„Unsere wahre Heimat ist nämlich der Himmel -...
Transcript of „Unsere wahre Heimat ist nämlich der Himmel -...
Universiteit Gent
Academiejaar 2012-2013
„Unsere wahre Heimat ist nämlich der Himmel
– und Gäste nur sind wir auf dieser Erde“ Eine Analyse des Verhältnisses zwischen dem Heimatbegriff und
dem Motiv des Gasthauses bei Joseph Roth.
Verhandeling voorgelegd aan de
Faculteit Letteren en Wijsbegeerte
voor het behalen van de graad van
Master in de Taal- en Letterkunde:
Duits
door
Liesbeth Dermaux
Promotor :
Prof. Dr. Benjamin Biebuyck
Danksagung
Mein Dank gebührt in erster Linie dem Fachbereich Deutsche Literaturwissenschaft an
der Universität Gent, der mir während meines Bachelor- und Masterstudiengangs nicht
nur eine Leidenschaft für die Deutsche Sprache, Kultur und Literatur beigebracht hat,
sondern mich auch immer als zusammenhängendes Team begleitet hat. Insbesondere
möchte ich mich bei meinem Betreuer, Prof. Dr. Benjamin Biebuyck, für seine
hilfreichen Anregungen, die Engelsgeduld, mit der er auf meine zahlreichen Fragen
einging, und seine außerordentliche Verfügbarkeit bedanken. Das Engagement, das er
im Laufe meines Studiums als Professor gezeigt hat, hat er als Betreuer beim
Schreibprozess dieser Arbeit nicht nur bestätigt, sondern noch übertroffen.
In Momenten, in denen Zweifel und Stress aufkamen, hatte ich das Glück, immer auf
Freunde stützen zu können. Daher möchte ich Simon Oosterlynck, meinen WG-
Mitbewohner, Dankbarkeit zeigen, der mit seinem relativierenden Blick auf die Welt
und seiner friedlichen Persönlichkeit nicht nur Ruhe in unsere Wohnung brachte,
sondern mich auch immer wieder beruhigen konnte. Insbesondere soll an dieser Stelle
auch Ruth Botterman erwähnt werden, welcher ich für ihre jahrelange Verbundenheit
danke. Ich schätze mich glücklich eine beste Freundin zu haben, deren Güte über die
einer besten Freundin hinausgeht und die folglich nicht nur eine Inspiration als
Freundin, sondern auch als Mensch ist.
Mein ganz besonderer Dank gilt Petra Weiermann, die bei der Korrektur der
Magisterarbeit sehr hilfreich zur Seite stand. Schließlich danke ich meiner Familie –
meinen Eltern, Großeltern, Schwestern und meinem Bruder – und meinem Freund, ohne
deren Unterstützung und Liebe die Arbeit nicht zustande gekommen wäre. An dieser
Stelle möchte ich mich im Besonderen bei meiner Mutter, die ihre Arbeit für ihre
Kinder aufgegeben hat, und bei meinem Vater, dessen Fleiß keine Grenzen kennt,
bedanken. Sie haben mir das Studium überhaupt erst ermöglicht und ihre Hilfe hat sich
als bedingungslos erwiesen. Demzufolge widme ich meinen Eltern diese Arbeit.
Liesbeth Dermaux,
August 2013.
Inhaltsverzeichnis
0. Einführung .................................................................................................................... 7
1. Der Heimatbegriff ....................................................................................................... 10
1.1. Heimatbegriff historisch ....................................................................................... 10
1.1.1. Bis zum 19. Jahrhundert ....................................................................................... 10
1.1.2. Heimatliebe, transzendentale Heimatlosigkeit und Unordnung
im 20. Jahrhundert .................................................................................................. 12
1.2. Heimatbegriff-Theorien ....................................................................................... 15
1.2.1. Territorium, Gemeinschaft und Heimatgefühl ................................................... 15
1.2.2. Heimat und Politik ................................................................................................. 17
1.2.3. Heimat bei Jean Améry ......................................................................................... 20
1.2.4. Heimat und Grenze ................................................................................................ 22
2. Heimat und Joseph Roth ............................................................................................. 24
2.1. Forschungspositionen ........................................................................................... 24
2.2. Heimat und Fremde .............................................................................................. 26
2.3. Heimatinszenierung in Tarabas ........................................................................... 29
3. Hotel in der Literatur .................................................................................................. 31
3.1. Geschichte des Hotels und der Hotelliteratur ....................................................... 31
3.2. Das Hotelfeuilleton bei Roth ................................................................................ 33
4. Gasthaus als Zwischenraum ........................................................................................ 36
4.1. Territorialität ............................................................................................................ 36
4.1.1. Heimat und Utopie................................................................................................. 36
4.1.2. „An den Toren Europas” ...................................................................................... 37
4.1.3. Peripherie vs. Zentrum im Hotel ......................................................................... 40
4.2. Die Welt vs. das Heim ......................................................................................... 42
4.2.1. Öffnungen und Schließungen ............................................................................... 42
4.2.1.1. Der Gasthof „Zum weißen Adler“ .......................................................... 44
4.2.1.2. Die Beziehung zwischen Kristianpoller und Tarabas ............................. 46
4.2.1.3. Die Polyfunktion des Gasthofs „Zum weißen Adler“ ............................ 50
4.2.2. Das Fenster und die andere Welt ......................................................................... 54
4.3. Mythologie vs. Realität ........................................................................................ 55
4.3.1. Mythische Anspielungen in Roths Romanen ..................................................... 56
4.3.2. Aufklärung .............................................................................................................. 60
4.3.3. Mythos und Realität im Raum ............................................................................. 62
4.3.3.1. Das Vaterland Amerika .......................................................................... 62
4.3.3.2. Mythos und Realität im Gasthaus ........................................................... 66
4.3.3.2.1. Die Rolle des Spiegels ........................................................................ 66
4.3.3.2.2. Die Tendenz zu Erneuerung bei Ignatz/Kaleguropulos und dem Brand ... 70
4.4. Leben vs. Tod ....................................................................................................... 74
4.4.1. Heimat vs. Leben und Tod in Hiob ..................................................................... 74
4.4.2. Das Grab ................................................................................................................. 76
4.4.3. Das Gasthaus als Übergangsort zwischen Leben und Tod .............................. 79
4.4.3.1. Der Liftknabe und der Fahrstuhl ............................................................. 79
4.4.3.2. Gast-Wirt-Metaphorik ............................................................................ 84
5. Schlussfolgerung ......................................................................................................... 89
6. Bibliographie .............................................................................................................. 92
7
0. Einführung
„Wo Böses geschieht, ist nicht unsere Heimat. Dazu hat uns Gott die Füße gegeben,
damit wir eine Heimat verlassen, in der Böses geschieht.“1 Diesen Rat gibt der Ich-
Erzähler einem Mann in Der Antichrist, einem polemischen Traktat2, das Joseph Roth
im Jahre 1934 schrieb. In diesem Werk reist ein Ich-Erzähler durch eine durch Technik
zerstörte und gottlose Welt und kommentiert seine Wahrnehmungen. Diese Geschichte
kann nicht gelesen werden, ohne Rücksicht auf Roths persönliche Situation zu nehmen.
Im Jahre 1933 musste er gezwungenermaßen ins Exil gehen: Er wurde heimatlos.3
Trotzdem nuanciert Ilse Josepha Lazaroms das Exiljahr als Wendepunkt: Roth sei schon
vor 1933 durch einen „inner exile“4 geprägt. So schrieb Roth 1932 im Vorwort seines
berühmten Romans Radetzkymarsch, dass der Untergang der österreichischen
Monarchie der Verlust seiner Heimat gewesen sei.5 Roth hat durch seinen Beruf als
Journalist nie eine feste Wohnung gehabt – und anscheinend nie eine gewollt.6 Wenn
Roth 1929 in seinem Hotelfeuilleton den Ich-Erzähler sagen lässt: „Ich bin ein
Hotelbürger, ein Hotelpatriot“7, liegt eine biografische Interpretation nahe. Dieser
Gedanke bestätigt sich im folgenden Zitat aus einem Brief an seinem Verleger Gustav
Kiepenhauer aus dem Jahre 1930: „Wo es mir schlecht geht, dort ist mein Vaterland.
1 Joseph Roth: Der Antichrist. Amsterdam: Allert De Lange 1934, S. 242.
2 Frank Joachim Eggers weist darauf hin, dass „die Gattungsfrage in Bezug auf diesen Text nicht zu
klären [ist]: Roth verschwistert einen aus der Ich-Perspektive entwickelten episodischen Reiseroman, der
an mythisierte Räume gebunden und in dessen Handlungsablauf eine autobiographische Dimension
integriert ist, mit Predigtpassagen und Versatzstücken seiner früheren journalistischen Arbeiten.“ (Frank
Joachim Eggers: „Ich bin ein Katholik mit jüdischem Gehirn": Modernitätskritik und Religion bei Joseph
Roth und Franz Werfel; Untersuchungen zu den erzählerischen Werken. Frankfurt am Main: Peter Lang
1996, S. 81). In vorliegender Arbeit werde ich die Gattungsbezeichnung „polemisches Traktat“, die
Müller-Funk in Bezug auf diesen Text benützt, anwenden. (vgl. Wolfgang Müller-Funk: „Der Antichrist.
Joseph Roths Dämonologie der Moderne“ In: Literatur und Kritik 243/244 (April/ Mai 1990), S. 119). 3 Els Snick: Waar het me slecht gaat is mijn vaterland. Joseph Roth in Nederland en België. Amsterdam:
Bas Lubberhuizen 2013, S. 8. 4 Ilse Josepha Lazaroms: The grace of misery : Joseph Roth and the politics of exile, 1919-1939. Leiden:
Koninklijke Brill 2013, S. 105. 5 Joachim Reiber: „‹Ein Mann sucht sein Vaterland.› Zur Entwicklung des Österreichbildes bei Joseph
Roth“. In: Literatur und Kritik 243/244 (April/ Mai 1990), S. 105. 6 Snick erwähnt eine vorübergehende Ausnahme. 1934 versucht Roth mit seiner Freundin Andrea Manga
Bell und Hermann Kesten, Heinrich Mann und deren Freundinnen eine Wohnung zu teilen. Das
Experiment gelingt nicht. (vgl. Snick: Joseph Roth in Nederland en België, S. 33). 7Joseph Roth: Panoptikum. Gestalten und Kulissen. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1983, S. 43.
8
Gut geht es mir nur in der Fremde.“8 Diese Zitate zeigen, dass Roth nicht auf der Suche
nach einer Heimat war.
Nichtsdestotrotz fallen sowohl in seinen journalistischen Werken als auch in
seinen Romanen die zahllosen Anspielungen auf das Verlangen nach einer Heimat auf.
Stefan H. Kaszyński spricht in diesem Zusammenhang von einer Idealisierung des
Heimatbegriffs, wobei er die Romane Hotel Savoy (1924) und Hiob (1930) als
prototypische Beispiele erwähnt: „Die Heimat ist allgemein Vergangenheit, betrachtet
aus der Entfernung wird sie bewußt idealisiert und zum Mythos kreiert.“9 Jedoch fällt
auf, dass Roth den Heimatbegriff vielfach in ironisierenden Kontexten benützt, wie im
folgenden Zitat aus Hiob, wo sich Heimat als ein leeres Konzept zeigt, das man zwar
braucht, aber beliebig ausfüllen kann: Mendel Singer versucht seinen Sohn „Schemarjah
noch schnell mit der Heimat vertraut [zu] machen, ehe der junge Mann auszog, eine
neue zu suchen.“10
Zweitens hat der Heimatbegriff nicht immer Vergangenheit, sondern
auch Zukunft vor Augen, wie in Der Antichrist, wo mit der Vergangenheit abgerechnet
wird: „Unsere wahre Heimat ist nämlich der Himmel – und Gäste nur sind wir auf
dieser Erde“.11
Aufgrund Roths persönlicher Situation und der vielfachen Hervorrufung
des Heimatbegriffs erstaunt es nicht, dass die Funktion von Heimat in Roths Werken
zur zentralen Forschungsfrage gehört. Die Forschung ist sich allerdings nicht einig, wie
Heimat in Roths Werken zu verstehen ist. Wo Kaszyński Heimat bei Roth in der
Vergangenheit sieht, sucht Wolfgang Müller-Funk sie in der Fremde.12
Ute Gerhard
schlägt einen anderen Kurs ein, wenn sie die Forschungsfrage, die auf der Heimatsuche
der Rotschen Figuren basiert, ablehnt und Heimat bei Roth im Rahmen der
Wandererdiskurse der Weimarer Republik betrachtet.13
In der vorliegenden Arbeit wird
erneut die Frage nach der Funktion von Heimat in Roths Werken gestellt, und zwar
anhand einer Analyse der Funktion des Hotels und der hotelähnlichen Räume.14
Anlass
8 Roth an Gustav Kiepenheuer, 10. Juni 1930 (Joseph Roth, Briefe 1911-1939. Hg. v. Hermann Kesten.
Köln: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 165). 9 Kaszyński, Stefan H.: „Die Mythisierung der Wirklichkeit im Erzählwerk von Joseph Roth“. In:
Literatur und Kritik 243/244 (April/ Mai 1990), S. 139. 10
Joseph Roth: Hiob. Köln: Kiepenheuer & Witsch 200040
, S. 56. 11
Roth: Der Antichrist, S. 150. 12
Wolfgang Müller-Funk: Joseph Roth. München: C. H. Beck 1989, S. 22. 13
Ute Gerhard: Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der
Weimarer Republik. Opladen: Westdeutscher Verlag 1998, S. 205. 14
Diese Arbeit wird ab jetzt den Terminus „Gasthäuser“ verwenden, weil beide Teile dieses Wortes –
Gast und Haus – den Fokus dieser Arbeit veranschaulichen: Ist der Mensch im Hotel oder in
hotelähnlichen Räumen nur Gast oder werden solche Räume zum Wohnort?
9
dazu sind zunächst die Tatsache, dass das Hotel für Roth als Wohnort fungiert hat, und
die explizite Verbindung von Heimat und Hotel im Hotelfeuilleton in Panoptikum: „Das
Hotel, das ich wie ein Vaterland liebe“15
. Der andere Beweggrund zur Untersuchung
des Gasthauses in seiner Verbindung mit Heimat liegt in einer auffallenden Lücke im
Forschungsstand, denn es wird entweder nach Heimat oder nach Hotel geforscht, und
wenn ausnahmsweise beide in Verbindung gebracht werden, werden nur die
nächstliegenden Werke, das Hotelfeuilleton und das Hotel Savoy, berücksichtigt.16
Mit
einem einseitigen Fokus auf das Hotel in Bezug auf Roths Heimatbegriff verzichtet die
Forschung auf das Konzept des Gasthauses im Allgemeinen. Daher geht vorliegende
Arbeit von der zentralen Frage aus: Wie verhält sich das Motiv des Gasthauses zu Roths
Heimatdiskurs?
Meine Arbeitshypothese lautet, dass der Heimatbegriff – im konventionellen
Sinne einer Suche nach einem idealen Wohnort – in Roths Werken dekonstruiert wird,
insofern das Gasthaus als Ort des Übergangs die Romanfiguren in eine vorwärtsgehende
Bewegung treibt und die Struktur des Romans beeinflusst.
Dabei stehen fünf Werke Roths im Mittelpunkt der Untersuchung, die alle den
Heimatbegriff hervorrufen und in denen ein Gasthaus – zentral oder am Rande –
thematisiert wird. Der Roman Hotel Savoy (1924) und das Hotelfeuilleton (1929), das
1929 zum ersten Mal in der Frankfurter Zeitung publiziert wurde und Roth 1930
zusammen mit anderen journalistischen Texten in den Sammelband Panoptikum
aufnehmen lässt, können in dieser Untersuchung nicht unterbleiben, weil die
Darstellungen dieser Hotels, wie soeben gesagt, bis jetzt in der Forschung das
Verhältnis von Heimat und Hotel in Roths Werken begründen. In Hiob (1930), „Roths
‹jüdischster› Roman“17
, kommt am Ende der Geschichte eine Hotelszene vor, die den
Roman in ein anderes Licht rückt. Die Auswahl des Romans Tarabas mit dem
Untertitel „Ein Gast auf dieser Erde“18
(1934), der Roth während des Exils schreibt und
zu Roths späterem Werk gehört, begründe ich mit dem Argument, dass der Roman kein
15
Roth: Panoptikum, S. 40. 16
Siehe Telse Hartmann: Kultur und Identität. Szenarien der Deplazierung im Werk Joseph Roths.
Tübingen: Narr Francke Attempto 2006, S. 184-194; Müller-Funk: Joseph Roth, S. 40-50. 17
Eva Raffel: Vertraute Fremde: das östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und Arnold Zweig.
Tübingen:
Gunter Narr 2002, S. 203; Raffel kommt zu dieser Bezeichnung, indem sie den Roman wie folgt
zusammenfasst: „In Hiob wird aus der Existenzfrage eines einzelnen Menschen die Schicksalsfrage des
ostjüdischen Volkes.“ (Raffel: Vertraute Fremde, S. 202). 18
Joseph Roth: „Tarabas“. In: Joseph Roth Werke. Band 2. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1956, S. 139.
10
Hotel, sondern einen Gasthof als bedeutendsten Ort des Romans inszeniert. Anders als
die anderen Werke, die in dieser Arbeit noch einer Analyse unterzogen werden,
thematisiert Der Antichrist (1934), das Traktat, das Roth nach eigener Aussage aus „der
persönlichen Not geschrieben“19
hat, kein wahrnehmbares Gasthaus, in dem sich die
Geschichte entfaltet, sondern bringt das Gasthaus als Konzept zur Sprache.
Die Gasthäuser werde ich in vorliegender Arbeit einer foucaultianischen
Analyse unterwerfen, insofern, sie als Heterotopien, als „tatsächlich realisierte
Utopien“20
zu verstehen sind. Diese Räume weichen von alltäglichen Räumen ab, mit
denen sie dennoch eine Verbindung erhalten.21
Ausgehend von dem heterotopischen
Charakter des Gasthauses, soll sich auch die Spannung herausstellen, mit der Roths
Heimatbegriff aufgeladen ist. Roths Heimatdiskurs ist aber erst dann zu verstehen, wenn
deutlich wird, worauf die traditionellen Konnotationen des Heimatbegriffs beruhen. Das
Motto „Heimat bedeutet für verschiedene Leute Verschiedenes“22
, mit dem
Heimatforscher Gunter Gebhard sein Standardwerk Heimat: Konturen und
Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts anfängt, macht deutlich, dass sich ein
breitdiskutiertes Thema eröffnet.
1. Der Heimatbegriff
1.1. Heimatbegriff historisch
1.1.1. Bis zum 19. Jahrhundert
Andrea Bastian legt in ihrem Werk Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche
Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache viel Wert
auf den Ursprung der Bedeutungselemente des Heimatbegriffs, weil sie glaubt, dass der
Begriff Heimat erst deutlich wird, wenn sich herausstellt, welche Teilbedeutungen des
Begriffs sich im Lauf der Zeit manifestiert haben und welche zu Konstanten geworden
19
Roth an Stefan Zweig, 14. Juni 1934 (Joseph Roth, Briefe 1911-1939, S. 339). 20
Michel Foucault: „Andere Räume“. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen
Ästhetik. Essais. Hg. v. Karlheinz Barck, Peter Gent, u.a. Leipzig: Reclam 1990, S. 39. 21
Foucault: Andere Räume, S. 38-39. 22
Alfred Schutz in Der Heimkehrer (1945) nach Gunther Gebhard, Oliver Geisler und Steffen Schröter:
„Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung“. In: Heimat. Konturen und
Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts. Bielefeld: Transcript 2007, S. 9.
11
sind.23
Die Entstehungshintergründe der Heimatbedeutungen sucht Bastian im politisch-
gesellschaftlichen und im literarischen Bereich.24
Anders als Bastian interessieren mich
nicht die Auswirkungen des Heimatbegriffs im Alltagsbereich, sondern die
Bedeutungsexistenzen in der Weimarer Republik und insofern auch bei Joseph Roth.
Etymologisch geht „Heimat“ auf die althochdeutsche Form ‹heimuot(e)› zurück,
die etwa ‹Stammsitz› bedeutet.25
Das Wort „Heimat“ lässt sich ab dem 15. Jahrhundert
nachweisen und überwiegt schon im 16. Jahrhundert.26
Bis zum 18. Jahrhundert wurde
die Bedeutung des Begriffs Heimat territorial geprägt, zunächst durch die Landschaft
um den konkreten Ort herum, in dem man wohnte, und durch das Elternhaus.27
Zur Zeit
der Romantik entwickelte sich Heimat zu einem offenen Raum, weil die Reisen in die
Fremde der Romantiker eine Vermengung von dem Eigenen und dem Fremden
hervorbrachten. Die Impulse aus der Fremde werden zunächst positiv beurteilt.28
Die
Forschung ist sich darüber einig, dass das 19. Jahrhundert den großen Wendepunkt in
Bezug auf den Heimatbegriff bedeutet, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Wo
Gebhard am Anfang des 19. Jahrhunderts noch eine Kontinuität mit der Romantik sieht,
stellt er fest, dass man sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr von der Fremde
abwendet, die man jetzt als bedrohlich erfährt.29
Die zunehmende Spaltung zwischen
dem Eigenen und dem Fremden zeigt sich nach Karl Schlögel durch die Kartierung der
Welt und die Unterwerfungen der Kolonialmächte im Imperialismus, wobei er ein
immer aggressiveres Territorialbewusstsein erkennt.30
Nach Bastian begründet sich die
Entwicklung des Heimatbegriffs im 19. Jahrhundert im Sozialen, denn der
Heimatbegriff sei nach der Wanderbewegung vom Land in die Stadt, die sich im Zuge
der Industrialisierung vollzieht, durch Heimweh nach dem Land geprägt, was die
ökonomischen Probleme der Großstadt noch verstärkt.31
Aus den
23
Andrea Bastian: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen
Funktionsbereichen der deutschen Sprache. Tübingen: Niemeyer 1995, S. 15. 24
Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 81. 25
Art.: „Heimat“. In: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Hg. v. Friedrich Kluge. 24.
Auflage. Bearbeitet von Elmar Seebold. Berlin: De Gruyter 2002, S. 402. 26
Art.: „Heimat“. In: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Band I. Hg. v. Wolfgang Pfeifer. 2.
Auflage. Berlin: Akademie 1993, S. 525. 27
Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 82. 28
Gebhard: Heimatdenken, S. 18. 29
Gebhard: Heimatdenken, S. 18-19. 30
Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Frankfurt am
Main: Fischer Taschenbuch Verlag 20093, S. 46-47.
31 Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 82-83.
12
Entfremdungserfahrungen, die mit der Industrialisierung einhergehen, entsteht nach
Behschnitt ein Identitätsdiskurs, indem eine emotionale und politische Aufladung des
Heimatbegriffs hinzukommt.32
Behschnitt erwähnt zudem, dass nach Homi K. Bhabha
das Entstehen der Idee der Nation dem Verlust der lokalen Bindung im 19. Jahrhundert
zuzuschreiben ist.33
Nach Bausinger wird Heimat schließlich am Ende des 19.
Jahrhunderts das Gegenbild zur Großstadt, deren Kontrast sich am stärksten in der neu
geformten Heimatbewegung zeigt.34
So entsteht eine Heimatkunst, die auf Tradition
setzt und den Großstadtmenschen als krank darstellt.35
Bausinger hebt zwei Tendenzen
der Heimatbewegung hervor. Einerseits wird Heimat immer mehr mit der Vorstellung
des Bäuerlichen verbunden, entwickelt sich sogar, mit Bausinger gesprochen, zu einer
„ideologische[n] Verhätschelung der Bauern“.36
Bausingern zufolge verbindet sich das
ideologisierte Ländliche bis heute mit dem Heimatbegriff.37
Die zweite Tendenz der
Heimatbewegung liegt im Anti-Internationalismus. Aufgrund dessen sieht Bausinger
Heimat und Vaterland verschmelzen, indem Heimat sich immer mehr an der eigenen
Nation orientiert.38
1.1.2. Heimatliebe, transzendentale Heimatlosigkeit und Unordnung im 20. Jahrhundert
Der Erste Weltkrieg ist die Kulmination der allgegenwärtigen Beschäftigung mit
Heimat: „der Wille zum Krieg und die Heimatliebe [fanden sich] aufs engste
verschaltet“.39
Gebhard beschreibt, wie sich im Lauf des Krieges die Soldaten von ihrer
Heimat entfremden:
Vielen Soldaten scheint aber in dem Moment, wo sie sich, durch die unerwartete
Dauer des Krieges, in dem Ausnahmezustand einzurichten beginnen, jene
Heimat, für die sie in den Krieg gezogen sind, sukzessive abhanden zu kommen.
Es lässt sich eine Dissoziation des Soldaten von der Heimatfront beobachten, in
32
Wolfgang Behschnitt: „Die Konstruktion von Heimat in der Literatur. Zu Fredrika Bremers Roman Die
Mitsommerreise“. In: Grenzgänger zwischen Kulturen. Band I. Hg v. Monika Fludernik und Hans-
Joachim Gehrke. Würzburg: Ergon 1999, S. 350. 33
Behschnitt: Die Konstruktion von Heimat in der Literatur, S. 349. 34
Hermann Bausinger: „Heimat und Identität“. In: Heimat. Sehnsucht nach Identität. Hg. v. Elisabeth
Moosmann. Berlin: Ästhetik und Kommunikation 1980, S. 18. 35
Gebhard: Heimatdenken, S. 26. 36
Bausinger: Heimat und Identität, S. 18. 37
Bausinger: Heimat und Identität, S. 18. 38
Bausinger: Heimat und Identität, S. 18- 19. 39
Gebhard: Heimatdenken, S. 28.
13
deren Folge vielfach die Front zum Ort des Vertrauten und Erwartbaren
avanciert.40
Roth thematisiert die Verbindung von Heimat und Krieg in Tarabas, wie folgendes
Zitat veranschaulicht: „[d]er Krieg wurde seine Heimat. Der Krieg wurde seine große,
blutige Heimat.“41
Die große Tragik, Gebhard zufolge, ist, dass es den Soldaten nach
dem Krieg nicht mehr gelingt an ihre Heimat, deren Verteidigung allerdings der Grund
für das militärische Auftreten war, anzuknüpfen.42
In Opposition zur Kriegsbegeisterung und der damit zusammenhängenden
Entfremdung entstand Georg Lukács‘ im Jahre 1916 veröffentlichte Theorie des
Romans.43
Nach Lukács, der den Roman dem griechischen Epos gegenüberstellt, ist der
Roman Ausdruck der „transzendentalen Heimatlosigkeit.“44
Lukács verbindet die
fundamental suchende Romanfigur mit dem Fehlen von Wegen und Zielen in der
modernen Welt.45
Wenn er darauf hindeutet, dass „die selbstgeschaffene Umwelt für
den Menschen kein Vaterhaus mehr ist“46
, macht er deutlich, dass der gesellschaftliche
Paradigmenwechsel im frühen 20. Jahrhundert in der Entfernung des Menschen von
seiner Natur liegt. Interessant ist, dass Bettina Matthias den berühmten Begriff von
Lukács der „transzendentalen Heimatlosigkeit“ als Titel für ihren Artikel
„‹Transzendental heimatlos›. Zum Kultur- und sozialgeschichtlichen Ort literarischer
Hotels in der deutschsprachigen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts“47
erwähnt und
somit das Hotel in der Literatur unmittelbar mit der Krise der Moderne in Verbindung
bringt. Matthias, die die Hotels in der Literatur soziologisch analysiert, kommt neben
Lukács auch auf die Modernitätskritiker Georg Simmel und Siegfried Kracauer in
Bezug auf die transzendentale Heimatlosigkeit des frühen 20. Jahrhunderts zu sprechen.
Obwohl Simmel den Terminus nicht explizit benützt, spricht seine soziologische
Theorie, Matthias zufolge, jedoch von einer transzendentalen Heimatlosigkeit des
Menschen, wenn er betont, dass das Geld – obwohl treibende Kraft der Modernität –
40
Gebhard: Heimatdenken, S. 29. 41
Roth: Tarabas, S. 161. 42
Gebhard: Heimatdenken, S. 32. 43
Jens Kruse: „Lukács' Theorie des Romans und Kafkas In der Strafkolonie: eine Konstellation im Jahre
1914“. In: German Studies Review 10:2 (Mai 1987), S. 240-241. 44
Georg Lukács: Die Theorie des Romans: ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der
großen Epik. Neuwied/Rhein: Luchterhand 1965, S. 59. 45
Lukács: Die Theorie des Romans, S. 58. 46
Lukács: Die Theorie des Romans, S. 62. 47
Bettina Matthias: „‹Transzendental heimatlos›. Zum kultur- und sozialgeschichtlichen Ort literarischer
Hotels in der deutschsprachigen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts“. In: Arcadia 40:1 (2005), S. 117.
14
keine Qualitäten besitzt und somit eine Upper Class nur oberflächlich zusammenhalten
kann.48
Wenn Kracauer den Angestellten, die durch die Konsumsphäre den Bezug zur
Realität der Gesellschaft und ihrer Identität verloren haben, vorwirft „geistig
obdachlos“49
zu sein, versteht Matthias die Aussage als eine explizite Anspielung auf
Lukács, die auch im Sinne Lukács als eine existenzielle Unbehaustheit zu verstehen
sei.50
So stellt sich heraus, dass nach den Theoretikern der Weimarer Republik die
transzendentale Heimatlosigkeit durch die modernisierte Welt hervorgebracht wird.
Beschwört Roth im polemischen – und, nach eigener Aussage, persönlichen – Traktat
Der Antichrist mit dem Zitat „So ist es: unsere Sattheit ist immer noch Hunger und
Durst; unsere Heimat ist immer noch Obdachlosigkeit; und das, was wir Wirklichkeit
nennen, ist immer noch Trug: denn alles, was wir Erkenntnis nennen, ist Lüge“51
,
anhand der Verbindung von „Heimat“ und „Obdachlosigkeit“ eine gleiche
Modernitätskritik wie Lukács, Simmel und Kracauer herauf, oder ist die
Heimatlosigkeit eher im Rahmen der jüdischen Diaspora oder sogar noch anders im
Sinne Frank Joachim Eggers als religiös motiviert zu verstehen?52
Diese Frage wird
vorliegende Arbeit noch beantworten.
Nicht nur die Auswirkung der modernen Umwelt auf das Individuum, sondern
auch das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im politischen Sinne ergibt sich
nach Gebhard immer mehr als unsicher: „Die Zeitdiagnosen der Zwanziger Jahre sind
Diagnosen der Unordnung.“53
Das Verlangen nach Ordnung verkörpert der prototypisch
desorientierte Weimarer-Mensch Franz Biberkopf in Berlin Alexanderplatz aus dem
Jahre 1929: “Franz handelt nun völkische Zeitungen. Er hat nichts gegen die Juden, aber
er ist für Ordnung. Denn Ordnung muß im Paradiese sein, das sieht ja wohl ein jeder
ein.“54
Aus diesem Satz geht hervor, dass für Biberkopf weniger eine gerechte Welt,
vielmehr eine geordnete Welt vorherrscht. Die Beobachtung am Ende des 19.
Jahrhunderts, dass Heimat sich immer mehr an der Nation orientiert, entwickelt sich
48
Matthias: Transzendental heimatlos, S. 130. 49
Siegfried Kracauer in Die Angestellten (1971) zitiert nach Matthias: Transzendental heimatlos, S. 118. 50
Matthias: Transzendental heimatlos, S.118. Gebhard dagegen betont, dass Kraucauer die Formulierung
Lukács zwar wieder aufgenommen hat, aber ohne sich auf diese zu beziehen. (Gebhard: Heimatdenken, S.
35-36). 51
Roth: Der Antichrist, S. 25. 52
Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 85. 53
Gebhard: Heimatdenken, S. 37. 54
Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. München: Deutscher
Taschenbuch 200948
, S. 82.
15
somit weiter in der Weimarer Republik, indem das Verlangen nach Ordnung
beherrschend wird.
1.2. Heimatbegriff-Theorien
1.2.1. Territorium, Gemeinschaft und Heimatgefühl
Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, dass zwei große Kategorien in Bezug auf den
Heimatbegriff nicht übersehen werden können: die räumliche und die soziale. Bastian
reduziert die komplexe räumliche Kategorie auf Territorium und versteht Raum in dem
Sinne nicht als Lebensraum.55
Die soziale Kategorie definiert sie anhand von Ferdinand
Tönnies Begriff Gemeinschaft.56
Nach Bastian sieht Tönnies den Menschen in seiner
Spannung zwischen Natur und Geist, und aus diesem Antagonismus erkläre er den
menschlichen Willen zur sozialen Bindung.57
Oder anders gesagt: Sowohl der
menschliche Wille selber als auch der Wille eines Menschen, ein Teil eines Kollektivs
zu sein, ist ein Naturzustand. Tönnies stellt das Phänomen der Gemeinschaft aber
radikal dem der Gesellschaft gegenüber: „In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man
sich, von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die
Gesellschaft wie in die Fremde.“58
Obwohl Tönnies die Möglichkeit einer friedlich
nebeneinander wohnenden Gesellschaft nicht verneint59
, bleibt sie nach ihm eine ideelle
und mechanische, während die Gemeinschaft eine reale und organische Bindung sei.60
Die zwei zentralen Bedeutungskategorien, das Räumliche und das Soziale, sieht
Bastian auch bei Ina Maria Greverus und Hermann Bausinger betont, deren
Schwerpunkt jedoch unterschiedlich liegt, weil jene Heimat primär als ein räumliches
Bedürfnis des Menschen betrachtet, während dieser auf den sozialen Aspekt des
Heimatbegriffs fokussiert.61
Nach Bastian geht Greverus einen Schritt weiter als sie
selber, da Greverus nicht die räumliche Teilbedeutung des Heimatbegriffs, sondern den
55
Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 25. 56
Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 25. 57
Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 25. 58
Ferdinand Tonnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. 2.,
durchgesehener und berichtigter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Darmstadt 1963. Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S. 3. 59
Tonnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 40. 60
Tonnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 3. 61
Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 85.
16
Begriff Heimat durch Territorialität ersetzt.62
Nach Greverus werden Heimaträume
dadurch geschaffen, dass der Mensch „sich aktiv einen Raum aneignet, ihn gestaltet und
sich in ihm einrichtet – d. h. ihn zu Heimat macht“.63
In Der Territoriale Mensch. Ein
literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen entwickelt Greverus‘
zunächst ihre Heimatidee, wobei sie das Bedürfnis des Menschen, ein Territorium in
Besitz zu nehmen und Grenzen zu ziehen, mit dem territorialen Verhalten eines Tieres
vergleicht.64
Sie betont, dass der Mensch nur seine Identität finden kann in einem
Territorium, das er selber zu Lebenswelt macht und das sowohl Schutzraum als auch
Aktionsraum für den Menschen bedeutet.65
Obwohl Bausinger erwähnt, dass Heimat
auf eine räumliche Relation zielt: sie sei „zwar nicht strikt begrenzbar, aber doch
lokalisierbar im Raum“66
, liegt sein Schwerpunkt auf dem sozial-psychologischen
Aspekt des Heimatbegriffs, was sich in seiner unmittelbaren Verbindung von Identität
und Heimat zeigt.67
Unter der Voraussetzung, dass Heimat als „‹Ort tiefsten
Vertrauens›, als ‹Welt des intakten Bewußtseins› zu verstehen ist“68
, meint Bausinger,
dass „Heimat nicht nur eine Basis für Identität, sondern gewissermaßen das Wesen der
Identität“69
ist. Somit zeigt sich, dass sowohl Bausinger als auch Greverus die
Identitätsbildung des Menschen als wesentliches Merkmal des Heimatphänomens
hervorheben, dass aber Bausinger ein abstrakteres Konzept von Raum als Greverus hat
und insofern dem territorialen Aspekt der Heimat weiniger Aufmerksamkeit schenkt. Im
folgenden Kapitel wird das Verhältnis von Heimat und Identität weiter ausgeführt.
Wenn Heimat und Identität verknüpft sind, zeigt sich, dass Heimat mehr als das
Verlangen des Menschen nach Territorium und Gemeinschaft ist. Auch Bastian, die
zwar das Räumliche und das Soziale als die zentralen Bedeutungskategorien des
Heimatbegriffs betrachtet, erkennt, dass „um das Phänomen von ‹Heimatgefühl› in
angemessener Weise miteinbeziehen zu können“70
noch eine wesentliche Kategorie zu
unterscheiden ist: die emotionale Kategorie des Heimatbegriffs. Als Auslöser
62
Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 37. 63
Ina Maria Greverus in Auf der Suche nach Heimat (1979) zitiert nach Bastian: Der Heimat-Begriff, S.
85. 64
Ina Maria Greverus: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum
Heimatphänomen. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag 1972, S. 23-24. 65
Greverus: Der territoriale Mensch, S. 382. 66
Bausinger: Heimat und Identität, S. 13. 67
Bausinger: Heimat und Identität, S. 13. 68
Bausinger: Heimat und Identität, S. 13. 69
Bausinger: Heimat und Identität, S. 13 70
Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 218.
17
heimatlicher Gefühle führt sie die heimatliche Sprache, Anblick eines Gegenstandes,
Nennung eines Namens, usw. an.71
Spezifisch deutsche Heimatssymbole seien Natur-
und Landschaftskomponenten.72
Bastian erklärt anhand von Walter Ludwig Bühls
Struktur und Dynamik des menschlichen Sozialverhaltens, dass Heimatgefühle mit dem
Selbstbild des Menschen verglichen werden, welches sich aus der Kindheit entwickelt
und dass die Gehirnorganisation des Menschen so aufgebaut ist, dass man sich an
Gefühle, die mit Heimat assoziiert werden, noch nach vielen Jahren erinnern kann.73
Neben genetischen Voraussetzungen bedingt auch die Lebenswelt, in der das Kind den
Prozess von Kenntnis über die Welt anfängt, was das Kind als Vertraut und Fremd
erfährt und erfahren wird. So erklärt Bastian das Grundbedürfnis des Menschen nach
Geborgenheit, mit der sie am meisten das Heimatgefühl assoziiert und somit als
zentrales Element der emotionalen Kategorie einstuft.74
1.2.2. Heimat und Politik
Behschnitt hat sich, um das Verhältnis von Heimat und Nation angemessen erklären zu
können, in seinem Artikel „Die Dekonstruktion von Heimat in der Literatur“ dafür
entschieden, die kritische Idee der Nation von Homi K. Bhabha im Rahmen der
postkolonialistischen Literaturtheorie kurz zu beleuchten. Genau wie Tönnies die
Gesellschaft, versteht Bhabha die Nation als „ein Gemeinschafts-Konstrukt“75
. Im
Gegensatz zu Tönnies unterstreicht er aber, dass die Menschen, die sich in diesem
Konstrukt befinden, nicht problemlos zusammengehören, weil sich das Individuum
nicht mit einer konstruierten Gesellschaft identifizieren kann.76
Die Problematisierung
von Nation und Identität im Sinne Bhabhas hat Behschnitt auf das Verhältnis von
Heimat und Nation übertragen.77
Es wurde bereits gesagt, dass Heimat sich einerseits
auf das Regionale bezieht und sie so der Großorganisation einer Nation gegenübersteht,
aber andererseits ab dem 19. Jahrhundert häufig von der Nation in den Dienst
71
Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 34. 72
Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 36. 73
Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 47. 74
Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 48. 75
Homi K. Bhabha in DissemiNation: time, narrative, and the margins of the modern nation (1990)
paraphrasiert nach Behschnitt: Die Konstruktion von Heimat in der Literatur, S. 350. 76
Homi K. Bhabha in DissemiNation: time, narrative, and the margins of the modern nation (1990)
paraphrasiert Behschnitt: Die Konstruktion von Heimat in der Literatur, S. 350. 77
Behschnitt: Die Konstruktion von Heimat in der Literatur, S. 351.
18
genommen wurde. Aufgrund der Annäherung von Nation und Heimat plädiert
Behschnitt dafür, Heimat genau wie Nation als eine Konstruktion zu betrachten.78
Im
Bereich der Räume aber existieren nach Behschnitt deutliche Unterschiede.79
Die
Heimat sei viel enger mit der Individualität des Subjektes verknüpft; die individuelle
Erinnerung, die beispielsweise auf Kindheit und Herkunft beruht, spiele eine viel
größere Rolle.80
Demzufolge habe der Raum der Heimat viel mehr als der Raum der
Nation seinen Weg in die Kunst gefunden.81
Bausinger, der die mit Identität verbundene Heimat als Lebenszusammenhang
versteht, erkennt dasselbe Problem der Annäherung zwischen Heimat und Nation, sieht
Heimat aber keinesfalls als Konstruktion. Er verinnerlicht den Heimatbegriff, ohne auf
die Vergangenheit Bezug zu nehmen.82
Zur Hervorhebung dieses Gedanken führt er als
Motto seines Artikels „Heimat und Identität“ das berühmte Zitat von Ernst Bloch an:
Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch
vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am
Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft
und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der
Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende
und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung
und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas,
das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.83
Im Gegensatz zu Bastian, die, wie sich gerade herausgestellt hat, das Heimatgefühl mit
der vertrauten Welt der Kindheit in Verbindung bringt, teilt Bausinger mit Bloch die
Idee, dass Heimat nicht in der Vergangenheit liegt. Da Bloch zwar nicht die
Massenmobilisierung, aber doch die individuell politische Kraft des Menschen fordert,
werden Politik und Heimat im Zitat implizit miteinander verknüpft. Blochs Absicht ist
keinesfalls, die Politik über die Heimat zu stellen, sondern eher umgekehrt eine neue
Idee von Heimat zu entwickeln: eine humanisierte Gesellschaft mit Blick in die
Zukunft.84
Bausinger folgt dieser Idee, da er gerade davor warnt, wenn Heimat im
78
Behschnitt: Die Konstruktion von Heimat in der Literatur, S. 351. 79
Behschnitt: Die Konstruktion von Heimat in der Literatur, S. 351. 80
Behschnitt: Die Konstruktion von Heimat in der Literatur, S. 351. 81
Behschnitt: Die Konstruktion von Heimat in der Literatur, S. 351. 82
Bausinger: Heimat und Identität, S. 26. 83
Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Band III. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S. 1628
(Hervorhebung von Bloch). 84
Bastian erwähnt ebenfalls Blochs Zitat, das sie als Ausdruck einer “konkreten Utopie“ versteht:
„‹Heimat› meint dabei die konkreten Lebensbedingungen eines kleinen regionalen Raumes, in dem jedem
einzelnen Bürger die Möglichkeit zur politischen Einflußnahme gegeben ist. Ein politischer Heimat-
19
Zeichen der Politik manipuliert wird.85
Demzufolge bemüht Bausinger sich, einerseits
den Heimatbegriff von der Kulisse bzw. von der „Veräußerlichung des Heimatbegriffs,
d[er] kommerzielle[n] Wendigkeit“86
zu befreien, sodass wieder Wärme – keine alte
falsche Sentimentalisierung – über den Heimatbegriff vermittelt wird. Andererseits ist
Bausinger bestrebt den Heimatbegriff von seiner Rückwärtsgewandtheit – denn gerade
sie ist einfach ideologisch umzudeuten – zu lösen und auf den noch zu erschaffenden
Lebensraum zu fokussieren.87
Bausinger erkennt, dass die Mehrdeutigkeit des Heimatbegriffs dessen
Manipulation vereinfacht.88
Im Kapitel „Zusammenfassung der wichtigsten
Verflechtungen zwischen der politischen Praxis und dem Heimat-Begriff“89
erklärt
Bastian, wie die Manipulation des Heimatbegriffs sich entwickeln konnte. Im Laufe des
19. Jahrhunderts wurden die positiven Begriffsinhalte von Heimat auf größere politische
Systeme übertragen, wie Nation und Staat. Die beiden, die in Deutschland zu dieser Zeit
noch nicht identisch waren, wurden so immer positiver und gleichermaßen gewertet. Da
Vaterland viele semantische Merkmale mit Heimat teilt, nimmt es nicht wunder, dass
gegen Ende des 19. Jahrhunderts Vaterland im politischen Bereich häufig als Synonym
für Heimat verwendet wurde.90
Der Manipulation des Heimatbegriffs im politischen
Bereich wurde folglich Vorschub geleistet, einerseits durch die Möglichkeit, Vaterland
und Heimat als Synonyme zu verwenden und andererseits durch die Vielfältigkeit der
Bedeutungskomponenten des Heimatbegriffs, wobei man die Bedeutung wählt, die
ideologisch am Besten in den Kram passt. Obwohl die vorliegende Arbeit nicht nach
dem Unterschied zwischen Vaterland und Heimat in Roths Werken forschen wird,
scheint mir die historische Betrachtung als Hintergrund für die Analyse förderlich zu
sein.
Begriff dieser Qualität, der nach realen Bedingungen fragt, beinhaltet schon in der Betonung der Realität
eine Aktivitätsaufforderung und ein gemeinschaftsbildendes Element.“ (Bastian: Der Heimat-Begriff, S.
145-146). 85
Bausinger: Heimat und Identität, S. 28. 86
Bausinger: Heimat und Identität, S. 22. 87
Bausinger: Heimat und Identität, S. 22. 88
Bausinger: Heimat und Identität, S. 22. 89
Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 144. 90
Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 144.
20
1.2.3. Heimat bei Jean Améry
„Heimat ist Sicherheit“91
äußert sich Jean Améry in seinem Essay „Wieviel Heimat
braucht der Mensch?“ Améry ist für das vorliegende Projekt in zweierlei Hinsicht
interessant. Erstens beleuchtet er die Heimatfrage aus einer anderen Perspektive als
Bastian und Bausinger, die das Problem des Begriffs theoretisch-objektiv betrachten,
während er als Exilautor persönlich mit dem Phänomen Heimat – oder mit dem Fehlen
einer Heimat – konfrontiert wurde. Zweitens teilt er als Jude und Österreicher denselben
Hintergrund wie Roth. Améry betont, dass ein Jude die Zeit im Exil ganz anders als
derjenige, der freiwillig in das Exil geht, erlebt. Dies illustriert er anhand einer
Anekdote: Ein wegen seiner Gesinnung ins Exil gegangener Mann, wurde häufig darum
gebeten, heimzukehren: „Ja, Mann, um Gottes willen, haben Sie denn kein
Heimweh?“92
, worauf der Mann antwortete: „Heimweh, wieso? […] bin ich denn ein
Jude?“93
Doppelt heimatlos fühlt Améry sich als Österreicher. In seinem Werk
Örtlichkeiten stellt Améry Österreich bereits vor der Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929
als verloren dar. Man war teils von der monarchistischen Nostalgie erfüllt, teils war man
von Deutschland und teils von der Sowjetunion begeistert.94
Cafégänger – das Café
nennt Améry die „eigentlich[e] Heimat des Wieners“95
– ignorierten die verteilte
politische Situation und hielten sich mit kulturellen Fragen auf.96
Daraus folgt, dass man
als Jude und Österreicher sowieso in den 1920er und 1930er Jahren eine komplexe
Heimatsituation hat.
Weil Améry Heimat mit Sicherheit verknüpft, lässt er auf den ersten Blick die
räumliche Kategorie des Heimatbegriffs außer Betracht: „Schrecken war es allein
schon, daß man die Gesichter der Menschen nicht entziffern konnte.“97
Seine
Ahnungslosigkeit während der Exilzeit bedeutete für ihn nicht nur eine ständige
Unsicherheit, sondern sogar den Verlust der Identifikation als Individuum mit seiner
91
Jean Améry: „Jenseits von Schuld und Sühne“. In: Jean Améry Werke. Band II. Hg. v. Irene
Heidelberger-Leonard. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 95. 92
Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 89. 93
Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 89. 94
Jean Améry: „Örtlichkeiten“. In: Jean Améry Werke. Band II. Hg. v. Irene Heidelberger-Leonard.
Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 365. 95
Améry: Örtlichkeiten, S. 364. 96
Améry: Örtlichkeiten, S. 364-366. 97
Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 94-95.
21
Umgebung: „Ich war ein Mensch, der nicht mehr ‹wir› sagen konnte“.98
Das Heimweh
in der Exilzeit beschreibt er ebenfalls aus dem „wir und ich“-Rahmen. „Das traditionelle
Heimweh“99
erlebe man in der Gruppe, wenn man zusammen Lieder singt und Alkohol
trinkt100
, „[d]as echte Heimweh war nicht Selbstmitleid, sondern Selbstzerstörung. Es
bestand in der stückweisen Demontierung unserer Vergangenheit und Haß gegen das
verlorene Ich.“101
Oder anders gesagt: „Das echte Heimweh“ spürt man, wenn man
allein ist. Obwohl Améry Sicherheit als die wichtigste Voraussetzung eines
Heimatgefühls betrachtet, braucht das Ich nach ihm auch eine politische Verwurzelung.
Bemerkenswert ist, dass Améry nicht die Gefahr einer Orientierung der Heimat an der
Nation, sondern im Gegenteil ihrer Verbindung sogar beistimmt, indem er Vaterland
und Heimat gleichsetzt:
Wer kein Vaterland hat, will sagen, kein Obdach in einem selbständigen, eine
unabhängige staatliche Einheit darstellenden Sozialkörper, der hat, so glaube
ich, auch keine Heimat.“ […] Als mein Land am 12. März 1938 seine staatliche
Unabhängigkeit verlor und ans Großdeutsche Reich kam, wurde es mir
wildfremd.102
Folgendes Zitat fasst den Gedanken Amérys zusammen: „Man muß Heimat haben, um
sie nicht nötig zu haben“.103
Aus diesem Zitat geht hervor, dass der heimatlose Mensch
nie vollständig sein kann. Améry hat während der Exilzeit so nach Heimat verlangt,
dass er nicht verstehen kann, dass die herumreisenden Menschen bewusst ein
heimatloses Leben wählen: „Der moderne Mensch tauscht Heimat gegen Welt ein.“104
Dass Améry immer ein Heimatsloser bleiben wird, drückt er im folgenden Zitat aus:
„Es gibt keine neue Heimat. Die Heimat ist das Kindheits- und Jugendland.“105
Nichtsdestoweniger nuanciert Améry die allgemeine Hoffnungslosigkeit: Es gebe ja
eine Ersatzheimat wie Religion, Geld und Ruhm.106
Zu den Exilautoren, die sich durch
Ruhm und Ansehen ‚gerettet‘ hatten, gehöre Heinrich Mann.107
Aus dieser Meinung
lässt sich offensichtlich ableiten, dass die Ersatzheimat trügerisch und unmoralisch sei.
98
Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 90. 99
Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 101. 100
Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 101. 101
Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 102. 102
Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 107-108. 103
Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 94. 104
Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 109. 105
Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 97. 106
Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 92. 107
Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 92.
22
Dennoch macht Améry einen Unterschied zwischen älteren und jüngeren Exilgängern,
wobei jene Gruppe sich von der Erinnerung an die Vergangenheit beherrschen lässt,
während diese eine gewisse Hoffnung behält.108
Auch Bastian unterscheidet in ihrem
Kapitel „Die Bedeutung von ‹Heimat› für die Literaten im Exil“ zwischen zwei Arten
von Exilautoren: Manche bekommen aus der Entfernung des Exils einen objektiveren
und kritischeren Blick auf die Heimat, während andere vom Heimweh beherrscht
werden.109
Dass Améry zu dieser letzten Gruppe gehört, steht außer Frage. Roth lässt
sich aber nicht in die Kategorien von Exilautoren, die Améry und Bastian hervorheben,
einstufen. Es wird sich nie herausstellen, wie Roth auf seine Exilzeit zurückblicken
würde, denn er starb im Jahre 1939. Auch die Frage, wie sich der Blick auf die Heimat
aus der Entfernung ändert, ist bei Roth weniger relevant, da er bereits vor der Exilzeit
das Hotelleben bevorzugte. Aus Amérys Analyse von Heimat aber geht hervor, dass die
Heimat ein unverzichtbarer Teil des Menschen ist. So lässt sich vermuten, dass Roth in
seinem heimatlosen Leben eine Kompensation für Heimat gesucht hat. Was war Roths
Ersatzheimat; was hat ihm und seinen Figuren Halt geboten?
1.2.4. Heimat und Grenze
Hans-Joachim Gehrke versteht Heimat als das Spannungsverhältnis zwischen Identität
und Alterität, wobei die Trennung zwischen dem Eigenen und dem Anderen auf
Grenzen beruht.110
Gehrke macht den Unterschied zwischen der Grenze als Linie, der
Grenze als Raum und der Grenze als wissenschaftliches Konzept.111
Die als strikt
markierte Linie soll in Konfliktfällen deutlich machen, was wem gehört. Diese Grenze
geht auf die Römerzeit zurück. Es zeichnet sich eine deutliche Trennung zwischen dem
Inneren, dem Zuhause und der Heimat (domi) und dem Draußen, dem Feindlichen
(militiae) ab.112
Die Grenze als Raum versteht Gehrke als eine Grenze zwischen
Räumen, die einander nicht unmittelbar berühren; die Grenze „zu den ganz Anderen“113
.
108
Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 112. 109
Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 198. 110
Hans-Joachim Gehrke: „Artifizielle und natürliche Grenzen in der Perspektive der
Geschichtswissenschaft“. In: Grenzgänger zwischen Kulturen. Band I. Hg v. Monika Fludernik und
Hans-Joachim Gehrke. Würzburg: Ergon 1999, S. 27. 111
Gehrke: Artifizielle und natürliche Grenzen, S. 27-28. 112
Gehrke: Artifizielle und natürliche Grenzen, S. 27. 113
Gehrke: Artifizielle und natürliche Grenzen, S. 28.
23
In diesem Bereich werden Zivilisation und Kultur der Natur und Barbarei
gegenübergestellt.114
Als wissenschaftliches Konzept bezieht die Grenze sich auf den
Zusammenhang von Geographie und Geschichtswissenschaft bzw. Lebensraum und
Charakter.115
Obwohl die Grenzziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden ein uraltes
Phänomen ist, ergibt sich die Disziplin Geographie, die um 1900 im Zeitraum des
europäischen Kolonialismus und Imperialismus entstanden ist, als ziemlich neu.116
Die
Debatte über Raum und Grenze verschärfte sich auch in der Soziologie und in der
Anthropogeographie. So sagt Georg Simmel 1903 in seiner Soziologie des Raumes:
„Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern
eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“117
und versteht Ratzel 1906
„de[n] Kampf ums Dasein unter Menschen vor allem [als] ein Kampf um Raum.“118
In
den 1920er Jahren, den Anfangsjahren des Rothschen Schreibens, herrschte nach
Versailles in Deutschland der Revisionismus.119
Der Grenzdiskurs kulminiert im Jahre
1935, als Karl Haushofer die verschiedenen Arten von Grenzen definiert –
„Angriffsgrenzen, Lauergrenzen, Gleichgewichtsgrenzen, Schutzgrenzen,
Zersetzungsgrenzen“120
– , wobei der Einfluss auf die Lebensraumideologie der
Nationalsozialisten nicht zu übersehen sei.121
So zeigt sich, dass Roth als Schriftsteller
in einer Zeit aktiv war, die sich durch eine Allgegenwart des Grenzendiskurses
kennzeichnet.
Auch Bernhard Waldenfels betrachtet Heimat in seinem Artikel „Heimat in der
Fremde“ als eine Spannung zwischen Identität und Alterität. Dabei liegt Waldenfels‘
114
Gehrke: Artifizielle und natürliche Grenzen, S. 28. 115
Gehrke: Artifizielle und natürliche Grenzen, S. 28-29. 116
Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 56. 117
Georg Simmel in Soziologie des Raumes (1903) zitiert nach Klaus Müller-Richter: „Einleitung –
Imaginäre Topografien. Migration und Verortung“. In: Imaginäre Topografien. Migration und Verortung.
Hg. v. Klaus Müller-Richter und Ramona Uritescu-Lombard. Bielefeld: Trancript Verlag 2007, S. 18. 118
Friedrich Ratzel in Kleine Schriften (1906) zitiert nach Gehrke: Artifizielle und natürliche Grenzen, S.
29; In diesem Zusammenhang scheine ich Ratzel und Simmel über einen Leisten zu schlagen. Schlögel
macht aber deutlich, dass Simmel und Ratzel die klassischen Kontrahenten hinsichtlich der
Raumauffassung sind. Simmel versteht Raum als eine soziologische Tatsache, während Ratzel über eine
natürliche Grenze spricht. Der Unterschied sehe man auch in ihrer Auswirkung: Mit der Soziologie des
Raumes konnten sich die Juden identifizieren, während Ratzels Anthropogeographie mit dem
nationalsozialistischen Gedankengang verbunden wurde. (vgl. Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S.
144). 119 Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 58. 120
Haushofer in Pflicht und Anspruch der Geopolitik als Wissenschaft (1935) zitiert nach Gehrke:
Artifizielle und natürliche Grenzen, S. 30. 121
Gehrke: Artifizielle und natürliche Grenzen, S. 30.
24
Fokus aber anders als bei Gehrke: Wo dieser die Dynamik von Grenzziehung erforscht
und Heimat als Beispiel anführt, steht bei jenem die Untersuchung des
Heimatphänomens im Mittelpunkt, in der er Abgrenzung als wesentliches Merkmal der
Heimatwelt bewertet. Waldenfels erwähnt, dass bei der Abgrenzung gegen Fremdes ein
„totales Hier“122
entsteht. Das Ich eignet sich nicht nur eine bestimmte Identität an,
sondern fühlt sich auch mit dieser Identität identisch. Waldenfels behauptet, dass, wenn
die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden verschwimmen, folglich auch
die Raumerfahrung stockt.123
Dass die Dynamik von Grenzziehung über die Erfahrung
der Heimatwelt hinausgeht, macht er deutlich, indem er erwähnt, dass man sich beim
Erlernen der Muttersprache unvermeidlich von anderen Sprachen entfernt.124
Waldenfels schließt seinen Artikel mit der Behauptung, dass Heimischwerden
impliziert, dass Grenzen gezogen werden bzw. Fremdheit markiert wird.125
Deswegen
verknüpft er Heimat und Fremdheit und bestimmt Heimat als einen Ort „worin noch
niemand war […] und niemand sein wird“126
, gerade weil Heimat nicht ohne Fremdheit
existiert. Treffender als Schlögel kann man das Paradoxale der Grenzziehung nicht
ausdrücken: „Was abgrenzt, schließt aus. Was trennt, verbindet. Was sich berührt, ist
immer auch Distanz. Wir können diesem Paradox nicht entgehen.“127
2. Heimat und Joseph Roth
2.1. Forschungspositionen
Die Roth-Forschung ist sich in Bezug auf das Thema Heimat nicht einig (cf. supra
Einführung). Die ältere Roth-Forschung betont die Heimatssuche in Verbindung mit der
Identitätsfrage. Zu dieser Gruppe gehören David Bronsen und Kaszyński. Dieser geht
von einer Idealisierung des Heimatbegriffs aus: Die heimatslosen Figuren Roths suchen
seiner Meinung nach ihre Heimat in der Vergangenheit und ersetzen die zeitig
122
Bernhard Waldenfels: „Heimat in der Fremde“. In: Worin noch niemand war: Heimat : eine
Auseinandersetzung mit einem strapazierten Begriff. Historisch – philosophisch – architektonisch. Hg. v.
Eduard Führ. Wiesbaden: Bauverlag 1985, S. 36. 123
Waldenfels: Heimat in der Fremde, S. 37. 124
Waldenfels: Heimat in der Fremde, S. 40. 125
Waldenfels: Heimat in der Fremde, S. 40. 126
Waldenfels: Heimat in der Fremde, S. 40. 127
Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 143.
25
unerreichbar gewordene Heimat durch eine mythische.128
Bronsen verbindet Roths
Themen und Figuren unmittelbar mit Roths Biographie. 129
So meint er auch, dass Roths
Motiv des Heimkehrers
aus [Roths] tiefster Seele kam und seinem literarischen Schaffen zugrunde
liegen sollte. Es ist die bittersüße resignierende Melodie des Spätgeborenen, der
nicht mehr zurück kann, der auf seinem Weg in die Zukunft unversehens kehrt
macht und rückwärts schreiten in eine nie erreichbare Vergangenheit.130
Telse Hartmann stellt sich aber die Frage, ob der Verlust einer Heimat entsprechend zur
Folge hat, dass sich eine Identitätskrise vollzieht.131
Sie ist exemplarisch für die jüngere
Roth-Forschung, die viel stärker von der Ambivalenz der Ortlosigkeit bei Roth ausgeht.
Ute Gerhards Verdienst ist es, die Frage nach Heimat und Identität auf der Ebene des
Diskurses zu beantworten:
Die bewegten und bewegenden Momente der Rotschen Texte verdanken sich
dabei häufig genug nicht der Suche nach Identität, sondern der Formulierung
von Positionen, die sich den neuen Identifizierungsstrategien widersetzen oder
wenigstens entziehen. Gerade die Irritation der binären Ausrichtung der
Symbolik der Wanderungsbewegung spielt für viele seiner Feuilletons, Essays
und Romane eine konstitutive Rolle.132
Gebhard meint, dass die Heimat, die Roth in seinen Werken darstellt, als eine „Heimat
für Heimatlose“133
zu verstehen ist, keine Identität stiften kann und auch nicht muss,
denn gerade anhand der Heimatdarstellung widersetze sich Roth der Identitätspolitik der
Weimarer Republik. Im Sinne Gerhards hebt auch Hartmann, zwar weniger negativ134
,
in Bezug auf Roths Werke eine Rhetorik der Deplatzierung hervor:
In Roths Diaspora-Szenarien geht es um den Zusammenschluss von Heimat und
Heimatlosigkeit, von Gebundenheit und Entbundenheit, von kultureller
Entgrenzung und Authentizität – nicht im Sinne einer Aufhebung der
128
Kaszyński: Die Mythisierung der Wirklichkeit, S. 140. 129
So behauptet Bronsen, dass „[v]iele Personen und Elemente von Personen, aus denen er Romanfiguren
zusammensetzte, die in Hotel Savoy, Tarabas, Der Leviathan, Die Büste des Kaisers, Hiob und
Radeztzkymarsch auftreten, […] Menschen [entsprechen], denen er in Brody begegnet war.“ (David
Bronsen: „Roth und sein Lebenskampf um ein inneres Österreich“ In: Joseph Roth und die Tradition. Hg.
v. David Bronsen. Darmstadt: Agora 1975, S. 4.) 130
Bronsen: Roth und sein Lebenskampf um ein inneres Österreich, S. 10. 131
Hartmann: Kultur und Identität, S. 15. 132
Gerhard: Nomadische Bewegungen, S. 205. 133
Gerhard: Nomadische Bewegungen, S. 209. 134
Aus der Dichotomie der Wanderungsbewegungen – die negativ konnotierte zerstreute Masse der
Nomaden und die positiv konnotierte organisierte Massenformation des NS, die an Konzepten von
Subjekt und Identität orientiert sind – hat sich nach Gerhard die totalitäre Politik des NS durchsetzen
können. (vgl. Gerhard: Nomadische Bewegungen, S. 255).
26
Gegensätze, sondern als Verfügung zu einem ambivalenten
Spannungsverhältnis.135
Nach Hartmann deutet die Ambivalenz der Rothschen Diaspora-Szenarien darauf hin,
dass die kollektive Bewegung scheitert, allerdings nicht, dass auf eine individuelle
Bewegung verzichtet werden muss.136
2.2. Heimat und Fremde
Müller-Funk bringt Heimat und Fremde bei Roth miteinander in Verbindung: „Eine
seltsame Heimat scheint die Fremde zu sein. Nie weiß man wo man hingehört und
zugleich kann man sich aussuchen, wer man ist: Heimat ohne Boden, fern und
symbolisch.“137
Undeutlich ist, ob Funk mit seiner Meinung über Heimat in die Gruppe
der alten Roth-Forschung oder der neuen Roth-Forschung einzustufen ist. Einerseits
deutet er darauf hin, dass Entwurzelung und Zweifel an der Identität bei Roth
zusammenhängen und scheint insofern genau wie Bronsen und Kaszyński die
Heimatssuche und die Identitätsfrage zu verknüpfen.138
Andererseits hebt er den
Diskurs der Epoche hervor „[ü]berall fremd und überall heimisch zu sein“139
und
nuanciert die eigene Aussage, wenn er nachgibt, dass die Fremdheitserfahrung der
Figuren in Roths Werken mehr als nur die verlorene Heimat ist.140
Als Beleg für die Verbindung von Heimat und Fremde gilt zunächst Roths
berühmtes Zitat aus einem Brief an Kiepenheuer: „Ich habe keine Heimat, wenn ich von
der Tatsache absehe, daß ich in mir selbst zu Hause bin und mich bei mir heimisch
fühle. Wo es mir schlecht geht, dort ist mein Vaterland. Gut geht es mir nur in der
Fremde.“141
Zur Analyse der Begriffe „Heimat“, „Fremde“ und „Vaterland“ in diesem
135
Hartmann: Kultur und Identität, S. 197. 136
Hartmann: Kultur und Identität, S. 198. 137
Müller-Funk: Joseph Roth, S. 37. 138
Müller-Funk: Joseph Roth, S. 22. 139
Müller-Funk: Joseph Roth, S. 22; Müller-Funk deutet diese Aussage mit der folgenden Erweiterung:
„Ströme freiwilliger und unfreiwilliger Wanderer hat dieses Jahrhundert erlebt.“ (Müller-Funk: Joseph
Roth, S. 22). An dieser Stelle wird nicht deutlich, ob er dieselben Wanderungsbewegungen – die jüdische
und die nationalsozialistische – wie Gerhard vor Augen hat. Es könnte sein, dass Müller-Funk auf die
Spaltung innerhalb des Judentums hinweist, wobei die zionistische Gruppe nach einer jüdischen Heimat
strebt und die ahasverische Tradition, zu der er Roth einordnet (vgl. Müller-Funk: Joseph Roth, S. 36),
die ewige Wanderung betont. 140
Müller-Funk: Joseph Roth, S. 22. 141
Müller-Funk: Joseph Roth, S. 51; Roth an Gustav Kiepenheuer, 10. Juni 1930 (Joseph Roth, Briefe
1911-1939. Hg. v. Hermann Kesten. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 165).
27
Zitat scheint es mir notwendig zu sein auf einige Beobachtungen aus den theoretischen
Kapiteln in Bezug auf den Heimatbegriff zurückzugreifen. Im romantischen Sinne ist
die Fremde als Ort der Verschmelzung von dem Eigenen und dem Anderen zu
verstehen. Fremde und Heimat haben sich aber im 19. und 20. Jahrhundert immer mehr
voneinander entfernt. So hat sich ergeben, dass Vaterland sich als Synonym für Heimat
durchgesetzt hat, was ihrer politischen Konnotation Vorschub geleistet hat. Auf der
theoretischen Ebene hat Waldenfels behauptet, dass Heimat nur existieren kann, wenn
sie sich gegen die Fremde wendet. Wenn Roth die Begriffe „Heimat“, „Vaterland“ und
„Fremde“ benützt, tritt er in einen aufgeladenen Diskurs ein.
Darüber hinaus sind die Begriffe ebenfalls in Bezug auf Roths Hintergrund
schwer zu deuten. Vaterland und Fremde in Roths Leben erweisen sich hinsichtlich
ihrer geographischen Fixierung keinesfalls als eindeutig. Das Vaterland könnte sich auf
Roths Herkunftsort beziehen, die galizische Grenzstadt Brody, Roths „literarische
Heimat“142
, so Kaszyński, aber auch auf Wien mit der symbolischen Vaterfigur Kaiser
Franz Joseph. Wenn Kaszyński von einer literarischen Heimat spricht, setzt er Heimat
weniger als geographischen Ort, denn als Konstrukt voraus. Die Fremde im Sinne des
Unbekannten lässt sich nicht geographisch spezifizieren, denn sie weist auf die Orte, die
noch zu entdecken sind, hin. Trotzdem kann die Fremde bei Roth auch gerade den
Herkunftsort implizieren, und sie ist in dem Sinne schon geographisch definiert. Roth
war als Jude und Deutschsprachiger in Brody, einem slawischen Siedlungsgebiet,
minorisiert und somit ein Fremder.143
Wenn Roth fürs Studium nach Wien zieht und
später am Ersten Weltkrieg teilnimmt, wird er folglich doppelt von Galizien entfremdet.
Daher muss die Fremde bei Roth mit Vorsicht betrachtet werden, denn sie beruht auf
zwei verschiedenen Konzepten. Einerseits hat sie den Herkunftsort, d. h. ein
rückwärtsgewandtes Konzept im Blick, andererseits bezieht sie sich auf einen noch
unbekannten Ort in der Zukunft. Ob jetzt die etymologisch-historische oder sozial-
historische Bedeutung von Vaterland und Fremde vorherrscht, deutlich wird, dass die
Ambivalenz da ist.
Obwohl Roth die Begriffe in obigem Zitat als existenzbedingend inszeniert,
erweist sich, dass er weniger über seine Existenz aussagt. Vielmehr legt er, indem er
„Vaterland“ mit „schlecht“ und „Fremde“ mit „gut“ verbindet und dabei die gängige
142
Kaszyński: Die Mythisierung der Wirklichkeit, S. 137. 143
Müller-Funk: Joseph Roth, S. 36.
28
Bedeutung umdreht, die Transparenz der Begriffe frei. Die komplizierte
Wechselbeziehung von räumlichen Gegensatzpaaren ist im Rahmen der „Polyphonie
der Räume“144
zu verstehen. Den Begriff übernimmt Wiebke Amthor von Jurij M.
Lotman, der Folgendes dazu sagt: „Helden können nicht nur zu verschiedenen Räumen
gehören, sondern auch mit verschiedenen bisweilen unvereinbaren Typen der
Raumaufteilung gekoppelt sein. [...] Es entsteht sozusagen eine Polyphonie der Räume,
ein Spiel mit den verschiedenen Arten ihrer Aufteilung.“145
Amthor versteht die
räumlichen Gegensatzpaaren nicht nur als konkrete Räume, wie Russland und Europa,
sondern auch Typen von Räumen wie Revolution und Bürgerlichkeit.146
Das Hotel
Savoy, das als Heterotopie selber schon die Polyphonie der Räume heraufbeschwört,
verortet auch die gesellschaftlichen Typen von Räumen wie Reichtum und Armut: je
höher das Zimmer sich befindet, desto ärmer ist sein Bewohner. Die contradictio in
terminis „Wie hoch kann man noch fallen?“147
kritisiert die Klassifizierung der Gäste
im Hotel aufgrund ihres Reichtums. Im Hotel-Feuilleton unterstreicht Roth die
komplizierte Wechselbeziehung dieser Gegensatzpaare nicht durch ihre Ironie, sondern
durch ihre Metaphorik: „Sie [die Hotelhalle] ist die Heimat und die Welt, die Fremde
und die Nähe“.148
Einerseits hat die vorliegende Arbeit zum Ziel, Roths Textstrategien,
die er anwendet um die Polyphonie der Räume hervorzuheben, herauszufinden. Das
Hotel hat meiner Meinung nach in dieser Hinsicht eine textorganisierende Rolle, denn
als Heterotopie bringt sie die Polyphonie der Räume schlechthin hervor. Andererseits
stellt sich auch die Frage, wie Heimat sich zum Konzept der Polyphonie der Räume
verhält. Als Einstieg zu diesem Thema wird im Folgenden das Anfangskapitel des
Romans Tarabas analysiert.
144
Wiebke Amthor: „An den Toren Europas. Heterotopie und Passage im Werk Joseph Roths“. In:
Joseph Roth – Zur Modernität des melancholischen Blicks. Hg. v. Wiebke Amthor und Hans Richard
Brittnacher. Berlin: Walter de Gruyter 2012, S. 120. 145
Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt v. Rolf-Dietrich Keil. München: Wilhelm
Fink 1972, S. 328-329; Genau wie Amthor werde ich in vorliegender Arbeit die Bezeichnung
„Polyphonie der Räume“ anwenden, um den heterotopischen Charakter der Rotschen Raumdarstellung
hervorzuheben. 146
Amthor: An den Toren Europas, S. 120. 147
Joseph Roth: „Hotel Savoy“. In: Joseph Roth Werke. Band I. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1956, S.
818. 148
Roth: Panoptikum, S. 44.
29
2.3. Heimatinszenierung in Tarabas
Auf der ersten Seite des Romans Tarabas verlässt der junge Tarabas „die Heimat,
unbesonnen, wie er zwei Jahre vorher Revolutionär geworden war. Er folgt der Neugier,
dem Ruf der Ferne, sorglos und kräftig und voller Zuversicht auf ein „‹neues
Leben›.“149
Heimat in dieser Textstelle trägt noch die Hauptbedeutungen, wie sie von
Bastian unterschieden wurden: das Territoriale – die Nähe von Petersburg – und das
Soziale – die dort wohnende Familie. Auch der emotionale Aspekt wird anschließend
hinzugefügt: „Allein schon zwei Monate nach seiner Ankunft in der großen steinernen
Stadt [New York] erwachte das Heimweh in ihm.“150
Tarabas lernt eine Frau kennen,
die „zwar nicht aus seiner Gegend [stammte]. Aber er verstand ihre Sprache.“151
Katharina wird als Ersatzheimat inszeniert:
Tarabas liebte sie, wie seine verlorene Heimat. Er konnte mit ihr sprechen, er
durfte sie lieben, schmecken und riechen. Sie erinnerte ihn an die väterlichen
Felder, an den heimischen Himmel, an den süßen Duft bratender Kartoffeln auf
den herbstlichen Äckern der Heimat.152
Die Aussage beschwört zwei weitere Teilbedeutungen bzw. Assoziationen des
Heimatbegriffs herauf: die Sprache, die Vertrautheit hervorbringt, und das Bäuerliche,
das der Großstadt New York gegenübersteht. Diese positiven Konnotationen des
Heimatbegriffs werden aber wenig später schon dekonstruiert, indem die Liebe für die
Heimat so flüchtig erscheint wie die Liebe für eine Frau: Tarabas spürt, dass Katharina
„ihm fremd geworden war.“153
Nichtsdestotrotz wird an dieser Textstelle die Opposition
zwischen dem Vertrauten und dem Fremden noch im ‚normalen‘, d.h. nicht
ironisierenden Rahmen analysiert: Katharina wird ihm fremd mit der Folge, dass sie
nicht mehr in der Lage ist, ihm die Heimat zu ersetzen. Fremde und Heimat stehen
einander gegenüber. Nach zwei kurzfristigen Erfahrungen mit einer Ersatzheimat –
Katharina und New York – ist Tarabas richtig heimatlos. Folgendes Zitat zeigt, wie
Roth anfängt, mit der Opposition zwischen dem Fremden und dem Vertrauten zu
spielen: „Gebräunt, gekräftigt, neugierig auf die Heimat und begierig auf den Krieg,
149
Roth: Tarabas, S. 141. (Hervorhebung von Roth) 150
Roth: Tarabas, S. 141. 151
Roth: Tarabas, S.142. 152
Roth: Tarabas, S.142; Tarabas wiederholt später mal buchstäblich, Katharina „hatte ihm die Heimat
ersetzt.“ (Roth: Tarabas, S. 152). 153
Roth: Tarabas, S.144.
30
verließ Tarabas eines Morgens im Hafen von Riga das Schiff.“154
Die Textstelle ist in
vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens erscheinen Heimat und Krieg dadurch als
umgedreht, dass Heimat mit neugierig bzw. mit Unbekanntem und Krieg mit begierig
bzw. mit Bekanntem verknüpft werden. Nach Gebhard „fanden sich [im Ersten
Weltkrieg] der Wille zum Krieg und die Heimatliebe aufs engste verschaltet“.155
Gerade
auf diesen Kontext des Ersten Weltkriegs spielt das Wortspiel im Zitat an. Zweitens
lassen sich deutlich einige mythische Elemente erkennen: Der Held wird als „gebräunt“
und „gekräftigt“ beschrieben, und das Geschehen vollzieht sich „eines Morgens“. Zu
den mythischen Aspekten in Roths Werk sagt Kaszyński: „Die Heimat ist allgemein
Vergangenheit, betrachtet aus der Entfernung wird sie bewußt idealisiert und zum
Mythos kreiert.“156
Dass die Geschichte mit mythischen Elementen aufgefüllt ist, muss
meiner Meinung nach aber nicht dazu führen, dass der Heimatbegriff idealisiert wird.
Im Gegenteil: eine Idealisierung würde eine utopische Verknüpfung mit sich bringen,
und der ironisierende Kontext macht diese Annäherung unmöglich. Dass Tarabas –
nach New York und Katharina – bereits zum dritten Mal seine Hoffnung auf eine neue
Heimat projiziert, verstärkt die Ironie. Somit betrachte ich die Aussage in Bezug auf
Heimat als entmythisierend. Zur Verstärkung dieser Idee setzt Roth das Schiff der
Heimat gegenüber, das von Foucault folgendermaßen beschrieben wird:
wenn man daran denkt, daß das Schiff ein schaukelndes Stück Raum, ein Ort
ohne Ort, der aus sich selber lebt, der in sich geschlossen ist und gleichzeitig
dem Unendlichen des Meeres ausgeliefert ist […] , dann versteht man, warum
das Schiff für unsere Zivilisation vom 16. Jahrhundert bis in unsere Tage nicht
nur das größte Instrument der wirtschaftlichen Entwicklung gewesen ist […],
sondern auch das größte Imaginationsarsenal. Das Schiff, das ist die Heterotopie
schlechthin.157
Obwohl – und gerade weil – das Schiff ein großes „Imaginationsarsenal“ mit sich
bringt, und dennoch ein real existierender Ort ist, erweist es sich als sehr geeignete
Figur, den Kontrast mit der Heimat als entmythisiertem Ort hervorzuheben. Im
Folgenden werde ich diesen Kontrast deutlich machen anhand der Heterotopie Hotel,
die sich als Raum ständig in die Werke Roths eingeschlichen hat. Wie überträgt sich die
154
Roth: Tarabas, S.152. 155
Gebhard: Heimatdenken, S. 26. 156
Kaszyński: Die Mythisierung der Wirklichkeit, S. 139. 157
Foucault: Andere Räume, S. 46.
31
Diskrepanz des Hotels zwischen Ort und Nicht-Ort auf den Heimatbegriff und wie
unterminiert sie die Heimatsuche in Roths Werken?
3. Hotel in der Literatur
3.1. Geschichte des Hotels und der Hotelliteratur
Bettina Matthias stellt fest, dass zahlreiche Hoteltexte am Anfang des 20. Jahrhunderts
entstehen: Thomas Manns Tod in Venedig, Kafkas Der Verschollene, ein Großteil der
Novellen Stefan Zweigs (u.a. „Untergang eines Herzens“) und auch Hotel Savoy von
Joseph Roth.158
Matthias sieht das Motiv des Zerfalls der Familie, das sich am Ende des
19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts in den europäischen bürgerlichen
Literatur in Romanen wie Anna Karenina und Die Buddenbrooks aufzeigt, letztendlich
in die Hotelliteratur des späteren 20. Jahrhunderts einmünden.159
Die schon vorhandene
Tradition des 19. Jahrhunderts, über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu
reden – an dieser Stelle lässt sich Tönnies‘ Magnum Opus Gemeinschaft und
Gesellschaft (1887) nennen – wird nach Matthias weitergeführt und lässt sich im Hotel,
einer „Sonderform der Heimatlosigkeit“160
, weiter diskutieren. Obwohl Matthias es
nicht explizit so sagt, geht aus ihrem Artikel hervor, dass der Aufschwung der
Hoteltexte im 20. Jahrhundert parallel mit einer geänderten Funktion des Hotels in der
europäischen Gesellschaft verläuft. Im 18. Jahrhundert spielt das Hotel noch keine
bedeutende Rolle:
Man reiste, um Handel zu treiben, möglicherweise Bildung zu erwerben […], als
Abenteurer oder einfach um auf seinem (Fuß-) Weg durch die Lande, sich selbst,
aber auch [wie die Reisende der Romantik] seine Situation als Mensch in der
Welt zu suchen oder zu spiegeln. […] Reisen war anstrengend, zeitraubend und
mit einer ganzen Reihe von Gefahren wie etwa Über- oder Unfällen verbunden.
Wer nicht musste oder umgetrieben wurde, blieb lieber zuhause [...].161
Erst im 19. Jahrhundert, nach der Einführung der Eisenbahn, entsteht die Möglichkeit
für das breite Publikum zu reisen, richten die ersten Hotels sich auf, und wird das
Zusammenkommen in einem Hotel eine Prestigeangelegenheit der Aristokratie.162
Am
158
Matthias: Transzendental heimatlos, S. 119. 159
Matthias: Transzendental heimatlos, S. 119. 160
Matthias: Transzendental heimatlos, S. 119. 161
Matthias: Transzendental heimatlos, S. 123. 162
Matthias: Transzendental heimatlos, S. 122-123.
32
Ende des 19. Jahrhunderts und sicherlich am Anfang des 20. Jahrhunderts hat die
Aristokratie aber viel von ihrer Dominanz verloren und ziehen auch bürgerliche
Neureiche in die Hotels ein, was nach Matthias dazu führt, dass „Adel […] als Geldadel
neu definiert“163
wird. Gerade diese Entwicklung zeige sich in den Hotelgeschichten, in
denen das Hotel als „durch und durch kapitalisierter Raum“164
erscheint. Matthias wird
auch Roths Roman Hotel Savoy mit der Krise der Moderne in Verbindung bringen (cf.
infra 4.2.1.3.).
Im Gegensatz zu Matthias geht Thomas Mueller in seinem Artikel
„Hotelgeschichte und Hotelgeschichten“ nicht von der transzendentalen Heimatlosigkeit
im Sinne Lukács aus, sondern von einer Tradition „unheilvoller oder verzauberter Orte,
Gebäude und Räume“165
, in der beispielsweise der Gastgeber die Geborgenheit der
Herberge durchbricht, indem er sich als Mörder aufzeigt.166
So zeigt sich, dass Mueller,
anders als Matthias, das Hotel in der Literatur nicht als ein plötzliches Phänomen des
20. Jahrhunderts betrachtet. Zudem scheint er so nicht nur das Hotel, sondern auch die
Gasthäuser in seine Analyse einzubeziehen. Dies wird sich aber als leere Hoffnung
ergeben, denn genau wie Matthias kommt er nur auf Roths Hotel Savoy zu sprechen.
Jedoch ergibt sich, dass der unterschiedliche Ausgangpunkt der Tradition der
Hotelliteratur Muellers Analyse einigermaßen beeinflusst, denn, obwohl er ebenso wie
Matthias Hotel Savoy als Abbild der modernen Gesellschaft sieht, er verzichtet nicht auf
den Horror-Aspekt: „eine unbekannte und unerkannte Macht“167
hält Gabriel Dan im
Hotel fest. Diese Beobachtung scheint mir sehr wichtig zu sein, weil sie uns darauf
aufmerksam macht, dass Hotels bei Joseph Roth nicht immer als kapitalistische Räume
gestaltet worden sind, aber häufig als hotelähnliche Räume wie der Gasthof „Zum
weißen Adler“168
in Tarabas, in dem Geld nun nicht mehr als dominierendes Prinzip
163
Matthias: Transzendental heimatlos, S. 125. 164
Matthias: Transzendental heimatlos, S. 127. 165
Thomas Mueller: „Hotelgeschichte und Hotelgeschichten“. In: Natur, Räume, Landschaften. 2.
Internationales Kingstoner Symposium. Hg. v. Burkhardt Krause und Ulrich Scheck. München: Iudicium
1996, S. 189. 166
Mueller: Hotelgeschichte und Hotelgeschichten, S. 189; Die Verletzung des Gastrechts wird nicht nur
ein literarisches Motiv, sondern wird auch im Horrorgenre eingesetzt. Ein bekanntes Beispiel ist der Graf
Drakula, der seine Gäste bewirtet, um ihnen Nachts den Lebenssaft zu rauben. (vgl. Mueller:
Hotelgeschichte und Hotelgeschichten, S. 189). 167
Mueller: Hotelgeschichte und Hotelgeschichten, S. 190. 168
Roth: Tarabas, S. 175; Das Wort „weißen“ im Namen des Gasthofs „Zum weißen Adler“ , tritt
manchmal als „Weißen“ im Roman auf. Ich werde die Kleinschreibung „weißen“ anwenden.
33
gilt: „Sie fraßen und tranken, aber sie zahlten nicht, seitdem dieses neue Land
auferstanden war.“169
3.2. Das Hotelfeuilleton bei Roth
Aus biografischer Perspektive lässt sich die Verbindung von Heimat und Hotel bei
Joseph Roth deutlich erkennen. Els Snick behauptet, dass das Hotel sogar eine
Voraussetzung für Roths künstlerisches Schaffen war.170
Trotzdem sagt diese
Beobachtung noch nichts aus über das Hotel als literarisches Phänomen bei Roth. Wird
das Hotel für die heimatslosen Figuren Roths zu einem langfristigen Aufenthaltsort oder
nicht? Inwieweit lässt sich das Hotel noch mit Heimat verbinden?
Matthias schreibt Roths empathische Beschreibung des Hotellebens im
Hotelfeuilleton, in dem der Ich-Erzähler sich als „ein Hotelbürger, ein Hotelpatriot“171
definiert, der Biografie zu, indem sie den Ich-Erzähler als Roths Alter Ego versteht.172
In diesem Zusammenhang beschreibt Telse Hartmann einerseits, in welchem Maße das
Hotel im Feuilleton Merkmale einer Heimat annimmt: „Erstens bietet das Hotel dem
Narrator-Ich Geborgenheit […]. Zweitens gilt dem Narrator die Ankunft im Hotel als
eine Heimkehr. […] Drittens präsentiert sich die Hotelwelt als eine Gemeinschaft.“173
Andererseits macht Hartmann deutlich, dass das Hotel als Heimat im Hotelfeuilleton
sich dadurch von einem Vaterland unterscheidet, dass nicht das Traditionelle bzw. das
Lokale, sondern das Weltliche hervorgehoben wird.174
Zudem wird nach Hartmann der
Geborgenheit im Sinne einer Heimat in Roths Hotelzyklus dadurch geschadet, dass das
Hotel nicht das Vertraute, sondern die Fremdheit voraussetzt.175
Daraus schließt
Hartmann, dass die traditionelle Opposition von den Konzepten Gemeinschaft und
Gesellschaft bei Roth dekonstruiert wird.176
Oder anders gesagt: Wenn Gemeinschaft
169
Roth: Tarabas, S. 179. 170
Snick: Joseph Roth in Nederland en België, S. 33. 171
Joseph Roth: Panoptikum, S. 43. 172
Bettina Matthias: The hotel as setting in early twentieth-century German and Austrian literature:
checking in to tell a story. Rochester: Camden House 2006. S. 126. 173
Hartmann: Kultur und Identität, S. 184. 174
Hartmann: Kultur und Identität, S. 186. 175
Hartmann: Kultur und Identität, S. 186. 176
Hartmann: Kultur und Identität, S. 191; Bei der Unterscheidung zwischen den traditionellen
Konzepten von Gemeinschaft und Gesellschaft bezieht sich Hartmann nicht auf Tönnies, sondern auf
Helmut Plessners Grenzen der Gemeinschaft. Sie betont, dass Plessner sein Konzept von Gemeinschaft
34
Distanz bedeutet, ähnelt die Erfahrung in der Gemeinschaft immer mehr der Erfahrung
in der Gesellschaft.
Obwohl das Hotel im Hotelfeuilleton unmittelbar mit Roths Biografie verknüpft
wird und insofern eine Ablehnung des Heimatbegriffs im Sinne Sesshaftigkeit und
lokales Denken voraussetzt, wird sich zeigen, dass der Heimatbegriff im Hotelzyklus
immerhin durch eine Ambivalenz geprägt ist. Bei der Ankunft im Hotel steht der Ich-
Erzähler – oder im Sinne Matthias‘ Roth selber – patriotischen Gefühlen eher skeptisch
gegenüber: Die Leute ziehen in das Hotel, „von der Dumpfheit ihrer patriotischen
Gefühle gelöst.“177
Auch in Der Antichrist, Roths persönlichem Traktat, stuft er den
Patrioten, der, obwohl Schlechtes in seinem Vaterland geschieht, immer noch sein
Vaterland liebt, als einen Antichristen ein.178
Demzufolge lässt sich vermuten, dass,
wenn der Ich-Erzähler sich als ein „Hotelpatriot“ definiert, der Patriotismus im Hotel
eine neue Bedeutung gewinnt. Diese Idee bestätigt sich im folgenden Zitat: „Sie [das
Hotelpersonal] sind die wahrhaft internationalen! (Der Patriotismus beginnt erst bei den
Aktionären des Hotels.)“179
Der Patriotismus ruft nicht mehr eine nationale, sondern
eine internationale Begeisterung hervor und insofern scheint die gängige Bedeutung des
Patriotismus im Hotel radikal umgedreht zu sein. Jedoch zeigt die dieser Aussage
vorangehende Stelle schon, dass Roth den Patriotismus im alten Sinne des Wortes nicht
völlig abgelehnt hat:
Wie kann der Portier so ruhig lächeln, während er mir die Post übergibt? Seine
Ruhe ist die Folge einer langen Erfahrung, einer väterlichen, bittersüßen
Weisheit. Er weiß schon, daß nichts Überraschendes kommt, er weiß von der
Monotonie des bewegten Lebens, und niemand kennt so gut wie er die
Lächerlichkeit meiner vagen, romantischen Vorstellungen.180
Erstens vollzieht sich eine radikale Annäherung zwischen Portier und Erzähler, denn
der Portier gleicht einer Vaterfigur. Der väterliche Aspekt des Portiers stellt folglich den
Patriotismus in ein anderes Licht, indem die Bedeutung des Vaterlandes wieder
einschleicht. Oder anders gesagt: Die traditionelle Bedeutung des Patriotismus gewinnt
wieder an Kraft. Komplexer aber ist die Aussage „Monotonie des bewegten Lebens“.
dort abgrenzt, wo Liebe und gemeinsame Abstammung aufhören (vgl. Hartmann: Kultur und Identität, S.
191). 177
Roth: Panoptikum, S. 42. 178
Roth: Der Antichrist, S. 241. 179
Roth: Panoptikum, S. 44. 180
Roth: Panoptikum, S. 43.
35
Hat sie Bezug auf die Situation des ständigen Kommens und Gehens der Gäste, die der
Portier offensichtlich seit Jahren beobachtet? Oder ist der Erzähler dermaßen vom Hotel
begeistert, dass er sogar die Nomadenexistenz, die Roth immer hervorgehoben hat181
,
als langweilig bezeichnet? Wo befindet sich Roth jetzt hinsichtlich der Opposition
zwischen Nomadenexistenz und Sesshaftigkeit? Dass der Ich-Erzähler lächerliche
„romantisch[e] Vorstellungen“ hegt, könnte darauf hinweisen, dass er sich noch nicht
von „der Enge der Heimatliebe“182
befreit hat. Somit zeigt sich, dass der Ich-Erzähler
sich zwar für ein unabhängiges, internationales Hotelleben entschieden hat, dass aber
die Spannung mit der diese Entscheidung einhergeht, immerhin hervorgerufen wird.
Dass das Hotel im Hotelfeuilleton positiv dargestellt wird, steht aber außer Frage.
Die Forschung ist sich darüber einig, dass die anderen Texte Roths, in denen
Hotels und hotelähnliche Räume auftreten, ein völlig anderes, d.h. komplexeres Bild des
Hotels zeigen.183
Wo im Hotelfeuilleton vor allem eine Faszination für das Hotelleben
thematisiert wird, liegt der Fokus in Roths Romanen, die ein Gasthaus darstellen, auf
der Identität und der Entwicklung der Figuren. Folgende Einsicht Hartmanns kann an
dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben:
Die Identität des Hotelgastes – interpretiert als diasporische Form – hat mit der
Diasporagemeinschaft des Judentums nichts mehr gemein, denn sie konstituiert
sich in Roths Szenarien ohne Bezug auf ein kulturelles Kollektiv. […]
[K]ulturelle Differenzen werden von der Gemeinsamkeit des Hotellebens
überlagert.184
Es wurde bereits erwähnt, dass Hartmann, die in Bezug auf Roths Romane zwar eine
Rhetorik der Deplatzierung hervorhebt, die kollektive Diasporabewegung bei Roth
jedoch als gescheitert empfindet: Der Diasporagedanke gilt nur für das Individuum (cf.
supra 2.1). Diese Idee hat sie im obigen Zitat weitergeführt und hinsichtlich des Hotels
analysiert. Es stellt sich heraus, dass Hartmann Roths Hotelgast als die gelungene
diasporische Identität schlechthin betrachtet. Die Distanzierung vom Judentum scheint
mir in Bezug auf die Hotelanalyse sehr gerecht zu sein. Obwohl die jüdische Tradition
unbestreitbar ein Teil der Rothschen Thematik ist und ich in vorliegender Arbeit
mehrfach kurz auf den Judentum zu sprechen kommen werde, scheint es mir jedoch
181
Die Idee des Zionismus hat Roth immer verworfen: die Juden sollten ihren Universalismus nicht
verlieren. Siehe dazu Lazaroms: The grace of misery, S. 113. 182
Roth: Panoptikum, S. 42. 183
Exemplarisch dazu Mueller: Hotelgeschichte und Hotelgeschichten, S. 197. 184
Hartmann: Kultur und Identität, S. 198.
36
wesentlich, anzuerkennen, dass Roths Hoteldarstellung nicht nach der jüdischen – oder
gegen die jüdische – Tradition konzipiert ist.
4. Gasthaus als Zwischenraum
4.1. Territorialität
4.1.1. Heimat und Utopie
Nach dem Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft hat Thomas More den
Neologismus Utopia aus einer Zusammensetzung von dem griechischen οὐ – nicht –
und τόπος – Ort –, also wörtlich ein Nicht-Ort, gebildet.185
Aufgrund der identischen
Aussprache von [eu] – εὐ bedeutet gut oder schön im Griechischen – und [u] im
Englischen, sei neben der Bedeutung von Nicht-Ort auch die Konnotation von gutem
oder schönem Ort hinzugetreten.186
Mit Foucault gesprochen sind Utopien „die
Platzierungen ohne wirklichen Ort: die Platzierungen, die mit dem wirklichen Raum der
Gesellschaft ein Verhältnis unmittelbarer oder umgekehrter Analogie unterhalten.“187
Eine Utopie kann allerdings auf einen bestimmten geografischen Ort zielen, wobei
Israel als utopischer Staat für die Juden als Schulbeispiel gilt.188
Roth hat aber
zeitlebens die Idee einer jüdischen Heimat bekämpft, weil „er, der assimilierte Jude,
darin einen Verrat an der jüdischen Tradition ahasverischer Heimatlosigkeit
erblickte.“189
Kaszyński hebt hinsichtlich Roths Romanen die Verbindung von Heimat
und Utopie hervor: „was im Erzählvorgang hergestellt wird, sind rückgewandte
Utopien, die als Realitäten vorgetäuscht werden und wirksam gemacht werden.“190
Obwohl Vieles dafür spricht, in Roths Werken eine Mythologisierung der
Vergangenheit zu erblicken, scheint mir die Schlussfolgerung, die Verbindung bringe
eine Idealisierung des Heimatbegriffs mit sich, nicht stichhaltig zu sein. Erstens hat die
Mythologisierung oft eine ironisierende Wirkung. Zweitens wird Heimat mehrfach in
Kontexten eingesetzt, die nicht die Vergangenheit, sondern, wie wir bereits kurz
185
Hans-Edwin Friedrich: „Utopie“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. III. Hg. v.
Jan-Dirk Müller u.a. Berlin u. New York: de Gruyter 2003, S. 739-740. 186
Hans-Edwin Friedrich: Utopie, S. 740. 187
Foucault: Andere Räume, S. 38. 188
Philip V. Bohlman: „Jüdische Lebenswelten zwischen Utopie und Heterotopie, jüdische Musik
zwischen Schtetl und Ghetto“. In: Lied und populäre Kultur 47 (2002), S. 35. 189
Müller-Funk: Joseph Roth, S. 36. 190
Kaszyński: Die Mythisierung der Wirklichkeit, S. 140.
37
erwähnt haben und später weiterführen werden, die Zukunft einbeziehen: „Unsere
wahre Heimat ist nämlich der Himmel“191
Drittens evoziert Heimat häufig bloß die
Polyphonie der Räume. Dazu setzt Roth unter anderem Strategien der räumlichen
Umkehrung oder der auffallenden Verbindung ein (cf. supra 2.2.). Im Gegensatz zu
Heterotopie ist die Utopie nach Philip V. Bohlman homogen und uniform: „Wenn eine
Utopie auf Übereinstimmung besteht, gestaltet sich im Gegensatz dazu die Heterotopie
aus Differenz und Widerspruch.“192
Aus dieser Unterscheidung lässt sich ableiten, dass
auch die geografische Fixierung einer Utopie homogener bzw. eindeutiger ist. Da Roths
Hotels im vorangehenden Kapitel als heterotopisch charakterisiert wurden, lässt sich
vermuten, dass sie in Hinblick auf ihre geografische Fixierung zwar „tatsächlich
geortet“ sind, aber nach Bohlmans Definition entweder geografisch nicht eindeutig
dargestellt sind oder nicht mit ihrer Umgebung interagieren. Die Frage, ob und
inwieweit Roths Hotels geografisch fixiert sind, scheint mir wesentlich zu sein, um
herauszufinden, ob die Polyphonie der Räume beim Hotel gerade durch ihre
geografische Fixierung oder durch ihre Nicht-Fixierung heraufbeschwört wird. Auch
die Frage nach der psychologischen Fixierung stellt sich: inwieweit wird dem
transitorischen Charakter des Hotels geschadet, wenn das Hotel, wie es für Roth selber
war, zum Dauerdomizil wird? Ergibt sich dann nicht eine Utopie innerhalb der
Heterotopie?
4.1.2. „An den Toren Europas”
Gabriel Dan situiert das Hotel bei seiner Ankunft „an den Toren Europas.“193
Das Hotel
liegt im Osten, aber erscheint als „[e]uropischer als alle anderen Gasthöfe des
Ostens“.194
Nach Amthor ist die Grenzziehung zwischen dem Osten und dem Westen
dadurch nur scheinbar konkret, dass weder die Grenzen Europas klar definiert werden,
noch die Ambivalenz des Kontinents aufgeklärt wird: „Europa das ist der Westen
betrachtet aus der Perspektive des Ostens. Europa ist aber auch die Welt, die angesichts
der Herrschaft des Nationalsozialismus kaltes Blut bewahren zu müssen glaubt“.195
191
Roth: Der Antichrist, S. 150. 192
Bohlman: Jüdische Lebenswelten, S. 37. 193
Roth: Hotel Savoy, S. 899. 194
Roth: Hotel Savoy, S. 900. 195
Amthor: An den Toren Europas, S. 119.
38
Obwohl die Textstelle „an den Toren Europas“ Amthors Einstieg ist, die
Grenzmetaphorik bei Roth zu untersuchen, mag wohl deutlich sein, dass ihre Analyse
Europas sich nicht nur auf dieses Zitat beziehen kann. Nichtsdestotrotz sagt die kurze
Aussage im Anfangskapitel von Hotel Savoy Vieles. Das Hotel liegt offensichtlich an
der Grenze Europas. Obwohl die Tore eine deutlich markierte Linie voraussetzen, wird
die Trennung dadurch untergraben, dass die Europäisierung sich schon im Grenzgebiet
über die Grenze hinaus durchgesetzt hat. Der Einfluss Europas wirkt anscheinend
positiv, denn das Hotel „verspricht Wasser, Seife, englisches Klosett, Lift,
Stubenmädchen in weißen Hauben, freundlich blinkende Nachtgeschirre“.196
Das Hotel
steht aber in schroffem Kontrast mit der Beschreibung der Stadt: „Am Vormittag war
sie grau, Kohlendunst naher Fabriken wälzte sich über sie aus riesigen Schornsteinen,
schmutzige Bettler krümmten sich an den Straßenecken, und Unrat und Mostkübel
waren in engen Gäßchen gehäuft.“197
Diese Beschreibung bildet die Schattenseite des
fortschrittlichen Westens. Manche Forscher wie Matthias erkennen in „den Toren
Europas“ die polnische Industriestadt Lodz.198
Diese Interpretation geht aus ihrer These
hervor, die nicht so sehr die Symbolik der Räume, sondern die Symbolik des
Kapitalismus und seine Ungerechtigkeit betont. Müller-Funk, der zwar in Bezug auf
Der Antichrist von einer „Dämonologie der Moderne“199
spricht, betont jedoch mit
Rücksicht auf Roths Gesamtwerk, dass Roth der Moderne nur „vorsichtig ablehnend“200
gegenübersteht. So legt er im Gegensatz zu Matthias mehr Wert auf die räumliche
Dimension in Roths Werken, die er als „eine imaginäre Geographie“201
bestimmt. In
dieser Hinsicht betrachtet er die Industriestadt in Hotel Savoy als eine Grenzstadt im
Osten, wie sie auch in anderen Romanen vorkommt als „eine Variante ein und
desselben Ortes.“202
Dies so zu berücksichtigen, liegt nahe, denn die wenig präzise
Information über die Stadt „an den Toren Europas“, verstärkt einerseits die Präsenz des
Gegensatzpaars Osten-Westen. Andererseits bringt den Mangel an Information über die
Stadt mit sich, dass das Hotel nicht ein Teil der Stadt ist bzw. der Stadt nicht
untergeordnet wird: Das moderne Hotel und die triste Industriestadt bilden zusammen
196
Roth: Hotel Savoy, S. 800. 197
Roth: Hotel Savoy, S. 802. 198
Matthias: The hotel as setting, S. 127. 199
Müller-Funk: Joseph Roths Dämonologie der Moderne, S. 115. 200
Müller-Funk: Joseph Roth, S.17. 201
Müller-Funk: Joseph Roth, S. 52. 202
Müller-Funk: Joseph Roth, S. 53.
39
den Paradox des Westens, verortet im Osten. Gabriel Dan kann am Ende der Geschichte
weder zwischen Hotel und Stadt, noch zwischen Westen und Osten wählen:
Wir lebten fast so gut wie Bloomfield und gingen in die Armenküche, wenn es
uns gefiel. Und wenn es uns nicht gefiel, aßen wir im Hotel. Und nie ging uns
das Geld aus. Einmal sage ich zu Zwonimir: ‹Ich packe und gehe zu Fuß weiter!
Wenn du nicht willst, bleib hier!› Da weinte Zwonimir. Es waren ehrliche
Tränen. ‹Zwonimir› sage ich, ‹dies ist mein letztes Wort: sieh im Kalender nach,
heute ist Dienstag, heute in zwei Wochen reisen wir.›203
Gabriel Dan hat im Laufe des Romans schon viele Male damit gedroht, aus dem Hotel
wegzuziehen, aber es gelingt ihm nie. Diese Tatsache ruft die Frage hervor, ob das
Hotel – und nicht die „Tor[e] Europas“ – in Hotel Savoy zu der zu überwindenden
Barriere für das Fortsetzen der Bewegung in westliche Richtung wird. Oder anders
gesagt: Ist das Hotel – ein Durchgangsort – gerade der Ort geworden, der den
Durchgang blockiert? Denn, wenn das Hotel für Gabriel Dan und Zwonimir zum
Dauerdomizil wird, unterminiert es ihre Funktion als Passage. Zwei Argumente
nuancieren aber diesen Gedanken. Der obige Textabschnitt macht deutlich, dass Gabriel
Dan und Zwonimir sich ständig zwischen Hotel und Stadt bewegen. Im Gegensatz zum
ersten Kapitel, in dem Gabriel Dan vom Hotel begeistert ist und kaum die Stadt besucht,
fungiert die Stadt im zweiten und dritten Kapitel als Ort, von dem aus es möglich wird,
das Hotel kritisch zu betrachten. Gerade durch die Symbiose des Westens – das sich im
Zusammenspiel von Hotel und Stadt vollzieht – und des Ostens – territorial – gestaltet
sich schlechthin das Hotel als Zwischenraum. Zweitens wird die Möglichkeit, das Hotel
als definitives Domizil zu betrachten, dadurch zerstört, dass die Heimkehrer das Hotel
anzünden. Soll man diese Handlung verstehen als einen Versuch vom Osten aus – „die
Revolution […] kommt aus dem Osten“ – sich der Verwestlichung zu widersetzten?204
Die Heimkehrer kommen aber gerade aus dem Westen. Hätte Gabriel Dan Recht, wenn
er sich beim Anschauen des Zustroms der Heimkehrer Folgendes überlegte: „Wären sie
[die Heimkehrer] nicht lieber in der großen Heimat geblieben, statt in die kleine
heimzukehren, zu Weib und Kind und Ofenwärme?“205
Kehren die Heimkehrer sich
gegen das westliche Hotel, gerade weil es sie an das kleine Heim erinnert, zu dem sie –
im Gegensatz zu dem was der Name der Gruppe verheißt – nicht zurückkehren wollen?
203
Roth: Hotel Savoy, S. 866 -867. 204
Roth: Hotel Savoy, S. 884. 205
Roth: Hotel Savoy, S. 851.
40
Oder wenden sie sich als revolutionäre Sozialisten, durch Armut gezwungen, gegen das
kapitalistische Hotel? Die Funktion der symbolischen Tat des Ansteckens verlangt eine
Antwort, die hier noch nicht geleistet werden kann. Ich werde später darauf
zurückkommen (cf. infra 4.3.3.2.2.) Wichtig ist es, an dieser Stelle anzuerkennen, dass
Roth einerseits mit der geografischen Situierung „an den Toren Europas“ die
Polyphonie der Räume hervorhebt. Andererseits hat sich gezeigt, dass Roth mit der
psychologischen Spannung der Figuren zwischen langfristigem Aufenthalt und
Bewegung, verschiedene Strategien eingesetzt hat, um das Hotel nicht zu fixieren,
sondern im Gegenteil ihre Funktion als Zwischenraum zu bestätigen.
4.1.3. Peripherie vs. Zentrum im Hotel
Roth selber stammt aus der Peripherie, gleichwie seine literarischen Figuren Mendel
Singer in Hiob und Nikolaus Tarabas in Tarabas. Gabriel Dan aus Hotel Savoy dagegen
kommt nicht aus der Peripherie, sondern reist nach einer Kriegserfahrung in der
Peripherie in die umgekehrte Richtung wieder zum Zentrum, zu den „Toren“. Genau
wie Amthor hebt Joachim Beug die Dominanz der Grenze in Roths Romanen hervor,
die er anhand der Grenzschenke untersucht.206
Beug unterscheidet zwei Typen von
Grenzschenken. Zum einen unterscheidet er die Grenzschenke, die tatsächlich an der
Grenze liegt, wie Roths Herkunftsstadt Brody. Zum anderen erwähnt er die
Grenzschenke, die sich nicht in einer Stadt an der Grenze, sondern an der Peripherie der
bürgerlichen Sozietät befindet.207
Obwohl man nicht darauf verzichten kann, dass Beugs
Grenzschenke eine andere Funktion als das Hotel hat, glaube ich, dass sich auch die
Hotels in Roths Romanen anhand der Kategorien Zentrum und Peripherie analysieren
lassen. Die Spannung zwischen Peripherie und Zentrum wurde in Bezug auf das Hotel
Savoy im vorangehenden Kapitel nicht explizit, aber schon implizit dargestellt, indem
sich gezeigt hat, dass das Hotel sich geografisch an der Peripherie und gesellschaftlich
im Zentrum befindet. Jetzt stellt sich die Frage, wie das „Astor Hotel“208
in Hiob
positioniert ist.
206
Joachim Beug: „Die Grenzschenke. Zu einem literarischen Topos”. In: Co-Existent contradictions.
Joseph Roth in Retrospect. California: Ariadne press, S. 148. 207
Beug: Die Grenzschenke, S. 149. 208
Roth: Hiob, S. 210.
41
Im Gegensatz zum Hotel Savoy spielt das Astor Hotel eine weniger zentrale
Rolle im Hinblick auf die ganze Geschichte. Trotzdem ist es für den Roman Hiob ein
wichtiger Schauplatz. Zum einen endet die Geschichte in diesem bedeutungsvollen
Raum. Außerdem rückt das Hotel Mendel Singer zum ersten Mal in seinem Leben in
das Zentrum. Bevor Mendel in das Hotel kommt, hat er zuerst in Zuchnow, in einem
fiktiven Schtetl in Russland, und später in einem Ghetto in New York gelebt. Mendels
Bewegung von Schtetl in das Ghetto gilt nach Bohlman „als einer der bekanntesten
Topoi für den historischen Weg der mittel- und osteuropäischen Juden in das [sic] 20.
Jahrhundert, aus ihrer von der Diaspora begrenzten Kultur in die europäische
Moderne.“209
Nach Bohlman hat das Schtetl sich für die Juden „aufgrund einer
imaginären Authentizität“210
zu einer Utopie entwickelt. Die fragwürdige Authentizität
des Schtetls macht auch Roth in Hiob spottend deutlich: „Es war als wollte er [Mendel
Singer] Schemarjah noch schnell mit der Heimat vertraut machen, ehe der junge Mann
auszog, eine neue zu suchen“.211
Daneben erwähnt Bohlman, dass das Schtetl im Laufe
der modernen Geschichte immer weiter an die Peripherie gedrängt wurde. Das Ghetto
aber bestimmt Bohlman „als eine Heterotopie, d.h. als eine ‹unerwartete› Mischkultur,
die aus dem Kulturkampf zwischen jüdischem Dorf und nicht jüdischer Großstadt
entsteht.“ Weiter meint Bohlman, dass das Ghetto „[i]m Gegensatz zum Schtetl […]
metaphorisch zum Zentrum der modernen Geschichte der jüdischen Moderne
erhoben“212
werden kann. Die „Mischkultur“, von der Bohlman spricht, sehe ich
keinesfalls im Ghetto in Hiob. Vielmehr hat sich das Ghetto zu Schtetl entwickelt und
rückt in dieser Hinsicht immer weiter in die Peripherie. Wenn Mendel den Glauben
verliert, steht er nicht nur an der Peripherie der Gesellschaft New Yorks, sondern jetzt
auch in seiner jüdischen Gemeinschaft.
Nach dem wunderbaren Wiedersehen mit dem totgeglaubten Sohn Menuchim
fahren beide ins „Astor Hotel“. Mendel Singer betrachtet Amerika von dem
Hotelfenster aus: „Wie es seine Gewohnheit war, trat er [Mendel Singer] sofort zum
Fenster. Da sah er zum erstenmal die Nacht von Amerika aus der Nähe“.213
Aus dieser
Textstelle geht hervor, dass Mendel „zum erstenmal“ die Bewegung von der Peripherie
209
Bohlman: Jüdische Lebenswelten, S. 29. 210
Bohlman: Jüdische Lebenswelten, S. 30. 211
Roth: Hiob, S. 56. 212
Bohlman: Jüdische Lebenswelten, S. 31. 213
Roth: Hiob, S. 211.
42
aus in Richtung Zentrum gemacht hat. Vom Fenster aus, beobachtet er jetzt das Gesicht
eines Mädchens auf einem Reklamebrett als die „vollkommenste Darstellung des
nächtlichen Glücks und der goldenen Gesundheit.“214
Nicht im Ghetto, sondern im
Hotel, in der Anerkennung des Kapitalismus Amerikas, erhält „die Mischkultur“ im
Sinne Bohlmans ihre vollendetste Form. Trotzdem bleibt das Hotel immerhin ein
anderer Raum als Amerika, denn das Hotel bringt Mendel Ruhe und Amerika steht für
Lärm: „er hörte den lärmenden Gesang Amerikas, das Hupen, das Tuten, das Dröhnen,
das Klingeln, das Kreischen, das Knarren, das Pfeifen und das Heulen.“215
Die nicht-
spezifizierte „Nähe“ macht zwar deutlich, dass Mendel sich jetzt in der nähe des
Herzens New Yorks befindet, aber Amerika selbst immer noch vom Fenster aus erfährt.
Somit fungiert das Astor Hotel als Heterotopie: über das Fenster verbindet es sich mit
der Stadt, aber widerspricht diesem Raum zugleich. Genau wie Gabriel Dan erst in der
Lage war, von der Stadt aus seine Meinung über das Hotel Savoy anzupassen, bekommt
auch Mendel Singer erst vom Hotel aus einen kritischen Blick auf Amerika, das Land,
das er nicht mehr wie früher dämonisiert, aber dem er sich ebenfalls nicht unbesonnen
hingibt. Schlögels Aussage „Die Grenze bietet einen [sic] Erkenntnisprodukt besonderer
Qualität. An der Peripherie sieht man anders und anderes als im Zentrum, das sich oft
selbst genügt“216
trifft auf Roths Romane zu. Roth lässt seine Figuren anhand des Hotels
zwar in die Nähe des Zentrums kommen, aber betont immerhin die Bedeutsamkeit der
Peripherie.
4.2. Die Welt vs. das Heim
4.2.1. Öffnungen und Schließungen
Heterotopien setzen nach Foucault „immer ein System von Öffnungen und
Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht.“217
Heterotopien sind im Allgemeinen „nicht ohne weiteres zugänglich“218
. Hinsichtlich der
Gasthäuser Roths denke ich in diesem Zusammenhang etwa an das Geld, das den
Eintritt im Hotel Savoy bedingt: „Viele, die kein Geld fürs Hotel Savoy hatten, richteten
214
Roth: Hiob, S. 211. 215
Roth: Hiob, S. 211. 216
Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 144. 217
Foucault: Andere Räume, S. 44. 218
Foucault: Andere Räume, S. 44.
43
sich in den Baracken ein.“219
Dass Roths Gasthäuser tatsächlich eine Dynamik der
Öffnungen und Schließungen im Sinne Foucaults aufweisen, zeigt sich, wenn Zwonimir
das Hotel Savoy bildhaft als „ein[en] reiche[n] Palast und ein Gefängnis“ umschreibt.
Ein „reicher Palast“ ist das Hotel einerseits, weil es von Luxus geprägt ist und nur
bemittelte Leute eintreten können. Andererseits wird das Hotel ein „Gefängnis“, wenn
das Geld, das anfangs die Voraussetzung für den Eintritt war, nicht mehr vorhanden ist.
Im Tausch für Geld verpfändet Ignatz, der Liftknabe, die Koffer der Leute und bindet
sie so an das Hotel Savoy. Das System von Öffnungen und Schließungen ist meiner
Meinung nach in Roths Gasthäusern nicht nur von ökonomischen Bedingungen
abhängig. Vielmehr zeigt sich das System auf der psychologischen Ebene der Figuren.
Deshalb werde ich im Folgenden dafür argumentieren, dass die Dynamik der Öffnungen
und Schließungen bei Roth dazu dient, die Spannung zwischen Heim und Welt
hervorzuheben.
Der Heimatbegriff beschwört nach Bastian und Améry die zentrale Emotion
Geborgenheit herauf (cf. supra 1.2.1 bzw. 1.2.3.). Im Gegensatz zu Heimat, die ihre
Geborgenheitspotenz durch persönliche Beziehungen und bekanntes Territorium
ermöglicht, erfährt das Konzept der Geborgenheit im Hotelfeuilleton dadurch eine
Umdeutung, dass es sich, so Hartmann, als „eine Geborgenheit im Unpersönlichen“220
manifestiert. Unpersönlichkeit ist an dieser Stelle als Austauschbarkeit zu verstehen:
„Wenn meine Koffer weg sind, werden andere hier stehen. […] Wenn ich nicht mehr an
diesem Fenster stehen werde, wird ein anderer hier stehen.“221
Zweitens betont
Hartmann, dass die Geborgenheitserfahrung im Hotelzimmer nicht bedeutet, dass der
Hotelgast von der Welt abgeschlossen ist, denn über das Fenster erhält er den Kontakt
mit der Außenwelt.222
Zur Illustration dieses Gedanken führt sie folgendes Zitat aus
dem Hotelfeuilleton an: „Wenn ich das Fenster öffne, ist die Welt bei mir zu Gast. Von
Weither dröhnen die heiseren Sirenen der Schiffe. Ganz nahe klingeln die törichten
Schellen der Straßenbahnen.“223
Meines Erachtens weisen die Transportmittel „Schiffe“
und „Straßenbahnen“ darauf hin, dass der Hotelgast immer fliehen kann. Das Schiff, das
nach Foucault „in sich geschlossen ist und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres
219
Roth: Hotel Savoy, S. 852. 220
Hartmann: Kultur und Identität, S. 185. 221
Roth: Panoptikum, S. 67. 222
Hartmann: Kultur und Identität, S. 185. 223
Roth: Panoptikum, S. 41.
44
ausgeliefert ist“224
, verstärkt damit die Idee des Hotelzimmers als gleichzeitig
geschlossenen bzw. privaten und offenen bzw. weltbezogenen Raum.
Die „väterlich[e] bittersüß[e] Weisheit“225
des Portiers deutet darauf hin, dass
Heim und Welt im Hotelfeuilleton in einem harmonischen Verhältnis zueinander
stehen, denn familiale Bedingungen werden auf die Hotelsituation projiziert. Die
Annäherung zwischen Heim und Welt wird sogar explizit, wenn der Empfangschef
sagt: „Sie sind unser Gast und unser Kind!“226
Obwohl sich der Erzähler im
Hotelfeuilleton am Ende vom Hotel verabschiedet, und aufgrund dessen es nicht als
Dauerdomizil zu verstehen sei, wird jedoch die Ankunft im Hotel viel mehr als in den
fiktionalen Werken als eine Heimkehr beschrieben. Wo sich die Spannung zwischen der
Welt und dem Heim im Hotelfeuilleton durch Annäherung aufhebt, wird sich dagegen
zeigen, dass diese Spannung sich in Roths Romanen durch das Wechselspiel von
Öffnungen und Schließungen verstärkt, wobei mit Öffnung das Weltliche und mit
Schließung das Heim gemeint ist.
4.2.1.1. Der Gasthof „Zum weißen Adler“
Der Roman Tarabas steht exemplarisch für das Wechselspiel zwischen Öffnungen und
Schließungen. Was die Untertitel des Romans „Ein Gast auf dieser Erde“ von Anfang
an voraussetzt, ist die Weltbürgerschaft Tarabas‘ und somit auch die Tendenz zur
Offenheit. Jedoch ist diese Lebensphilosophie für Tarabas keine Selbstverständlichkeit,
sondern ein Erkenntnisprozess. So ist die Nacht vor dem Tag, an dem Tarabas aus dem
elterlichen Haus wegzuziehen geplant hat, durch das Wechselspiel zwischen Öffnungen
und Schließungen geprägt.
Er ging in sein Zimmer. Er legte sich, so wie er war, Schlamm an den Stiefeln,
aufs Bett. Er schlief wohl eine Stunde, erwachte dann infolge eines unbekannten
Geräusches, sah, daß seine Tür offen war, ging hin, um sie zu schließen. Ein
Windstoß hatte sie geöffnet. Auch das Fenster gegenüber war offen. Er konnte
nicht mehr einschlafen. Es kam ihm in den Sinn, daß es nicht just der Wind
gewesen sein mußte. Hatte Maria versucht, ihn wiederzutreffen? – Warum
schlief sie nicht mit ihm, in der letzten Nacht, die er in diesem Hause
verbrachte? […] Er öffnete die Tür. […] Jetzt öffnete er Marias Tür. […] Und er
verließ das Zimmer […] Tarabas griff nach Säbel und Mantel und wandte sich
224
Foucault: Andere Räume, S. 46. 225
Roth: Panoptikum, S. 43. 226
Roth: Panoptikum, S. 43.
45
zur Tür. Er öffnete sie, zögerte einen Augenblick, kehrte noch einmal um und
spuckte aus. Dann schlug er die Tür zu und hastete hinaus.227
Der schwankende offene und geschlossene Zustand der Tür und des Fensters
veranschaulicht Tarabas‘ Spannung zwischen einem Leben in der offenen Welt und
einem im geschlossenen Heim. Aus dem Textabschnitt geht hervor, dass nicht Tarabas
selber die Tür des Zimmers geöffnet hat, denn er stellt nur fest, dass „seine Tür offen
war“, sondern eine unbekannte Kraft verantwortlich ist. Diese unbestimmte Kraft werde
ich später verdeutlichen (cf. infra 4.4.3.2). Festzustellen ist, dass die offene Tür Tarabas
das Geleit gibt, schon in derselben Nacht in die Welt zu treten. Es wird sich aber zeigen,
dass die Spannung zwischen Welt und Heim nicht mit Tarabas‘ Entscheidung, das
elterliche Haus zu verlassen, aufhört. Sie zieht sich dagegen wie ein roter Faden den
Roman hindurch.
Der Gasthof „Zum weißen Adler“, der als Gasthaus sowohl Heim bzw.
Geschlossenheit als auch Welt bzw. kosmopolitische Offenheit voraussetzt, fungiert in
Tarabas als Ort, der die Spannungssituation zwischen Offenheit und Geschlossenheit
gleichzeitig radikalisiert und auflöst und somit die Geschichte strukturiert. Die
Spannung zeigt sich schon in der ersten Beschreibung des Gasthofs:
Er [Nathan Kristianpoller] war in diesem alten Gasthof aufgewachsen, hinter der
dicken, verfallenden, von vielen Sprüngen gezeichneten, von wildem Weinlaub
bewachsenen Mauer, die ein großes, rotbraun gestrichenes, zweiflügeliges Tor
unterbrach und gleichzeitig verband, wie ein Stein einen Ring unterbricht und
verbindet. Vor diesem Tor hatten der Großvater und der Vater Nathan
Kristianpollers die Bauern erwartet und begrüßt, die Donnerstag und Freitag auf
den Markt nach Koropta kamen.228
Der Gasthof, der sich „hinter der dicken, verfallenden“ Mauer befindet, knüpft an die
durch Mueller beschriebene Tradition der „unheilvolle[n] oder verzauberte[n] Orte,
Gebäude und Räume“229
an und erscheint folglich als ein extrem geschlossener Raum.
Der Gedanke, dass die Gäste möglichst den Gasthof nicht mehr verlassen werden
können, steigert sich, wenn Kristianpoller zugibt „im stillen jedem Gast, ohne
Ausnahme, einen qualvollen Tod“230
zu wünschen. Das Motiv des mordlustigen
Gastgebers bringt das Horrorgenre in Erinnerung, wobei der Gast hilflos dem Wirt
227
Roth: Tarabas, S. 160-161. 228
Roth: Tarabas, S. 175-176. 229
Mueller: Hotelgeschichte und Hotelgeschichten, S. 189. 230
Roth: Tarabas, S.179.
46
ausgeliefert ist.231
Die Geschlossenheit des Gasthofs, die das Horrormotiv hervorruft,
wird aber unterminiert, weil deutlich wird, dass die Gefahr mehr von den Gästen als
vom Wirt ausgeht: Kristianpoller wird ein Fremder in seinem eigenen Haus (cf. infra
4.2.1.2). Daneben weisen die „Sprüng[e]“ in der Mauer darauf hin, dass die Gefahr von
außen statt von innen kommt und verheißt der Gasthof eine Geborgenheit, insofern der
Wirt seine Gäste vor dem Tor aufwartet. Außerdem unterbricht das Tor, das gerade
zustandsbedingt entweder Offenheit oder Geschlossenheit mit sich bringt, die
Geschlossenheit der Mauer. Im Vergleich mit dem Stein und dem Ring wird aber
deutlich, dass, wenn ein Objekt ein anderes Objekt unterbricht, sich gerade eine
Verbindung herstellt. Wo das Heim Geschlossenheit und Verbundenheit mit einer
beschränkten Gruppe, die Welt Offenheit und Verbundenheit mit allen voraussetzt,
vereint der Gasthof Geschlossenheit und Offenheit und verwandelt Verbundenheit unter
dem Einfluss des Tors um, denn es stellt sich heraus, dass die Unterbrechung bzw. die
Zerstörung einer Verbindung eine neue Verbindung bewirken kann.
4.2.1.2. Die Beziehung zwischen Kristianpoller und Tarabas
Die Spannung zwischen Offenheit und Geschlossenheit, die die Bildsprache bei der
Beschreibung des Gasthofs inszeniert hat, lässt sich auf die Ebene der Figuren, und
zwar auf die Beziehung zwischen dem Wirt Kristianpoller und dem Gast Tarabas,
übertragen. Die Bedingungen für eine Verbindung zwischen den beiden Figuren sind
am Anfang der Geschichte keineswegs erfüllt. Tarabas wird als ein Mann vorgestellt,
der alles andere als Verbundenheit verheißt:
Als die Kunde von der Ankunft des schrecklichen Tarabas und seiner
schrecklichen Begleiter in den Gasthof ‹Zum Weißen Adler› gedrungen war,
beschloß der Wirt, der Jude Nathan Kristianpoller, unverzüglich seine Wohnung
zu räumen und seine Frau sowie seine sieben Kinder zu den Schwiegereltern
nach Kyrbitki zu schicken.232
Obwohl schon vor „der Ankunft des schrecklichen Tarabas“ der Gasthof von Offizieren
der neuen Armee bewohnt wurde233
, führt die Ankunft Tarabas‘ zur Auflösung von
Kristianpollers Familie und vertreibt Tarabas damit für längere Zeit die Familie
231
Mueller: Hotelgeschichte und Hotelgeschichten, S. 189. 232
Roth: Tarabas, S. 175. 233
Roth: Tarabas, S. 176.
47
Kristianpollers aus dem Gasthof. Tarabas selbst „fühlte sich immer wohler und
heimischer [im Gasthof]. Mehr noch als der Schnaps wärmte ihn die untertänige
Freundschaft der Offiziere, Eitelkeit wärmte sein Herz.“234
Die „untertänige
Freundschaft“ weist darauf hin, dass die Gäste keinesfalls harmonisch verbunden sind.
Eitelkeit, nicht Verbundenheit, löst das heimische Gefühl bei Tarabas aus. Dass der
Wirt Kristianpoller sich bemühen wird, eine Verbundenheit herzustellen, lässt sich nicht
erhoffen, denn er hat schon während des Kriegs immerhin versucht „mit List und mit
Hilfe Gottes der Gewalt heimischer und fremder Soldaten die angeborene und eingeübte
Schlauheit entgegenzuhalten, wie einen Schild, und, was das wichtigste war, das nackte
Leben zu bewahren, das eigene und das der Familie.“235
Interessant ist, dass „heimischer“ in diesem Textabschnitt eine andere
Bedeutung als „heimischer“ im obigen Zitat bei Tarabas bekommt. Wenn dieser den
Gasthof immer „heimischer“ empfindet, ist das eine Äußerung, die unmittelbar mit
seiner Identität verbunden ist, denn Tarabas wird durch die Haltung der Offiziere in
seiner Macht bestätigt, was ihn erlaubt, sich selbst zu identifizieren. Die Unterscheidung
zwischen „heimische[n]“ und „fremde[n]“ Soldaten dagegen beruht auf Territorium.
„[H]eimisch[e]“ Soldaten stammen aus dem eigenen Land, während „fremd[e]“
Soldaten, die Feinde, anderswo herkommen. Der Text beschwört ein wenig danach eine
weitere Bedeutung von ᾽heimisch᾽ herauf: „Eine neue Bangnis erfüllte sein
[Kristianpollers] Herz, das sich schon mit den heimischen, gewohnten Bangnissen
vertraut gemacht hatte.“236
So ergibt sich, dass für Kristianpoller ᾽heimisch᾽ als
Synonym für vertraut gilt. Aus der Analyse der verschiedenen Bedeutungen von
᾽heimisch᾽ geht hervor, dass das Heimische ohne Kontext ein leerer Begriff ist und
folglich stark von der Perspektive einer Figur abhängt.
Die Geschlossenheit Kristianpollers, die sich durch den Schutzmechanismus in
Hinblick auf seine Familie erkennen lässt, ist unmittelbar mit des Wirts Idee von
᾽heimisch᾽ zu verbinden. Die Geschlossene Haltung Kristianpollers steigert sich noch,
wenn sich herausstellt, dass der Wirt ein Geheimnis mit sich trägt:
Nicht ohne ein gewisses Schaudern hatte Kristianpoller in seiner ersten Jugend
dieses Gebäude betreten. Manche erzählten nämlich, vor undenklichen Zeiten,
234
Roth: Tarabas, S. 181. 235
Roth: Tarabas, S. 176. 236
Roth: Tarabas, S. 176.
48
als noch die ersten christlichen Missionare in dieses hartnäckige heidnische
Land gekommen waren, hätten sie an dieser Stelle, just in diesem Hofe, eine
Kapelle errichtet. Diese Erzählungen bewahrte der Jude Kristianpoller wohl in
seiner Brust, er verriet sie nicht, denn er ahnte, daß sie eine Wahrheit enthielten.
[…] Man möge kein törichtes Märchen wiederholen.237
Genau wie bei der ersten Beschreibung des Gasthofs schleicht auch in diesem
Textabschnitt das Horrormotiv ‒ „ein gewisses Schaudern“ ‒ ein. Interessant ist, dass
nach Kristianpollers Darstellung des Heimischen im Sinne von Territorium und
Vertrautheit, eine Textstelle folgt, in der er implizit das Unheimliche des Gasthauses
hervorruft. Beide Begriffe, die sich zwar hinsichtlich des Konzeptes von Geborgenheit
gegenüberstehen, weisen auf die Geschlossenheit des Gasthofs hin. Die verstärkt sich
am Ende des Textabschnitts noch mal durch die Haltung des Wirts, der deutlich macht,
dass er das Geheimnis nicht enthüllen wird. Obwohl Kristianpoller keinesfalls
vorgeworfen werden kann, er schade Gastfreiheit, ändert sich seine geschlossene
Haltung erst, wenn, wie in den älteren Zeiten, nochmals ein Schweinemarkt in Koropta
stattfindet. Die Ankunft der Bauern, der „heimischen Gestalten“238
, der alten Gäste des
Gasthofs, nährt bei Kristianpoller wieder die Hoffnung auf die Rückkehr seiner Familie.
In diesem Zitat zeigt sich erneut, dass ‘heimisch‘ für Kristianpoller vertraut bedeutet.
Die Hoffnung drückt sich bildhaft aus: Kristianpoller öffnet „beide Flügel des Tores“239
wieder. Es ist bemerkenswert, dass gerade Bauern, die grundsätzlich Verwurzelung
repräsentieren, bei einem Juden, dem ewigen Wanderer, als Auslöser des Heimatgefühls
dienen. Ich glaube, dass diese Merkwürdigkeit, genau wie auch die Betonung des
Heimischen und dessen verschiedene Bedeutungen, zeigt, wie Roth sich mit dem
Heimatbegriff auseinandersetzt und die traditionellen Konnotationen ironisiert. Die
Ironie kulminiert, denn gerade die Bauern wenden sich am Stärksten gegen den Juden
Kristianpoller, wenn sie ihn verdächtigen, ein Muttergottesbild unter dem Kalk an der
Wand des Gasthofs versteckt zu haben. Während „alle in die Knie [fielen], die kleinen
Bauern, die mächtigen Soldaten, die Deserteure sowohl als auch die Getreuen
Tarabas'“240
, muss der Jude Kristianpoller sich außerhalb des Gasthofs verbergen. Wo
sich zwischen den Gästen und den Bauern im Gasthof eine plötzliche Verbundenheit
entwickelt, wird der Wirt von seiner eigenen Wohnung ausgeschlossen. So erfahren die
237
Roth: Tarabas, S. 177. 238
Roth: Tarabas, S. 203. 239
Roth: Tarabas, S. 203. 240
Roth: Tarabas, S. 210.
49
Konzepte von Geschlossenheit, Offenheit und damit auch Verbundenheit im Gasthof
„Zum weißen Adler“ eine Umdeutung.
Die Wut, die sich anfangs nur gegen den Juden Kristianpoller richtete,
entwickelt sich zu einem Hass gegen alle Juden in Koropta. Nicht die „heimischen“
Bauern, sondern der „schrecklich[e] Tarabas“, unterdrückt den Aufruhr. Obwohl
Tarabas selber angibt, dass nicht so sehr der Schutz der Juden, sondern das Verlangen
nach Ordnung sein militärisches Auftreten begründet241
, hat Tarabas, der am Anfang
des Romans noch die Ursache war, dass die Familie Kristianpollers weggeschickt
wurde, durch die Ordnungsstiftung, den Juden Kristianpoller jetzt wieder in sein Heim
gebracht. Trotz der oberflächlichen Abneigung beider Männer einander gegenüber
erstaunt diese Entwicklung nicht ganz. Von Anfang an ist die Beziehung zwischen
Kristianpoller und Tarabas auf Annäherung angelegt. Der Wirt zeigt sich als ein treuer
Diener: „Wort für Wort wiederholte nun Kristianpoller alle Wünsche des Obersten
Tarabas. Ja, es war ihm ein leichtes, sie zu wiederholen. Eingegraben hatten sich die
Worte Tarabas‘ in den Kopf Kristianpollers, wie harte Nägel in Wachs. Für ewige
Zeiten steckten sie drin.“242
Die „harte[n] Nägel in Wachs“ scheinen auf den ersten
Blick den „ ewige[n] Zeiten“ zu widersprechen. Jedoch kann die Aussage nicht darauf
hindeuten, dass, sobald Kristianpollers Gast verschwunden ist, der Wirt ihn vergessen
wird, denn es wird sich herausstellen, dass gerade Kristianpoller die Erinnerung an
Tarabas wachhalten wird.243
Demzufolge meine ich, dass der Wachs nicht das
Auswischbare, sondern das Knetbare der Worte hervorhebt. Dieser Gedanke lässt sich
zweifach bestätigen. Einerseits wird so das geänderte Verhältnis zwischen
Kristianpoller und Tarabas – wobei der Wirt die führende Rolle übernimmt –
vorweggenommen (cf. infra 4.3.3.2.1.). Andererseits, insofern Kristianpoller die
Geschichte Tarabas‘ weitererzählt, ist das Knetbare der Worte als Metareflexion über
das Erzählen zu verstehen: Eine Geschichte ‒ umso mehr wenn sie [f]ür ewige Zeiten
gilt – mischt unvermeidlich wirkliche und unwirkliche Sachen. Wie Roth in seinen
Romanen Realität und Mythos bewusst anrührt, werde ich weiter in dieser Arbeit
darlegen (cf. infra 4.3.).
241
Roth: Tarabas, S. 223. 242
Roth: Tarabas, S. 179. 243
Roth: Tarabas, S. 284.
50
Die Annäherung, die sich zunächst von Seiten Kristianpoller herausstellt,
entwickelt sich im Laufe der Geschichte in beide Richtungen:
Von Zeit zu Zeit blickten beide Männer nach dem Fenster, auf das schmale
Rechteck des dunkelblauen, gestirnten Himmels. Hierauf begegneten einander
ihre Augen. Und je häufiger ihre Augen sich trafen, desto vertrauter schienen die
Männer miteinander zu werden. Ja, ja, du Jude! sagten die Augen des Obersten
Tarabas. Und: Ja, ja, du armer Held! sagte das eine, das gesunde Auge des Juden
Kristianpoller.244
Obschon Tarabas anfangs die Verbindung Kristianpollers mit seiner Familie zerstört
hat, geht aus dem Textabschnitt eine andere Verbindung hervor, die ebenso sehr auf
Vertrauen stützt und „[f]ür ewige Zeiten“ gilt. Bemerkenswert ist, dass die Annäherung
zwischen Tarabas und Kristianpoller im Gasthof über das Fenster und den Kontakt mit
dem Himmel läuft. Das Fenster macht die Spannung zwischen der grundsätzlich
geschlossenen Haltung beider Männer und der Tendenz zur Offenheit, die sich im
Textabschnitt manifestiert, bildhaft. Der Himmel verstärkt das Ewige dieser speziellen
Verbindung. Auf die Bedeutung der Kombination von Fenster und Himmel werde ich in
diesem Kapitel noch zu sprechen kommen. Auch die Funktion der speziellen
Verbindung zwischen Kristianpoller und Tarabas werde ich noch vertiefen (cf. infra
4.4.3.2.).
4.2.1.3. Die Polyfunktion des Gasthofs „Zum weißen Adler“
Es hat sich gezeigt, dass der Gasthof „Zum weißen Adler“ zwischen einer heimischen
und einer kosmopolitischen Welt schwankt. Eine Annäherung zwischen Heim und
Welt, wie sie im Hotelfeuilleton geschieht, findet aber nicht statt: Die Spannung
zwischen beiden bleibt. Der Gasthof übernimmt aber nicht nur die Funktion eines
Heims oder eines Ortes der kosmopolitischen Versammlung, er fungiert auch kurzfristig
als Kirche: „Dieser Raum hier ist eine Kirche.“245
Das Muttergottesbild kommt ans
Licht nach einer spielerischen Schießerei, die wie folgt entsteht:
Allmählich wurde aus der falschen Brüderlichkeit, die Tarabas' Getreue
gegenüber den Deserteuren zuerst geheuchelt hatten, eine flüchtige, verlogene,
aber immerhin rührselige Freundschaft. Von beiden Seiten wurden gar viele
244
Roth: Tarabas, S. 198. 245
Roth: Tarabas, S. 210.
51
falsche, heiße Tränen vergossen. Man hatte sich einfach betrunken. ‹Wir wollen
ein bißchen schießen, nur damit wir sehen, ob wir noch zielen können›.246
Die „falsch[e] Brüderlichkeit“ macht deutlich, dass die Gäste des Gasthofs nicht richtig
miteinander verbunden sind. Auch Kracauer beschreibt die Hotelgäste in seinem Essay
„Die Hotelhalle“ als die „schlechthin beziehungslosen“247
: „Als bloßes Außen aber
entschwinden sie sich selber und drücken ihr Nicht-sein durch die schlecht-ästhetische
Bejahung der zwischen ihnen gesetzten Fremde aus.“248
Im Gasthof „Zum weißen
Adler“ versucht man mit Alkohol die „zwischen ihnen gesetzt[e] Fremde“ zu
verleugnen. Durch die spielerische und sinnlose Schießerei, die aus der Betrunkenheit
folgt, verwandelt sich der Gasthof in eine Kirche, wenn unter dem Kalk an der Wand
das Muttergottesbild entdeckt wird. So gibt zuerst der Alkohol und jetzt auch die Kirche
Anlass zur Aufhebung der Beziehungslosigkeit. Mit der Umwandelung des Gasthofs in
eine Kirche beschreibt Roth treffend die Problematik der menschlichen Beziehungen
zur Zeit der Weimarer Republik: der Weimarer Mensch ist fundamental desorientiert.
Er folgt damit Kracauer, Kritiker der Weimarer Sozialverhältnisse, der das Hotel in
„Die Hotelhalle“ als „negative Kirche“249
bestimmt, wobei die Menschen im Gotteshaus
die mentale Erhebung kollektiv zu erreichen versuchen, während sich „die schlechthin
Beziehungslosen“ im Hotel zwar ebenfalls vom Alltag ablösen, aber keinen Sinn stiften
können.250
Es wird sich aber erweisen, dass der Gasthof in Tarabas nicht, im
Unterschied zum Hotel bei Kracauer, negativ geprägt ist.
Die Entstehung der Kirche in Tarabas geht mit einer allgemeinen
Judenverfolgung einher. Obwohl Tarabas beim Sehen des Muttergottesbildes sichtbar
gerührt ist, beendet er, wenn er den Aufstand gegen die Juden niederschlägt,
gleichzeitig das Fungieren des Gasthofs als Kirche.251
Während des Kampfes zwischen
auf der einen Seite Tarabas‘ Getreuen und auf der anderen Seite Bauern und Soldaten,
fungiert der Gasthof auch als Versteck:
246
Roth: Tarabas, S. 206. 247
Siegfried Kracauer: „Die Hotelhalle”. In: Das Ornament der Masse. Essays mit einem Nachwort von
Karsten Witte. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 160. 248
Kracauer: Die Hotelhalle, S. 168. 249
Kracauer: Die Hotelhalle, S. 159. 250
Kracauer: Die Hotelhalle, S. 161. 251
Roth: Tarabas, S. 222.
52
Von den wenigen unversehrt gebliebenen Häusern Koroptas enthielt nur eines
noch lebendige Bewohner: der Gasthof ‹Zum Weißen Adler›; der Gasthof des
verschwundenen Juden Kristianpoller. Hier im Hof und in den Stuben, im
geräumigen Gastzimmer und im Keller drängten sich die Juden und die Bauern.
Manche hatten Schrecken und Müdigkeit, Alkohol, Betäubung und Schmerzen
eingeschläfert.252
Die Geschlossenheit des Gasthofs, die sich sowohl bei der ersten Beschreibung des
Gasthofs und der Haltung des Wirtes herausgestellt hat, kommt in diesem Textabschnitt
als eine Undurchdringbarkeit zum Ausdruck, die sowohl Juden als auch Bauern das
Leben rettet.
Die verschiedenen Funktionen die der Gasthof im Laufe der Geschichte
angenommen hat ‒ Heim, kosmopolitischer Platz, Kirche, Versteck ‒, werden am Ende
des Romans keinesfalls aufgehoben. Ich werde in diesem Zusammenhang von der
Polyfunktion des Gasthofs sprechen, wobei ich die Bezeichnung Polyfunktion
ausgewählt habe, weil sie durch ihre Zusammenstellung aus dem Griechischen und dem
Lateinischen die ungewöhnliche Kombination von Funktionen, die der Gasthof aufzeigt,
bildhaft macht. Vorliegendes Kapitel wird die sonderbare Funktion des Gasthofs als
Kirche und Versteck weiter auseinandersetzen. Zuerst bleibt die Kammer, in der das
Muttergottesbild enthüllt wurde, immerhin ein religiöser Ort:
Jetzt hat er [Kristianpoller] sogar aus dieser Kammer eine Kapelle machen lassen.
Man liest hier am Sonntag die heilige Messe. Und es ist auch ein Geschäft dazu.
Denn die Bauern können gar nicht das Ende der Messe abwarten, um schnell in
die Schenke zu kommen. Wir haben viel zu tun. An Sonntagen verdienen wir
mehr als an den Tagen, wo Schweinemarkt ist!»253
Liegt hier eine Kritik am Glaubenserlebnis des Menschen, am Kapitalismus oder an
Beidem vor? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Aus dem Vorhergehenden
ergibt sich, dass die Forschung sich hinsichtlich Roths Kritik am Kapitalismus nicht
einig ist: Nach Matthias stellt Roth den Kapitalismus als Übel dar254
und Müller-Funk
zufolge steht der Schriftsteller dem Kapitalismus nur „vorsichtig ablehnend“255
gegenüber. Eggers, der zwar nicht explizit über den Kapitalismus redet, schreibt Roth
einen antimodernen Gedankengang zu, den er in Roths Vortrag „Glauben und
Fortschritt“ ausformuliert sieht:
252
Roth: Tarabas, S. 221. 253
Roth: Tarabas, S. 274. 254
Matthias: The hotel as setting, S. 130-132. 255
Müller-Funk: Joseph Roth, S. 17.
53
Der Begriff ‹Fortschritt› allein setzt bereits die Horizontale voraus. Er bedeutet
ein Weiterkommen und kein Höherkommen. Dies allein aber, das Höherkommen,
wäre würdig eines Versuchs, die Menschheit, wenn es überhaupt möglich ist, zu
erziehen.256
Die Frage, die sich in Bezug auf das Zitat aus Tarabas stellt, ist, ob Roth anhand des
„Geschäft[es]“ und der „Kapelle“ die Ablehnung des Weiterkommens und die
Bevorzugung des Höherkommens literarisiert. Meiner Meinung nach lässt sich im
Textabschnitt oberflächlich zwar eine Ablehnung des Kapitalismus erkennen, aber hat
die Ausbreitung der Kapelle mit einem Geschäft grundsätzlich eine andere Funktion.
Bildhaft wird gezeigt, wie der Gasthof ständig in Entwickelung ist und wie die Gäste
selber, die „schnell in die Schenke […] kommen“, auch in Bewegung sind. Man könnte
sogar behaupten, dass der Textabschnitt ein Plädoyer dafür ist, die Religion nicht in der
Messe, sondern in Bewegung zu erleben. Insoweit wird das Höherkommen gerade
durch das Weiterkommen des Geschäftes stimuliert und fallen die vertikale und
horizontale Linie zusammen. Demzufolge ist die Ausbreitung der Kapelle mit einem
Geschäft nicht so sehr als Ablehnung des Kapitalismus zu verstehen, sondern verstärkt
sie einerseits die Idee, die Religion in Bewegung zu erleben, und andererseits auch die
Polyfunktion des Gasthofs.
Auch nach der Schlächterei bewertet der Wirt Kristianpoller den Gasthof noch als
einen Zufluchtsort: „Manche kennen nämlich mein Versteck.“257
Das Versteck soll man
nicht im Sinne eines Bunkers gegen Gefahr verstehen, sondern als einen festen Halt
betrachten, insofern der Gasthof zum allgemein menschlichen Zufluchtsort wird. Diese
Funktion hat der Gasthof immer noch für Tarabas: „Noch eine Biegung – und schon
war die Mauer des Gasthofs ‹Zum weißen Adler› sichtbar. Tarabas gönnte sich eine
Rast. Zum erstenmal nach langer Zeit fühlte er den sommerlichen Frieden der Welt.“258
Aus dem Textabschnitt geht hervor, dass die Rückkehr zum Gasthof ein Gefühl von
Geborgenheit hervorruft. Es ist jedoch bemerkenswert, dass dieses Gefühl sich nicht
nach innen, sondern nach außen richtet, denn er fühlt „den sommerlichen Frieden der
Welt.“ Der Gasthof wird für Tarabas ein Ort, zu dem er nach einer langen Wanderung
wiederkehrt und Frieden findet, aber kein richtiges Zuhause: „‹Hast noch einen weiten
256
Joseph Roth: „Glauben und Fortschritt“. In: Joseph Roth Werke 3. Das journalistische Werk 1929-
1939. Hg. und mit einem Nachwort v. Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 700. 257
Roth: Tarabas, S. 244. 258
Roth: Tarabas, S. 274.
54
Weg?› fragte er [Fedja, der Stallknecht] ‹Nein›, sagte Tarabas, ‹Ich bin fast schon zu
Hause!›“259
Auf die Bedeutung von „zu Hause“ in diesem Zitat werde ich noch zu
sprechen kommen. Der Aufenthalt im Gasthof ist nicht das Endziel, aber jedenfalls ein
Schritt in die gute Richtung, denn Tarabas ist „fast zu Hause“ (cf. infra 4.4.3.2.). Die
Sonderposition des Gasthofs wird einerseits dadurch hervorgerufen, dass er sich
während der Schlächterei als unzerstörbar erwiesen hat. Andererseits stellt sich eine
Polyfunktion des Gasthofs heraus, wobei ungewöhnliche Funktionen nicht nur diachron,
sondern auch synchron verbunden sind. Das Sonderbare des Gasthofs weist aber
keinesfalls darauf hin, dass der Gasthof ein idealer Wohnort sei. Die Dynamik von
Öffnungen und Schließungen macht dagegen deutlich, dass der Gasthof ein Ort des
Übergangs bleibt.
4.2.2. Das Fenster und die andere Welt
Hartmann hat in Bezug auf das Hotelfeuilleton die Funktion des Fensters im
Hotelzimmer betont, das dem Hotelgast ermöglicht, mit der Welt verbunden zu bleiben.
Auch in Roths Romanen kommt das Fenster vielfach vor. Aus dem Vorhergehenden
ergibt sich, dass nicht nur Fenster, sondern auch Tore und Türen bildhaft die Spannung
zwischen Offenheit und Geschlossenheit verstärken. Jedoch erweist sich das Fenster bei
Roth als ein besonderes Motiv. Der Blick durchs Fenster bewirkt nicht nur eine
Verbindung mit der Welt, wie Mendels Annäherung an den Kapitalismus und die
Annäherung zwischen Kristianpoller und Tarabas, sondern lässt den Hotelgast sogar
mehr sehen, als tatsächlich da ist: Mendels
müdes Auge schweifte durchs Zimmer zum Fenster. Von seinem tiefgelagerten
Sofa aus konnte er einen vielgezackten wolkenlosen Ausschnitt des Himmels
sehen. […] Während sie sich langsam schlossen, nahmen seine Augen die ganze
blaue Heiterkeit des Himmels in den Schlaf hinüber und die Gesichter der neuen
Kinder. […] Und er ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Größe der
Wunder.260
Obwohl Mendel „von seinem tiefgelagerten Sofa aus“ nur in der Lage ist, einen
„Ausschnitt des Himmels“ zu sehen, gelingt es ihm, sich, nach einem Blick durchs
Fenster, „die ganze blaue Heiterkeit des Himmels“ vorzustellen. Der Kontakt mit dem
259
Roth: Tarabas, S. 275. 260
Roth: Hiob, S. 217.
55
Himmel nach dem Öffnen des Fensters des Gasthofs „Zum weißen Adler“ ‒ „[d]urch
das offene Fenster strömte das frühe und schon satte Blau des herbstlichen Himmels261
‒ führt auch in Tarabas zu einem Gedankengang über die Welt, der sich anhand eines
Irrealis ausdrückt: „Es war, als sollte in diesem Jahr überhaupt kein Winter
kommen.“262
Die Idee, dass sich durchs Hotelfenster eine andere Welt beobachten lässt,
lässt sich ebenfalls in Hotel Savoy erkennen:
In meinem Zimmer ist die Unrast, seitdem ich die Besucher Bloomfields
empfange. Unrast ist im ganzen Hotel, im Korridor und im Fünf-Uhr-Saal, und
eine kohlenstaubüberwehte Unrast herrscht in der Stadt. Wenn ich zum Fenster
hinausblicke [in den Hof], sehe ich ein Stück glücklich geretteter Ruhe. Die
Hühner schreien. Nur die Hühner.263
Den Hof, der zum Hotel Savoy gehört, betrachtet Gabriel als einen autonomen Teil, der
im Gegenteil zum Hotel und der Stadt, ruhig erscheint. Bemerkenswert ist, dass sowohl
Mendel als auch Gabriel aus dem Hotelfenster schauen, um die Ruhe in sich
aufzunehmen. Die Not beider Figuren, eine andere Welt zu sehen, lässt sich zweifach
interpretieren. Einerseits wird die Idee der Geborgenheit des Hotels in Hotel Savoy
unterminiert, denn „Unrast ist im ganzen Hotel“, einschließlich im privaten Zimmer; so
unterscheidet sich das Hotel vom Heim. Andererseits weisen beide Textaussagen darauf
hin, dass das Gefühl der Geborgenheit sich weder im Hotel, noch in der Welt, wie der
Mensch sie kennt, vorfindet. Über das Hotelfenster zeigt sich das Verlangen des
Menschen nach einer anderen Welt. Diese andere Welt erleben Mendel und Tarabas
nach dem Kontakt mit dem Himmel. Da das Verlangen nach Ruhe vertikalisiert wird,
liegt der Gedanke nahe, die andere Welt im Tod zu erkennen.
4.3. Mythologie vs. Realität
Mehrere Forscher heben in Bezug auf Roths Werke eine Mythisierung hervor, aber
deuten deren Funktion sehr unterschiedlich. Kaszyński hat die Mythisierung mit der
idealisierten Heimat verknüpft, bei der er eine Idealisierung herausgestellt hat, und die
er folglich als rückwärtsgewandte Utopie bestimmt hat (cf. supra 4.1.1.). Kaszyński
erkennt in Roths Romanen neben dem Heimatmythos auch den Mythos der Liebe und
261
Roth: Tarabas, S. 199. 262
Roth: Tarabas, S. 199. 263
Roth: Hotel Savoy, S. 881.
56
den Mythos des unabwendbaren Schicksals: Jener deutet auf die nicht realisierbare
Liebe, die Kaszyński in Roths Romanen thematisiert sieht und dieser auf die
unbegreifliche Kraft, die das Schicksal des Menschen vorbestimmt.264
So bestimmt
Kaszyński schließlich die Mythisierung als Wesenszug von Roths literarischen Werken,
durch den „seine Zeitromane zeitlos“265
wirken. Müller-Funk aber versteht die
Mythisierung nicht wie Kaszyński auf der Ebene von Roths Gesamtwerk, sondern im
Bereich des Raums: „Raum [bei Joseph Roth] setzt – entgegen aller
Entzauberungsabsicht – Magie und Mythos nicht außer Kraft. Er setzt messianische
Hoffnungen frei“.266
In diesem Zusammenhang betont Müller-Funk, dass New York
zugleich eine entzauberte und eine wunderbare Welt repräsentiert, denn die Metropole
bringt sowohl Amerika-Euphorie als auch Desillusion hervor.267
Interessant ist, dass
beide Forscher Mythisierung mit Idealisierung gleichsetzen, wobei Kaszyński mit
Heimat sowohl eine rückwärtsgewandte Idealisierung als auch mit dem unabwendbaren
Schicksal eine Idealisierung der Zukunft hervorhebt, während Müller-Funk nur die
Zukunft einbezieht. In den folgenden Kapiteln werde ich Müller-Funks Idee
weiterführen und begründen, wieso Roths Idealisierung sich nur auf die Zukunft
beziehen kann.
4.3.1. Mythische Anspielungen in Roths Romanen
Nicht nur Roths Idealisierung beschwört eine Mythisierung herauf, sondern auch die
expliziten Anspielungen auf die Mythologie. Wir haben festgestellt, dass die
Metamorphosen, die der Gasthof „Zum weißen Adler“ durchgemacht hat, die
Polyfunktion des Gasthofs hervorheben und in dieser Hinsicht auch den Ort als
264
Kaszyński: Die Mythisierung der Wirklichkeit, S. 140-141. 265
Kaszyński: Die Mythisierung der Wirklichkeit, S. 142; „[Z]eitlos“ ist bei Joseph Roth, was seine
Beziehung zu der Neuen Sachlichkeit betrifft, ein aufgeladener Begriff: Becker hält„am
Realismuskonzept der Neuen Sachlichkeit [wie] an der Forderung einer zeitgebundenen Literatur“ fest.
Diese Entscheidung begründet sie mit dem Argument, dass auch für Joseph Roth – der sich dennoch 1929
in seinem Aufsatz „Schluss mit der Neuen Sachlichkeit“ von dieser Strömung abwendet – die
Wirklichkeit „immer sein Material [bleibe]“ . (vgl. Sabine Becker: Neue Sachlichkeit. Band 1: Die
Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920-1933). Köln: Böhlau Verlag 2000, S. 153; vgl. dazu auch
mein Bachelorpaper, Liesbeth Dermaux: „‘Nicht so – aber so – vielleicht auch doch so“. Eine Analyse
der Widersprüche und des Wirklichkeitsbezugs in Keuns Das kunstseidene Mädchen“. Gent: s. n. 2012, S.
6-7). 266
Müller-Funk: Joseph Roth, S. 58. 267
Müller-Funk: Joseph Roth, S. 58-59.
57
Übergang verstärken (cf. supra 4.2.1.3.). Im Rahmen der Mythologie bekommen die
Metamorphosen aber eine zusätzliche Bedeutung, denn durch die Fähigkeit des Gottes,
eine Sache oder eine Person zu verwandeln, wird einerseits die Macht des Gottes betont,
andererseits dienen die Metamorphosen dazu, die Sachverhalte der Welt zu erklären.
Dadurch, dass Roth die Metamorphosen des Gasthofs mit einer Tendenz zu
Weiterentwicklung verknüpft, unterminiert er keineswegs die Macht des Gottes,
sondern die erklärende Funktion hinsichtlich der Sachverhalte der Welt, denn er zeigt,
was diese Sachverhalte nicht sind: ewig. Die Metamorphose des Gasthofs und ihre
Tendenz zu Weiterentwicklung deuten darauf hin, dass der Wohnort des Menschen nur
zeitlich beschränkt bzw. irdisch ist.
Die Hybris oder der Hochmut, ein weiteres mythologisches Motiv, das Roth
aufgreift, lässt sich bei diesem Gedankengang verbinden. Eggers findet dieses Motiv in
Der Antichrist und Tarabas vor: „Zum mythischen Herrscher stilisiert, wird Tarabas in
der Demontage zu einem Exempel für die Armseligkeit ‹irdischer› Macht.“268
Das
Motiv der Hybris findet sich, wenn auch unterschiedlich, ebenfalls in Hiob und Hotel
Savoy. In Hiob stellt Mendel Singer weniger die Macht Gottes, viel eher seine Güte in
Frage. Seine Glaubenskrise führt schließlich dazu, dass er nicht mehr beten will. Hotel
Savoy hat auf den ersten Blick weniger die Beziehung zwischen Mensch und Gott zum
Thema. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass Anspielungen da sind. So weist Ignatz,
der Liftknabe, götterähnliche Merkmale auf. Der Liftknabe hat die Aufgabe, die Gäste
vom Erdgeschoss in die Höhe zu führen, und fungiert insoweit in übertragenem Sinne
als ein Vermittler zwischen dem Irdischen und dem Himmel. Ignatz führt die Gäste
nicht nur in vertikale Richtung, sondern behält mit seinem „Kontrollblick“269
auch zu
jeder Zeit die Übersicht. Die Heimlichkeit und Macht Ignatz‘ werden am Ende der
Geschichte noch mal unterstrichen, denn es stellt sich heraus, dass Ignatz im ganzen
Roman eine Doppelrolle gespielt hat: Er ist sowohl Liftknabe als auch der bis dahin
unsichtbare Hotelwirt Kaleguropulos. Eine Person mit einer solchen mächtigen
Funktion sollte sich vor Hybris hüten. Ignatz/Kaleguropulos missbraucht aber seine
Macht, denn er verpfändet die Koffer der Gäste im Tausch für Geld. Somit zeigt er sich
als kapitalistischer Herrscher, der die Grenzen überschreitet, und wird wegen Hybris
bestraft:
268
Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 117. 269
Roth: Hotel Savoy, S. 828.
58
In diesem Augenblick geht oben die Dachluke auf und Ignatz erscheint, der alte
Liftknabe. Hat ihn heute sein Fahrstuhl so hoch hinaufgeführt? ‹Das Hotel
brennt›, schreit Ignatz. ‹Kommen Sie doch herunter›, ruft der Direktor. Da bricht
eine helle Stichflamme aus der Dachluke, Ignatz‘ Kopf verschwindet.270
Am Tag seines Todes ist Ignatz symbolisch zu hoch gefahren. Die Warnung, dass der
Mensch nicht zu nah zu Gott kommen darf, weil er sonst brennen würde, ruft die
mythologische Geschichte von Ikarus wach, dessen wächserne Flügel durch die
Sonnenhitze schmelzen.271
Die Figur Ignatz/Kaleguropulos werde ich später aber
gründlicher analysieren. Es wird sich zeigen, dass sein Tod nicht nur das Hybrismotiv
hervorruft (cf. infra 4.4.3.1.).
In Der Antichrist wird die Hybris nicht einer Figur, sondern der Moderne zugemessen:
Wie aber haben wir also unsere Vernunft mißbrauchen können? Und wie kam
es, daß sie, die doch ein Geschenk Gottes war, wie gesagt: das einzige und letzte
Andenken an das verlorene Paradies, uns zur Torheit und zum lasterhaften
Hochmut und zu frevlerischen und falschen Einsichten geführt hat?272
Der moderne Mensch lässt sich auf Industrie und Technik ein, benützt in diesem
Zusammenhang die Vernunft falsch und verliert hierbei Gott aus dem Blick. Die Hybris
wird so zum Merkmal der Moderne. Anhand der mythologischen Motive
᾽Metamorphose᾽ und ᾽Hybris᾽ macht Roth die Beziehung zwischen Mensch und Gott
zum Thema und stellt die moderne Distanzierung des Menschen Gott gegenüber in
Frage.
Daneben erhebt sich auch die Frage, ob Roth mit dem Motiv der Heimkehr, das
sich sowohl in Tarabas, Hiob und Hotel Savoy findet, auf den berühmtesten
Heimkehrer der Mythologie, Odysseus, verweist. Die Parallelen zwischen Roths
Romane und der Odyssee stellen sich nicht nur hinsichtlich des Heimkehrermotivs,
sondern auch spezifischer, wie Eva Raffel bemerkt, in Bezug auf die
Bewegungsrichtung heraus, denn sowohl Roths Figuren als auch Odysseus ziehen vom
Osten in Richtung Westen heim.273
Einen expliziten Hinweis auf Odysseus sehe ich,
wie Raffel, in folgendem Zitat aus Hotel Savoy: „Seine Frau schläft mit einem andern,
den Totgeglaubten erkennen seine Kinder nicht mehr – er ist ein anderer geworden, und
270
Roth: Tarabas, S. 888. 271
Publius Naso Ovidius: Metamorphosen. Vertaald en toegelicht door M. D’Hane-Scheltema.
Amsterdam: Athenaeum 2011, S. 181. 272
Roth: Der Antichrist, S. 23. 273
Raffel: Vertraute Fremde, S. 130.
59
der Hund nur kennt ihn, ein Hund, ein Heimatloser.“274
Denn Odysseus wird, wenn er
zu Hause anlangt, nur von seinem Hund Argos erkannt.275
Eine weitere Parallele
zwischen der Odyssee und Roths Romanen liegt in der Thematisierung des
Spannungsverhältnisses zwischen dem Menschen und Gott, was sich anhand des Motivs
der Hybris veranschaulicht. Der größte Unterschied zwischen der Odyssee von Homer
und Roths Heimkehrern besteht nach Raffel darin, dass Odysseus in Ithaka erwartet
wird, während Roths Figuren nirgendwo erwartet werden.276
Diese Beobachtung ist
zwar korrekt, soll aber weitergeführt werden. Die Hindernisse, denen Odysseus
unterwegs begegnet, sind deutlich negativ geprägt: Er soll sie überwinden, um weiter zu
kommen. Das Hotel Savoy bei Roth hat sich als Hindernis aber viel ambivalenter
erwiesen, denn es ist eine gewollte Barriere, was heißt, dass die Figuren nicht
heimkehren wollen. Das Motiv der Heimkehr und der explizite Hinweis auf Odysseus
zeigt weniger, dass Roths Figuren im Gegensatz zu Odysseus nirgendwo erwartet
werden. Vielmehr macht Roth deutlich, dass die Richtungen der Bewegung
unterschiedlich sind. Oberflächlich laufen die Bewegungen zwar parallel, vom Osten in
Richtung Westen, aber grundsätzlich handelt die Odyssee von einer Rückkehr zur
Heimat Ithaka, während Roths Romane trotz des Heimkehrersmotivs auf eine
vorwärtsstrebende Bewegung zielen.
Das Verlangen der Rothschen Figuren nach einer Heimat wird zwar beschrieben,
aber in Tarabas überwiegt, genau wie in Hotel Savoy, die Angst heimzukehren.277
Die
vorwärtsstrebende Bewegung ist auf den ersten Blick nicht in Hiob vorhanden, denn
Mendel Singer leitet an einer Heimkehrobsession, weil er meint, dass das neue
Vaterland, Amerika, ihm seine Geliebten abgenommen habe. Für seine Qualen gibt er
schließlich Gott die Schuld; Mendel verliert seinen Glauben. Bedeutungsvoll ist, dass
Menuchim, die Personifikation der Heimat, sich als ein Messias wieder kenntlich
macht: „Ich selbst bin Menuchim“.278
Dadurch, dass Mendel selbst nicht wieder in die
Heimat zieht, sondern die Heimat in der Gestalt Menuchims zu ihm kommt, stellt Roth
274
Roth: Hotel Savoy, S. 883. 275
Homer: Odyssee. Übersetzt v. Johann Heinrich Voß. Frankfurt am Main: Insel 1990, 17. Gesang,
Verse 290- 328. 276
Raffel: Vertraute Fremde, S. 130. 277
Vergleich hierzu: „Er war oft auf seinen Wanderungen in die Nähe seines Dorfes gekommen, aber er
hatte es in großen Bogen umgangen. Noch war er nicht gerüstet genug; denn man muß gerüstet sein, um
die Heimat wiederzusehn.“ (Roth: Tarabas, S. 263). 278
Roth: Hiob, S. 206.
60
die Macht Gottes über die Macht der Heimat. Das Verlangen nach Heimat und die
fehlenden Versuche der Figuren, heimzukehren, wurden in der Forschung häufig
fehlerhaft als Idealisierung des Heimatbegriffs gedeutet. Die Anspielungen auf die
Mythologie zeigen schon, dass Heimat sich bei Roth nicht unbedingt mit Territorium
verbinden lässt.
4.3.2. Aufklärung
In Der Antichrist problematisiert Roth das falsche Gefühl des Menschen, aufgeklärt zu
sein: „[U]nsere Blindheit ist […] [e]ine höllische Blindheit: denn obwohl wir geblendet
sind, glauben wir zu sehen.“279
Jedoch widersetzt sich Roth der Idee der Aufklärung
nicht. So weicht er dem Sehensmotiv keinesfalls aus, denn seine Figuren schauen häufig
durchs Fenster, um eine Verbindung mit der Welt herzustellen. Nach Immanuel Kant
fordert die Aufklärung eine Bewegungstendenz: „Aufklärung ist der Ausgang des
Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“280
Aus dem Vorhergehenden
ergab sich, dass die Tendenz zur Bewegung in Roths Romanen weitgehend vorhanden
ist, bei der die Gasthäuser eine textorganisierende Rolle erfüllen. Somit zeigt sich, dass
Roth in seinen Romanen auf zwei wichtige Aufklärungsmotive, das Sehen und die
Bewegung, zurückgreift, aber gleichzeitig Kritik an der Aufklärung übt. Meiner
Meinung nach schleicht zu diesem Zweck der Mythos in Roths Werken ein. Dabei
literarisiert Roth einen Gedanken, den Max Horkheimers und Theodor W. Adornos
später wie folgt formulieren: „Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung
schlägt in Mythologie zurück“.281
Die „höllische Blindheit“, von der Roth in Der Antichrist spricht, lässt sich beim
General Lakubeit in Tarabas erkennen: „Die meisten glaubten an den Teufel. Und sie,
wie ihr Oberst Tarabas, glaubten auch, kleine Höllenfeuerchen in den Äuglein
Lakubeits glimmen zu sehn.“282
Anhand des Vergleichs mit dem Teufel wird der
General radikal Gott gegenübergestellt. Die Macht Lakubeits, „eines schwächlichen
279
Roth: Der Antichrist, S. 12. 280
Immanuel Kant: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“. In: Immanuel Kant, Werke in zwölf
Bänden. Band XI. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 53
(Hervorhebung von Kant). 281
Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente.
Frankfurt a. M.: Fischer, 1977 (Erstausgabe New York 1944), S. 5. 282
Roth: Tarabas, S. 192.
61
kleinen Mannes“283
, hat offensichtlich keinen physischen, sondern einen intellektuellen
Ursprung, denn „[i]m Krieg war […] er Auditor, kein Krieger.284
Das Intellektuelle wird
aber negativ konnotiert, denn Tarabas bestimmt Lakubeit als „Oberst der gefährlichen
papierenen Teufel“.285
Anhand der Figur Lakubeit wird nach Eggers „das bekannte
Paradox, wonach Aufklärung sich gegen sich selbst wenden kann“286
, literarisiert. So
meint Eggers, dass die Entscheidung Lakubeit, der Mannschaft Alkohol zu geben, um
diese gefügig zu stimmen, an sich vernünftig ist, aber paradoxerweise eine irrationale
Schlächterei mit sich bringt.287
Daraus scheint hervorzugehen, dass Roth die Vernunft in
Frage stellt. Jedoch soll dieser Gedanke nuanciert werden, so meint auch Eggers, denn
die Vernunft Kristianpollers wird anders als die von Lakubeit bewertet.288
Obwohl
Tarabas nach dem Tod seines treuen Feldwebels Konzew meint, dieser sei „für diesen
unverletzlichen, teuflischen Kristianpoller gestorben“289
, macht Kristianpoller selber
unmittelbar deutlich, dass Tarabas bei dieser Äußerung verwirrt ist: „Tee klärt die
Verworrenen, und Klarheit ist den Vernünftigen nicht gefährlich.“290
Aus dieser
Aussage spricht keine Ablehnung, sondern eine Wertschätzung der Vernunft. Nicht nur
Kristianpoller selber bewertet die Vernunft, sondern sie wird ihm vom Erzähler explizit
im Schlusssatz zugeschrieben: „Er ist ein kluger Mann.“291
Eggers hat vollkommen recht, wenn er meint, dass die unterschiedliche
Bewertung der Vernunft von Lakubeit und Kristianpoller auf eine „Dichotomie
zwischen ‹Gläubigen› und ‹Ungläubigen›“292
stützt. Der Jude Kristianpoller erscheint
als sehr gottesfürchtig293
, während Lakubeit nie mit Gott in Verbindung gebracht wird.
Der Kontrast zwischen Lakubeit und Kristianpoller zeigt sich meines Erachtens am
Deutlichsten bei der Bewertung von Tarabas‘ Leben. Die praktische Vernunft Lakubeits
führt zu folgender Aussage: „Für unsere neue Armee, Ihren alten Vater, für die Welt
283
Roth: Tarabas, S. 224. 284
Roth: Tarabas, S. 193; “Auditor” soll man in diesem Kontext als Vorsitzender eines militärischen
Gerichtes verstehen. 285
Roth: Tarabas, S. 190. 286
Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 118. 287
Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 119. 288
Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 285. 289
Roth: Tarabas, S. 225. 290
Roth: Tarabas, S. 225. 291
Roth: Tarabas, S. 285. 292
Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 118. 293
Vergleiche hierzu „Der Jude Kristianpoller lobte die Wunder Gottes. Groß war Er in all Seiner
Unverständlichkeit, sehr groß in Seiner unerforschlichen Güte.“ (Roth: Tarabas, S. 203).
62
sind Sie tot und vergessen.“294
Obwohl Lakubeit mit dieser Aussage Tarabas keinesfalls
grob behandeln, sondern ihm im Gegenteil mitteilen möchte, dass er keine Probleme
bzw. indiskrete Fragen bekommen wird, impliziert Lakubeits Aussage jedoch eine
Gleichgültigkeit dem Leben Tarabas‘ gegenüber. Ganz anders handelt Kristianpoller,
denn er hält die Erinnerung an die Lebensgeschichte Tarabas‘ bewusst wach:
Die Menschen vergessen. Sie vergessen die Angst, den Schrecken, sie wollen
leben, sie gewöhnen sich an alles, sie wollen leben! Das ist ganz einfach! Sie
vergessen auch das Wunderbare, sie vergessen das Außerordentliche sogar
schneller als das Gewöhnliche!295
Kristianpoller, der meint, dass man den Menschen nicht vergessen darf, der Mensch
selber auch nicht vergessen sollte, vertritt mit dieser Meinung die religiöse Tradition,
die Christus im bleibenden Andenken behält. Sowohl im zitierten Textabschnitt als auch
in Hiob fällt die Betonung des Wunderbaren am Ende der Geschichte auf. Das Wunder
bei Roth vereint Mythos und Glauben und fungiert als eine Reaktion gegen den Logos,
wie er von Lakubeit vertreten wird.
Es hat sich somit gezeigt, dass Aufklärung für Roth weniger um die traditionelle
Spannung zwischen Mythos und Logos, viel eher um die Spannung zwischen Gläubigen
und Ungläubigen geht. Wo Horkheimer und Adorno den Mythos revalorisieren, um vor
einer in der Wahrheit erstarrenden Aufklärung zu warnen, möchte Roth mit dem
Mythos den Menschen auf eine andere Wahrheit lenken: Gott. Wenn Gott das Licht für
den Menschen bedeutet, lässt sich schließen, dass Roth das Konzept der Aufklärung
radikal umgedeutet hat.
4.3.3. Mythos und Realität im Raum
4.3.3.1. Das Vaterland Amerika
Inwieweit unterstützen Roths inszenierte Räume die Analyse der Figuren bezüglich
Mythos und Realität? Wie bereits gesagt, ist nach Müller-Funk im Bereich des Raums
die Stadt New York das Beispiel schlechthin, das sowohl die Absicht aufweist zu
entzaubern als auch den Mythos hervorhebt. Die Frage aber, wie beide – Entzauberung
294
Roth: Tarabas, S. 262. 295
Roth: Tarabas, S. 285.
63
und Mythos – zueinander in Verbindung stehen, kann meiner Meinung nach nicht
unterbleiben.
Anhand der Figur Zwonimir thematisiert Hotel Savoy die Amerikaobsession:
Er liebte Amerika. Wenn eine Menage gut war, sagte er: Amerika! Wenn eine
Stellung schön ausgebaut war, sagte er: Amerika! Von einem ‹feinen›
Oberleutnant sagte er: Amerika. Und weil ich gut schoß, nannte er meine
Treffer: Amerika.296
Amerika ist für Zwonimir keine Realität, sondern eine Idee. Dennoch stellt er Amerika
als eine Utopie dar, wobei er auf die von More unterschiedene Hauptbedeutung der
Utopie als Nicht-Ort verzichtet: Amerika ist ein real existierendes Land, das er
unmittelbar mit dem Guten verbindet. So zeigt sich, dass Zwonimir die Utopie Amerika
nicht im Sinne einer ou-topia, eines Nicht-Ortes, sondern einer eu-topia, eines guten
Ortes versteht (cf. supra 4.1.1.). Der Textabschnitt macht aber deutlich, wie absurd die
Gleichschaltung von Gut und Amerika wirkt. Insoweit ruft die einseitige und absurde
Betonung der eu-topia gerade von Anfang an die ou-topia hervor: Ein solcher Ort kann
nicht existieren. So lässt sich vermuten, dass die Erwähnung Amerikas in Hotel Savoy,
nicht auf Mythenbildung, sondern auf Entzauberung zielt.
Es wird sich jedoch erweisen, dass die Amerikadarstellung in Hiob komplexer
als in Hotel Savoy ist. Das folgende Zitat zeigt deutlich, wie der mythische Charakter
zunächst vielfach heraufbeschworen wird: „Man hatte ihm gesagt, daß Amerika God's
own country hieß, daß es das Land Gottes war, wie einmal Palästina, und New York
eigentlich the wonder city, die Stadt der Wunder, wie einmal Jerusalem.“297
Zuerst
wird, wie aus der deutschen Übersetzung hervorgeht, die Sprache dieses Landes
rätselhaft dargestellt. Zweitens setzen die Konstruktionen „[M]an hatte ihm gesagt“ und
„wie einmal“ weniger ein Erlebnis, sondern eher eine Erzählung voraus. Darüber hinaus
löst der Aufbau des Satzes die Möglichkeit, den Traum Amerikas zu erleben, auf. Die
parallelen Beschreibungen des Landes Amerika und der Stadt New York steuern
zweimal auf einem Vergleich zu, bei dem Palästina und Jerusalem nicht nur Utopie,
sondern schon verloren gegangene Utopien repräsentieren. In diesem Zusammenhang
296
Roth: Hotel Savoy, S. 841. 297
Roth: Hiob, S. 123.
64
bemerkt Bronsen treffend: „der Leser spürt, dass in Mendel Singers New York keine
weiteren Wunder zur Aufrechterhaltung der ostjüdischen Tradition erfolgen werden.298
So kann Müller-Funks Behauptung, New York setze messianische Hoffnungen
frei, nicht überzeugen. Es hat sich stattdessen gezeigt, dass die Aussagen über Amerika
in Hiob, wie in Hotel Savoy, als Mythos gekleidet, schon im Voraus darauf angelegt
sind, Amerika zu entzaubern. Zu dieser Feststellung muss man jedoch einschränkend
bemerken, dass, anders als in Hotel Savoy, die Darstellung Amerikas in Hiob von der
Perspektive, aus der sie betrachtet wird, abhängig ist. Nach Sidney Rosenfeld reißt der
unterschiedliche Blick auf Amerika bei Mendel Singer und seinem Sohn Schemerjah
„die für das Bewußtsein des traditionsgebunden Ostjuden untentbehrliche Kette der
Generationen.“299
Mendel Singer erweist sich als die Figur, die Amerika entzaubern
möchte. Er bringt seinen Eindruck des Landes nach dem Tod seiner Frau Deborah und
seines Sohnes Sam, wie folgt zum Ausdruck: „Amerika ist ein Vaterland, aber ein
tödliches Vaterland. Was bei uns Tag war, ist hier Nacht. Was bei uns Leben war, ist
hier Tod.“300
Es zeigt sich, dass der Traum Amerikas sich in einen Albtraum, der
Realität geworden ist, umgewandelt hat. Mendel macht Amerika für den Tod seines
Sohnes verantwortlich, dessen vorbehaltslose Amerikabegeisterung ihn in den Krieg
geführt hat. Die Aussage fungiert als Reaktion auf eine frühere Aussage, die zur
Argumentation der Teilnahme Sams am amerikanischen Kriegs gedient hat: „Amerika
ist nicht Rußland. Amerika ist ein Vaterland.“301
Sam/Schemerjah hat in Russland
immer auf der Meinung beharrt hat, er wolle Kaufmann und kein Soldat werden und
stand mit diesem Lebensziel seinem Bruder Jonas gegenüber:
‹Ich [Schemerjah] könnte ein Kaufmann werden und in die Welt gehen!›, ‹Die
Soldaten sind auch Welt, und ich kann kein Kaufmann sein›, meinte Jonas. […]
Ich kann ein Soldat sein und die Welt sehn. Ich möchte ein Bauer sein. Das sag'
ich dir - und ich bin nicht betrunken...›.302
Aus der Formulierung Schemerjahs hinsichtlich der geplanten Kriegsteilnahme geht
hervor, dass sein früherer Widerstand gegen das Soldatenleben in Amerika nicht mehr
gilt. Jonas gibt zu erkennen, dass – trotz seines Wunsches, Bauer zu werden – das 298
Bronsen, David: „Vorwort des Herausgebers: Joseph Roth und die Tradition“. In: Joseph Roth und die
Tradition. Hg. v. David Bronsen. Darmstadt: Agora 1975 , S. XIV. 299
Sidney Rosenfeld: „Glaube und Heimat im Bild des Raumes“ in: The Journal of English and
Germanic Philology 66:4 (Oktober 1967), S. 496. 300
Roth: Hiob, S. 154. 301
Roth: Hiob, S. 146. 302
Roth: Hiob, S. 37-38.
65
Leben als Soldat ihm die einzige Möglichkeit verschafft, in die Welt zu gehen.
Schemerjah aber war es mit dem Umzug nach Amerika schon gelungen, in die Welt zu
gehen. Was bringt ihn jetzt so weit, noch mal in die Welt zu gehen? Nach Mendel hat
Amerika Schuld. Ich aber glaube, dass die Antwort komplexer ist, und in diesem
Zusammenhang möchte ich das Spiel der Oppositionen in den zitierten Textabschnitten
unterstreichen. Zuerst scheint die Entscheidung der Brüder, Soldat zu werden, mehrere
Oppositionen aufzuheben. Wenn Jonas anfangs sagt, er möchte Bauer werden, bringt
diese Entscheidung die Konnotationen ᾽Sesshaftigkeit᾽, ᾽Verwurzelung᾽ und ᾽Heim᾽ mit
sich. Obwohl das Leben als Soldat der Lebensweise der Bauern gegenübersteht, glaubt
Jonas, er könne beide vereinen. So scheint er Heim und Welt zusammenzubringen.
Auch die Opposition zwischen Kaufmann und Soldat, die den Bruch zwischen den
Brüdern kennzeichnet, löst sich auf, wenn Schemerjah in Amerika beide Berufe
ausführt. Es scheint mir aber fragwürdig zu sein, dass die Absicht des Textes darin
besteht, anhand der Entscheidung der Brüder – und die soeben illustrierte Aufhebung
der Oppositionen – zu begründen, dass das Leben als Soldat der richtige Weg ist, um in
die Welt zu gehen. Das Soldatenleben hebt keinesfalls alle Oppositionen auf. Der Soldat
bevorzugt nicht das eigene Ideal, sondern bekämpft lieber dasjenige, das dem eigenen
Ideal gegenübersteht. Insoweit findet anhand der Entscheidung der Brüder, Soldat zu
werden, nicht eine Annäherung zwischen Heim und Welt statt, sondern wird erneut die
gesteigerte Spannung zwischen Heim und Welt thematisiert. Um diese These zu
belegen, greife ich auf die oben schon erwähnten Zitate, die Amerika als Vaterland
unterschiedlich ausdrücken, zurück: „Amerika ist nicht Rußland. Amerika ist ein
Vaterland.“ Diese Textstelle lässt deutlich erkennen, dass die Argumentation
Schemerjahs, in den Krieg zu gehen, auf einer Opposition basiert, die ihre Kraft nur aus
der Gegenüberstellung holt. Die Aussage sagt nicht viel mehr, als dass Russland für
Schemerjah kein Vaterland ist. Die Beschreibung Amerikas anhand der Opposition
kommt auch im folgenden Zitat zum Ausdruck: „Amerika ist ein Vaterland, aber ein
tödliches Vaterland. Was bei uns Tag war, ist hier Nacht. Was bei uns Leben war, ist
hier Tod.“ Es zeigt sich, dass Amerika erst durch die Gegenüberstellung „bei uns“ seine
Bedeutung bekommt. Auffallend ist, dass statt Russland „bei uns“ die Opposition zu
Amerika bildet. Diese Beobachtung gibt Anlass dazu, die Räume Amerika und
Russland in einem allgemeinen Rahmen zu interpretieren: Amerika ist das Andere,
66
während „bei uns“ auf das Eigene zielt. Das Andere verstehe ich als die Welt und das
Eigene als das Heim. Wo Bronsen und Rosenfeld die Darstellung Amerikas unmittelbar
– und nur – mit der problematisierten ostjüdischen Tradition verbinden, legt meine
Analyse eine allgemeine Spannung zwischen Heim und Welt frei. Aus dem
Perspektivenwechsel zwischen Mendel und Schemerjah, Jonas und Schemerjah und
dem Spiel mit Oppositionen, wird zwar die Spannung zwischen Heim und Welt
thematisiert, jedoch nicht gelöst. Die Wirkung der Opposition Tag/Nacht und
Leben/Tod soll in dieser Hinsicht Vieles aufklären (cf. infra 4.4.1.).
So lässt sich festhalten, dass Roths Romane hinsichtlich Amerika nicht die
Absicht haben, messianische Hoffnungen freizusetzen, sondern im Gegenteil, diese
Hoffnungen zu entlarven. Zwonimir radikalisiert in Hotel Savoy den Mythos Amerika
so stark, dass von Anfang an deutlich wird, dass dieses Land nicht existieren kann. Hiob
dekonstruiert den Mythos Amerika anhand ihrer Gegenüberstellung mit einem anderen
Mythos, Russland, der durch die unmittelbare Konfrontation ebenfalls entlarvt wird.
Amerika wird erst das Vaterland, wenn Russland das nicht mehr ist, und umgekehrt. Es
hat sich gezeigt, dass diese Räume die Spannung zwischen Heim und Welt, nicht die
Spannung zwischen Wunder und Realität, veranschaulichen. Ich bin aber davon
überzeugt, dass andere Räume bei Roth schon messianische Hoffnungen freisetzen.
Dies wird eine Analyse der Gasthäuser darlegen.
4.3.3.2. Mythos und Realität im Gasthaus
4.3.3.2.1. Die Rolle des Spiegels
Roth hebt die mythischen Anspielungen im Bereich der Gasthäuser bewusst hervor und
hegt sie auch: das werde ich in diesem Kapitel mit Argumenten belegen. Zuerst aber
werde ich zeigen, wie der Spiegel im Gasthaus an sich schon die Spannung zwischen
Mythos und Realität heraufbeschwört. Als Anlass zu dieser Behauptung dient Foucault,
der den Spiegel zwischen Utopie und Heterotopie situiert:
Der Spiegel funktioniert als eine Heterotopie in dem Sinn, daß er den Platz, den
ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit
dem ganzen Umraum verbindet, und daß er ihn zugleich ganz unwirklich macht,
da er nur über den virtuellen Punkt dort wahrzunehmen ist. 303
303
Foucault: Andere Räume, S. 39.
67
Amthor geht davon aus, dass der Spiegel in Roths Werken eine wesentliche Bedeutung
hat, die sie auf zweierlei Weise versteht. Erstens analysiert sie den Spiegel im Werk
Das Wartezimmer und gelangt zur Schlussfolgerung, dass Roth anhand der
Beschreibung des Spiegels Kritik an dem Vorzimmer übt, das er als Machtbestätigung
der Reichen sieht.304
Zweitens hat nach Amthor der Spiegel die Funktion einer
„Vervielfachung von Raum und Körper“.305
Amthor, die in Bezug auf das Hotel Savoy
die Polyphonie der Räume hervorhebt, vernachlässigt aber, die Funktion des Spiegels in
anderen Gasthäusern zu untersuchen. Dies scheint mir aber notwendig zu sein.
So deckt der Spiegel die Dynamik der Beziehungen zwischen Roths Figuren in
den Gasthäusern auf. Das folgende Zitat zeigt, wie Stasia, in die Gabriel Dan sich
verliebt, ihre Beziehung zu Männern über den Spiegel erlebt: „Vor dem Spiegel
entdeckt sie einen Blumenstrauß, Nelken und Sommerblumen. ‹Die Blumen sind von
Alexander Böhlaug›, sagt sie, ‹aber ich schicke niemals Blumen zurück. Was können
sie dafür?›“306
Der Spiegel macht in diesem Textabschnitt die Distanz zwischen
Alexander und Stasia deutlich, denn sie nimmt sein Geschenk nicht real, sondern nur
über einen virtuellen Punkt wahr. Interessant ist, dass sich Stasia im Moment der
Wahrnehmung bei Gabriel Dan befindet, der zu dieser Zeit eine echte – aber
unausgesprochene – Beziehung zu ihr hat. Das Dreiecksverhältnis, das der Spiegel
inszeniert, wird sich am Ende der Geschichte aber anders als erwartet herausstellen. Die
echten Gefühle von Stasia und Gabriel Dan füreinander, die sowohl aus der Handlung
Stasias als auch aus der Träumerei Gabriel Dans hervorgehen, werden nie
ausgesprochen. Stasia fängt schließlich eine lieblose Beziehung mit seinem reichen
Vetter, Alexander Böhlaug, an.307
Folgendes Zitat bestätigt die Idee, dass der Spiegel im
Hotel Savoy distanzierend wirkt:
304
Amthor: An den Toren Europas, S. 124-125. 305
Amthor: An den Toren Europas, S.128; Amthor belegt ihre These mit folgendem Zitat: “Von allen
Wänden strahlten breite Spiegel die verschwenderischen Reihen der Lämpchen an der Saaldecke wider,
machten zwanzig Räume aus einem Raum, verhundertfachten die Tänzerinnen.“ (Joseph Roth: „Der
Stumme Prophet”. In: Joseph Roth Werke 4. Romane und Erzählungen 1916-1929. Hg. und mit einem
Nachwort v. Fritz Hackert. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 918.) 306
Roth: Hotel Savoy, S. 817. 307
Roth: Hotel Savoy, S. 880.
68
Ich muß Santschin ein Glas Wasser geben; er befeuchtet sein Gesicht, zieht
einen Taschenspiegel aus der Hose, hält ihn vor sich in der Linken, verzieht den
Mund, streckt die Zunge hinter die rechte Backe, daß sich die Haut strafft, und
rasiert sich ohne Seife. Er kratzt sich nur einmal – ‹weil Sie mir zusehn›, sagt er,
und ich sehe beschämt in irgendeine Ecke.308
Aus dem Textabschnitt geht hervor, dass Santschin, der durch seinen Beruf als Clown
gewohnt ist, eine Maske aufzusetzen, es auch im sogenannten realen Leben bevorzugt,
sein Ich nicht zu enthüllen. Wenn er sich im Spiegel anschaut und sich damit seiner
Identität versichert, will er nicht, dass Gabriel Dan mitschaut. Dadurch, dass Gabriel
Dan „in irgendeine Ecke“ wegschaut und so auf die Grenzen des Raums stößt, wird das
Räumliche im Textabschnitt hervorgehoben. So lässt sich auch vermuten, dass
Santschin, wenn er in den Spiegel sieht, nicht nur den Blick auf sich selbst, sondern
auch auf den Raum, in dem er sich befindet, richtet. Die Beschreibung des Korridors
neben Santschins Zimmer, früher im Text, bestätigt diesen Gedankengang:
Hier ist der Plafond abschüssig und hängt so tief, daß man fürchtet, gegen ihn zu
stoßen. In Wirklichkeit aber erreicht man ihn noch lange nicht – er scheint nur so
bedrohlich. Überhaupt verringern sich in dieser Ecke alle Dimensionen, das
kommt von dem grauen Dunst der Waschküche, der die Augen betäubt,
Distanzen verkleinert, die Mauer anschwellen läßt […] [a]uch in Santschins
Zimmer ist Dunst [...].309
Die Raumbeschreibung erzeugt eine Spannung zwischen Mythos und Realität. Es zeigt
sich, wie schwierig man sich in Santschins Zimmer und Umgebung orientieren kann.
Wenn Santschin sich im Spiegel anschaut, um sich zu orientieren, sieht er sich aber –
Im Sinne Foucaults Definition der Utopie Spiegel – nicht, wo er wirklich ist. Die
Tatsache, dass Santschin ein Sterbender ist, verstärkt die Spannung zwischen Sein und
Nichtsein. Der Spiegel hebt nicht nur ein Orientierungsproblem, sondern, wie sich bei
Stasia und Santschin herausstellt, auch ein Verbindungsproblem hervor, denn im Hotel
Savoy entstehen keine richtigen Beziehungen. In dieser Hinsicht ergibt sich das Hotel
Savoy als ein unwirklicher Raum.
In Tarabas fungiert der Spiegel ebenfalls als Mittel der Selbstidentifikation. Es
wird sich jedoch zeigen, dass der Spiegel mehr als in Hotel Savoy auf Realität abhebt.
Folgendes Zitat zeigt eine Dekonstruktion des mythischen Herrschers Tarabas anhand
des Spiegels:
308
Roth: Hotel Savoy, S. 826. 309
Roth: Hotel Savoy, S. 811-812.
69
Er fühlte sich stark. Er war munter. Er rief nach seinem Burschen, streckte die
Beine aus, ließ sich, während er den Tee trank, die Stiefel putzen, biß in ein
mächtiges Butterbrot, verlangte zu gleicher Zeit nach einem Spiegel, den der
Jude Kristianpoller von der Wand nahm, an den Tisch brachte und vor Tarabas
hinhielt. ‹Rasieren!› befahl Tarabas.310
Die Dekonstruktion vollzieht sich in zwei Schritten. Obwohl Tarabas sich stark fühlt,
braucht er offensichtlich doch eine Selbstidentifikation, denn er verlangt nach einem
Spiegel. Es ist Kristianpoller, der ihm letztlich den Spiegel vorhält. Aus dieser
Handlung geht hervor, dass – trotz der Befehle Tarabas‘ – Kristianpoller der Stärkere
sein wird: Jetzt befindet dieser sich in der Lage, jenem zu zeigen, wer er wirklich ist:
ein Gast in „Zum weißen Adler“; „[e]in Gast auf dieser Erde.“ Somit hat sich das
Verhältnis zwischen Tarabas und Kristianpoller umgedreht.
Dass der Spiegel gleichzeitig Realität und Mythos heraufbeschwört, zeigt sich in
Hiob am Deutlichsten, als Mendel Singer das Astor Hotel betritt: „Er stieg in den Lift
und sah sich im Spiegel neben seinem Sohn, er schloß die Augen, denn er fühlte sich
schwindlig werden. Er war schon gestorben, er schwebte in den Himmel, es nahm kein
Ende.“311
Wie wunderbar für Mendel Singer die Anwesenheit des Sohnes ist, wird
dadurch unterstrichen, dass er Menuchim nicht direkt anblickt, sondern sich selbst und
seinen Sohn in einem unwirklichen Raum sieht. Die Polyphonie der Räume wird meiner
Meinung nach in dieser Aussage nicht nur anhand des Spiegels hervorgerufen. Zuerst
führt der Lift, den Amthor treffend als „eine vertikale Überwindung des Raums“312
umschreibt, beide Männer von der Hotelhalle in den Korridor. Zweitens weist der
Himmel auf die unendliche Weite des Raums hin. So ergibt sich die Polyphonie der
Räume als gemeinsamer Ausgangspunkt des Spiegels, des Liftes und des Himmels.
Daneben weist der Textabschnitt eine Tendenz zu Mythisierung auf: Mendel schließt
die Augen, fühlt sich schwindlig und schwebt. Obwohl man weiß, dass Mendel auf den
Weg zum Hotelzimmer ist, erscheint die Aussage so, als ob das Ziel noch unbekannt ist.
So wird an dieser Stelle deutlich, dass die Bewegung, die kein Ende nimmt, unmöglich
die Vergangenheit, sondern nur die Zukunft idealisieren kann.
310
Roth: Tarabas, S. 199. 311
Roth: Hiob, S. 210. 312
Amthor: An den Toren Europas, S. 122.
70
4.3.3.2.2. Die Tendenz zu Erneuerung bei Ignatz/Kaleguropulos und dem Brand
Wie schon gesagt, stellt sich am Ende in Hotel Savoy heraus, dass Ignatz auch der
Hotelwirt ist und so die ganze Zeit wie ein Tyrann über das Hotel Savoy geherrscht hat.
Seine Funktion als Liftknabe, die eine vertikale Bewegung impliziert, sein Kontrollblick
und seine verheimlichte Macht als Wirt rufen den Vergleich mit Gott hervor. Der
Vergleich des Tyrannen mit einem Gott – obwohl er im Hotel Savoy nur implizit da ist
– beschwört eine alte griechische Tradition herauf. Plato und Euripides redeten in
diesem Zusammenhang von turannis isotheos: von gottähnlicher Gewaltherrschaft.313
Den Tod Ignatz‘ habe ich in dem Vorangehenden als eine Literarisierung des
mythologischen Motivs der Hybris gedeutet. Jedoch könnte sein Tod statt Strafe auch
auf Aufopferung zielen.
In den alten griechischen Städten war es ein Brauch, dass, wenn der normale
Gang des Lebens durch einen Umstand wie Pest oder Mangel an Landwirtschaft zerstört
wurde, zum Zweck der Reinigung der Stadt Pharmakoi – Männer und Frauen, meistens
aus der Unterschicht der Gesellschaft – zu opfern.314
Zudem fand in vielen griechischen
Städten jedes Jahr im Frühling das Ritual statt, der Gottheit Menschen als Opfer
darzubringen, um die Fruchtbarkeit zu erneuern.315
Nach Jean-Pierre Vernant besteht
die Ähnlichkeit zwischen dem Tyrannen und dem Pharmakos darin, dass beide für das
kollektive Wohlbefinden des Volkes verantwortlich sind.316
Vernant sieht die Rolle des
Tyrannen und des Pharmakos in der Figur des Oidipus Tyrannos vereint.317
Ignatz lässt
sich meines Erachtens ähnlich wie Oidipus analysieren, denn er ist sowohl gottähnlicher
Tyrannos als auch Pharmakos, der am Ende der Geschichte zusammen mit dem Hotel
Savoy geopfert werden muss, weil er – in seinem Versuch, die Hotelgäste an das Hotel
zu binden – die Weiterfahrt der Gäste gehindert hat. Der große Unterschied aber
zwischen Sophokles‘ Oidipus und Roths Ignatz liegt in der Tatsache, dass Oidipus
selber geblendet ist, während bei Roth der Zuschauer ahnungslos ist. Im Gegensatz zum
Zuschauer, der mit Abscheu die Vergötterung Oidipus‘ ansieht, erfährt der Held erst am
313
Jean-Pierre Vernant: „Ambiguity and Reversal: On the Enigmatic Structure of Oedipus Rex”.
Übersetzt v. Page duBois. In: New Literary History 9:3 (1978), S. 486. 314
Vernant: Ambiguity and Reversal, S. 486 – 487. 315
Vernant: Ambiguity and Reversal, S. 487. 316
Vernant: Ambiguity and Reversal, S. 489. 317
Vernant: Ambiguity and Reversal, S. 492.
71
Ende der Tragödie, was er auf dem Kerbholz hat. In Hotel Savoy dagegen müssen die
anderen Figuren und gerade der Leser bis Ende darauf warten, dass Ignatz sich in seiner
wahren Gestalt zeigt. Obwohl sowohl Oidipus als auch Ignatz unterschiedliche
Verbrechertypen sind – denn Oidipus hat immer geglaubt, gerecht zu handeln, während
Ignatz genau das Gegenteil gemacht hat – glaube ich jedoch, dass beide Figuren
fundamental ambivalent sind: Sie sind sowohl Held als auch Antiheld.
Die späte Offenbarung Ignatz‘ bringt weniger die Feststellung mit sich, dass
Ignatz schlecht sei, sondern vielmehr folgende Frage: Welche ist jetzt die wahre Gestalt
Ignatz‘? Ist er Hotelwirt, Liftknabe, Pharmakos, Tyrannos, gottähnlicher Held, der
Hybris schuldig ist, oder Gott selber? Die Frage wird nie gelöst. Die Figur
Ignatz/Kaleguropulos schwankt immer zwischen dem Kleinen und dem Großen. Im
Rahmen des Hotels ist sie klein als Ignatz und groß als Kaleguropulos. Wenn man die
Figur Kaleguropulos im Sinne Matthias‘ versteht, als Symbol der Anonymität, Distanz
und Macht des Kapitalismus318
, bedeutet ihr Alter Ego als Ignatz immerhin Bekanntheit,
Nähe und – in übertragenem Sinne – Macht des Gottes. Nichtig als Verbrechter, ist
Ignatz/Kaleguropulos, der zudem als Pharmakos geopfert wird, aber groß als Herrscher,
der so mächtig ist, dass er seine Macht bis das Ende der Geschichte verstecken kann.
Wird Ignatz gerade deshalb von Gott gestraft, weil er mit dem Lift symbolisch zu hoch
gefahren ist, und symbolisiert er infolgedessen die Kleinheit des Menschen? Oder
unterstreicht die Offenbarung am Ende der Geschichte gerade die göttliche Kraft
Ignatz‘, die sich vor allem in seiner Ähnlichkeit mit Christus manifestiert? Die
Offenbarung ist nur eine von vielen Parallelen, die sich zwischen Ignatz und Christus
zeigt. Sowohl Ignatz als auch Christus sind zugleich Mensch und Gott. Klein sind sie,
weil sie sich selber nicht retten können, groß, weil sie sich selber nicht retten wollen –
„‹Kommen Sie doch herunter›, ruft der Direktor“319
–, denn Gott hat größere Pläne mit
ihnen. Obwohl Roth Ignatz‘ Beziehung zu Christus nie explizit macht, bin ich davon
überzeugt, dass Ignatz genau wie Christus, messianische Hoffnungen freisetzt. Diese
These werde ich im Folgenden belegen.
Ich habe bereits dargelegt, dass Roth verschiedene Strategien, wie die
Entzündung des Hotels Savoy, benützt, damit das Hotel nicht zum Dauerdomizil wird.
An dieser Stelle greife ich wieder die Frage nach der symbolischen Tat des Ansteckens
318
Matthias: The hotel as setting, S. 130. 319
Roth: Hotel Savoy, S. 888.
72
auf. Die Antwort lässt sich im Rahmen alter Traditionen vorfinden. Die Methode in der
Landwirtschaft, Acker zu verbrennen, damit sie fruchtbar werden, ist weit verbreitet.
Die Idee, dass man etwas kaputt machen muss, damit Leben entsteht, hat sich in der
griechischen Tradition gezeigt bei dem Opfer der Pharmakoi und bei den
Frühlingsfesten. Im Rahmen der Frühlingsrituale gilt Fruchtbarkeit als Synonym für
Erneuerung. Ich bin der Ansicht, dass Roth mit dem Brand des Hotels auf den Kult der
Erneuerung anspielt, und zwar, weil christliche Tradition und griechische Mythologie in
diesem Bereich unmittelbar miteinander verbunden sind. Die christliche Tradition hat
das griechische Frühlingsfest und die Idee der Erneuerung übernommen und auf Ostern
projiziert, was sich beim Tod Christi zeigt, der jährlich gewürdigt wird. Wenn Ignatz –
trotz seiner Ähnlichkeit mit Oidipus – Parallelen mit Christus aufzeigt und der
zerstörende Brand des Hotels Savoy als Erneuerungsritual zu verstehen ist, stellt sich
nicht nur heraus, dass die Figur Ignatz und der Brand im Hotel Savoy als Synkretismus
gelten, sondern auch dass die Auswirkung Ignatz‘ und des Brandes insofern dieselbe ist,
als sie beide messianische Hoffnungen freisetzen.
Man muss sich an diesem Punkt die Frage stellen, inwieweit der Brand in
Tarabas ebenfalls als Erneuerungsritual zu verstehen ist. Die Situation nach dem Brand
und der Schlächterei wird wie folgt beschrieben: „Von den wenigen unversehrt
gebliebenen Häusern Koroptas enthielt nur eines noch lebendige Bewohner: der Gasthof
‹Zum Weißen Adler›; der Gasthof des verschwundenen Juden Kristianpoller […]
Bauern und Juden lagen nebeneinander.“320
Zuerst fällt auf, dass der Gasthof
märchenhaft beschrieben wird, weil jede Nuance fehlt. Dass der Gasthof noch aufrecht
steht, grenzt an ein Wunder. Der Gasthof, der sich bereits auf eine alte Tradition stützt,
bekommt in dieser Aussage einen Ewigkeitsgehalt, der zusammen mit dem
Wunderbaren die Bedingung für eine mythische Ordnung des Gasthofs ist. Aber genau
wenn der Leser glaubt, dass der Gasthof das Verhältnis zur Wirklichkeit verliert, fügt
Roth lakonisch hinzu „[e]s war also wirklich wahr.“321
Aus dieser Beobachtung folgt,
dass Roth den Gasthof bewusst zwischen Realität und Mythos schwanken lässt. Die
Frage stellt sich aber, wieso das Hotel Savoy zerstört wird, während der Gasthof „Zum
weißen Adler“ sich als unzerstörbar erweist? Es hat sich bereits gezeigt, dass das Hotel
Savoy stärker seine Funktion als Durchgangsort unterminiert als der Gasthof „Zum
320
Roth: Tarabas, S. 221. 321
Roth: Tarabas, S. 221.
73
weißen Adler“. Die mehrfache Metamorphose des Gasthofs dagegen verhindert einen
möglichen Stillstand des Ortes und bringt somit eine fortwährende Erneuerung mit sich.
Demzufolge glaube ich, dass die Funktion des Brandes darin liegt, dem Glaubenskampf
in Koropta ein Ende zu bereiten. Der Gasthof muss aber erspart werden, denn er setzt
folgende messianische Hoffnung frei: „Bauern und Juden lagen nebeneinander.“ Dieses
Zitat belegt meines Erachtens exquisit die These Eggers, dass Roth in Tarabas einen
Vereinigungsgedanken literarisiere: „Damit ist hier eine religiöse Utopie literarisch
integriert, die ein Miteinander von Juden und Christen unter Ausschluß der
theologischen Differenzen anstrebt“.322
Es wird sich aber zeigen, dass Roths
messianische Hoffnung, die er anhand des Gasthofs ausdrückt, tiefer geht als nur der
Wunsch eines friedlichen Miteinanderlebens.
Die Heimkehrer in Hotel Savoy können nach dem Tod Ignatz‘ und dem Brand
endlich ihre Reise weiterführen. Aber wozu? Roths Heimkehrer haben im Gegensatz zu
Odysseus, der immer ein festes Ziel, Ithaka, verfolgt hat, Angst und Zweifel
heimzukehren. Die Frage nach dem Wozu stellt sich auch Tarabas, nachdem er
Ordnung in Koropta geschaffen hat: „Wohin aber, gewaltiger Tarabas?! Gab’s noch
Amerika? Gab es noch das väterliche Heim? Wo war man zu Hause? Gab es noch
irgendwie Krieg?“323
Diese Aussage bringt drei mögliche Bewegungen, deren Erfolg
sich als fragwürdig gezeigt hat, zum Ausdruck. Es geht um den Umzug nach Amerika,
die Heimkehr und das In-die-Welt-gehen als Soldat. Trotz der Ablehnung dieser
Bewegungen hört das Gasthaus nie auf, die Figuren vorwärts zu treiben. Wohin Roth
seine Figuren genau schickt, werde ich später beantworten. Festzuhalten an dieser Stelle
ist, dass die Gasthäuser immer wieder die Frage nach dem Wozu stellen. Sie erweisen
sich als Orte, deren mythischer Gehalt immerfort betont wird. Die Darstellung der
Gasthäuser zielt nicht auf Entzauberung, sondern hat gerade die Absicht, messianische
Hoffnungen zu nähren. Gerade durch die Mythisierung der Gasthäuser und folglich
auch der vorwärtsstrebenden Bewegung wird deutlich, dass Roth eine andere Bewegung
hervorruft, die alles andere ist als eine Bewegung in die Heimat, in den Krieg und nach
Amerika, die nicht als Ziel, sondern als Resultat der Zwecklosigkeit der Rothschen
Figuren entlarvt wird.
322
Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 127. 323
Roth: Tarabas, S. 223.
74
4.4. Leben vs. Tod
4.4.1. Heimat vs. Leben und Tod in Hiob
Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, dass Roth mit den Begriffen ᾽heimisch᾽, ᾽Heim᾽
und ᾽Heimat᾽ in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Konnotationen ‒
Territorium, Identität, die Familie, Geborgenheit, Vertrautheit, usw. ‒ hervorruft, wobei
häufig Ironie einschleicht. Es wird sich aber zeigen, dass Roth in seinen Romanen noch
eine Konnotation zum Ausdruck bringt. So steht Heimat häufig mit der Spannung
zwischen Leben und Tod in Verbindung. Diese Beobachtung ist meines Erachtens von
großer Bedeutung, denn mit der Hervorhebung der Spannung zwischen Leben und Tod
weicht Roth von den traditionellen Konnotationen von Heimat ab. Diese Spannung habe
ich in dem Vorangehenden schon kurz anhand des folgenden Zitats aus Hiob dargelegt:
„Amerika ist ein Vaterland, aber ein tödliches Vaterland. Was bei uns Tag war, ist hier
Nacht. Was bei uns Leben war, ist hier Tod.“324
Bei der Analyse dieses Zitats und
anderer Zitate, die eine Gegenüberstellung von Russland und Amerika ausdrücken, hat
sich herausgestellt, dass die Ablehnung des Einen die Idealisierung des Anderen mit
sich bringt und umgekehrt. Der Fokus der Idealisierung der Heimat wurde somit
entlarvt. Auffallend ist, dass die Elemente – Tag, Nacht, Leben, Tod –, die Mendel
beiden einander gegenüberstehenden Vaterländern zuschreibt, aus ein und derselben
Instanz hervorgehen: Gott. Nach der Schöpfungsgeschichte habe Gott am ersten Tag
Licht und Dunkel getrennt, die er Tag bzw. Nacht genannt hat.325
Das Lexikon für
Theologie und Kirche bestimmt als allgemeine Parallele zwischen den verschiedenen
Religionen der Menschheit, „daß der Tod nicht die absolute Grenze, sondern Übergang
in ein Leben danach ist.“326
Obwohl diese Behauptung vielleicht eine
Übergeneralisierung sei, behält sie jedoch in Bezug auf vorliegende Arbeit ihren Wert,
da sie deutlich macht, wie wesentlich es für den Menschen ist, keine radikale Grenzen
zwischen Leben und Tod ziehen zu müssen. Eine Verschmelzung von Leben und Tod
lässt sich am Deutlichsten im Christentum erkennen, insofern die Christusfigur beides
324
Roth: Hiob, S. 154. 325
vgl. Genesis 1,3. 326
Horst Bürkle: „Bestattung“. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Band II. Hg. v. Walter Kasper u.a.
Freiburg im Breisgau: Herder 2006, S. 321.
75
verkörpert.327
So ergibt sich, dass die Oppositionen zwischen Tag und Nacht und
zwischen Leben und Tod einerseits eine Radikalisierung der Opposition von Amerika
und Russland zum Zweck haben, andererseits im Bereich der Religion für eine
Aufhebung der Opposition stehen. An dieser Stelle wird deutlich, dass zur Lösung der
Frage nach dem richtigen Vaterland eine religiöse Orientierung förderlich ist.
Ein wenig nach dem obigen Zitat lässt sich folgendes Zitat vorfinden, das
ebenfalls Heimat und Religion verbindet: „Es war, als hätte er soeben erst die Heimat
verloren und in ihr Menuchim, den treuesten aller Toten, den weitesten aller Toten, den
nächsten aller Toten. Wären wir dort geblieben – dachte Mendel, – gar nichts wäre
geschehen!“328
Aus diesem Zitat geht hervor, dass erst der Tod der Familienmitglieder
für Mendel den richtigen Verlust der Heimat bedeutet. So wird deutlich, dass seine
Familie als Ersatz für das verlorene Russland gedient hat. Es zeigt sich aber auch, dass
Mendel Menuchim durch die unmittelbare Verbindung mit der verlorenen Heimat
selber zum Toten macht. Es wurde schon gesagt, dass Menuchim in Hiob als die Figur
fungiert, die am Stärksten die Spannung zwischen Heimat auf der einen Seite und
Leben und Tod auf der anderen Seite hervorhebt, denn er bedeutet für Mendel die
Personifikation Russlands und ergibt sich als Messias, der sich aus dem Reich des
Todes herausoffenbart und Heil bringt. Anhand der Figur Menuchim literarisiert Roth
die zweideutige Interpretation des Messiaskonzeptes im Judentum, wobei der Messias
einerseits als Nachkomme Davids für die politische Hoffnung auf einen idealen
Judenstaat steht und andererseits als göttliche Sendung von Friedensliebe und
Gerechtigkeit fungiert.329
Da Mendel den Totgeglaubten sowohl fern als auch nah
empfindet, wird die Offenbarung Menuchims vorweggenommen. Jedoch scheint
Erlösung für Mendel unmöglich zu sein, denn durch den Tod der Heimat, mit der er
Menuchim unmittelbar verbindet, ist auch die Auferstehung Menuchims
ausgeschlossen. Gott wird für Mendel eine Instanz, die nicht zwischen Leben und Tod
vermittelt, sondern den Tod radikal vom Leben abgrenzt: „Er kann mich nur noch töten,
aber dazu ist er zu grausam. Ich werde leben, leben, leben.“330
Mendels Trennung von
327
Art.: „Tod“. In: Der Brockhaus. Religionen. Glauben, Riten, Heilige. Hg. v. der Lexikonredaktion des
Verlags F.A. Brockhaus. Leipzig: Mannheim 2004, S. 644. 328
Roth: Hiob, S. 158. 329
Louis Jacobs: „Messiah“. In: Encyclopaedia Judaica. Hg. v. Michael Berenbaum and Fred Skolnik. 2.
Ausgabe. Band XIV. Detroit: Macmillan Reference USA 2007, S. 115. 330
Roth: Hiob, S. 168.
76
Tod und Leben erweist sich im Roman als grundsätzlich falsch, denn Menuchim
offenbart sich schließlich als Lebender. Somit zeigt Roth, dass Mendel mit der
Orientierung an der Heimat einen Irrweg eingeschlagen hat, und öffnet den Weg für
eine Orientierung an Gott.
4.4.2. Das Grab
Das Grab beschwört die Verbindung von Leben und Tod in zweifacher Weise herauf.
Wenn „der Tod nicht die absolute Grenze, sondern Übergang in ein Leben danach ist“,
fungiert das Grab im religiösen Sinne als Übergangsort. Andererseits fungiert es auch
als Mittel zur Erinnerung des lebenden Menschen an den Toten. Aus den beiden
Funktionen geht hervor, dass das Grab ein dynamischer Ort ist. Jedoch kann man nicht
an der Tatsache vorbei, dass das Grab an einem bestimmten Ort gegründet und in ihm
verwurzelt ist. Nach dem Lexikon für Theologie und Kirche entsprach das Grab in der
Antike als „domus aeterna […] der üblichen volkstümlichen Meinung.“331
Diese
Bedeutung des Grabes hat sich im Judentum durchgesetzt, insofern das Grab als ein
„Haus der Ewigkeit“332
konzeptualisiert wird. In der jüdischen Tradition repräsentiert
das Grab nach dem Tode eines Menschen dessen „physische Präsenz“.333
Obwohl im
Christentum der Körper eines Menschen, wie schlechthin bei Christus, bleibende
Aufmerksamkeit erfährt, ist das Grab weniger als ein ewiger Ort konnotiert, sondern
vielmehr als ein „Aufenthaltsort bis zur allgemeinen Auferstehung.“334
Wenn das Grab
genau wie das Gasthaus gleichzeitig für Dynamik und Verwurzelung steht, kann eine
Analyse des Grabes in den Werken Roths nicht unterbleiben. Die unterschiedlichen
Nuancen des Grabes, die ich soeben in Bezug auf das Judentum und das Christentum
dargelegt habe, scheinen mir als Hintergrund für die Analyse notwendig zu sein. Ich
habe aber nicht die Absicht zu bestimmen, ob Roths Darstellung des Grabes jetzt der
christlichen oder jüdischen Tradition folgt, denn es hat sich gezeigt, dass Roth häufig
331
Wilhelm M. Gessel: „Grab. I. Antike“. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Band II. Hg. von Walter
Kasper u.a. Freiburg im Breisgau: Herder 2006, S. 967. 332
Raffel: Vertraute Fremde, S. 133. 333
Karl Erich Grözinger in Die Totenruhe im Judentum (1993) zitiert nach Raffel: Vertraute Fremde, S.
133. 334
Wilhelm M. Gessel: Grab. I. Antike, S. 967.
77
christliche und jüdische Elemente mischt und sogar nach der Vereinigung beider
Religionen strebt.
Dem Grab wird in Hotel Savoy eine besondere Bedeutung zugemessen, wenn
sich herausstellt, dass Bloomfield, der in Amerika ein Vermögen gemacht hat und
dessen Heimkehr zum Hotel Savoy ein zentrales Ereignis des Romans ist, den Besuch
des Grabes seines Vaters als Grund seiner Heimkehr bestimmt: „Ich bin ein Ostjude,
und wir haben überall dort unsere Heimat, wo wir unsere Toten haben.“335
Auf den
ersten Blick weist Bloomfields Besuch des Grabs auf eine rückwärtsgewandte
Bewegung in die Heimat hin, die sich auf Verwurzelung stützt. Gegen diesen Gedanken
kann man aber einige Argumente einwenden. So ist die Tatsache, dass Bloomfield
explizit erwähnt, dass er ein Ostjude ist, in zweierlei Hinsicht interessant. Einerseits
lässt sich das Grab im jüdischen Sinne als „Haus der Ewigkeit“ verstehen, wobei es
sowohl Verwurzelung durch das Haus als auch Zukunft durch die Ewigkeit impliziert.
Andererseits wird gerade die Verbindung von „Ostjude“ und „unsere Heimat“ als
Mythos entlarvt, denn nicht die ostjüdische Herkunft bestimmt die Heimat Bloomfields,
sondern die Tatsache, dass sein Vater dort begraben ist. So zeigt sich, dass das Grab für
Ewigkeit, aber nicht für Verwurzelung in der jüdischen Heimat steht. Folgendes Zitat
bestätigt diesen Gedanken: „Wenn mein Vater in Amerika gestorben wäre, ich könnte
ganz in Amerika zu Hause sein. Mein Sohn wird ein ganzer Amerikaner sein, denn ich
werde dort begraben werden.“336
Roth selber geht 1930 in einem Essay, in dem er das
Verhältnis des Juden mit dem Grab bespricht, auf die Beerdigung des Vaters durch den
Sohn im Judentum ein: „Wer seinen Vater in fremde Erde versenkt, der besitzt ein
Heimatrecht in der fremden Erde, mit der er durch seinen Vater verwachsen ist für alle
Zeiten.“337
Sowohl aus der Aussage Bloomfields als auch aus Roths Essay geht hervor,
dass das Heimatrecht nicht herkunftbedingt ist, sondern von dem Ort, an dem der Vater
beerdigt ist, abhängt und für ewige Zeiten gilt. Es stellt sich an dieser Stelle heraus, dass
die Beziehung von Leben und Tod sowohl über das Verlangen nach Heimat als auch
über die jüdische Existenz vorherrscht. Die Idee, dass die Verbindung von Leben und
Tod in Roths Romanen betont wird, sehe ich im folgenden Zitat bestätigt, in dem
335
Roth: Hotel Savoy, S. 876. 336
Roth: Hotel Savoy, S. 876. 337
Joseph Roth: „Die Scholle“. In. Joseph Roth Werke 3. Das journalistische Werk 1929-1939. Hg. und
mit einem Nachwort v. Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 168.
78
Gabriel Dan kurz nach der Aussage Bloomfields philosophisch bemerkt, dass „[d]as
Leben […] so sichtbar mit dem Tod zusammen[hängt] und der Lebendige mit seinen
Toten. Es ist kein Ende da, kein Abbruch – immer Fortsetzung und Anknüpfung.“338
Trotz der Bewertung der Toten erweist sich am Ende der Geschichte, dass Bloomfield
das Grab seines Vaters nicht mehr besuchen wird: „Er hat seinen toten Vater besucht, er
wird nie mehr in seine Heimat kommen. Er wird seine Sehnsucht unterdrücken, Henry
Bloomfield. Nicht alle Hindernisse kann das Geld aus dem Weg räumen.“339
Diese
Wendung ist meines Erachtens nicht als Betonung der vorwärtsstrebenden Bewegung
Bloomfields zu verstehen, sondern als Kritik an Amerika, wo man den Tod nicht
respektiert, sondern im Rahmen des Geldgewinnes eher über Leichen geht.
Wo der Besuch des Grabes in Hotel Savoy als zentrales Ereignis auftritt, erscheint
das Grab in Tarabas als textorganisierendes Mittel, denn das Leben Tarabas‘ ergibt sich
als eine lange Reise in das Grab. So fängt der Roman mit dem Untertitel „Ein Gast auf
dieser Erde“ an, den ich im Vorhergehenden als eine Tendenz zu Weltbürgerschaft
gedeutet habe, und endet der Roman mit demselben Satz, der jetzt als Grabinschrift
dient: „Oberst Tarabas, ein Gast auf dieser Erde.“340
Der zyklische Charakter dieses
Satzes deutet auf die Unvermeidlichkeit des Todes hin. Diesen Gedanken fasst
Kristianpoller am Ende der Geschichte wie folgt zusammen: „Am Ende jedes Lebens
steht der Tod. Wir wissen es alle.“341
Die Unvermeidlichkeit des Todes ist aber nicht
durch Determinismus und Pessimismus, sondern durch eine Relativierung des Todes
geprägt. So weist der Roman darauf hin, dass der Tod Tarabas‘ nicht das Ende ist. Die
Existenz Tarabas‘ ist dadurch gewährleistet, dass fremde Händler nach dem Tod sein
Grab besuchen und dass Kristianpoller den Händlern die wunderbare Geschichte
Tarabas‘ weitererzählt. Das Grab, das die „physische Präsenz“ Tarabas‘ hervorhebt,
dient somit als Katalysator für ein Gespräch zwischen dem Juden Kristianpoller und
seinen fremden Gästen über den katholischen Tarabas. Insoweit liegt der Vergleich mit
dem Christentum nahe, in dem der Körper des Christus immer noch in Erinnerung
gerufen wird, um seine weitere Existenz zu unterstreichen. Interessant ist, dass
Kristianpoller als frommer Jude einem Apostel ähnelt. Der implizite Vergleich geht
338
Roth: Hotel Savoy, S. 876. 339
Roth: Hotel Savoy, S. 886. 340
Roth: Tarabas, S. 284. 341
Roth: Tarabas, S. 285.
79
nicht nur aus der Tatsache hervor, dass Kristianpoller Tarabas‘ Geschichte wachhält,
sondern auch aus dem Inhalt einer Frage, die ihm ein Gast stellt: „‹Und ihr Juden habt
keine Angst mehr?› fragt gelegentlich der Fremde.“342
Einerseits weist die Textstelle
auf die vergangene Schlächterei in Koropta hin, andererseits ruft sie auch die Angst der
Apostel vor der wunderbaren Geschichte Christus‘ in Erinnerung. Die Absicht der
Hervorrufung der christlichen Tradition liegt nicht darin, das Christentum über das
Judentum zu stellen, sondern dem Wunderbaren im Allgemeinen Aufmerksamkeit zu
schenken. Diese These lässt sich durch die Entdeckung Eggers‘ unterstützen, der
darlegt, dass der Untertitel des Romans oder die Grabinschrift eine Anspielung auf
einen Psalmvers ist: „Ein Gast bin ich auf Erden, verhehle mir nicht deine Gebote“.343
Der explizite Hinweis auf die Psalmliteratur bestätigt nicht nur die Idee, dass das
Christentum in Tarabas nicht bevorzugt wird, sondern vermittelt auch eine Botschaft
am Ende des Romans, die nach Eggers darin liegt, dass der Mensch während seines
Lebens die Gebote Gottes kennen lernen muss, sich aber immer dessen bewusst sein
soll, dass das Leben nur ein Aufenthalt ist: „ei[n] unendliche[r] Weg zu Gott.“344
4.4.3. Das Gasthaus als Übergangsort zwischen Leben und Tod
4.4.3.1. Der Liftknabe und der Fahrstuhl
Die Faszination für den Fahrstuhl und den Liftknaben ist ein allgemeines Motiv in der
Hotelliteratur des 20. Jahrhunderts.345
So hat sich erwiesen, dass Roth den Liftknaben
Ignatz nicht nur eine mächtige Position im Hotel Savoy zugemessen hat, sondern sogar
eine gottesähnliche Kraft. Die Idee, dass der Liftknabe eine außergewöhnliche Funktion
hat, veranschaulicht auch folgendes Zitat aus dem Hotelfeuilleton, wo Roth den
342
Roth: Tarabas, S. 284. 343
Psalm 119,19 zitiert nach Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 129. Ich habe
nicht herausfinden können, welche Version der Bibel Eggers konsultiert hat. Da Roth sicherlich mit der
Lutherbibel aus dem Jahre 1912 bekannt war und darin das Zitat wie folgt ausformuliert ist: „Ich bin ein
Gast auf Erden; verbirg deine Gebote nicht vor mir.“ (Psalm 119,19. Übersetzt von Martin Luther. 1912.),
werde ich in der weiteren Arbeit die Übersetzung, wie sie sich in der Lutherbibel aus dem Jahre 1912
vorfindet, anwenden. 344
Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 129. 345
Exemplarisch dazu sei diese Stelle aus Kafkas Der Verschollene: “Hätten sie z. B. Lust Liftjunge zu
werden? […] Wenn Sie ein bißchen herumgekommen sind, werden Sie wissen daß es nicht besonders
leicht ist, solche Stellen zu bekommen, denn sie sind der beste Anfang, den man sich denken kann. […]
Sie haben jeden Tag die Möglichkeit, zu etwas Besserem zu gelangen.“ (Franz Kafka: Der Verschollene.
Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1983, S. 172.)
80
Liftknaben mit einem Engel vergleicht: „Der Liftboy nimmt meine Koffer unter seine
Arme. So dürfte ein Engel seine Flügel ausbreiten.“346
Die Beobachtung, dass der
Liftknabe bei Roth mit dem Übermenschlichen in Verbindung steht, werde ich im
folgenden Kapitel weiterführen, in dem ich beweisen werde, dass der Liftknabe und der
Fahrstuhl als Vermittler zwischen Leben und Tod fungieren.
Genau wie Mendel Singer fällt auch Gabriel Dan der Umgang mit dem Tod
schwer: „Nun fühlte ich, wie Haß in mir aufstieg gegen das Hotel Savoy, in dem die
einen lebten und die anderen starben“.347
Bereits vor dem Tod Santschins verdächtigt
Gabriel Ignatz, den Tod in das Hotel Savoy hineinzubringen: „‹Santschin wird wohl
sterben?› fragt Ignatz. In diesem Augenblick ist mir, als hätte der Tod die Gestalt des
alten Liftknaben angenommen und stünde nun hier und warte auf eine Seele.“348
Bemerkenswert ist, dass das Motiv der Offenbarung in dieser Textstelle umgedreht
wird. Nicht der Tote steht als Lebender auf, sondern der Lebende erscheint als Toter.
Die Umkehrung wirft die Frage auf, ob Ignatz, der Parallelen mit der Christusfigur
aufgezeigt hat, als Gegenbild zu Christus und insofern als ein Antichrist auftritt. Das
Lexikon für Theologie und Kirche definiert den Begriff ᾽Antichrist᾽ wie folgt:
Mit der Wortbildung ἀντίχριστός stellen die Johannesbriefe das Schlagwort
bereit, unter dem es fortan möglich sein wird, mythisches Material und
endzeitbezogene Stoffe aus (früh)jüdischen und (ur)christlichen Überlieferungen
aufzubieten, um im ‹apokalyptischen› Erwartungshorizont eine äußerste
Zuspitzung der Bosheit vor dem ‹Ende› – und damit die Beziehungslosigkeit
zwischen Geschichte und Erlösung – zur Sprache zu bringen.349
Wenn Ignatz die Rolle des Antichrist in Hotel Savoy zugewiesen wird, ist die
Verbrennung des Hotels apokalyptisch zu deuten. So könnte auch die Figur Ignatz, der
als Hotelwirt dem Kapitalismus dient, als eine Vorwegnahme des Antichrist aus dem
polemischen Traktat Der Antichrist fungieren, in dem die Moderne, Müller-Funk
zufolge, dämonisiert wird und somit „als eine äußerste Zuspitzung der Bosheit vor dem
‹Ende›“ dargestellt wird. Trotz der Tatsache, dass der Antichrist als Titel eines späteren
Werkes dienen wird und Ignatz‘ Charakter der Bosheit des Antichrist entspricht, muss
ich einschränkend bemerken, dass im Hotel Savoy zwar Ignatz und viele Heimkehrer
346
Roth: Panoptikum, S. 41. 347
Roth: Hotel Savoy, S. 832. 348
Roth: Hotel Savoy, S. 829. 349
Karlheinz Müller: „Antichrist I. Im AT, Frühjudentum und NT“. In: Lexikon für Theologie und Kirche.
Bd. I. Hg. v. Walter Kasper u.a. Freiburg im Breisgau: Herder 2006, S. 744.
81
umkommen und das Hotel selbst zerstört wird, jedoch nicht die ganze Welt untergeht.
Darüber hinaus wird Ignatz keinesfalls eindeutig als Antichrist dargestellt, denn der
Roman deckt mit der späten Offenbarung des Liftknaben als Kaleguropulos bewusst die
doppelte Rolle der Figur auf. Demzufolge scheint mir die einzige Sicherheit hinsichtlich
der Figur Ignatz zu sein, dass er Leben und Tod verbindet: „Ignatz war wie ein
lebendiges Gesetz dieses Hauses, Tod und Liftknabe.“350
Da Ignatz die Rolle des
Vermittlers zwischen Leben und Tod schon langfristig ausfüllt, und er hinter Geld her
ist, zeichnet sich eine Parallele mit Charon ab, dem Fährmann aus der griechischen
Mythologie, der seit einer Ewigkeit die Toten gegen Bezahlung einer Kleinmünze über
das Meer der Vergessenheit in die Unterwelt führt. Daneben ist Charon, der, nach Der
Neue Pauly, als Todesgott bei Vergilius und Cicero gilt, bei den Etruskern allerdings als
Todesdämon dargestellt wird351
, genau wie Ignatz durch eine Ambivalenz in Bezug auf
das Göttliche geprägt. Darüber hinaus haben beide Figuren auffallende Augen. So ist
Charon ein „[p]oetisches Hypokoristikon zu χαροπός (charopós) ‹finsterblickend›“352
und waren die Augen ein prominentes Merkmal für Charons Vorstellung sowohl im
Kaiserreich als auch bei den Etruskern.353
Folgendes Zitat aus Hotel Savoy ist
exemplarisch für die Aufmerksamkeit, die Gabriel Dan den Augen Ignatz‘ schenkt: „Ich
trank einen Wodka und sah Ignatz an – war er der Tod, oder war er nur ein alter
Liftknabe? Was glotzte er mit seinen gelben Bieraugen?“354
Aus dem oxymoron „alter
Liftknabe“ geht hervor, dass Ignatz Jugend und Alter verkörpert und folglich in
übertragenem Sinne zwischen Leben und Tod schwankt.
Neben dem Liftknaben hebt der Fahrstuhl den Weg vom Leben zum Tod hervor. Dieser
Gedanke geht nicht nur aus der vertikalen Bewegung hervor, mit der der Fahrstuhl von
dem Erdgeschoss in die Höhe geht und umgekehrt, sondern auch aus der Erfahrung von
Gabriel Dan im Fahrstuhl, wobei der Gast den Bezug zur Realität verliert:
350
Hotel Sav Roth: Hotel Savoy, S. 832. 351
Paul Dräger: „Charon“. In: Der Neue Pauly. Hg. v. Hubert Cancik, Helmuth Schneider und Manfred
Landfester. Brill Online 2013 . http://referenceworks.brillonline.com/entries/der-neue-pauly/charon-
e231980 (abgerufen am 5. August 2013). 352
Paul Dräger: Charon (abgerufen am 5. August 2013) 353
Hans von Geisau: „Charon 1.” In: Der kleine Pauly : Lexikon der Antike. Bd. I. Hg. v. Konrat Ziegler
und Walther Sontheimer. Stuttgart: Alfred Druckenmüller 1964, S. 1138. 354
Roth: Hotel Savoy, S. 832.
82
Ein Lift nimmt mich auf, Spiegel zieren seine Wände, der Liftboy, ein älterer
Mann, läßt das Drahtseil durch seine Fäuste gleiten, der Kasten hebt sich, ich
schwebe – und es kommt mir vor, als würde ich so noch eine geraume Weile in
die Höhe fliegen. Ich genieße das Schweben, berechne, wieviel Stufen ich
mühsam erklimmen müßte, wenn ich nicht in diesem Prachtlift säße, und werfe
Bitterkeit, Armut, Wanderung, Heimatlosigkeit, Hunger, Vergangenheit des
Bettlers hinunter –, tief, woher es mich, den Emporschwebenden, nimmermehr
erreichen kann.355
Zunächst ruft der Lift anhand des Spiegels an den Wänden und der Unendlichkeit der
Fahrt die Polyphonie der Räume hervor. Obwohl der Gast mit seinen Füßen auf dem
Liftboden steht, hat er das Gefühl, dass er fliegt und schwebt und nennt sich einen
„Emporschwebenden“. Der Gast entfernt sich im Fahrstuhl von der Realität und glaubt
diese Entfernung sogar festzuhalten, was der Wortgebrauch „nimmermehr“ impliziert.
In Hiob macht Roth die Verbindung zwischen Lift und Tod sogar explizit:
Er stieg in den Lift und sah sich im Spiegel neben seinem Sohn, er schloß die
Augen, denn er fühlte sich schwindlig werden. Er war schon gestorben, er
schwebte in den Himmel, es nahm kein Ende. Der Sohn faßte ihn bei der Hand,
der Lift hielt, Mendel ging auf einem lautlosen Teppich durch einen langen
Korridor. Er öffnete erst die Augen, als er im Zimmer stand.356
Bezug nehmend auf dieses Zitat, habe ich in dem Vorhergehenden dargestellt, dass
sowohl der Lift als auch der Spiegel und der Himmel die Polyphonie der Räume
hervorheben. Wenn erwähnt wird, dass Mendel „schon gestorben“ war, bekommt das
Zitat eine transzendentale Bedeutung, die die Polyphonie der Räume noch verstärkt. Die
Frage, die sich aber stellt, ist, ob Mendel im Fahrstuhl eine Todesfantasie erlebt, ob er
bereits gestorben ist oder ob „gestorben“ im übertragenen Sinne als Erlösung zu
verstehen ist. Diese Frage kann hier nicht beantwortet werden, weil Mythos und Realität
in der Hotelszene nicht mehr zu unterscheiden sind. Wenn Menuchim in der Rolle des
Sohnes Mendel an der Hand führt, in das Hotel begleitet und ihn auf einen Ausflug ans
Meer mitnimmt, könnten diese Handlungen auf der historisch-geschichtlichen Ebene
darauf hinweisen, dass Menuchim seinem alten Vater vor seinem Tod noch einige
ruhige Tage schenken möchte. Wenn Menuchim aber als Messias auftritt, sind seine
Handlungen im transzendentalen Sinne zu verstehen, wobei ᾽Messias᾽ im allgemeinen
Sinne nach dem Lexikon für Theologie und Kirche als „Aussicht auf ein endgültiges
355
Roth: Hotel Savoy, S. 800. 356
Roth: Hiob, S. 210-211.
83
Heil“357
zu verstehen ist. Welche Interpretation an dieser Stelle auch vorliegt, es zeigt
sich, dass Mendel, der vor der Offenbarung Menuchims Tod und Leben radikal trennte,
sich im Hotel dem Tod angenähert hat, insoweit er sich jetzt entweder in Ruhe mit dem
Tod abfindet oder im Tod ruht. Jener Gedanke zeigt sich im folgenden Zitat: „Er selbst,
Mendel Singer, wird nach späten Jahren in den guten Tod eingehen, umringt von vielen
Enkeln und ‹satt am Leben›, wie es im ‹Hiob› geschrieben stand.“358
Das Zitat zeigt
nicht nur, dass Mendel den Tod, sondern auch das Leben akzeptiert, wobei auffällt, dass
Mendel sich wieder die Zukunft und nicht die Vergangenheit vor Augen hält. Der
Schlusssatz des Romans lässt offen, ob Mendel schon gestorben ist, nach einigen Jahren
sterben wird oder gerade in diesem Moment stirbt: „Und er ruhte aus von der Schwere
des Glücks und der Größe der Wunder.“359
Egal welche Interpretation an dieser Stelle
vorherrscht, deutlich wird, dass Mendel letztendlich erlöst ist.
Dass Roth gerne mit dem Stadium zwischen Leben und Tod spielt, zeigt sich im
folgenden Zitat aus Der Antichrist: „Und jedermann im Volke und jeder Gast des
Landes kann den Toten anschauen, der so aussieht wie ein schlafender Lebendiger.
Manche kindlichen Menschen glauben, er schlafe wirklich und ruhe sich nur vorläufig
aus.“360
Das Zitat ist im Kontext der Einbalsamierung von Lenins Leiche zu verstehen,
wobei das Volk versucht, seinen Helden so unversehrt wie möglich zu bewahren.361
Der
spielerische Unterton biegt aber in eine harte Kritik an dem Umgang mit dem Tod um,
wobei das Traktat dem Tod selber das Wort gibt: „Ihr aber lasst den Toten nicht
auferstehen: Ihr lasst seine Leiche dauern. […] Was tut Ihr so stolz gegen mich, den
Tod?“362
So zeigt sich auch in Der Antichrist ein Aufruf, den Übergang vom Leben in
den Tod zu schätzen.
Die Frage wirft sich aber auf, wie diese Beobachtung mit den Gasthäusern in
Beziehung steht. Obwohl der Ich-Erzähler in Der Antichrist während seiner Reise durch
die zerstörte moderne Welt manchmal in Gasthäusern übernachtet, wird das Gasthaus
nie wie in Panoptikum, Tarabas, Hotel Savoy und Hiob als zentraler Raum thematisiert.
357
Johan Bouman: „Messias I. Religionsgeschichtlich“. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. VII.
Hg. v. Walter Kasper u.a. Freiburg im Breisgau: Herder 2006, S. 167. In diesem Kontext ist der
Unterschied zwischen dem Messiaskonzept im Christentum und im Judentum von nebensächlicher
Bedeutung. Daher habe ich an dieser Stelle nur den Grundgedanken zitiert. 358
Roth: Hiob, S. 215. 359
Roth: Hiob, S. 217. 360
Roth: Der Antichrist, S. 110. 361
Roth: Der Antichrist, S. 110. 362
Roth: Der Antichrist, S. 112.
84
Der polemische Gehalt des Werkes schaltet die logische und genaue Raumerfahrung der
Figur aus. Nichtsdestoweniger weist der „Gast des Landes“ darauf hin, dass in Der
Antichrist das Gasthaus durch die Prinzipien von Gast und Wirt über das rein
Räumliche hinausgeht. Diese Idee werde ich im Folgenden weiter entwickeln.
4.4.3.2. Gast-Wirt-Metaphorik
Das Hotel hat sich bisher als ein Übergangsort erwiesen, wobei der Übergang anhand
des Fahrstuhls und des Liftknaben eine transzendentale Bedeutung bekommt. Diese
transzendentale Bedeutung lässt sich aber auch auf die Gasthäuser in Roths anderen
Werken übertragen, und zwar weil sich bei Roth eine Beziehung zwischen Gast und
Wirt beobachten lässt, die den Text organisiert und die ich die Gast-Wirt-Metaphorik
nennen werde.
Das vorhergehende Kapitel gibt den Anlass, diese Metaphorik zunächst in Der
Antichrist zu untersuchen, weil in diesem Werk das Gasthaus als Raum, in dem sich die
Handlung entwickelt und vorwärts treibt, nicht vorkommt. Jedoch wird der Ich-Erzähler
häufig als Gast bestimmt.363
Das folgende Zitat bringt die Begriffe ᾽Gast᾽ und ᾽Wirt᾽ in
Der Antichrist zu Sprache, wobei ein Jude – zu dieser Zeit in einer schwachen
gesellschaftlichen Position – in einem Gespräch mit dem Ich-Erzähler das Gastrecht in
Frage stellt: „Schon das Gastrecht war ein Hohn auf die Menschlichkeit. Denn welch
eine Welt, in der man erst durch ein besonderes Recht feststellen mußte, dies sei der
Wirt und jener der Gast? Hat Gott nicht die Häuser gegeben?“364
Nach dem Juden
basiert die Unterscheidung zwischen denjenigen mit einem Haus – den Wirten – und
denjenigen ohne Haus, zu denen er die Juden rechnet – den ewigen Gästen – auf einem
Unrecht.
Und haben wir etwa mehr gesündigt als die Besitzer der Länder? – Gesetzt den
Fall, es gäbe wirklich Wirte und Gäste – und nicht Gott wäre der einzige Wirt
und alle Menschen wären nicht Seine Gäste –, haben wir mehr Fehler begangen
als die Wirte?365
363
Exemplarisch dazu:„Aber noch etwas ist da, was Sie nicht sehen können«, fuhr der Gerechte fort,
»weil Sie ein neuer Gast in unserem Lande sind.“ (Roth: Der Antichrist, S. 115). 364
Roth: Der Antichrist, S. 233. 365
Roth: Der Antichrist, S. 234.
85
Aus diesem Textabschnitt geht die doppelte Funktion des Gastes und des Wirtes hervor.
Einerseits ist der Gast derjenige, der kurz- oder langfristig kein Zuhause hat und beim
Wirt Unterkunft bekommt. Ob der Wirt Geld für diese Dienstleistung bekommt oder
den Gast umsonst aufnimmt, davon wird an dieser Stelle abstrahiert. Andererseits ist
Gott als Wirt derjenige, der allen Menschen in seiner Welt Unterkunft bietet. Im
religiösen Sinne sind alle Menschen folglich Gäste und entfällt also die Trennung
zwischen Gästen und Wirten. Gerade diese Beobachtung führt den Ich-Erzähler dazu,
die Teilung der Welt in Gäste und Wirte, die der Jude in Frage stellt, zu verteidigen:
„Gott hat die Häuser verteilt – sagte ich – und auch die Heimatlosigkeit.“366
Wenn man
wie Eggers davon ausgeht, dass Roth mit der Rolle des Propheten sympathisierte und
der Ich-Erzähler in Der Antichrist unmittelbar mit Roth selber zu identifizieren ist367
,
dann ist Roth der Meinung, dass der Mensch alle Ungerechtigkeit in der Welt
akzeptieren muss und seine Nichtigkeit dem Gott gegenüber immerhin einsehen muss.
So ist „die Heimatlosigkeit“, von der er spricht, im Kontext dieses Zitats kein
unüberwindliches Problem für den Menschen, weil es um den Besitz eines Zuhauses
geht. Ein größeres Problem ist die Heimatlosigkeit im transzendentalen Sinne. Die
transzendentale Heimatlosigkeit ist bei Roth nicht im Sinne Lukács als eine Entfernung
des Menschen von seiner Natur368
, sondern als eine Entfernung von Gott zu verstehen,
oder anders gesagt, als ein Entfernung des Menschen von seiner Position als Gast in der
Welt.
Die doppelte Funktion des Gastes und des Wirtes, die Der Antichrist aufzeigt,
stellt auch die zentrale Beziehung zwischen Gast und Wirt in Tarabas und Hotel Savoy
in ein anderes Licht. Folgendes Zitat veranschaulicht die zwei Bedeutungsebenen des
Gastes in Tarabas:
‹Er war Ihr Gast!› bemerkte der Notar. ‹Er war lange Zeit mein Gast!›
antwortete der Jude Kristianpoller. ‹Er war immerhin ein merkwürdiger Gast im
Wirtshof Kristianpollers!› ‹Er war›, sagte der Notar, ‹immerhin ein
merkwürdiger Gast auf Erden.› Hier horchte der Bruder Eustachius auf. Er
beschloß, auf den Grabstein Tarabas‘ die Inschrift zu setzen: Oberst Nikolaus
Tarabas, ein Gast auf dieser Erde.369
366
Roth: Der Antichrist, S. 234. 367
Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 81. 368
Lukács: Die Theorie des Romans, S. 62. 369
Roth: Tarabas, S. 283.
86
Es wurde bereits erwähnt, dass „ein Gast auf dieser Erde“ eine Anspielung auf den
Psalmvers „Ich bin ein Gast auf Erden; verbirg deine Gebote nicht vor mir“ ist und
somit eine religiöse Bedeutung des Gastes hervorbringt. Die Bezeichnung ᾽Gast᾽ im
Sinne eines Menschen, der unterwegs ist, kommt vielfach im Alten Testament/Tanach
vor, während Gott als Wirt nur explizit bei Roth in Der Antichrist auftritt.370
Wenn man
Roths Romane aus einer religiösen Perspektive betrachtet, sind die Parallelen mit Gott
bei den Hotelwirten Kristianpoller und Kaleguropulos jedoch deutlich bemerkbar. Wo
der Hotelwirt Kaleguropulos sich befindet und wer der Hotelwirt ist, bildet ein
Mysterium, das immer wieder heraufbeschworen wird. Es wurde bereits gesagt, dass
Kaleguropulos‘ Distanz und Anonymität bis jetzt in der Forschung als Symbol des
zeitgenössischen Kapitalismus gedeutet wurden.371
Die Fragen, die sich die
desorientierten Figuren Gabriel Dan, Zwonimir, Stasia usw. nach der Existenz einer
Figur mit einer mächtigen Funktion in einer Welt, die sie nicht begreifen, stellen, laufen
aber weitgehend parallel mit den Fragen, die sich der desorientierte Mensch in der Welt
stellt, wenn er an einer Glaubenskrise leidet. Dass Kaleguropulos immerhin anwesend
war, lässt sich retrospektiv aus der Offenbarung als Ignatz, der zwischen Leben und Tod
schwankt, schließen. Auch hier zeichnet sich eine deutliche Parallele mit der
Christusfigur als Sendung Gottes zum Beweis seiner Existenz, Kraft und Nähe ab.
Somit thematisiert Roth in Hotel Savoy das Verlangen eines Menschen nach einer
Offenbarung Gottes, die sich anhand des Wirtes Kaleguropulos vollzieht. Der Tod des
Gesandten Gottes und die damit zusammenhängende Zerstörung des Hotels weisen
darauf hin, dass der Tod Teil des Lebens ist und dass das Leben fortgesetzt werden soll.
Wo Roth anhand des Hotelwirtes Kaleguropulos die Distanz Gottes literarisiert,
der plötzlich dem Menschen als sehr nah erscheint, macht er dagegen anhand des Wirtes
Kristianpoller deutlich, dass Gott von dem Gast unterwegs nie weit entfernt ist. Wie
Tarabas sich allmählich für den Wirt öffnet, zeigt sich bildhaft in folgendem Zitat,
wobei die erste Annäherung Tarabas‘ an den Wirt Kristianpoller über den Blick geht:
„Und je häufiger ihre Augen sich trafen, desto vertrauter schienen die Männer
miteinander zu werden. Ja, ja, du Jude! sagten die Augen des Obersten Tarabas. Und:
370
Exemplarisch dazu: „Draußen mußte der Gast nicht bleiben, sondern meine Tür tat ich dem Wanderer
auf.“ (Hiob 31,32.). 371
Exemplarisch dazu: Matthias: The hotel as setting, S. 130-132.
87
Ja, ja, du armer Held! sagte das eine, das gesunde Auge des Juden Kristianpoller.“372
Obwohl Kristianpoller unmöglich selber Gott repräsentieren kann – häufig wird
erwähnt wie gottesfürchtig der Wirt ist –, stellt er sich jedoch deutlich als Gesandter
Gottes heraus, weil er Tarabas darauf hinweist, dass dieser nur „[e]in Gast auf dieser
Erde“ ist. Dies zeigt Kristianpoller hier dem Leser durch die Prophezeiung „ja, ja, du
armer Held“ und ein wenig danach auch Tarabas selber, wenn er ihm symbolisch einen
Spiegel vorhält (cf. supra 4.3.3.2.1.). Aufgrund der prozessualen Annäherung zwischen
Tarabas und Kristianpoller, traut sich der Wirt seinem Gast, einem selbstbehauptenden
Katholiken, schließlich den Glauben zu verkündigen:
‹Euer Hochwohlgeboren sind selbst in der Hand Gottes. Er lenkt uns, und wir
wissen nichts. Wir verstehen nicht seine Grausamkeit und nicht seine Güte ... ›
[…] ‹Du versteckst dich immer wieder hinter Gott!› sagte Tarabas. ‹Gott ist
nicht dein Paravent! [...]›373
In diesem Zitat zeigt sich die Gast-Wirt-Metaphorik: Der Wirt Kristianpoller weist als
Stellvertreter von Gott seinen Gast Tarabas darauf hin, dass dieser nur Gast in der Welt
und Gott sein Wirt ist. In diesem Zusammenhang greifen wir auf das Zitat zurück, das
die Frage aufgeworfen hat, auf was oder wem die unbestimmte Kraft beruht, die
Tarabas am Anfang der Geschichte die Tür und das Fenster öffnet:
Er schlief wohl eine Stunde, erwachte dann infolge eines unbekannten
Geräusches, sah, daß seine Tür offen war, ging hin, um sie zu schließen. Ein
Windstoß hatte sie geöffnet. Auch das Fenster gegenüber war offen. Er konnte
nicht mehr einschlafen. Es kam ihm in den Sinn, daß es nicht just der Wind
gewesen sein mußte.374
Die vorhergehende Analyse belegt, dass Gott in diesem Zitat Tarabas
symbolischerweise die Tür und das Fenster öffnet, ihn auf den Weg hilft und ihn
folglich zu„ [e]in[em] Gast auf dieser Erde“ macht. Obwohl Tarabas auch nach
372
Roth: Tarabas, S.198. 373
Roth: Tarabas, S. 227-228. 374
Roth: Tarabas, S. 160; Das ganze Zitat, wie schon erwähnt in 4.2.1.1., lautet in seiner Gesamtheit wie
folgt: „Er ging in sein Zimmer. Er legte sich, so wie er war, Schlamm an den Stiefeln, aufs Bett. Er
schlief wohl eine Stunde, erwachte dann infolge eines unbekannten Geräusches, sah, daß seine Tür offen
war, ging hin, um sie zu schließen. Ein Windstoß hatte sie geöffnet. Auch das Fenster gegenüber war
offen. Er konnte nicht mehr einschlafen. Es kam ihm in den Sinn, daß es nicht just der Wind gewesen sein
mußte. Hatte Maria versucht, ihn wiederzutreffen? - Warum schlief sie nicht mit ihm, in der letzten
Nacht, die er in diesem Hause verbrachte? […] Er öffnete die Tür. […] Jetzt öffnete er Marias Tür. […]
Und er verließ das Zimmer […] Tarabas griff nach Säbel und Mantel und wandte sich zur Tür. Er öffnete
sie, zögerte einen Augenblick, kehrte noch einmal um und spuckte aus. Dann schlug er die Tür zu und
hastete hinaus.“ (Roth: Tarabas, S. 160-161).
88
Kristianpollers Verkündigung des Glaubens wenig Wert auf seine Worte legt, soll sich
zeigen, dass er tatsächlich von Gott gelenkt wird.
In großen Linien geht Tarabas wie folgt weiter: Tarabas reißt den Bart des Juden
Schemerjah ab, bereut diese Tat, will büßen und wandert als Bettler herum.375
Genau
bevor Tarabas am Ende der Geschichte wieder in Koropta auftaucht, zeigt sich, dass
Tarabas zwar den Willen hat, weiter zu gehen – „und er befahl seinen Füßen, zu
wandern“376
–, aber nicht weiß wohin zu gehen. Da die Füße – und nicht der Geist – ihn
lenken, lässt sich vermuten, dass Gott ihn am Ende nach Koropta geführt hat und so
erfüllt sich die Prophezeiung Kristianpollers. Genau wie früher hält Tarabas sich wieder
im Gasthaus „Zum weißen Adler“ auf. Jedoch stellt sich heraus, dass das Gasthaus nicht
das Endziel ist: „‹Hast noch einen weiten Weg?› fragte er [Fedja, der Stallknecht]
‹Nein›, sagte Tarabas, ‹Ich bin fast schon zu Hause!›“377
Tarabas, der zu dieser Zeit
durch die Wanderung erkrankt ist, erlangt vor seinem Tod die erwünschte Absolution
des Juden Schemerjah.378
Daraus folgt einerseits, dass Tarabas am Ende des Lebens
gottesfürchtig geworden ist und Kristianpoller ihn auf den Weg zu Gott geführt hat.
Andererseits stellt sich heraus, dass das Zuhause für Tarabas letztendlich der Tod sein
wird. Dass das Zuhause sich im Tod befindet, wiederholt Roth buchstäblich in Der
Antichrist, dem Werk, das auf Tarabas folgt und das er in „der persönlichen Not
geschrieben“379
hat: „Unsere wahre Heimat ist nämlich der Himmel – und Gäste nur
sind wir auf dieser Erde.“380
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Gast und der Wirt in Tarabas nicht nur
ihre Funktion innerhalb des Raumes, des Gasthofs „Zum weißen Adler“ haben, sondern
sich eine transzendentale Bedeutung der Begriffe einschleicht, die über den Gasthof
hinausgeht. Obwohl sich die Handlung, die den Gast und den Wirt betrifft, in Hotel
Savoy schon innerhalb des Hotelraumes abspielt, zeigt sich, wie anhand der Beziehung
zwischen Gast und Wirt eine transzendentale Heimatlosigkeit thematisiert wird. Daraus
lässt sich nicht nur folgern, dass in Roths Romanen eine Gast-Wirt-Metaphorik
vorhanden ist, sondern auch dass sie die Geschichte mit organisiert.
375
Roth: Tarabas, S. 241-273. 376
Roth: Tarabas, S. 273. 377
Roth: Tarabas, S. 275. 378
vgl. “‹Nicht so viel habe ich gegen ihn! Er soll ruhig sterben! Sag ihm das!›“ (Roth: Tarabas, S. 280) 379
Roth an Stefan Zweig, 14. Juni 1934 (Joseph Roth, Briefe 1911-1939, S. 339). 380
Roth: Der Antichrist, S. 150.
89
5. Schlussfolgerung
Der Ausgangspunkt dieser Arbeit lag in der Feststellung, dass Roths Werke Hotel
Savoy, Panoptikum, Hiob, Tarabas und Der Antichrist einerseits den Heimatbegriff
vielfach heraufbeschwören und andererseits dass die in ihnen auftretenden Figuren
unterwegs sind und sich in Gasthäusern aufhalten. Die Konfrontation beider Phänomene
hat zu der zentralen Frage geführt: Wie verhält sich das Motiv des Gasthauses zu Roths
Heimatdiskurs? Dabei wurde die Hypothese aufgeworfen, dass der Heimatbegriff – im
konventionellen Sinne einer Suche nach einem idealen Wohnort – in Roths Werken
dekonstruiert wird, insofern das Gasthaus als Ort des Übergangs die Romanfiguren in
eine vorwärtsgehende Bewegung treibt und die Struktur des Romans beeinflusst.
Diese Arbeit hat sich an erster Stelle mit der zwiespältigen Interpretation des
Heimatbegriffs in der Rothforschung auseinandergesetzt, die sich zwischen der
Heimatssuche in der Vergangenheit und einer Rhetorik der Deplatzierung bewegt.
Anhand einer Analyse des Anfangskapitels von Tarabas habe ich aber nachgewiesen,
dass die Heimat für die Figuren vor allen Dingen eine sich nicht bloß in der
Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart abspielende Projektion umfasst und
Roth seine fluide Art von Heimatinszenierung von Anfang an ironisiert. Im dritten
Kapitel bin ich näher auf das Motiv des Hotels im Hotelfeuilleton eingegangen und
habe geschlussfolgert, dass es, anders als das Gasthaus in Roths Romanen, nicht die
Komplexität des Raumes heraufbeschwört, sondern eine Faszination für das Hotelleben
thematisiert. Der Unterschied zwischen Roths Hotelfeuilleton und seinen Romanen hat
sich deutlicher in meiner Analyse des Gasthauses als Zwischenraums im vierten und
letzten Kapitel der Arbeit ausgeprägt. Da wurde Heimat als Utopie zuerst mit dem
Gasthaus als Heterotopie verglichen, wobei jene auf Uniformität besteht und dieser sich
aus Widerspruch gestaltet.
Die Ambivalenz des Gasthauses habe ich zuerst auf der territorialen Ebene
untersucht. Es hat sich dabei herausgestellt, dass die territoriale Eigenschaft weniger
einer Fixierung, sondern vielmehr der Polyphonie der Räume unterworfen ist. Zweitens
habe ich dargelegt, wie das Gasthaus eine Spannung zwischen Heim und Welt
hervorruft, die die Funktion des Gasthauses als Übergangsort verstärkt. Das Fenster war
in diesem Zusammenhang nicht nur das Beispiel schlechthin für die Dynamik zwischen
90
Offenheit und Geschlossenheit, sondern symbolisierte auch das Verlangen der
Rothschen Figuren nach einer anderen Welt. Besonders im vorletzten Teilkapitel, in
dem Heimat und Gasthaus in Bezug auf Mythisierung analysiert wurden, hat sich
gezeigt, dass sich diese andere Welt nicht in der Vergangenheit, sondern gerade in der
Zukunft befindet. Wo die Darstellung der Gasthäuser bewusst den Mythos hervorhebt
und hegt, hat sich gezeigt, dass der Heimatmythos – egal, ob er sich auf Russland, den
Krieg oder Amerika bezog – im Voraus auf Entzauberung zielt. So wurde das Gasthaus
und nicht die Heimat ein Raum, der messianische Hoffnungen erzeugt. Schließlich hat
sich herausgestellt, dass das Gasthaus nicht nur ein Raum, sondern ein Konzept in Roths
Werken ist. Die in Der Antichrist ausformulierte und überall vorhandene Gast-Wirt-
Metaphorik hat die dynamische Beziehung zwischen Gast und Wirt in Tarabas und
Hotel Savoy, die schon in vorangehenden Kapiteln betont wurde, in ein anderes Licht
gerückt, indem sie sich auf die Beziehung zwischen Mensch und Gott übertragen ließ
und sich folglich eine transzendentale Bedeutung ergab.
So lässt sich schlussfolgern, dass Roth mit dem Motiv des Gasthauses die
falschen Projektionen der Heimat entlarvt und zugleich die einzig mögliche Heimat
hervorhebt: Gott. Indem das Gasthaus nicht nur die Projizierung der Heimat auf die
Vergangenheit, sondern auch die anderen weltlichen Heimatorte als festes Endziel
dekonstruiert, steht es als textorganisierendes Mittel in unmittelbarer Verbindung mit
Roths Heimatbegriff. Aus dieser Dekonstruktion produziert Roth ein neues Konzept von
Heimat, das zwar eindeutig ein Endziel ist, sich aber nicht auf Erde, sondern jenseitig
befindet.
Dennoch soll diese Schlussfolgerung keineswegs einen Endpunkt in der
Forschung bilden. Um die Bedeutung des Gasthauses und der Heimat bei Roth besser
einschätzen zu können, läge es auch vor der Hand, den Auftritt dieser Motive in allen
Gattungen zu untersuchen. So wurde schon erwähnt, dass das Hotel im Hotelfeuilleton
nur thematisiert wird, aber nicht textorganisierend auftritt, und ließe sich die Frage
aufwerfen, inwieweit Roths Verbindung des Heimatbegriffs mit Gott in seinen
journalistischen Texten zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus könnte man die Analyse
des Hotels, das wie bei Matthias bisher als kapitalistischer Raum und folglich als
Abbild der modernen Gesellschaft berücksichtigt wurde, aus synchroner Perspektive
mit einer Analyse als heterotopisches Gasthaus ergänzen. So könnte man neben der
91
thematischen auch die strukturelle Funktion des Gasthauses in der Weimarer Zeit einer
näheren Betrachtung unterwerfen und untersuchen, wie sich andere Autoren der
Moderne wie Franz Kafka, Thomas Mann und Stefan Zweig mit dem Motiv
auseinandergesetzt haben. Hat die Arbeit diese Fragen nicht in ihre Analyse aufnehmen
können, so bezeugen diese Ausblicke und Ansätze dennoch all die neuen Wege, die die
Untersuchung in ihrer erstmaligen Betrachtung des Gasthauses als textkonstitutives
Motiv in Roths Werken betreten hat. Denn diese Studie hat dargelegt, dass der
Heimatbegriff bei Roth keineswegs nur auf einer diskursiven Ebene zu situieren ist,
sondern hat vor allen Dingen die Heimatsuche in Roths Werken als eine gezielte
Transzendentalisierung des Daseins erkannt.
92
6. Bibliographie
Primärliteratur:
Améry, Jean: „Jenseits von Schuld und Sühne“. In: Jean Améry Werke. Band II. Hg. v.
Irene Heidelberger-Leonard. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 7-177.
Améry, Jean: „Örtlichkeiten“. In: Jean Améry Werke. Band II. Hg. v. Irene
Heidelberger-Leonard. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 351-489.
Die Bibel. Übersetzt von Martin Luther. 1912. Bibel-online.net.
http://bibel-online.net/buch/luther_1912/ (abgerufen am 25. Juli 2013).
Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. München:
Deutscher Taschenbuch 200948
.
Homer: Odyssee. Übersetzt v. Johann Heinrich Voß. Frankfurt am Main: Insel 1990.
Kafka, Franz: Der Verschollene. Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt am Main: Fischer
Verlag 1983.
Kant, Immanuel: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“. In: Immanuel Kant,
Werke in zwölf Bänden. Band XI. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1977, S. 53-61.
Kracauer, Siegfried: „Die Hotelhalle”. In: Das Ornament der Masse. Essays mit einem
Nachwort von Karsten Witte. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 157-170.
Ovidius, Publius Naso: Metamorphosen. Vertaald en toegelicht door M. D’Hane-
Scheltema. Amsterdam: Athenaeum 2011.
Joseph Roth, Briefe 1911-1939. Hg. v. Hermann Kesten. Köln: Kiepenheuer & Witsch
1970.
Roth, Joseph: Der Antichrist. Amsterdam: Allert De Lange 1934.
--: „Glauben und Fortschritt“. In: Joseph Roth Werke 3. Das journalistische Werk 1929-
1939. Hg. und mit einem Nachwort v. Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch
1989, S. 691-705.
--: Hiob. Köln: Kiepenheuer & Witsch 200040
.
--: „Hotel Savoy“. In: Joseph Roth Werke. Band I. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1956,
S. 797-890.
--: Panoptikum. Gestalten und Kulissen. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1983.
93
--: „Die Scholle“. In: Joseph Roth Werke 3. Das journalistische Werk 1929-1939. Hg.
und mit einem Nachwort v. Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S.
167-168.
--: „Der Stumme Prophet”. In: Joseph Roth Werke 4. Romane und Erzählungen 1916-
1929. Hg. und mit einem Nachwort v. Fritz Hackert. Köln: Kiepenheuer & Witsch
1989, S. 773-929.
--: „Tarabas“. In: Joseph Roth Werke. Band 2. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1956, S.
139-285.
Sekundärliteratur:
Amthor, Wiebke: „An den Toren Europas. Heterotopie und Passage im Werk Joseph
Roths“. In: Joseph Roth – Zur Modernität des melancholischen Blicks. Hg. v. Wiebke
Amthor und Hans Richard Brittnacher. Berlin: Walter de Gruyter 2012, S. 117-138.
Bastian, Andrea: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in
verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache. Tübingen: Niemeyer 1995.
Bausinger, Hermann: „Heimat und Identität“. In: Heimat. Sehnsucht nach Identität. Hg.
v. Elisabeth Moosmann. Berlin: Ästhetik und Kommunikation 1980, S. 12-29.
Becker, Sabine: Neue Sachlichkeit. Band 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur
(1920-1933). Köln: Böhlau Verlag 2000.
Behschnitt, Wolfgang: „Die Konstruktion von Heimat in der Literatur. Zu Fredrika
Bremers Roman Die Mitsommerreise“. In: Grenzgänger zwischen Kulturen. Band I. Hg
v. Monika Fludernik und Hans-Joachim Gehrke. Würzburg: Ergon 1999, S. 349-363.
Beug, Joachim: „Die Grenzschenke. Zu einem literarischen Topos”. In: Co-Existent
contradictions. Joseph Roth in Retrospect. California: Ariadne press, S. 148-165.
Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967.
Bohlman, Philip V.: „Jüdische Lebenswelten zwischen Utopie und Heterotopie,
jüdische Musik zwischen Schtetl und Ghetto“. In: Lied und populäre Kultur 47 (2002),
S. 29-57.
Bouman, Johan: „Messias I. Religionsgeschichtlich“. In: Lexikon für Theologie und
Kirche. Bd. VII. Hg. v. Walter Kasper u.a. Freiburg im Breisgau: Herder 2006, S. 167-
168.
Bronsen, David: „Roth und sein Lebenskampf um ein inneres Österreich“ In: Joseph
Roth und die Tradition. Hg. v. David Bronsen. Darmstadt: Agora 1975, S. 3-16.
--: „Vorwort des Herausgebers: Joseph Roth und die Tradition“. In: Joseph Roth und die
Tradition. Hg. v. David Bronsen. Darmstadt: Agora 1975 , S. XII-XVI.
94
Bürkle, Horst: „Bestattung I. Religionsgeschichtlich“. In: Lexikon für Theologie und
Kirche. Band II. Hg. v. Walter Kasper u.a. Freiburg im Breisgau: Herder 2006, S. 321-
322.
Dräger, Paul: „Charon“. In: Der Neue Pauly. Hg. v. Hubert Cancik, Helmuth Schneider
und Manfred Landfester. Brill Online 2013 .
http://referenceworks.brillonline.com/entries/der-neue-pauly/charon-e231980
(abgerufen am 05 August 2013).
Eggers, Frank Joachim: „Ich bin ein Katholik mit jüdischem Gehirn": Modernitätskritik
und Religion bei Joseph Roth und Franz Werfel; Untersuchungen zu den erzählerischen
Werken. Frankfurt am Main: Peter Lang 1996.
Foucault, Michel: „Andere Räume“. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder
Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Hg. v. Karlheinz Barck, Peter Gent, u.a.
Leipzig: Reclam 1990, S. 34-46.
Friedrich, Hans-Edwin: „Utopie“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft.
Bd. III. Hg. v. Jan-Dirk Müller u.a. Berlin u. New York: de Gruyter 2003, S. 739-743.
Gebhard, Gunther/Geisler, Oliver/Schröter, Steffen: „Heimatdenken: Konjunkturen und
Konturen. Statt einer Einleitung“. In: Heimat. Konturen und Konjunkturen eines
umstrittenen Konzepts. Bielefeld: Transcript 2007, S. 9-56.
Gehrke, Hans-Joachim: „Artifizielle und natürliche Grenzen in der Perspektive der
Geschichtswissenschaft“. In: Grenzgänger zwischen Kulturen. Band I. Hg v. Monika
Fludernik und Hans-Joachim Gehrke. Würzburg: Ergon 1999, S. 27-33.
Geisau, Hans von: „Charon 1.”. In: Der kleine Pauly : Lexikon der Antike. Bd. I. Hg. v.
Konrat Ziegler und Walther Sontheimer. Stuttgart: Alfred Druckenmüller 1964, S.
1138-1139.
Gerhard, Ute: Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und
Wanderung in der Weimarer Republik. Opladen: Westdeutscher Verlag 1998.
Gessel, Wilhelm M.: „Grab. I. Antike“. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Band II.
Hg. von Walter Kasper u.a. Freiburg im Breisgau: Herder 2006, S. 967-968.
Greverus, Ina Maria: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch
zum Heimatphänomen. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag 1972.
Hartmann, Telse: Kultur und Identität. Szenarien der Deplazierung im Werk Joseph
Roths. Tübingen: Narr Francke Attempto 2006.
Art.: „Heimat“. In: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Hg. v. Friedrich
Kluge. 24. Auflage. Bearbeitet von Elmar Seebold. Berlin: De Gruyter 2002, S. 402.
95
Art.: „Heimat“. In: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Band I. Hg. v.
Wolfgang Pfeifer. 2. Auflage. Berlin: Akademie 1993, S. 525.
Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische
Fragmente. Frankfurt a. M.: Fischer, 1977 (Erstausgabe New York 1944).
Jacobs, Louis: „Messiah“. In: Encyclopaedia Judaica. Hg. v. Michael Berenbaum and
Fred Skolnik. 2. Ausgabe. Band XIV. Detroit: Macmillan Reference USA 2007, S. 110-
115.
Kaszyński, Stefan H.: „Die Mythisierung der Wirklichkeit im Erzählwerk von Joseph
Roth“. In: Literatur und Kritik 243/244 (April/ Mai 1990), S. 137-143.
Kruse, Jens: „Lukács' Theorie des Romans und Kafkas In der Strafkolonie: eine
Konstellation im Jahre 1914“. In: German Studies Review 10:2 (Mai 1987), S. 237-253.
Lazaroms, Ilse Josepha: The grace of misery : Joseph Roth and the politics of exile,
1919-1939. Leiden: Koninklijke Brill 2013.
Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt v. Rolf-Dietrich Keil.
München: Wilhelm Fink 1972.
Lukács, Georg: Die Theorie des Romans: ein geschichtsphilosophischer Versuch über
die Formen der großen Epik. Neuwied/Rhein: Luchterhand 1965.
Matthias, Bettina: The hotel as setting in early twentieth-century German and Austrian
literature: checking in to tell a story. Rochester: Camden House 2006.
--: „‹Transzendental heimatlos›. Zum kultur- und sozialgeschichtlichen Ort literarischer
Hotels in der deutschsprachigen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts“. In: Arcadia 40:1
(2005), S. 117-138.
Mueller, Thomas: „Hotelgeschichte und Hotelgeschichten“. In: Natur, Räume,
Landschaften. 2. Internationales Kingstoner Symposium. Hg. v. Burkhardt Krause und
Ulrich Scheck. München: Iudicium 1996, S. 189-199.
Müller, Karlheinz: „Antichrist I. Im AT, Frühjudentum und NT“. In: Lexikon für
Theologie und Kirche. Bd. I. Hg. v. Walter Kasper u.a. Freiburg im Breisgau: Herder
2006, S. 744-745.
Müller-Funk, Wolfgang: „Der Antichrist. Joseph Roths Dämonologie der Moderne“ In:
Literatur und Kritik 243/244 (April/ Mai 1990), S. 115-123.
--: Joseph Roth. München: C. H. Beck 1989.
Müller-Richter, Klaus: „Einleitung – Imaginäre Topografien. Migration und
Verortung“. In: Imaginäre Topografien. Migration und Verortung. Hg. v. Klaus Müller-
Richter und Ramona Uritescu-Lombard. Bielefeld: Trancript Verlag 2007, S. 11-31.
96
Raffel, Eva: Vertraute Fremde: das östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und
Arnold Zweig. Tübingen: Gunter Narr 2002.
Reiber, Joachim: „‹Ein Mann sucht sein Vaterland.› Zur Entwicklung des
Österreichbildes bei Joseph Roth“. In: Literatur und Kritik 243/244 (April/ Mai 1990),
S. 103-114.
Rosenfeld, Sidney: „Glaube und Heimat im Bild des Raumes“. In: The Journal of
English and Germanic Philology 66:4 (Oktober 1967), S. 489-500.
Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und
Geopolitik. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 20093.
Snick, Els: Waar het me slecht gaat is mijn vaterland. Joseph Roth in Nederland en
België. Amsterdam: Bas Lubberhuizen 2013.
Art.: „Tod“. In: Der Brockhaus. Religionen. Glauben, Riten, Heilige. Hg. v. der
Lexikonredaktion des Verlags F.A. Brockhaus. Leipzig: Mannheim 2004, S. 644.
Tonnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen
Soziologie. 2., durchgesehener und berichtigter reprografischer Nachdruck der Ausgabe
Darmstadt 1963. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970.
Vernant, Jean-Pierre: „Ambiguity and Reversal: On the Enigmatic Structure of Oedipus
Rex”. Übersetzt von Page duBois. In: New Literary History 9:3. (1978), S. 475-501.
Waldenfels, Bernhard: „Heimat in der Fremde“. In: Worin noch niemand war: Heimat :
eine Auseinandersetzung mit einem strapazierten Begriff. Historisch – philosophisch –
architektonisch. Hg. v. Eduard Führ. Wiesbaden: Bauverlag 1985, S. 33-41.