: zwischen 21,50 Euro und 29,50 Euro

Tickets: per Telefon unter 030- 8831582

Bar jeder VernunftSchaperstr. 2410719 Berlin

Info und Bildnachweis: www.bar-jeder-vernunft.de

Kabarett„Die Kunst des Nehmens “

In seinem neuen Programm „Die Kunst des Nehmens“ untersucht Frank Lüdecke die Vorzüge egois-tischer Selbstbedienung und die Gegenmodelle: Von Jesus Christus über Robin Hood zu Bill Gates und Hartz IV. Lüdecke rätselt mit, ob die soziale Schere bereits ein Klapp-messer ist, und warum die ersten „Solidarität“ für ein interaktives online-game halten. Wer trägt hier eigentlich die Verantwortung? Die Regierung? Der „Ethikverband Deutsche Wirtschaft“? Oder diese verdammten elektrochemischen Gehirnprozesse, von denen man jetzt immer liest? Waren kriminelle Investmentbanker gar kein Fall für die Staatsanwaltschaft? Sondern für die AOK? Was ist die „Kunst des Nehmens“? Aktuelle, satirische Abschweifungen zur Lobbyisten-Demokratie, glückselig machende Bindungshormone und desillusi-onierte Nasszellendesigner aus Mecklenburg…und Musik!

Am 10. Februar, um 18 Uhr

Eintritt: zwischen 14 Euro und 28 Euro

Tickets: Per Telefon unter 030- 2044704

Kabarett-Theater DistelFriedrichstraße 101 10117 Berlin

Info und Bildnachweis: www.distel-berlin.de

Performance„ETAGErka Open Stage“

Die Etage ist eigentlich ein Ausbildungsunternehmen, das Schauspieler, Mimen, Gestalter von Bühnenkulissen schult und in noch viel mehr künstlerischen Disziplinen ausbildet. Regelmäßig veranstalten Schülerinnen und Schüler aller Ausbildungsbereiche derEtage eine Werkschau! Aus dem Dunkeln der Proberäume und Ateliers wird Neuartiges, Schräges, Geschriebenes, Gezeichnetes, Getanztes und Gesungenes ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Die Zuschauer können sich dabei einfach frischen Wind um die Nase wehen lassen und einen vielsei-tigen, bunten Abend erleben!

Am 11. Februar, um 20 Uhr

Eintritt: fünf Euro/ermäßigt vier Euro

Kontakt: Per Telefon unter 030- 6912095

DIE ETAGERitterstraße 12– 1410969 Berlin

Info und Bildnachweis: www.dieetage.de

Theater„Kafka clownesk“

„K“ ist Monolog eines Clowns nach den Tagebüchern Kafkas in der deutschen Fassung aufgeführt von der Französin Emilie Olivier in Zusammenarbeit mit „La menage-rie“. „K“ ist weder ein Zirkus- noch ein Kinderclown. Der Clown K ist zu aller erst ein Frauenmensch, der sich den literarischen Text zu Eigen macht. Sie spricht mit kratzendem Humor, jedoch mit großer Zärtlichkeit für unsere inneren Auflehnung und größten existenziellen Obsessionen: Wer sind wir? Wer hat uns geschaffen? Wer wollen wir sein?

K ist ein deutsch-französisches Bühnenprojekt, mit dem das Ungewöhnliche versucht wird, in Deutschland ein Stück zu präsen-tieren, das Clownstheater, Kafka und Einflüsse des Butoh-Tanzes vermischt, ohne die übliche Sprachgrenze und jenseits von Untertiteln. Kafka ist in Deutsch-land ein vertrauter Schriftsteller, in Frankreich hingegen weniger. Der Theaterclown steht in Verbin-dung zum zeitgenössischen Zirkus, der wiederum in Frankreich viel bekannter ist, als in Deutschland. Die clowneske Bearbeitung des Kafka-Textes lädt zu einer neuen Betrachtungsweise seiner Schrif-ten ein.

Premiere: 09.02. um 20 Uhrweitere Vorstellungen: 10./13.02. um 20 UhrAufführung in französischer Sprache: 12.02. um 20 Uhr

Karten: 12 Euro / 8 Euro Kartenreservierung: 030-471 40 01E-Mail: [email protected]

BrotfabrikBühneCaligariplatz 113086 Berlin

Info: http://k-clown.jimdo.com; www.brotfabrik-berlin.de

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20 Jahre „Ratten 07“Obdachlosentheater feierte Jubiläum mit Auftritt

Die Theatergruppe „Ratten 07“ feierte am 19. Dezember ihr 20-jähriges Bestehen mit einem Auftritt. Das Stück „Biberpel-zen“; freisinnig nach Gerhard Hauptmann, wurde in diesem Jahr

uraufgeführt, mich hinderten vorher Termine die Produktion zu sehen. Ausgerechnet zum Jubiläum konnte ich mir die Zeit nehmen.

Die Vorgeschichte: „die Pest“ nach Camus, Regie: Jeremy WellerDie „Ratten 07“ sind aus einem Theaterprojekt mit Obdachlosen an der Volksbühne entstanden. Die Volksbühne war das Theater des Umbruchs, 1991 wurde Annegret Hahn amtierende Intendantin. Zum 1. Januar 1992 übernahm Frank Castorf mit Geschäftsbesorgungsvertrag das Haus und damit ein Intendant, der offen für neue Formen des Theaters ist. Unter Castorf konnte Jeremy Weller sein Projekt „Die Pest“ nach dem bekannten gleichnamigen Roman von Albert Camus umsetzen. In dem Roman werden durch die Seuche aus den Bewohnern Ratten und die Idee Wellers war, die Ratten durch Obdachlose darzustellen. Er suchte in Suppenküchen und Wohnungslosentreffpunkten nach Akteuren. Am 26. November 1992 wurde „die Pest“ auf der großen Bühne der Volksbühne gezeigt. Nach der Premiere gab es weitere Aufführungen. Höhe-punkt wird die Beteiligung am Fringe-Festival in Edinburgh gewesen sein. Danach ging es nach Berlin zurück und eigentlich sollte danach Schluss sein. Doch sieben „Ratten“ blieben, machten es sich in Garderobe und Kantine häuslich.

Die Gründung der Ratten 07 Ich habe zwei „Ratten“ gesprochen, die letzte „Ratte“ einige Jahre begleitet. Hunni war kurz vor seinem Tod auf einen Sprung in den Woh-nungslosentreffpunkt von „Unter Druck“ vorbei gekommen und J K D war da schon Inventar des Treffpunkts von „Unter Druck“. J K D hatte mir einige Male gesagt, dass er sich in der Garderobe in seinen Schlafsack hingelegt hat: „Ich bin nicht weggegangen!“. Natürlich haben sich Mitarbeiter

des Hauses gestört gefühlt. Wie das Haus die Sache gesehen hat, hat der Berliner Staatssekretär für Kulturelle Angelegenheiten, André Schmitz, anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an den langjährigen Leiter, Vorstandsvorsitzender des Vereins „Freunde der Ratten“ und Regisseur Gunther Seidler im September 2011 als Laudator erzählt. André Schmitz arbeitete zu der Zeit in der Leitung der Volksbühne. Die Leitung des Hauses war sich unsicher, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte. In einer Besprechung wurde gefragt, warum nicht die Ratten befragt werden könnten, was sie wollten. Die einhellige Antwort: Theater spielen. Die Ratten hatten auf den Brettern, die für sie die Welt bedeuteten, Blut geleckt, wollten weiter machen. So wurde nach kurzer Diskussion mit die Störung produktiv genutzt und aus Störern Schauspieler. Schon im Dezember wurde im Keller in der Mulackstraße 22 „Verpestet. Szenische Collage“ gezeigt, ein rasch zusammengestelltes Stück, in dem die „Ratten“ ihren ganzen Frust ablassen konnten. Und

Die Ratten 07 können es nicht lassen, jetzt spielen sie den „Biberpelz“ im Zirkuszelt.

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Ausstellung zum Projekt Ratten 07

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Brass hatten sie, hauptsächlich gegen Jeremy Weller, der sie im Stich gelassen hatte. Im Archiv steht nur Dezember 1992, es spricht viel dafür, dass das der 19. Dezember 92 war. Ein Verein wurde gegründet: „Freunde der Ratten“.

Die Analogien zur Gründung des Vereins „Unter Druck- Kultur von der Strasse“ sind kein Zufall. Beide sind Anfang der 90er Jahre, als der Sieg der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in den fünf neuen Bundesländern massenhaft Menschen aus ihren Wohnungen warf, entstanden. Damals war Integration oder wie es modern heißt Inklusion nicht auf Hilfsjobs beschränkt. Theater von und mit Obdachlosen war leichter zu initiieren. Es wurden immer wieder Theaterprojekte in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe initiiert, aber ohne nachhal-tige Wirkung. „Ratten 07“ und die Theatergruppe von „Unter Druck“ machen seit Jahren kontinuier-lich Theater. Beide Projekte zeigen, dass kreative und künstlerische Tätigkeit nachhaltiger wirkt als kurzfristige Hilfsjobs und Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung.

„Ratten 07“ heute„Ratten 07“ sind eine reine Theatergruppe. Und sie sind ein Obdachlosentheater. Die meisten Akteure auf der Bühne haben eine Wohnung, aber sie kennen Obdachlosigkeit aus eigenem Erleben. Die Erfahrung des Überlebens ohne Wohnung ist nicht mehr zwingend Voraussetzung, um bei den „Ratten 07“auf der Bühne zu stehen. Doch alle Akteure haben die Erfahrung gemacht. Das macht die Qualität der Truppe aus. Die Theatergruppe Unter Druck ist dagegen für jedermann und jedefrau offen. Der Verein Unter Druck- Kultur von der Strasse e.V. ist für alle Menschen grundsätzlich offen. Auch als Mitglied. Die Satzung schreibt vor, dass ein Drittel des Vorstands Erfahrungen mit Obdachlosigkeit haben muss. Der Verein „Freunde der Ratten“ ist dagegen ein Förderverein. Kein aktiver Schauspie-ler der Ratten 07 kann in diesem Verein Mitglied werden. Seit Juli 2012 ist Uta Kala Regisseurin und mit viel Herzblut und Geduld organisatorisch zusammenhaltendes Element der Ratten 07. Die aktuelle ökonomische Lage ist wie bei den meisten frei organisierten Gruppen desolat. Die Produktion „Biberpelzen“ wurde nur über ein privates Darlehen, organisiert über den Verein „Freunde der Ratten e.V.“, ermöglicht.

Ratten 07 haben keinen Ort zum Proben und keine feste Spielstätte. Die Stelle der Buchhalterin und guten Seele im Büro lief vor gut einem Jahr aus. Die alltäglich anlaufenden Arbeiten zum Aufrechterhal-ten des laufenden Betriebs laufen dank MAE-Stellen und Bürgerarbeit und, nicht zu vergessen, ganz viel ehrenamtlichen Engagements. Förderanträge wurden sowohl für ein breit angelegtes Projekt zum 20jährigen Bestehen als auch für die aktuelle Produktion gestellt, aber nicht bewilligt. Wenn kein Geld reinkommt, kann keine neue Produktion erarbeitet werden.

Die Ratten haben trotz trister Gegenwart Pläne. Da ist einmal „Ratten mobil- ein Kiezspektakel“ für Straßen und Plätze in Friedrichshain und zum Zweiten „Endspiel“ von Beckett in der Fassung der „Ratten 07“, eine Produktion, bei der andere Spieler und Gruppen mitmachen können

AusblickPeter, der seit 1995 auf der Bühne steht, wird ebenso weiter machen wie Manne, Ahmad, Anne-Ly, Petra und die vielen anderen „Ratten“. Nicht jede Produktion wird der große Kracher. Doch hier zählt Kontinuität.

Allein der Akteure auf der Bühne wegen. Bei der Obdachlosenuni hat sich eine Theatergruppe gebil-det und die ersten Ansätze lassen erwarten, dass hier mehr entsteht als eine einzige Produktion. Und mit drei Gruppen könnte über ein Festival nachgedacht werden.

Die Kontinuität über viele Jahre hinweg ist für Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden, wichtig. Die Gründungsgeschichte der Theatergruppe „Ratten 07“ macht deutlich, mit kurzfristigen Angeboten ist es nicht getan. Es geht um die Menschen. Wenn ich mir von den „Ratten“ etwas wünschen könnte: Weiter durchhalten. Es sieht nicht rosig aus. Aber eine kreative

Truppe wie „Ratten 07“ kann es schaffen. Auf die nächsten 20 Jahre!n Jan Markowsky in Zusammenarbeit mit Momo und Uta Kala von

„Ratten 07“

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Szenenfoto „Biberpelz“

Plakat von 2010

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Schnelle Runden, Erdbeerbowle und ein Strauß bunter MelodienDas Berliner Sechstagerennen 2013 glänzt mit Spitzensport, einem peppigen Showpro-gramm und vollen Zuschauerrängen

„Tradition mit Zukunft“ lautet das Motto des sechstägigen Radsportevents in Berlin. Und in der Tat kann kein anderes Sechstagerennen der Welt auf eine längere Historie verwei-sen. Seit 1909 – damals noch an den Ausstellungshallen am Zoo - drehen die Rennfahrer hier regelmäßig ihre Runden. In den Jahren von 1924 bis 1933 sogar zweimal, sodass Berlin in diesem Jahr trotz zweier Rennpausen (1934-1949 und 1990-1997) bereits die 102. Auflage erlebte.

Eröffnet wurden Berliner Sixdays 2013 am vergangenen Donnerstag, dem Premierentag, von „Tatort“-Kommissar Jan Josef Liefers. Begleitet vom lauten Applaus der begeisterten 12.000 Zuschauern im ausverkauften Velodrom im Prenzlauer Berg schickte der sympathische Schauspieler mit seinem Startschuss die Radrennfahrer auf die wilde Jagd ins 250 Meter lange Holzoval. Was folgte war wieder einmal eine sechstägige gelungene Mischung aus erstklassigem Radsport und einem attraktiven Rahmen-programm mit viel Show-, Musik- und Partyacts.

Vor dem Start des Rennspektakels wurden sechs Mannschaften Chancen auf den Gesamtsieg eingeräumt. Dazu zählten unter anderem das belgisch-australische Duo Kenny de Ketele (Weltmeister im Madison 2012)/Luke Roberts und das deutsch-niederländische Gespann mit dem Gewinner des Sechstagerennens 2011 Roger Kluge (damals noch

als Partner von Robert Bartko) und Peter Schep. Nach dem vorletzten Wertungstag waren dann noch fünf Teams rundengleich und nur durch wenige Punkte getrennt. Die deutschen Madison-Meister und Lokalmata-doren Robert Bengsch und Marcel Kalz hatten sich am Montag (Berliner Tag) vom fünften auf den ersten Platz vorgearbeitet. Dahinter lagen de Ketele/Roberts, gefolgt von Kluge/Schep und Marvulli (Schweiz)/Müller (Berlin). Selbst die Publikumslieblinge, der Potsdamer Robert Bartko und der junge Berliner Theo Reinhardt, hatten als Fünfte noch Siegchancen. Am Ende siegten Roger Kluge und Peter Schep dank einer beeindru-ckenden Aufholjagd im abschließenden Zweier-Mannschaftsfahren (60 Minuten) hauchdünn mit drei Punkten Vorsprung vor den rundengleichen Kenny de Ketele und Luke Roberts. Auf Platz drei landeten Franco Marvulli und Andreas Müller.

Vor dem Startschuss zum 102. Berliner Sechstagerennen Fahrrad-Installation

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Werner Ruttkuss „Rundenkreisel & Berliner Luft. Auf den Spuren des Sechstagerennens“. 432 Seiten, 24,90 Euro (zu beziehen über den Autor: [email protected]).

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Große Spannung versprach auch der tägliche Sprintwettbewerb um den „Wolfram Champions“-Pokal, der wie der „Ladies-Cup“ (Siegerin Stephanie Pohl) und der Weltpokal der Steher (Sieger Florian Fernow), im sportlichen Rahmenprogramm ausgefahren wurde. Mit den Olympia-Medailliengewinnern Maximilian Levy, René Enders und Robert Förste-mann sowie dem Weltmeister im 1000-Meter-Zeitfahren Stefan Nimke gab sich die Spitze der deutschen Sprinter die die Ehre. Nachdem am dritten Tag der Veranstaltung der Cottbusser Levy in 12,714 Sekunden einen neuen Bahnrekord aufgestellt hatte, konterte nur 48 Stunden später Robert Förstemann (Gera) mit einer neuen Rundenrekordfahrt

in 12,622 Sekunden. Im Kampf um den Gesamter-folg vollzog sich ebenfalls ein packender Zweikampf zwischen Maximilian Levy und Robert Förstemann. Beide lagen vor dem Finaltag punktgleich an der Spitze, gefolgt von dem Drittplatzierten René Enders. Zu guter Letzt ließen packende, die Zuschauer mitreißende, Finalläufe Maximilian Levy den Siegerpokal in den Händen halten.

Abgerundet wurde das hochkarätige Sportprogramm – neben Curry-wurst und Erdbeerbowle - durch Cheerleader im täglichen Einsatz, dem Sportpalast-Walzer und diverse Showblöcke wie zum Beispiel Mister Joe und Band, Music & Voice oder Frank Zander. Insgesamt waren 75.000 Zuschauer an sechs Tagen ins täglich voll besetzte Velodrom an der Landsberger Allee geströmt. Ein Grund für die Veranstalter des Sechstagerennens, eine positive Bilanz zu ziehen. „Unser Rennen ist ein fester Bestandteil des sportlichen und gesellschaftlichen Lebens in Berlin. Gleichzeitig war diese Ausgabe eine tolle Werbung für den Bahnradsport“, sagte Organisator Heinz Seesing. Berlins Radsportfans freuen sich schon jetzt auf die Sixdays 2014!

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Literaturtipp:

Parade der Asse

Cheerleader

Maximilian Levy und René Enders im Gespräch

Die beiden besten Sprinter: Maximilian Levy und Robert Förstemann

Tolle Stimmung im Velodrom

Weltpokal der Steher

Rauchige Stimme: Mr. Joe & Band

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Anonymer AlkoholGut, dass wir darüber gesprochen haben…

Vor kurzem suchte mit meinen kleinen Sohn Tom eines dieser ange-sagten Cafés mit einer exquisiten Kuchenauswahl auf. Während ich noch suchte, hatte sich Tom bereits für einen Schokoladenkuchen

entschieden. Bei meiner Bestellung wies mich dann die Bedienung mit Blick auf meinen Nachwuchs freundlich darauf hin, dass der Kuchen Alkohol enthält. Wir fanden umgehend eine Alternative, aber. Ich hätte vielleicht wissen sollen, dass Alkohol, wenn er in Lebensmittel nur als „technischer Hilfsstoff“ verwendet wird – beispielsweise als Lösungsmit-tel für Aromen – nicht gekennzeichnet werden muss. Dies betrifft die bei Kindern beliebten cremigen Schnitten und kuchenähnlichen Snacks ebenso, wie diverse lose verkaufte Lebensmittel, beim Bäcker, oder in der Eisdiele. Erst, wenn Alkohol als Konservierungsmittel verwendet wird, besteht eine Kennzeichnungspflicht, die sich allerdings hinter Begriffen wie Rosenwasser oder Ethanol nicht jeden sofort erschließt.

Dies erscheint mir mehr als fragwürdig im Hinblick auf die Gefahren, die vom Alkohol für ein Kind und erst recht für ungeborenes Leben ausgehen. Auf www.alkoholpolitik.de wird diese Praxis hinterfragt. Die „Vertreter der Süßwarenindustrie halten die geringen Alkoholmengen in ihren Schnitten und Riegeln für unbedenklich. Schließlich würden Kinder auch Fruchtsäfte trinken, die Spuren von Alkohol enthalten können“. Bis vor kurzem wäre ich dieser Argumentation teilweise noch gefolgt, doch einer genaueren Prüfung hält diese Aussage nicht mehr stand. Sie dokumentiert meines Erachtens eher eine in unserer Gesellschaft vorherrschende laxe Haltung dem Alkohol gegenüber. C2H5OH - Alkohol ist nach wie vor der Deutschen liebste Droge und fester Bestandteil vieler gesellschaftlicher Rituale. Trotz leichten Rückgangs in den letzten Jahren, wird Alkohol weiter mit unterschiedlicher - und bekanntlich teils hoch riskanter - Intensität konsumiert. (s. a. Statistik der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V.)

Nur ein geringer Anteil der Bevölkerung lebt vollständig abstinent. Einige aus purer Überzeugung, andere aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigung, wie Diabetes, oder der als unheilbar geltenden Alkoholerkrankung. Um die unseligen Folgen einer Alkoholerkrankung in den Griff zu bekommen, gilt die Abstinenz dauerhaft als einzige

Überlebensstrategie. Ein „trockener“ Alkoholiker hat allerdings die schwierige Aufgabe im Alltag Schlüsselreize, die das sogenannte (Sucht-) Gedächtnis aktivieren, zu vermeiden. Ein Stück Kuchen mit Alkohol zählt ebenso dazu, wie das angeblich alkoholfreie Bier, ein in Essig konserviertes Sauerkraut, oder auch der Geruch eines Bieres vom Gegenüber in der S-Bahn. Hirnforscher wissen längst, dass die Verknüpfung zwischen Droge und Wohlgefühl fest im Gehirn eines Alkoholabhängigen gespeichert ist und es nur eines geringen Reizes bedarf, um das mächtige Verlangen zu wecken und rückfällig zu werden. (S.a. Stern Sonderausgabe „Sucht“ 2006).

Wenn es um Alkohol geht, ist die Sorge um die eigenen Kinder, oder die eigene Gesundheit durchaus berechtigt. Die Grenze zwischen Genuss und Missbrauch ist oft schmal. Ich finde es gut, dass in den Medien das Bewusstsein und der Austausch zum Thema Alkoholmissbrauch, auch bei Prominenten, zugenommen haben. Es kann keiner mehr ernsthaft behaupten, dass Alkohol keine Droge, sondern ein Lebensmittel ist. Die Politik und Gesetzgebung hinkt diesem Trend leider hinterher. Präventive und wirkungsvolle Maßnahmen, wie ehemals die Einführung der Alcopopsteuer im Jahr 2004, die 2010 noch immerhin 2,5 Milliarden Euro in die Bundeskassen gespült haben soll, bleiben die Ausnahme. Die Herstellung von Alkohol bleibt billig. Er wird in Deutschland gar nicht oder niedriger als im EU-Durchschnitt besteuert und sogar noch subven-tioniert. Dabei wären höhere Abgaben an dieser Stelle gerechtfertigt, allein um die erheblichen (Behandlungskosten-)Kosten in Folge von Alkoholerkrankungen zu decken. Die psychische oder verhaltensbe-zogene Störung durch Alkohol galt im Jahr 2010 immerhin noch als dritthäufigste Einzeldiagnose in Krankenhäusern.

Dr. Lindenmeyer, Leiter einer Suchtklinik in Lindow und Autor des Buches „Lieber schlau, als blau“ fasst das Problem unseres Umgangs mit Alkohol folgendermaßen zusammen. „Es wird zu viel konsumiert und zu wenig darüber gesprochen“. Ich bin jedenfalls froh, dass bei der Kuchenbestellung drüber gesprochen wurde.

n Andreas Peters

Logo der Anonymen Alkoholiker; Wegweiser zu einer Kontaktstelle in Ingolstadt

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›› www.tacheles-sozialhilfe.de›› www.erwerbslosenforum.de

Sanktionen Teil 6Erstes Prinzip des SGB II soll das Fordern und Fördern sein. Gefordert

und gefördert wird viel zu oft in völlig sinnlose und/oder fast inhaltsleere Maßnahmen. Die Begründung der Sachbearbeiter ist

nicht selten der Satz: „Wir müssen mal wieder was machen!“ Das vierte, fünfte oder sechste Bewerbungstraining kann kein normaler Mensch als sinnvoll ansehen, wenn die Betroffenen ordentliche Bewerbungsunter-lagen und ein vernünftiges Auftreten haben. Selbst wenn Betroffene diese Voraussetzungen haben und eine entsprechende Maßnahme aus eben diesen Gründen ablehnen oder abbrechen, werden sie sanktioniert.

Die Sanktionen sollen die „Einsicht“ fördern, dass die Maßnahmen der Integration in den ersten Arbeitsmarkt dienlich seien. Will man gegen die Sanktionen gerichtlich vorgehen, ist das Risiko unkalkulierbar. Unter diesen Voraussetzungen verkommen Sanktionen, so fragwürdig sie in Prinzip schon sind, zum Kadavergehorsam (= Gehorsam unter Ausschal-tung des eigenen Willens und Urteils). Die Betroffenen sitzen die Zeit der Maßnahme passiv ab. In vielen Fällen mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch über deren Sinnlosigkeit. Doch das ist egal, Hauptsache, die Jobcenter haben den Maßnahmeträgern die Räume und somit die Konten gefüllt. An der Armut lässt sich eben vorzüglich verdienen.

Für die Zähmung der Widerspenstigen hat der Gesetzgeber im SGB II den § 31a Abs.1 Satz 6 und für die unter 25-jährigen (U 25) den Abs. 2 Satz und § 31b Abs. 1 Satz 4 geschaffen. Wenn sich die von einer hundert-prozentigen Sanktion der Regelleistung Betroffenen nachträglich zum Kadavergehorsam verpfl ichten, KANN die Sanktion auf „nur“ 60 Prozent abgesenkt werden. Verpfl ichten sich die U 25 zum Kadavergehorsam, KÖNNEN bei der Sanktion auf Null, also inklusive Kosten der Unterkunft, die Unterkunftskosten wieder übernommen werden. Ebenfalls KANN bei den U 25 die bei der ersten Pfl ichtverletzung eintretende dreimonatige hundertprozentige Sanktion der Regelleistung nach § 20 SGB II und eventueller Mehrbedarfe nach § 21, bei einer Verpfl ichtung zum Kada-vergehorsam auf sechs Wochen verkürzt werden.

Sanktionierte Betroffene, die sich in Zukunft brav verhalten wollen und somit ihre Sanktion mildern lassen wollen, sollten dies, wie in jedem Fall, schriftlich tun. Ein einfaches Fax mit Faxbericht oder die schriftliche Abgabebestätigung vom Jobcenter genügen zur Fristwahrung und als Nachweis der Verpfl ichtungserklärung. In der Regel erhalten sie danach

einen Termin bei ihrem Arbeitsvermittler, um die „Bereitschaft“ abzu-klopfen. Für den Anfang reicht eigentlich der einfache Satz: „Hiermit erkläre ich mich bereit, in Zukunft allen Pfl ichten zur Integration in Arbeit nachzukommen.“

Um nicht missverstanden zu werden; es gibt viele Maßnahmen und Weiterbildungen die sinnvoll sein können. Werden sie jedoch den Fal-schen mit Androhung von Sanktionen übergebügelt, werden sie sinnlos. Im Gegensatz dazu werden dieselben Maßnahmen denen, die sie gern machen würden, ohne Begründung verweigert. Auch ein Bewerbungs-training kann sinnvoll sein. Jedoch nur, wenn der Betroffene nicht oder kaum in der Lage ist, die Stellensuche zu bewerkstelligen, seine Bewerbungsunterlagen nicht in Ordnung sind oder er kaum in der Lage erscheint, ein Bewerbungsgespräch positiv zu bestehen.

In § 15 SGB II steht im ersten Satz: „...(soll) ...mit jeder erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person die für ihre Eingliederung erforder-lichen Leistungen vereinbaren.“ Die falsche Umschulung, das fünfte Bewerbungstraining sind keine „für ihre Eingliederung erforderlichen Leistungen“, sondern Steuerverschwendung und Willkür. Hier werden zur Disziplinierung jährlich Milliarden Euro vergeudet.

In Einzelfällen kann auch eine Umschulung sinnvoll sein, deren Sinn der Betroffene nicht sieht. Aber anstatt sich der Mühe zu unterziehen, auch mal Überzeugungsarbeit zu leisten, wird die Teilnahme mit der Androhung von Sanktionen erzwungen. Dies erzeugt dann weiteren Widerstand und Kadavergehorsam.

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Uns Berlinern sagt man ja oft Böses nach. Man hält uns für unhöfl ich, großschnauzig, unordentlich und was weiß ich nicht noch alles. Die vielen guten Seiten werden dabei oft übersehen. Die neueste Masche, den Berlinern auf die Füße zu treten, ist das Gerede um den Flughafenneubau. Alle verlangen, der müsse schon längst fertig sein. Dass da immer noch eine Baustelle ist, wird als Versagen bezeichnet. Leute, euch fehlen die Maßstäbe. Wenn man sich mal andere große Bauprojekte ansieht, sieht das alles halb so schlimm aus.

Nehmen wir den Kölner Dom. Dieses zugegeben schöne Gebäude wurde 1225 begonnen, weil der alte Dom die Pilgerströme nicht mehr fassen konnte. Der Plan für den Neubau war aus der Not heraus geboren. Von einem zügigen Aufbau mit Richtfest und Einweihung konnte aber lange keine Rede sein. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war das eine Baustelle. Auf alten Abbildungen ist immer der Baukran zu sehen, der dort im 14. Jahrhundert installiert wurde. Das hinderte die Kölner nicht daran, 1840 das 600jährige Jubiläum ihres Domes zu feiern. Erst als der preußische König Friedrich Wilhelm IV. die Sache in die Hand nahm, ging es auf der Baustelle weiter, und 1880 konnte Kaiser Wilhelm die Fertigstellung feiern.

Wir stehen mit dem Flughafen BER ganz gut da und setzen die Kölner Tradition fort. Ich wette, dass Millionen kommen werden, um dieses Berliner Jahrhundertbauwerk zu bewundern. Wir können uns ruhig Zeit lassen, denn wir haben ja noch nicht mal drei heilige Könige zur Unterstützung wie die Kölner. Das gilt auch für die anderen Großbaustellen. 650 Jahre sind durchaus angemessen, wenn es was Ordentliches werden soll.

Unser Verteidigungsminister sorgt sich um den deutschen Mann. Wo bleibt seine Lust am Abenteuer, seine Sehnsucht nach fremden Ländern, nach der großen weiten Welt? Da gibt sich unsere Regie-rung alle Mühe, immer neue und spannende Reiseziele für die jungen Zeitsoldaten zu fi nden, wo sie sich als richtige deutsche Männer beweisen können, aber die Soldaten winken gelangweilt ab. Sie wollen zuhause bleiben.

„See the world and join the army“ (Sieh die Welt und komm zur Armee) werben die amerikanischen Streitkräfte und schicken

ihre jungen Soldaten zu den aufregendsten Orten des Erdballs. Das sollte unser Verteidigungsminister auch mal propagieren. Besonders südliche Länder sind doch bei den Deutschen sehr beliebt. Nun müssen wir Mallorca nicht mehr erobern, das ist jeden Sommer fest in deutscher Hand. Aber jenseits des Mittelmeers gibt es ja auch noch warme und wetterbeständige Gegenden. Vielleicht klappt es ja jetzt mit Mali. Statt Tirol in den Hindukusch müsste doch jeden jungen Mann begeistern. Die Taliban jodeln nicht, ihre Frauen haben jedenfalls reizvolle Trachteln, eine echte Alternative zum Dirndl.

Und dann das Lagerleben! Einmal mit der Bundeskanzlerin oder dem Bundespräsidenten grillen oder Erbsensuppe essen, das

gelingt zuhause doch den wenigsten. Nur ausgezeichnete Eliten dürfen sonst mal dem Präsidenten so nahe

kommen. Zu allem Überfl uss sind diese Reisen nicht nur kostenlos, es gibt auch noch ein üppiges

Zehrgeld, Auslandszulage genannt, obendrauf.

Die Soldaten ziehen jedoch die heimatnahe Verwendung vor. Schon eine Versetzung von Meckpomm nach Bayern treibt ihnen den Angst-schweiß auf die Stirn. „Sie leben am liebsten im

Hotel Mama“, hat der Minister herausgefunden. Da hätte ich einen Vorschlag: Lasst doch Mama

mitreisen, wenn es in die Ferne geht. Da kann sie ihren Liebling weiter liebevoll umsorgen und ihm wird nichts

fehlen. Sie wird aufpassen, dass ihm nichts zustößt und er keine Dummheiten macht. Wehe, ein Einheimischer will ihren Jungen verletzen – der kriegt es mit ihr zu tun. Mama an die Front stärkt die Schlagkraft der Bundeswehr.

Ein Jungsoldat, Beispiel für viele, wies außerdem darauf hin, dass diese Auslandsreisen doch recht gefährlich seien, weil es da Typen gibt, die mit scharfer Munition zurückschießen, anders als in Grafenwöhr oder Munsterlager. Wer hat denen denn erklärt, wofür es Sold und Auslandszulage gibt? Doch nicht für neue Sonnenbrillen und Ansichtskartenporto. Ich hatte einen Trost für ihn. Sollte wirklich mal was passieren, wird er bei seiner Heimkehr vom Verteidigungsminister feierlich und in Ehren empfangen, jedenfalls, wenn es nicht zu viele auf einmal sind. Allerdings hat er dann nichts mehr von seinem Bausparvertrag.KptnGraubär

heraus geboren. Von einem zügigen Aufbau mit Richtfest und Einweihung konnte aber lange keine Rede sein. Bis ins 19.

Friedrich Wilhelm IV. die Sache in die Hand nahm, ging

Jahrhundertbauwerk zu bewundern. Wir können uns ruhig Zeit

gelingt zuhause doch den wenigsten. Nur ausgezeichnete Eliten dürfen sonst mal dem Präsidenten so nahe

kommen. Zu allem Überfl uss sind diese Reisen nicht nur kostenlos, es gibt auch noch ein üppiges

Zehrgeld, Auslandszulage genannt, obendrauf.

Hotel Mama“, hat der Minister herausgefunden. Da hätte ich einen Vorschlag: Lasst doch Mama

mitreisen, wenn es in die Ferne geht. Da kann sie ihren Liebling weiter liebevoll umsorgen und ihm wird nichts

fehlen. Sie wird aufpassen, dass ihm nichts zustößt und er keine

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Liebe Redaktion!Der strassenfeger freut sich über Leserbriefe. Wir behalten uns den Abdruck und die Kürzung von Briefen vor. Die abgedruckten Leserbriefe geben nicht notwendigerweise die Meinung der strassenfeger-Redaktion wieder.

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Ihr interessiert Euch dafür, selbst mal einen Artikel zu schreiben, beim Radioprojekt mitzumachen oder Euch auch anderweitig an der Redaktionsarbeit zu beteiligen? Dann seid Ihr herzlich eingeladen zu unserer Redaktionssitzung, jeden Dienstag um 17 Uhr in der Prenzlauer Allee 87, 10405 Berlin. Weitere Infos: 030/ 4193 4591 Redaktion strassenfeger

„Ich bin ein Berufsberber!“Unser alter Freund Heinz Czaplewski ist gestorben

Am 17. Januar 2013 erreichte uns ein sehr traurige Nachricht: Heinz Czaplewski, einer unser langjährigen Verkäufer, ist in der Nacht gestorben. Einfach so nachts eingeschlafen in seinem Wohnwagen in der Wagenburg in Berlin-Karow. Viel-leicht konnte er einfach nicht mehr nach den vielen Jahren ganz unten.

Im letzten Interview, das wir mit Heinz machten, hat er viel von sich selbst preis-gegeben. Er bezeichnte sich selbst immer als einen Berufsberber: „Ich bin ein Typ, der halt so von Ort zu Ort zieht und durch Sitzung machen (schnorren, Anm. d. Red.) ein wenig Geld verdient. Eben gerade so viel, dass es zum Überleben ausreicht. Und genau das habe ich gemacht. Ich verließ 1987 meine Heimatstadt Duisburg und bin erst einmal sieben Jahre quer durch Deutschland rumgezogen.

Sein treuester Begleiter war sein Hund „Benny“: „Er lebt nun auch schon seit mehreren Jahren bei mir. Und auch davor war ich immer viel mit einem Hund an meiner Seite unterwegs gewesen. Ein Hund hat bei einem Obdachlosen im Grunde dieselben Aufgaben wie sonst auch. Er bewacht uns und schlägt an, wenn jemand kommt, besonders wenn ich schlafe. Und er ernährt sich selbst. Ich meine, wenn man Sitzung macht mit Hund, dann bekommt man für den Hund mehr Geld oder auch direkt gleich Hundefutter in Büchsen oder Tüten. Das ist sehr wichtig, denn auch nur ein gepfl egter und gesunder Hund kann seine Aufgaben dann leisten. Aber ich kann derzeit meinen Hund auch alleine ernähren, auch durch den Verkauf des strassenfeger.“

Heinz war ein sehr engagierter und streitbarer Bürger, vor allem, wenn es um soziale Gerech-tigkeit und die Rechte von obdachlosen und armen Menschen ging. Er war auch Mitglied von mob – obdachlose machen mobil e. V.. Wir trauern um einen lieben Menschen, der uns in den vergangenen Jahren stets ein treuer Wegbegleiter war. Wir werden Heinz nicht vergessen.Andreas Düllick

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ab 18. Februar 2013 Vorschau

Berlinale 2013

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PTBS – Traumatisierte Soldaten

Ausgabe 04/2013 „KALEIDOSKOP“

ISSN 1437-1928

Herausgebermob – obdachlose machen mobil e.V.Prenzlauer Allee 87, 10405 BerlinTel.: 030 - 46 79 46 11Fax: 030 - 46 79 46 13E-Mail: [email protected]

Vorsitzende: Dr. Dan-Christian Ghattas, Lothar Markwardt, Andreas Düllick (V.i.S.d.P.)

Chefredakteur Andreas Düllick

Redaktionelle Mitarbeit Boris Nowack, Robert Conrad, Andreas Düllick, Laura F., Guido Fahrendholz, Detlef Flister, Mara, rwf, Jutta H., Sophia Larkin, Christoph Mews, Jan Markowsky, OL, Andreas P., Andreas Prüstel, Dieter Puhl, Anne Juliane Wirth, Urzsula-Usakowska-Wolff, Manfred Wolff

Titelbild Bundespräsident Joachim Gauck im Interview mit strassenfeger-Chefredakteur Andreas Düllick Foto: ©Robert Conrad www.lumabytes.com

Karikaturen Andreas Prüstel, OL

Satz und Layout Ins Kromminga

Belichtung & Druck Union Druckerei Berlin

Redaktionsschluss der Ausgabe 30. Januar 2013

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RedaktionPrenzlauer Allee 87, 10405 BerlinTel.: 030 - 41 93 45 91E-Mail: [email protected]

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Page 32: Ausgabe 03 2013 Teilhaben - strassenfeger

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David verkauft den strassenfeger und benötigt auch Ihre Hilfe!