archithese 5.10 - Russland / Russia

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archithese Russische Architektur 1991–2010 Perspektiven heutiger Architektur in Russland Russlands Architektur und das Bild vom Westen Industriestädte des russischen Nordens Perm, eine Metropole am Rand Europas Masterplan Perm von KCAP Interview Sergei Tchoban Krapivna – Probleme in der russischen Provinz Abriss, Rekonstruktion und Fälschung Zwischen Kunst und Architektur Sowjetische Architektur zwischen Stalin und Glasnost Das Melnikow-Haus in Moskau 6a Raven Row, London Interview e2a 5.2010 Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur International thematic review for architecture Russland Russia

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architheseRussische Architektur 1991–2010

Perspektiven heutiger Architektur in Russland

Russlands Architektur und das Bild vom Westen

Industriestädte des russischen Nordens

Perm, eine Metropole am Rand Europas

Masterplan Perm von KCAP

Interview Sergei Tchoban

Krapivna – Probleme in der russischen Provinz

Abriss, Rekonstruktion und Fälschung

Zwischen Kunst und Architektur

Sowjetische Architektur zwischen Stalin und Glasnost

Das Melnikow-Haus in Moskau

6a Raven Row, London

Interview e2a

5.2010

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

International thematic review for architecture

Russland

Russia

Jean-Marie Massaud

Patricia Urquiola

Philippe Starck

Antonio Citterio

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Axor BouroullecSchweizer Premiere

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Leserdienst 115

2 archithese 5.2010

E D I T O R I A L

Russland

Vierzig Grad im Schatten, die Silhouette der Stadt in gelblich-grauen Dunst gehüllt,

rauchiger Brandgeruch: In diesem Sommer wirkte Moskau wie eine apokalyp-

tische Riesenmetropole. Die rings um die Stadt schwelenden Torffeuer sind

gleichermassen ein Produkt der sozialistischen Ära wie der seither vergangenen

zwei Dekaden: Die Torfabbaugebiete, zuvor zur Energiegewinnung ausgebeutet,

sind sich selbst überlassen worden und entzündeten sich in den heissen Monaten

des Jahres. So können die Feuer als Indikator für einen abrupten, kaum abgefe-

derten Wandel von der sozialistischen Planwirtschaft zu einem hemmungslosen

Turbokapitalismus verstanden werden, bei dem der Gewinn des Einzelnen alles ist,

das Gemeinwohl dagegen kaum etwas zählt. Die Schere zwischen Arm und Reich

hat denn auch Dimensionen angenommen, welche mit dem Einkommens- und

Besitzgefälle im übrigen Europa nicht zu vergleichen ist.

Bitter und resignativ fällt daher das Resümee von Evgeny Asse aus, der als

Lehrer an der Moskauer Architekturfakultät unterrichtet, inzwischen aber auf das

Bauen mehr oder minder verzichtet. Korruption, absurde Bürokratie und schlechte

Bauausführung sind nur drei der Faktoren, welche eine qualitätvolle Architektur

behindern, zumeist sogar verhindern. Noch mehr aber schmerzt Asse, dass der

soziale Aspekt der Architektur überhaupt keine Rolle spielt. Gebaut wird, was

den Investoren Profit verspricht: Shopping Malls, Bürogebäude, Gated Commu-

nities. Öffentliche Bauaufgaben werden vernachlässigt, ein Wettbewerbswesen

ist so gut wie unbekannt. Bei einigen Prestigeprojekten – etwa dem Mariinskij-

Theater oder dem Gazprom-Tower in St. Petersburg – fanden zwar Konkurrenzen

statt, doch das Schaulaufen westlicher Architekturstars führte nicht zum Erfolg:

Kaum ein ausländischer Stararchitekt, der es geschafft hätte, ein Bauprojekt in

Russland auch wirklich auszuführen. Als ein leises Hoffnungszeichen sieht Asse

die unlängst gegründete Architekturschule Strelka, in unmittelbarer Nähe des

Kreml am Ufer der Moskwa gelegen. Von Rem Koolhaas und seinem Thinktank

AMO programmiert, ist Strelka ein Gegenentwurf zu den noch ganz auf der Beaux-

Arts-Tradition fussenden russischen Architekturfakultäten. Finanziert wird sie

von einigen wohlhabenden Privatleuten, die sich des Wohlwollens der russischen

Führungselite erfreuen. Doch das kann sich in Russland schnell ändern.

Das vorliegende Heft wurde gemeinsam mit der in Berlin lebenden Architektin

und Architekturkritikerin Elena Kossovskaja konzipiert und realisiert.

Redaktion

Konstantin Melni-

kow: Gosplan-

Garage, Aviamotor-

naya, Moskau

1934 –1936

(Foto: Hubertus Adam)

12 archithese 5.2010

6A ARCHITECTS, RAVEN ROW, LONDON

Vier Jahre dauerte es, um 290 Jahre Bauge-

schichte weiterzuführen und zwei Seidenhänd-

lerhäuser in London in ein Ausstellungszent-

rum für zeitgenössische Kunst umzuwandeln.

Das Ergebnis zeugt von einer intensiven Be-

ziehung zur Architektur und zu den beteiligten

Menschen, sowohl in der Gegenwart als auch

in der Vergangenheit.

Bei der diesjährigen Biennale in Venedig hob Rem

Koolhaas zur Überraschung vieler Gäste das Thema

der Erhaltung von Bausubstanz und damit den Um-

gang mit Bestand und Geschichte auf das Tableau

der Architekturdiskussion. Ein prominenter, wenn

auch nicht ganz uneigennütziger Versuch, Konzepte

jenseits der plumpen Polarität von politisch-monetär

motivierter Geschichtsverachtung durch Totalabriss

und ebenso radikaler nostalgischer Musealisierung

von Bausubstanz zu vermitteln.

Seine Aktualität erhält das Thema insbeson-

dere durch den begonnenen Abriss des denkmal-

geschützten Stuttgarter Bahnhofs. Der dadurch

hervorgerufene Wiederstand verdeutlicht das ge-

bundene emotionale Potenzial unserer gebauten

Umwelt. Während in Schwaben der Abbruch Wut

entfacht, beschwichtigt an anderen Orten die Re-

konstruktion mit der korrigierten Erinnerung einer

vergangen Zeit. Abriss wie Rekonstruktion negieren

die Auseinandersetzung mit dem Bestand der Ge-

genwart. Der virtuose Umgang mit der Realität der

Gegebenheiten scheint oftmals zu komplex, zu an-

spruchsvoll, um gewinnbringend vermittelt werden

zu können.

Abbild des Denkens der jeweiligen Zeit zu Fragen

über Erhalt, Erneuerung und Verlust ist das Verhält-

nis von Architektur und Denkmalschutz, der staatli-

chen «Zeitbehörde», bestimmt durch Machtstruktur

und entsprechende Entscheidungsprozesse. So

wird der Denkmalschutz in Deutschland derzeit

kaum noch als Instanz wahrgenommen und dessen

Kompetenz sowie Funktion durch politische Be-

schlüsse und Interessen marginalisiert.

Auch in England entfachen sich immer wieder

Debatten um den Erhalt historischer Bauwerke, wie

zuletzt der Streit um Abriss oder Schutz von Robin

Hood Gardens oder in Analogie zu Stuttgart der

1962 vollzogene Abriss der Old Euston Station in

London bezeugen. Bis heute löst der Verlust von

Euston Station grosses Bedauern aus, sensibilisier-

te jedoch gleichzeitig für die Bedeutung des Erhalts

wichtiger Bauten und führte zur Gründung von In-

1

A R C H I T E K T U R A K T U E L L

Die Zukunft der Vergangenheit

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teressensgruppen wie der Victorian Society. Das

heutige englische System kennt drei Kategorien des

listings von Grade II über Grade II * hin zum sakro-

sankten Grade I.

Dass ein Grade I listing höchste Anforderung an

die Bauherrschaft stellt, bezeugen mitunter Verfall

und Leerstand mancher Objekte. So standen auch

die beiden Stadthäuser Artillery Lane No 56 und

58 (bis 1895 No 3 und 4 Raven Row) im Londoner

Stadtteil Spitalfields (E1) über zehn Jahre leer. Le-

diglich zwei alte Damen wohnten im Dachgeschoss.

Von Nikolaus Pevsner, dem grossen Vermesser der

englischen Architektur und Gründungsmitglied der

Victorian Society, in seiner Buchreihe The Buildings

of England als hervorragendes Beispiel von Seiden-

händlerhäusern des 18. Jahrhunderts gelobt, dau-

erte es bis 2005, dass Alex Sainsbury die um 1720

errichteten Gebäude als Ort zur Umsetzung seines

lang gehegten Wunsches einer nichtkommerziellen

Galerie entdeckte. Sainsbury, Spross einer Familie,

die sich dank ihres Vermögens aus der gleichnami-

gen Supermarktkette bereits mit dem Sainsbury’s

Wing der National Gallery von Venturi Scott Brown

in der Kunstwelt Londons als Patron hervortat, hatte

bereits im Alter von dreissig Jahren Tony Fretton

mit dem Bau seines Hauses in Chelsea beauftragt,

das als fertiggestelltes, sandsteinverkleidetes Red

House von 2001 eines der wichtigen frühen Projekte

Frettons darstellt. Für seine Galerie wandte er sich,

im Sinne der Förderung junger Talente, an das Büro

6a unter der Leitung von Tom Emerson und Stepha-

nie Macdonald – beide ehemalige Schüler von Fret-

ton am Royal College of Arts in London. 6a wandelte

und erweiterte mit Intelligenz und Wertschätzung

von Tradition und Geschichte die beiden Gebäude

zu eleganten Räumen für die Kunst, ohne dabei die

eigene Identität als Gestalter zu verleugnen.

Animistischer Denkmaldiskurs

6a folgen keinem kunsthistorischen Denkmaldis-

kurs, sondern stehen vielmehr in der sehr engli-

schen Tradition des as found als einer Faszination

2 3

4 Artillery Lane No 56 mit

Rokoko-Ladenfassade und

verlängerten Fenstern des

Regency im ersten Ober-

schoss um 1756 (Bildmitte).

Links davon Artillery Lane

No 58, vormals identisch,

nun mit vereinfachter

Regency-Ladenfront

1 Intendiert angekohlte

Bretterverschalung der

Lichtdome im Innenhof

von Raven Row

(Foto: 6a)

2 Kabinettraum im ersten

Obergeschoss

(Fotos: 2, 4 – 6: David Grandorge)

3 Derselbe Kabinettraum

nach dem Feuer im Jahr

1972

22 archithese 5.2010

Text: Elena Kossovskaja

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Privati-

zacija – eine Privatisierungswelle aller ehemals staatlichen

Güter im postsozialistischen Russland – ein entscheidendes

Ereignis auf dem Weg des Landes in die freie Marktwirt-

schaft. Eine Wiedereinführung des Bodeneigentums bedeu-

tete eine totale Umstrukturierung der Baubranche: Private

Bauherren und neue Bauaufgaben kündigten sich an. Private

Architekturbüros, von den ehemaligen Mitarbeitern grosser

Planungsinstitute gegründet, schossen wie Pilze aus dem

Boden, um sich den Herausforderungen des freien Marktes

zu stellen. Die wichtigste Aufgabe dieser Zeit war neben

den Inneneinrichtungen der ehemaligen Komunalka, der

kommunalen Wohnungen, zu Domizilen frisch gebackener

Millionäre die Errichtung von Cottages, also Landhäusern

für dieselbe Klientel. Rote Backsteinburgen hinter hohen

Zäunen entsprachen dem Geschmack der durch Geld über-

forderten Bauherren. Der den Wirren der Übergangszeit

geschuldeten programmatischen Forderung «Mein Haus –

meine Burg» konnten die Architekten mit nur begrenzten

architektonischen Mitteln entgegensteuern, so wie es bei

dem Haus in Snegiri vom Architekturstudio Velichkin und

Golovanov der Fall ist. Mitte der Neunzigerjahre, als sich

die wilde Phase einer anfänglichen Kapitalaneignung ihrem

Ende zuneigte, bahnten sich grössere Investitionsstrukturen

an, und auch neue und grössere Bauaufgaben gewannen an

Bedeutung. Banken und Bürobauten, Hotels und Einkaufs-

zentren kamen hinzu, und auch Architekturbüros machten

inzwischen notwendige Erfahrungen im Umgang mit den

widersprüchlichen Baugesetzen und korrupten Behörden.

Russische Architektur 1991 – 2010 Vom Sozialismus in den Turbokapitalismus katapultiert,

haben sich die Verhältnisse in Russland binnen zweier Dekaden grundlegend gewandelt. Ein Überblick

über Architektur und Städtebau der letzten zwanzig Jahre.

NACH DER WENDE

1 Architekturstudio

Velichkin und Golo-

vanov: Landhaus

Dom v Snegirjah,

Snegiri 1992

(Foto: Architekten)

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Tradition als Inspiration

Eine Interpretation der Normen und Massstäbe des west-

lichen Kulturraums führte auf dem Gebiet der Architektur

zu einer stilistischen Vielfalt, die einer westlichen Postmo-

derne zwar nahesteht, doch mit einem erstaunlichen Ernst

angewandt wird, dessen Ursprünge in der sozialistischen

Vergangenheit zu suchen sind. Die Kunst wie auch das üb-

rige Leben unterlagen damals einer strengen Zensur: Der

blosse Verdacht einer Regimekritik reichte für ein Schreib-

oder Zeichenverbot aus und führte sogar in einigen Fällen zur

Inhaftierung des Beschuldigten. In der Aussichtslosigkeit ei-

ner Totalkontrolle durch den Staat lernte es die Intelligenzija,

das Regime durch mehrere in ihren Werken zu entdeckende

Bedeutungsschichten zu überlisten. Der geübte Blick eines

sowjetischen Bürgers erkannte schliesslich eine versteckte

Ironie – die eigentliche Kritik –, die am Rande einer noch

systemkonformen Aussage lag. So steht die durchaus ernste

Absicht eines russischen Architekten der postsozialistischen

Zeit der ironischen Distanziertheit einer westlichen Postmo-

derne gegenüber. Die russischen Architekten sind heutzu-

tage genauso gezwungen, den Schrecken einer – inzwischen –

wirtschaftlichen Realität zu überwinden. Sie sind nicht mehr

der Partei verpflichtet, sondern stehen im Dienste der Bau-

herren, die sich ihrerseits der Willkür der Machthabenden

unterwerfen. Ein weiterer Unterschied zur postmodernen

Architektur des Westens besteht zunächst einmal in der stilis-

tischen Abgeschlossenheit der neu entstehenden Bauwerke –

ob es sich nun um Neokonstruktivismus, Klassizismus oder

Reminiszenzen an neonationale Stile handelt.

In vielen Bauten, die in Nizhni Novgorod unter Einwir-

kung von Alexander Haritonov, der von 1989 bis zu seinem

Unfalltod 1999 Stadtbaumeister war, entstanden, wurde

auf der Suche nach einer neuen nationalen Architektur eine

Wiederaufnahme des Stil Modern, des russischen Jugend-

stils, versucht. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Bank

Garantija, die von Charitonov und seinem langjährigem

Partner Pestov 1995 fertiggestellt wurde. Eine Neuinter-

pretation von Konstruktivismus und Avantgardekunst der

frühen Zwanzigerjahre fand vor allem in elitären Architek-

turkreisen grossen Anklang. Das Bankgebäude von Julij

Badanov am Andronjevski-Platz bezeichnet der Architekt als

neokonstruktivistisch, das Einkaufszentrum City von Popov

und Pestov Architekten spielt im wahrsten Sinne des Wortes

mit den Avantgardebildern: Das geschlossene Volumen des

Shoppingcenters wird durch eine vor- und zurückspringende

Fassade – frei nach Mondrian – belebt. Dass die ersten aus-

ländischen Architekten, die Mitte der Neunzigerjahre nach

Russland eingeladen wurden, bedeutende Vertreter einer

westlichen Postmoderne waren (auch wenn sie im Westen

mittlerweile an Popularität eingebüsst hatten), hängt mit

dem Ausbleiben dieser Bewegung – aufgrund ihrer ideolo-

gischen Unzuverlässigkeit – in der Sowjetunion zusammen.

Mario Botta, Ricardo Bofill oder Rafael Moneo kamen nach

Russland in der Hoffnung, dort zu bauen, doch gelang es

bislang keinem von ihnen, ein eigenes Bauwerk zu errich-

ten: Das Misstrauen gegenüber den Fremden überwiegt

2 Architektur-

studio Haritonov

und Pestov: Bank

Garantija, Nizhni

Novgorod 1995

(Foto: Architekten)

3 Architekturstudio

Badanov: Bank-

gebäude Sberbank,

Moskau 1998

(Foto: Hubertus Adam)

4 Architekturstudio

Tkachenko: Mosenka

Park Towers,

Moskau, 1996

(Foto: Architekten)

44 archithese 5.2010

Abriss, Rekonstruktion und Fälschung der Geschichte in der postsowjetischen Moskauer Architektur

Über zweihundert denkmalgeschützte Bauten wurden in den letzten Jahren in Moskau abgerissen.

Historische Bausubstanz steht dem ökonomischen Profit im Weg und wird – wenn überhaupt – gedankenlos

nachempfunden und banal imitiert.

DIE POTEMKINSCHE METROPOLE

Text: Jan Skuratowski

Einer Überlieferung zufolge liess der Feldmarschall Fürst Gri-

gori Potjomkin, Günstling und Liebhaber der russischen Zarin

Katharina II., 1787 vor dem Besuch seiner Herrscherin im neu

eroberten Krimgebiet entlang der Wegstrecke Dörfer aus be-

malten Kulissen zum Schein errichten, um das wahre Gesicht

der Gegend zu verbergen. Beim Passieren dieser Blendwerke

wusste die Zarin nicht, dass die Häuser hinter den riesigen

Triumphbögen keine Dächer, keine Türen und keine Fenster

hatten, dass hinter den Häusern keine Strassen und in den

Dörfern keine Menschen lebten. Dass die Viehherden eigens

für den trügerischen Schein zum Schauplatz gezerrt wurden,

bloss um vor ihren Augen zu weiden und dass die tanzenden

Bauern und Bäuerinnen in Wirklichkeit elende Sklaven wa-

ren, die auf Potjomkins Geheiss zusammengetrommelt wur-

den. Auch wusste sie nicht, dass diese liebliche Märchenwelt

versinken wird, sobald sie an ihr vorbeigezogen ist.

Die Stadt wird Attrappe

Moskau, zweihundert Jahre später: Blickt man auf die Stadtku-

lisse, so erkennt das aufmerksame Auge sofort – der Vorhang

ist noch nicht gefallen. Die potemkinsche Chimäre hat sich

in Moskau eingenistet und eine erschreckende Eigen-

dynamik entwickelt.

Die alte Stadt mit ruhmreicher Vergangenheit mutiert

zu einer Attrappe, in der historische Bauten niedergerissen

und in Nacht-und-Nebel-Aktionen ohne restauratorischen

und denkmalpflegerischen Anspruch wieder aus dem Boden

gestampft werden. Heute ist der Beweggrund aber längst

nicht mehr so edel wie noch vor zwei Jahrhunderten. Es geht

nicht mehr darum, durch den Aufbau einer Märchenstadt

das Herz der Geliebten zu beflügeln, sondern mit möglichst

wenig Aufwand alte Gebäude zu vernichten, sie möglichst

schnell und billig wiederaufzubauen, um mehr Profit aus ih-

nen schlagen und gleichzeitig den Schein einer historischen

Stadt beibehalten zu können. Letzteres lässt sich jedoch in

den seltensten Fällen realisieren, weil das blinde Profitstre-

ben einer verantwortungsbewussten Ausführung im Wege

steht. So kommt es, dass es dem Stadtzentrum in zunehmen-

dem Mass an Glaubwürdigkeit und Würde fehlt und die histo-

rische Mitte allmählich ihre Besonderheit, ihre Authentizität

verliert und zu einem hedonistischen Vergnügungspark à la

Disneyland verkommt.

Standardisierten und mittelprächtigen architektoni-

schen Neuerscheinungen werden eilig rekonstruierte «his-

torische» Bauten zur Seite gestellt. Das visuelle Gewirr der

Strassenwerbung, untermalt von der urbanen Kakofonie

1

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1 Woskresenski-Tor,

Moskau 1994–1995

(Foto: Hubertus Adam)

2 Rekonstruierte

Kazanski-Kathedrale,

Moskau 1992–1993

(Foto: Hubertus Adam)

2

des chronischen Verkehrschaos, bietet dieser stilwidrigen

Zweckgemeinschaft einen geistlosen Rahmen. Viele einst

nostalgisch-verträumte Gässchen werden für die neu auf-

strebende Schickeria umfunktioniert. Statt alteingesessenen

Einwohnern, die systematisch aus dem Zentrum vertrieben

werden, stöckeln nun in Gucci verpackte und mit Botox voll-

gepumpte Oligarchen-Ehefrauen durch die Strassen und wei-

den sich am historischen Betrug – an den architektonischen

Schönheitsoperationen. Die zwei grössten Bauunternehmer

Russlands, Leonid Kazinets und Shalva Chigirinsky, machen

aus diesem kommerziellen Schwindel keinen Hehl und er-

klären unumwunden, dass alle neuen Projekte in der histo-

rischen Stadtmitte ausschliesslich den Bedarf der Reichen

decken müssten.

Aber wie begann dieser merkwürdige Prozess der Verfäl-

schung des städtischen Raums? Seit dem Zusammenbruch

der Sowjetunion Anfang der Neunzigerjahre des vergange-

nen Jahrhunderts beschäftigte man sich unter der Schirm-

herrschaft der Regierung ausgiebig mit der «Wiedererrich-

tung» von Bauten aus dem 17. bis 19. Jahrhundert. Diese

wurden in den Zwanzigerjahren zwar teilweise renoviert,

aber bereits in den Dreissigern abgerissen und seit den

Neunzigerjahren nahezu in Lichtgeschwindigkeit wieder

aus dem Boden gestampft. Dazu zählten unter anderem die

Kazanski-Kathedrale (1620 –1636, wiedererrichtet 1992/1993),

das Woskresenski-Tor am Roten Platz (1680, wiedererrichtet

1994/1995) sowie die grösste Kathedrale der Hauptstadt –

die Erlöser-Kathedrale, die anlässlich des Sieges Russlands

über Napoleon Bonaparte im Grossen Vaterländischen Krieg

von 1812 gebaut wurde (Architekt K. Thon, Bauphase 1837–

1883, gesprengt 1931, wiedererrichtet 1995 –2002). All diese

Bauinitiativen wurden zu Symbolen einer neuen russischen

Geschichte und lösten breite öffentliche Diskussionen aus.

Zwar stellten diese Massnahmen die historische Silhouette

der Stadt, die zu Sowjetzeiten verloren gegangen war, teil-

weise wieder her, aber die unzähligen Abweichungen vom

Original hinsichtlich der Abmasse, der Gebäudehöhen, der

Materialbeschaffenheit zeugen davon, dass sowohl für den

Auftraggeber wie für die ausführenden Unternehmen ein

schnelles Ergebnis die weitaus grössere Rolle spielte als ein

wissenschaftlich solider Wiederaufbau.

Bei den Arbeiten an der Erlöser-Kathedrale, dem ambitio-

niertesten aller Projekte, wurde auf eine restauratorische

Vorgehensweise fast gänzlich verzichtet. Das Projekt ge-

langte nämlich nicht in die Hände von versierten Restaurato-

ren, sondern von kommerziell ausgerichteten Architekten. So

trägt man dem Wiederaufbau des historischen Gebäudes der

56 archithese 5.2010

Text: Anna Zhelnina, Alla Bolotova

Im Laufe des Zwanzigsten Jahrhunderts hat sich die Anzahl

der russischen Städte mehr als verdoppelt: Gab es im Jahr

1897 noch 430 Städte, waren es 1998 schon 1095. Das grösste

Wachstum fand in der sowjetischen Ära statt, beschleunigt

durch die in hohem Tempo betriebene Industrialisierung

des Landes. Ein sozialistisches Umsiedlungsprogramm, das

eine Umverteilung der Bevölkerung innerhalb des Landes

regulierte, mass den Interessen der Industrie die höchste

Priorität bei: Neue Städte entstanden dort, wo neue Roh-

stoffe entdeckt wurden und die Bedingungen für den Bau

grosser Fabriken günstig waren. Die meisten dieser Städte

wurden als monoindustrielle Kommunen in der Nähe grosser

Betriebe gegründet.

Sozialistischer Stadtraum in der postsozialistischen Epoche Die Sozgorod – die Stadt,

welche einer entsprechenden Lebensorganisation der sozialistischen Epoche, ihrer industriellen

und politischen Realität geschuldet ist – stimmt nicht mehr mit den gegenwärtigen Vorstellungen

von einer komfortablen Stadt überein. Nichtsdestotrotz existieren noch viele industrielle Städte

in der ehemaligen UdSSR, und heute sind sie alle dazu gezwungen, den Stadtraum aus der sowje-

tischen Zeit den postsozialistischen Gegebenheiten anzupassen.

INDUSTRIESTÄDTE DES RUSSISCHEN NORDENS

Eine Grundlage für die Planung neuer sowjetischer Industrie-

städte bildete die Idee einer Sozgorod (Sozialistische Stadt),

die Nikolaj Miljutin in seinem Buch Sozgorod. Probleme

des Baus sozialistischer Städte von 1930 erläuterte. In die-

sem Buch, das 1929/1930 einen Beitrag zur Diskussion mög-

licher Formen sozialistischer Siedlungen lieferte, erläutert

der Architekturtheoretiker und damalige Vorsitzende ei-

ner Regierungskommission zum Bau sozialistischer Städte

seine Sicht auf die städtebaulichen Prinzipien der neuen

Städte. Miljutin verteidigt eine rationelle Stadtplanung und

die daraus folgende Reorganisation des gesamten Alltags-

lebens. Charakteristisch für eine Sozgorod ist die funktio-

nale Trennung der Stadträume: Es gibt eine Arbeits-, eine

Wohn-, eine Erholungs- und eine Transportzone, die strikt

57

2

3

4

voneinander getrennt werden. Die höchste Priorität erhält

in einer Sozgorod die industrielle Zone, deren perfektes

Funktionieren durch die anderen funktionellen Einheiten

gesichert werden soll.

Neue Industriestädte waren eines der ehrgeizigsten

ideologischen Projekte der Sowjetmacht – die Planung der

Sozgorod diente nicht nur dem industriellen Fortschritt des

Landes, sondern sollte auch zur Entwicklung eines neuen

sow jetischen Bürgers beitragen. Abgesehen davon bekam

die Besiedlung der Regionen im hohen Norden unter er-

schwerten klimatischen Bedingungen eine symbolische Be-

deutung: Die Eroberung der Polargebiete diente zur Macht-

demonstration und veranschaulichte ausserdem die Erfolge

des sozialistischen Systems.

Sozgorod: Neue sozialistische Industriestädte auf der

Halbinsel Kolsky

Ende der Zwanziger- und Anfang der Dreissigerjahre ent-

deckte man im Polargebiet auf der Halbinsel Kolsky reiche

Vorkommnisse an Mineralien. In dieser Zeit begann auch die

Urbanisierung der Region. Die Halbinsel Kolsky war einer

der ersten Landesteile, der für eine industrielle Nutzung er-

schlossen wurde, und so findet man hier heutzutage Muster-

industriestädte aus unterschiedlichen Zeitabschnitten der

sozialistischen Industrialisierungsgeschichte. In den Jahr-

zehnten nach 1930 entstanden hier Städte wie Monchegorsk,

Nikel, Olenegorsk, Polyarnye Zori (Polarmorgenrot) und an-

dere. Des Weiteren wurden drei Beispielsstädte – Kirovsk

(Dreissigerjahre), Apatity und Kovdor (Fünfzigerjahre), zu

unterschiedlicher Zeit gegründet – und inzwischen auf ver-

schiedenen Wegen an die postsozialistischen Bedingungen

angepasst.

Obwohl all diesen Siedlungen die Idee der Sozgorod zu-

grunde liegt, wurde sie in jeder der Städte unterschiedlich

umgesetzt. Kirovsk, das in den Hibiner Bergen liegt, entstand

zuerst: Es hatte schon 1931 Stadtstatus. Es liegt in der Nähe

der grossen Apatit-Ablagerungen, ein Mineral, das zur Er-

zeugung landwirtschaftlicher Düngemittel genutzt wird. Bei

der Planung der Stadt wurden allerdings bestimmte Fakto-

ren ausser Acht gelassen, was sich zum Teil durch fehlende

bauliche Erfahrung unter so schwierigen Naturbedingungen

erklären lässt. Ausserdem ist das Tempo der Industriali-

sierung in den Dreissigerjahren zu berücksichtigen: Neue

Städte entstanden unter grossem Zeitdruck. Die Jagd nach

Planerfüllung und einer vorschnellen Versorgung des Indust-

riebedarfs führte zur Vernachlässigung der sozialen Aspekte

in der Sozgorod-Konzeption.

Bei der Planung von Kirovsk erhielt die Industrie absolute

Priorität: Die Bergarbeiterwohnsiedlung und das Verarbei-

tungswerk lagen in unmittelbarer Nähe der Mineralienvor-

kommen. Man setzte den Verarbeitungsbetrieb, den Bahnhof

und andere Industrieobjekte ans Ufer des schönen Bergsees

Bolshoj Vudjavr. Das führte dazu, dass das Wohngebiet durch

einen Industriegürtel und eine Eisenbahnlinie vom See ab-

geschnitten wurde. Bei weiteren Industriestadtplanungen in

den Fünfzigerjahren, wie zum Beispiel dem in der Nähe von

1 Kirovsk: Stadtan-

sicht mit Bauruinen

im Vordergrund

(Foto: João Serra)

2 Stadtplan Kirovsk

3 Stadtplan Apatity

4 Stadtplan Kovdor

84 archithese 5.2010

Sowjetische Architektur zwischen Stalin und Glasnost

Die sowjetische Architektur der Nach-Stalin-Ära kann aus heutiger

Sicht neuerliches Interesse beanspruchen. Nicht zuletzt bezeugen

die Repräsentationsbauten der Sechziger- und Siebzigerjahre

den Wunsch der östlichen Supermacht, die Konkurrenz der Systeme

ästhetisch für sich zu entscheiden.

«HÖHERE QUALITÄT MIT WENIGER KOSTEN»

Text: Philipp Meuser

Am 25. Februar 1956 erlebte die Sowjetunion einen Schock,

der das Fundament der kommunistischen Welt für immer

verändern sollte. Als der sowjetische Staats- und Parteichef

Nikita Chruschtschow an jenem Morgen die Machenschaf-

ten seines Vorgängers Josef Stalin kritisierte und damit das

bis dato wichtigste Kapitel der sowjetischen Geschichte in

einem vierstündigen Referat systematisch demontierte, trau-

ten viele Genossen ihren Ohren nicht. Chruschtschows ideo-

logische Abrechnung drei Jahre nach dem Tod Stalins war –

historisch betrachtet – gleichsam eine späte Entrechtung der

despotischen Herrschaft eines Mannes, der sich skrupellos in

die Parteiführung gekämpft hatte und eine Generation lang

als «Vater des Volkes» verehrt wurde. Die Epoche Stalins war

plötzlich nicht mehr Glanz und Heldentat, sondern galt fortan

als ausnahmebedingter Unzustand.

Chruschtschows Rede glich einem Neuanfang, der die

Sowjetunion ideologisch auf den Ausgangspunkt vor Le-

nins Tod zurückbringen sollte. Der neue Führungsstil und

die damit verbundene Ideologie sollten sich auch stilprägend

in der Architektur- und Stadtbaugeschichte niederschlagen,

denn in derselben Konsequenz, mit der Stalin ab Anfang

der Dreissigerjahre die russischen Konstruktivisten in ein

neotraditionelles, später stalinistisches Korsett gezwängt

hatte, liess Chruschtschow eine neue Epoche der sowjeti-

schen Architektur einläuten. Seine Vorgaben, das Planen und

Bauen im Sinne der funktionalistischen Moderne zu rationa-

lisieren, hatten zudem einen weitaus grösseren Einfluss auf

das Baugeschehen in der sozialistischen Welt als das neotra-

ditionelle Formenvokabular Stalins.

In der Baugeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts

sollte die Sowjetunion Mitte der Fünfzigerjahre an Ideen

anknüpfen, die Städtebauer der Moderne wie etwa Le Cor-

busier, Walter Gropius oder Ludwig Hilberseimer in den

Zwanzigerjahren erdacht hatten, jedoch nie in ihrer Radi-

kalität hatten umsetzen können. Mit industriell gefertigtem

Stuck und Ornament, mit der Stadt als in sich geschlossenem

Organismus sollte nun Schluss sein. Die Neuorientierung

war jedoch nicht das logische Ergebnis einer wirtschaftli-

chen Entwicklung. Sie wurde – in der Tradition politischer

Diktaturen – von der Politik verordnet.

85

1 Tschachawa,

Dschalagania,

Tchilawa, Kimber:

Ministerium

für Strassenbau,

Tiflis 1974

(Foto: Philipp Meuser)

2 Posochin,

Mndojanz, Stamo,

Schteller, Schtsche-

petilnikow:

Parteitagsgebäude

der KPdSU,

Moskau 1961

(Foto: Staatliches Museum für Architektur Moskau, MUAR)

3 Posochin,

Mndojanz, Maka-

rewitsch, Tchor,

Airapetow, Popow,

Pokrowski, Saizew:

Gebäudekomplex

Nowy Arbat,

Moskau 1968

(Foto: Staatliches Museum für Architektur Moskau, MUAR)

2

3

Die dafür entscheidende Rede hielt Chruschtschow am

07. Dezember 1954, eineinhalb Jahre vor seiner offiziellen po-

litischen Abrechnung mit Stalin vor den Parteigenossen. In

seinem Vortrag vor der Nationalen Konferenz der Vertreter

des gesamten planenden, organisierenden und ausführen-

den Bauwesens proklamierte er, die umfassende Industriali-

sierung der Konstruktion unter dem Motto «Höhere Qualität

mit weniger Kosten» erreichen zu wollen. Mit einer möglichst

geringen Anzahl normierter Bauelemente war demzufolge

eine möglichst grosse Vielfalt an Baueinheiten zu erstellen.

Nicht der Architekt, sondern die wieder erstarkende Schwer-

industrie, auf die Chruschtschow sein Augenmerk legte,

sollte nun die Städte bauen. Chruschtschows Direktive einer

künftig rationalisierten Bauweise mit am Fliessband vorge-

fertigten Modulen nach dem Baukastenprinzip rehabilitierte

zumindest formal die unter Stalin verpönten Konstruktivis-

ten, kurzum den funktionalen Rationalismus der Moderne,

der bis Ende der Zwanzigerjahre Europa einschliesslich der

jungen Sowjetunion sowie Amerika bestimmt hatte.

Innenpolitisch bedeutete diese Vorgabe, das gravierende

Wohnungsproblem in dem eurasischen Riesenreich zwi-

schen dem nunmehr russischen Kaliningrad (ehemals Kö-

nigsberg) im Westen und Wladiwostok am Japanischen Meer

zu lösen. Aussenpolitisch hiess das, den Wettstreit mit dem

kapitalistischen Klassenfeind zu gewinnen. Nach dem Zwei-

ten Weltkrieg hatten sich die ehemaligen Alliierten mit dem

Verschwinden des gemeinsamen Feindes auf der Weltbühne

schon während des Potsdamer Abkommens 1945 untereinan-

der zerstritten. Der Kalte Krieg war ausgebrochen. Chrusch-

tschows Rede vor der sowjetischen Bauzunft war deshalb ein

bedeutendes Manifest, weil damit nicht nur die grossen Ziele

in der Architekturplanung für eine Nachkriegs-Sowjetunion

formuliert wurden. Mit der Revolution des Planens und Bau-

ens umriss Chruschtschow zugleich die Meilensteine für eine

Weltpolitik der folgenden dreissig Jahre. Diese neue Politik

sollte sich in neuen Strategien des Städtebaus ebenso wider-

spiegeln wie in den Baunormen der sozialistischen Archi-

tektur. Das rationelle Planen und serielle Bauen im grossen

Massstab, das unter Chruschtschow seinen Anfang nahm,

sollte zu einem der umfangreichsten Architekturprogramme

des 20. Jahrhunderts werden. Kein Staatsmann hat mit seiner

Politik einen solch grossen Einfluss auf die Bauwirtschaft sei-

nes Landes ausgeübt wie der gelernte Maschinenschlosser

aus dem ukrainischen Donezbecken.

Ging es finanziell darum, den von Lenin formulierten

staatsmonopolistischen Kapitalismus gegenüber dem markt-

wirtschaftlichen zu behaupten und nach innen die Bedürf-

nisse der Bevölkerung wesentlich zu verbessern, so hatte

Chruschtschows Rede aus dem Jahr 1954 architektonisch

den Anschluss des sowjetischen Imperiums an den vom Wes-

ten bestimmten International Style beziehungsweise an die

Nachkriegsmoderne zur Folge. Wenn auch mit Zeitverzug,

so verewigte sich der sowjetische Funktionalismus doch bei-

spielhaft im Kongresspalast im Moskauer Kreml. Dieser Bau

gilt bis heute als Inkunabel der sowjetischen Architektur un-

ter Chruschtschow. Doch der hohe gestalterische Anspruch,

mit dem auch die post-stalinistischen Architekten antraten,

konnte nur bei einzelnen Sonderbauten eingelöst werden.

Der Massenwohnungsbau blieb in seiner ästhetischen Form

gegenüber den repräsentativen Projekten zurück. Dennoch

leistete er einen wichtigen Beitrag zur politischen Propa-

ganda. Dem pragmatischen Zweck verpflichtet, möglichst

viel Wohnraum in möglichst kurzer Zeit preiswert zu produ-

zieren, verkörperte der funktionale Baustil als künstlerische

Ausdrucksform die neue Lebensweise des von Wladiwostok

bis Magdeburg zu schaffenden «Sowjetmenschen». Die Idee

der Moderne avancierte spätestens mit Chruschtschow zu

einem nun auch auf dem Reissbrett ausgetragenen Wettbe-

werb der politischen Systeme – wobei die Orientierung daran,

was für Fortschritt gehalten wurde, im Wesentlichen vom

Westen vorgegeben wurde.

Die Sechzigerjahre

Der stilistische Wechsel vom traditionsbewussten Stalinis-

mus zum sowjetischen Funktionalismus wurde erst einige

Jahre nach Chruschtschows Machtübernahme manifest. In

Moskau entstanden als städtebauliche Meilensteine Gross-

projekte wie der Kalinin-Prospekt oder die Uliza Kirowo-

gradskaja, die an die für eine Ville Radieuse dokumentierten

Vorstellungen Le Corbusiers erinnert. Das Theater Saphyr

avancierte mit seiner Flachkuppel zum Vorbild einer Kultur-