Als Communisant im Widerstand
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Stefan Rosinski, August 2013
1
Als Communisant im Widerstand Zu Walter Benjamins Reflexionen über den antifaschistischen Intellektuellen
- Vortrag gehalten im Rahmen der MÜNZENBERG-LEKTIONEN 2013 -
„Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewe-
sen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung
die Stunde noch nicht gekommen ist.“
Die Situation Im März 1933, kurz nach dem Reichstagsbrand verlässt der Literaturwissenschaftler
und freischaffende Publizist Walter Benjamin wie viele andere Intellektuelle Berlin,
um nach einem Zwischenaufenthalt in Paris nach Ibiza überzusiedeln. An seinen
Freund Gershom Scholem schreibt er:
„Unbezweifelt sind die zahlreichen Fälle, in denen Leute nachts aus ihren Betten ge-
holt und misshandelt oder ermordet werden. (...) Der Terror gegen jede Haltung oder
Ausdrucksweise, die sich der offiziellen nicht restlos angleicht, hat ein kaum zu über-
bietendes Maß angenommen“.1
Auf Ibiza lebt er in einem Rohbau, finanziert sein bescheidenes Leben vom Verkauf
seiner Autographensammlung und gelegentlichen Veröffentlichungen unter Pseudo-
nym in deutschen Zeitungen. Die Versuche hingegen, größere Texte in der deut-
schen Exilpresse unterzubringen, scheitern. Mehr Hoffnung setzt er in die kommuni-
stischen Publikationsorgane. Doch lediglich der erste Teil der Pariser Briefe wird
dank der Unterstützung Brechts in der Moskauer Volksfront-Zeitschrift Das Wort ver-
öffentlicht (ein Umstand übrigens, der zu seiner sofortigen Ausbürgerung führt).
Regelmäßig publizieren indes kann er in der Zeitschrift für Sozialforschung, deren
Redaktion (im Wesentlichen Max Horkheimer und Adorno) seit 1934 in New York
sitzt. Hier erscheint ein 1933 verfasster Text, der im Zusammenhang mit Benjamins
Selbstreflexion von einiger Bedeutung ist: Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen
Standpunkt des französischen Schriftstellers.
1 Bernd Witte: Walter Benjamin. Reinbek: Rowohlt 1985, S. 101. Vgl. auch die von Jean Selz überlieferte Formulierung Benjamins, „...wenn man sich jetzt mit einem Deutschen über Kultur unterhalte, sei es gut, dabei einen Revolver in der Tasche zu haben“. In: „was noch begraben lag“. Zu Walter Benjamins Exil. Briefe und Dokumente. Hg. v. Geret Luhr. Berlin: Bostelmann und Siebenhaar 2000. S. 69.
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Da Benjamin vom Institut zwar eine monatliche, allerdings sehr kleine Rente bezieht,
sieht er sich gezwungen, sein Leben an der unteren Grenze des Existenzminimums
zu improvisieren. So lebt er über Monate hinweg und mit einigem Unwillen in der von
seiner geschiedenen Frau geleiteten Pension im italienischen San Remo.
Die Erfahrungen des Exils, von Verarmung und Isolation schlagen sich nieder in ei-
nem Brief an Scholem, in der die durch den Kapitalismus erzeugte und den Fa-
schismus nun verschärft zutage tretende Situation des Intellektuellen beschrieben
wird. Deutlich würde, so Benjamin, dass der Intellektuelle weder - wie er es im Zeital-
ter einer ungefährdeten Herrschaft der Bourgeoisie tat - deren menschlichste Inter-
essen vertrete noch sich völlig dem Proletariat assimilieren könne: „Daher bildete
sich die Fata Morgana eines neuen Emanzipiertseins, einer Freiheit zwischen den
Klassen, will sagen, der des Lumpenproletariats. Der Intellektuelle nimmt die Mi-mikry der proletarischen Existenz an, ohne darum im mindesten der Arbeiterklas-
se verbunden zu sein.“ Dazu schreibt Benjamins Biograph Bernd Witte: „Dieser Be-
fund, in dem Benjamin die eigene gesellschaftliche Situation auf den Begriff bringt, ist
für ihn das sprechende Merkmal einer weltgeschichtlichen Krisensituation, in der
über Rettung oder Untergang der Menschheit entschieden wird. In ihr muss auch
dem Künstler und der Kunst eine neue Funktion zukommen“.2
Ob Benjamin von einer bevorstehenden proletarischen Revolution ausgegangen ist,
wird heute in der Kommentarliteratur unterschiedlich bewertet.3 Mit Brecht war er
sich einig, im Kommunismus das alleinige Mittel zur Überwindung von Unterdrückung
zu sehen4 - ja, die, wie es im Surrealismus-Essay heißt, „Befreiung in jeder Hin-
sicht“.5 Doch stellte für beide der ab 1930 erstarkende Faschismus den erwarteten
geschichtlichen „Selbstlauf“ im Sinne des historischen Materialismus zusehends in-
frage. Mit der Befürchtung, der Faschismus könne siegen und Fortschritt würde zur
Katastrophe, sahen sie sich im Widerspruch zum Zukunftsoptimismus der kommuni-
stischen Bewegung. So äußerte sich Brecht im Gespräch mit Benjamin, er halte das
2 Witte, Benjamin, S. 107f. 3 Cf. Müller-‐Schöll, Nikolaus: Das Theater des „konstruktiven Defaitismus“. Frankfurt am Main: Stroemfeld 2002, S. 29 und Wizisla, Erdmut: Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 143 und 268. 4 Brecht schreibt 1928, Marx sei der „einzige Zuschauer für meine Stücke, den ich je ge-‐sehen hatte.“ Cf. Wizisla, Benjamin, S. 15. 5 GS II 1, S. 307.
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Eintreten einer „geschichtslosen Epoche“ für wahrscheinlicher als den Sieg über den
Faschismus.6 Für Brecht ergaben sich freilich aus diesem Befund andere Konse-
quenzen für die Rolle des Intellektuellen als für Benjamin. Während der Dramatiker
die Führungsfunktion einforderte (und damit seine - wie er sagte - „leninistische
Wende“ einleitete), hielt der Philologe entgegen, dass der Autor als einzelner ein
„Missvergnügter, kein Führer“ sei.7
In diesem Kontext insistiert Benjamin darauf, „ (...) durch die praktikablen Erkenntnis-
se desselben (des Kommunismus - SR) die unfruchtbare Prätension auf Mensch-
heitslösungen abzustellen, ja überhaupt die unbescheidene Perspektive auf „totale“
Systeme aufzugeben (...)“.8 Nicht die Ersetzung einer gesellschaftlichen Epoche
durch die nächste à la Hegel präge die revolutionäre Aktion; vielmehr gelte es, das
„Kontinuum der Weltgeschichte aufzusprengen“.
Sprengung und Zertrümmerung sind Kategorien, die in den Texten Brechts und Ben-
jamins häufig auftauchen. Erdmut Wizisla schreibt dazu in seinem Buch über die
Freundschaft der beiden Autoren: „Der Verlust an Fortschrittsgläubigkeit, Kontinuität
und Geschlossenheit hatte methodische Konsequenzen. Hier liegen die geschichts-
philosophischen Wurzeln für die Wertschätzung von Kategorien, die für die künstleri-
sche Avantgarde wesentlich sind, wie Unterbrechung, ‚Trennung der Elemente’,
Chok, Zitat, Detail, Fragment, Montage, Experiment“.9
Die Erwartungshaltung an eine kommende Gemeinschaft speist sich weniger aus
dem Reflex auf die offizielle Lesart der Kommunistischen Internationalen, wie und
wann die Revolution zu erwarten sei, als aus einer „philologischen materialistischen
Forschung“ an surrealistischen und anderen literarischen Texten.10
6 Ebd., S. 268. Demgegenüber fokussierte die ab Herbst 1930 begonnene Diskussion über eine gemeinsame Zeitschrift namens Krise und Kritik -‐ deren „Gesinnung scharf nach links“ gehen sollte -‐ als Aufgabe, die „Krise festzustellen oder herbeizuführen, und zwar mit den Mitteln der Kritik“, cf. S. 130. 7 Ebd. , S. 141. 8 Ebd., S. 272. 9 Ebd., S. 269f. 10 Cf. den in Folge der Ablehnung des Baudelaire-‐Essays begonnenen Briefwechsel mit Adorno, in dem Benjamin sein Konzept einer „materialistischen Philologie“ zu erörtern versucht: „Wenn Sie von einer ‚staunenden Darstellung der Faktizität’ sprechen, so charak-terisieren Sie die echt philologische Haltung“, GS I.3, S. 1103.
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Der von Benjamin im Zusammenhang seiner Bestimmung des Intellektuellen gewähl-
te Begriff der „Mimikry“ ist abgeleitet von englisch mimicry (= ‚Nachahmung’) und to
mimic: ‚mimen’; entlehnt aus griech. µίµος (mímos) ‚Nachahmer, Imitator‘. Er wird mit
Bedacht gewählt und seine Referenz aufs Theater soll - wie wir sehen werden - nicht
zufällig sein. Dass der Nachahmende im Nachgeahmten sich nur mittelbar fassen
lässt, verkompliziert den ontologischen Status und entwendet ihn - ähnlich wie übri-
gens das „Proletariat“ beim frühen Marx - der Substantiierung durch einen vulgärma-
terialistischen11 Zugriffs: Das „Lumpenproletariat“ bietet weder seine Arbeitskraft als
Ware an noch handelt es im strengen Sinn mit Waren; es hat daher keine direkte
Beziehung zum Kapital. Seine funktionale Stellung in den Produktionsverhältnissen
(als Bedingung der Klassenbildung) ist folglich nur schwer auszumachen. Es fragt
sich daher, wie sich die „Ideologie“ dieser Nichtklasse als (Dys-)Funktion in Bezug
auf die Reproduktion der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse bestimmen lie-
ße.12
Die Mimikry des Intellektuellen an die proletarische Existenz jedenfalls - so viel ist
festzuhalten - isoliert nach zwei Seiten. 1930 schreibt Benjamin:
Die linksradikale Schule „(...) mag sich gebärden wie sie will, sie kann niemals die
Tatsache aus der Welt schaffen, dass selbst die Proletarisierung des Intellektuellen
fast nie einen Proletarier schafft. Warum? Weil ihm die Bürgerklasse in Gestalt der
Bildung von Kindheit auf ein Produktionsmittel mitgab, das ihn aufgrund des Bil-
dungsprivilegs mit ihr und, das vielleicht noch mehr, sie mit ihm solidarisch macht.
Diese Solidarität kann sich im Vordergrund verwischen, ja zersetzen; fast immer aber
11 „Unter ‚Vulgärmaterialismus’ würden wir demnach die ‚Erklärung’ eines kulturellen Phänomens mittels einer direkten, zweistelligen Abbildungsrelation verstehen, die das kulturelle Phänomen mit einem ökonomischen Phänomen verbindet“, Jürgen Link / Ur-‐sula Link-‐Heer: Literatur-soziologisches Propädeutikum. München: Wilhelm Fink 1980, S. 21. Link / Link-‐Heer machen geltend, dass vulgärmaterialistisch vor allem die Annahme der ‚Monokausalität’ des ‚Widerspiegelungs-‐Theorems’ sei. Letzteres gründe auf einem Text Lenins, ‚Leo Tolstoi als Spiegel der russischen Revolution’, habe aber erst durch Lu-‐kács seinen mechanistischen, weil hegelianischen Charakter bekommen. Dem gegenüber stehe das „klassenanalytische Verfahren“ als „Aufweis des funktionalen Zusammenhangs zwischen kulturellem Phänomen und sozialem Träger“. 12 Cf. Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. GS I.2, S. 514: Der „conspirateur de profession“ als Künstler und der Künstler als Ver-‐schwörer, den „überraschende Proklamation und Geheimniskrämerei, sprunghafte Ausfäl-le und undurchdringliche (!) Ironie“ kennzeichneten. Auch hier ist eine Form der Maskie-‐rung angedeutet.
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bleibt sie stark genug, den Intellektuellen von der ständigen Alarmbereitschaft, der
Frontexistenz des wahren Proletariers streng auszuschließen“.13
Es ist dieser Sachverhalt einer klassenmäßigen „Entortung“, einer „verwischten Soli-
darität“, also eines klassenmäßig konstitutiven Mangels des revolutionären Schrift-
stellers, mit dem Benjamin in seiner Kritik ansetzt - und die diametral dem entgegen-
steht, wovon Johannes R. Becher in einem Grundsatzartikel zum Thema „Partei und
Intellektuelle“ 1928 gesprochen hatte: Um revolutionäre Literatur zu schreiben, könne
sich der Intellektuelle durch „alltägliche politische Kleinarbeit und Unterwerfung unter
die Parteidisziplin“ - offenbar umstandslos - zum Proletarier wandeln.
Was „revolutionäre Literatur“ angesichts der Entortung des Autors als Lumpenprole-
tariat und der faschistischen Zuspitzung Anfang der dreißiger Jahre ist oder sein
könnte, ja, ob nicht ein jeder Versuch der intellektuellen Bestimmung des Revolutio-
nären dieses konstitutiv verfehlen muss, darüber hat Walter Benjamin zeit sein Le-
ben im weiten Bogen vom barocken Trauerspiel bis zu Brechts epischen Theater,
von den Texten Baudelaires bis zu denen Franz Kafkas nachgedacht. Hier soll sich
indes mit einem Ausschnitt daraus, einem Textes von 1934, begnügt werden.
Der Autor als Produzent Walter Benjamins Text „Der Autor als Produzent“ erschien postum im Jahr 1966 mit
dem Untertitel „Ansprache im Institut zum Studium des Fascismus in Paris am
27.4.1934“. Heute geht man von einem tatsächlich gehaltenen Vortrag aus, wahr-
scheinlich vor dem Publikum der Mitarbeiter des Instituts, das eine Gründung der
Schriftsteller und aktiven Kommunisten Oto Biha und Arthur Koestler (dem Freund
und späteren „Co-Renegaten“ Willi Münzenbergs) war. Koestler berichtet über das
Institut in seiner Autobiographie: „Ich fungierte ein Jahr hindurch als unbezahlter Ge-
schäftsführer des Pariser ‚Instituts zum Studium des Faschismus’. Das war ein Ar-
chiv und Forschungsinstitut, das von Angehörigen der KP betrieben und von der
Komintern kontrolliert, aber nicht finanziert wurde. Zweck und Ziel dieser Einrichtung
war, ein von den massenpropagandistischen Methoden der Münzenberg-
Unternehmen unabhängiges Institut für das ernsthafte Studium des faschistischen
13 Benjamin, vgl. auch GS II, 2, S. 700.
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Regimes zu schaffen. Wir wurden durch Spenden der französischen Gewerkschaften
und aus französischen Intellektuellen- und Akademikerkreisen unterhalten“.
Etwas anders klingt es in der Benjamin-Biographie Werner Fulds (1979): „Das Institut
war eine kommunistische Tarnorganisation, von Mitgliedern der KP betrieben und
von der Komintern kontrolliert (...) Es wurde sorgsam alles vermieden, was auf den
kommunistischen Charakter des Unternehmens hätte schließen lassen. Umfängliche
Publikationsserien waren geplant, die kaum verwirklicht wurden, und es ist möglich,
dass man sich gerade linksbürgerliche Schriftsteller wie Benjamin als Alibiautoren
heranzuziehen wünschte“.14
Benjamin hatte ursprünglich beabsichtigt, den Text in der von Klaus Mann herausge-
gebenen Exilzeitschrift Die Sammlung im Amsterdamer Querido-Verlag herauszu-
geben. Hier publizierten von September 1933 an - in insgesamt 24 Ausgaben bis
August 1935 - Autoren wie Johannes R. Becher, Ernst Bloch, Bert Brecht, André Gi-
de, Ilja Ehrenburg, Oskar Maria Graf, Ernst Toller, Joseph Roth und natürlich die
Familie Mann. Die redaktionelle Schwierigkeit bestand in der Vorgabe, ein Forum der
Faschismuskritik sein zu sollen, allerdings ohne Rekurs auf tagespolitisches Ge-
schehen. „Gesammelt“ werden sollte hier dasjenige - so verstand es Klaus Mann -
„was den Willen zur menschenwürdigen Zukunft hat, statt den Willen zur Katastro-
phe: (...) für dieses wirkliche Deutschland wollen wir eine Stätte der Sammlung
sein“.15
Vor dem Hintergrund der von Benjamin vertretenden Haltung ist - wie wir sehen wer-
den - die immer wieder geäußerte Irritation der Beiträger darüber, ob es sich hier um
eine „literarische“ oder „politische“ Zeitschrift handelte, nicht ohne Bedeutung.
Die interne Auseinandersetzung über die Publikationspolitik der Sammlung wirft ein
bezeichnendes Licht auf den disparaten intellektuellen Diskurs im Exil der dreißiger
Jahre. So war es einer der bekanntesten Exilanten, Heinrich Mann, der seinem Nef-
fen von einer Veröffentlichung des Benjaminschen Textes abriet. Er regierte damit
auf den von Benjamin selbst formulierten Ansatz, sein Text beschäftige sich ange-
sichts des Faschismus „mit der politischen Analyse gewisser literarischer Gruppie-
rungen, wie sie sich in Deutschland zwischen 1920 und 1930 haben studieren las- 14 Werner Fuld: Walter Benjamin. Zwischen den Stühlen. Eine Biographie. München: Han-‐ser 1979, S.241f. 15 In: Wikipedia: Artikel „Die Sammlung“.
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sen. Er sucht insbesondere das Maß an Verantwortung zu bestimmen, die diese
Schulen an der Niederlage der deutschen Intelligenz tragen.“ Und hier richtete Ben-
jamin den Fokus vor allem auf die „linksbürgerliche Intelligenz“. Heinrich Mann unter-
stellte Benjamin - einem „kommunistischen Literaten“ - Führer- und Staatsgläubigkeit
sowie eine „Geistesart wie die Nazi(s)“. Und schloss mit der Warnung, die „emigrierte
Literatur“ dürfe nicht so aussehen, als bestände sie ganz aus den Resten oder Vor-
läufern einer Partei. Benjamin kannte dieses (Fehl-)Urteil und bestand umso mehr
auf der Auseinandersetzung zwischen den im Exil befindlichen Intellektuellen: Sie sei
„eine Frage, die infolge der Niederlage der deutschen Intellektuellen akuter als sie es
je war geworden ist“.
Mit seinen expliziten Angriffen gegen die „linksbürgerliche Intelligenz“ und ihre Litera-
tur vereinsamte der Intellektuelle Benjamin zusehends. Die Bemühungen um eine
Einheitsfront der exilierten Intellektuellen, wie sie Willi Münzenberg ab 1935 in Um-
setzung der inzwischen veränderten Strategie der Komintern unternahm, verschärf-
ten die Situation. Sowohl zum Lutetia-Kreis (Vorsitz: Heinrich Mann) als auch zur
1938 von Münzenberg und Koestler gegründeten Zeitschrift Die Zukunft (deren
Zweck neben Antifaschismus und Antistalinismus die Propagierung der Einheitsfront
war) wurden Autoren zur Mitarbeit aufgefordert, an denen sich Benjamin kritisch ab-
gearbeitet hatte: Heinrich Mann, Alfred Döblin und andere Großschriftsteller16 der
deutschen Sprache. Benjamin hingegen blieb isoliert.17
16 Benjamin notiert im Sommer 1934, dass Brecht gesprächsweise zwei „Dichter-‐Typen“ unterschieden habe: die „Substanzdichter“ als „Visionäre“, die „es ganz ernst meinen“ und „die es wirklich zu etwas bringen“ wie Gerhard Hauptmann, und die „Besonnenen“, die es nicht ganz ernst meinten. Brecht selbst habe sich letzteren zugeordnet, denn auch er denke „zu viel an Artistisches“. Das aber -‐ so der Dramatiker -‐ sei ausdrücklich er-‐laubt“. 17 In seinem 1933 verfassten Bericht zur Situation der in der KPD organisierten Exil-‐schriftsteller wirbt Johannes R. Becher bereits für die „Einheitsfrontbildung“. Er macht in diesem Zusammenhang auf die eminente Bedeutung einer Anwerbung von Mitglie-‐dern aufmerksam, die „als Schriftsteller (...) Autorität“ besitzen. Der Schulterschluss mit linksbürgerlichen Autoren mochte taktische Gründe nach außen haben; nach innen führ-‐te er zu einer intellektuellen Konsolidierung, die für Benjamin nichts anderes als Verrat an der Sache darstellen musste. In: Heinz Ludwig Arnold: Deutsche Literatur im Exil 1933-1945. Band I: Dokumente. Frankfurt am Main: Athenäum 1974, S. 31.
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Der Bund proletarisch-revolutionäre Schriftsteller
Isoliert bliebt Benjamin auch gegenüber der wahrscheinlich einflussreichsten Organi-
sation linksintellektueller Autoren, dem „Bund proletarisch-revolutionärer Schrift-steller“. Der Literaturwissenschaftler und Exilforscher Dieter Schiller hat dessen Ar-
beit im Pariser Exil dargestellt18. Er schreibt:
„Im Juli des Jahres 1933 fuhr Johannes R. Becher, der Vorsitzende des Bun-
des proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands (BPRS), im Auftrag
der Leitung der Internationalen Vereinigung revolutionärer Schriftsteller (IVRS)
aus Moskau in die westlichen Emigrationszentren. Was dort – und natürlich
auch im Reich – nach dem Schock der Niederlage vom Bund übriggeblieben
und wie die Bundesarbeit tatsächlich weitergeführt worden war, davon hatte er
noch keine genaue Vorstellung.19 (...) Mit Recht hatte Becher in Paris festge-
stellt, dass viele Genossen in den vergangenen Monaten mit der Herstellung
des »Braunbuchs« beschäftigt waren und deshalb für die Bundesarbeit ausfie-
len.20 Aber auch später waren seine engsten und in der Bundesarbeit erfah-
rendsten Freunde mit anderen Aufgaben betraut wie z.B. Otto Biha, der im
Exil als Peter Merin auftrat, beim Aufbau des Instituts zum Studium des Fa-
schismus in Paris. Überhaupt stellte es sich für ihn, aber auch für Anna Seg-
hers und Kurt Kläber je länger je mehr als ein Problem für den Bund heraus,
dass fast alle fähigen Genossen – wie Kläber21 sarkastisch sagte – »bei Mün-
zenberg in Amt und Brot« waren, in dessen Verlagsunternehmen und Komi-
tees angestrengt und nützlich arbeiteten, aber eben deshalb auch deren Inter-
essen verfolgten. Zu alledem glaubte Becher feststellen zu müssen, dass sich
»politische Bauchschmerzen in die literarische Diskussion« hineinschöben
und dass sich hier hemmungslos austobe, was in der Arbeit der Parteiinstitu-
tionen nicht ausgesprochen werden könne oder – wenn ausgesprochen – zum
Parteiausschluss führe.
18 Dieter Schiller: Zur Arbeit des Bundes proletarisch-‐ revolutionärer Schriftsteller im Pariser Exil. In: UTOPIE kreativ, H. 102 (April) 1999, S. 57-‐63. 19 Becher schätzt die Zahl der Mitglieder des Bundes in Paris auf „ca. 30 Genossen“. 20 Becher moniert dazu in seinem Bericht: „Die theoretische Unklarheit kommt ebenfalls in dem Kulturteil des Braunbuchs zum Ausdruck, wo ziemlich unterschiedlos (sic!) alle verbrannten und verbannten Schriftsteller behandelt werden“, Arnold, Exil, S. 36. 21 Kläber brach 1938 mit der KPD.
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Worum es sich bei solchen Ketzereien handelte, verrät Bechers Bericht über
seinen Pariser Aufenthalt. Die »Emigrationspanik« – heißt es darin – habe
sich »in der Form trotzkistischer Fragestellung« sublimiert, was wohl heißen
soll, dass über den Anteil der KPD an der Niederlage diskutiert wurde und
dass überhaupt von einer Niederlage die Rede war. Solche Abweichungen
von der offiziellen Parteilinie der KPD nicht verhindert zu haben, war ihm Be-
weis, dass die Leitung der Parteifraktion »außerordentlich schwach« sei.22 (...)
Fraktionsleitung hieß sie, weil sie zugleich die Leitung der Parteifraktion der
KPD im Schutzverband deutscher Schriftsteller im Ausland23 bildete. (...)
Noch zu Jahresbeginn 1934 forderte Becher von seinen Freunden im Westen
angesichts der »starken oppositionellen Strömungen in unseren Reihen«, die
»alleinige Schuld der Sozialfaschisten (d.h. der Sozialdemokratie - D. S.) am
Kommen des Faschismus« zu betonen und – ein groteskes Argument – den
Kampf gegen den Sozialfaschismus nicht den Nationalsozialisten zu überlas-
sen. (...)
Ganz umsonst waren die Beratungen Bechers mit den Pariser Freunden nicht,
im Herbst setzte unverkennbar eine Belebung der Bundesarbeit ein und der
Briefwechsel zwischen Paris und Moskau verdichtete sich zusehends. Gustav
Regler berichtete Anfang Dezember, der Bund arbeite wieder voll, und verwies
auf gelungene Kritikabende, Arbeitsgemeinschaften, Schulungszirkel und öf-
fentliche Veranstaltungen. In vielen Informationen und Berichten aus dem
Kreis der Pariser Bundesmitglieder wird dieser Teil der Bundesarbeit ausführ-
lich erläutert, mit unverhohlenem und berechtigtem Stolz über das Geleistete.
Nicht so zufrieden zeigten sich die ehemals zentralen Funktionäre des Bun-
22 Mit „Parteifraktion“ war hier die Pariser Gruppe des BPRS unter Leitung von Anna Seghers gemeint. 23 Wikipedia: „Der Schutzverband deutscher Schriftsteller (SDS) wurde 1909 gegründet und sollte Rechtsschutz gegen staatliche Eingriffe in das Literaturschaffen gewähren. Der SDS wurde nach der Machtübernahme der NSDAP am 31. Juli 1933 in den Reichs-verband deutscher Schriftsteller überführt. In Paris gründeten Schriftsteller, die aus Deutschland emigriert waren, in Antwort auf die Bücherverbrennungen 1933 in Deutschland am 30. Oktober 1933 den Schutzverband deutscher Schriftsteller im Ausland. Der Exilverband verfolgte eine Volksfront-‐Politik gegen die nationalsozialistische Dikta-‐tur. In New York City wurde 1939 ein Landesverband für die USA gegründet, Ehrenvor-‐sitzender war Thomas Mann, Vorsitzender Oskar Maria Graf. Antistalinistische Literaten und Journalisten gründeten nach innerverbandlichen Konflikten am 7. Juli 1937 den Bund Freie Presse und Literatur. Becher schätzt 1933, dass der Schutzverband in Paris etwa 150 Mitglieder habe“.
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des, die freilich nicht unmittelbar an der Bundesarbeit beteiligt waren. Für Kurt
Kläber waren die Abendveranstaltungen nur Anhäufungen von Menschen, die
sich gegenseitig Referate halten; von positiver Arbeit habe er nichts gesehen.
Das korrespondiert mit Peter Merins (Oto Biha) Urteil, die Bilanz der Schrift-
steller-Emigration sei katastrophal, weil sie weder eine ernste Analyse des Fa-
schismus auf ihrem Gebiet noch irgendeinen hörbaren Appell an die Intellek-
tuellen der Welt zur Solidarität hervorgebracht habe.“
Das insgesamt angespannte Verhältnis mag durch folgende Anekdote vom „Kon-
gress der antifaschistischen Schriftsteller zur Rettung der Kultur“ im Juni 1935 in Pa-
ris angedeutet sein: Als Gustav Regler zum Thema „Schöpferische Fragen und Wür-
de des Geistes“ „(...) eine inspirierte Rede hielt, an deren Ende sich das Publikum
spontan erhob und die Internationale sang, erschien diese solidarische Demonstrati-
on den kommunistischen Organisatoren zu verräterisch: Becher nannte Regler einen
Saboteur, und in einer eigens anberaumten Sitzung wurde er gerügt, da nicht er es
zu bestimmen habe, wann die Internationale gesungen würde. Als Regler entgegne-
te, es sei spontan gesungen worden, warf sein Parteivertreter Abusch, später Kultur-
beauftragter in der DDR, ihm eben dies vor: ‚Revolutionen haben nicht spontan zu
sein’.“24
Mitte 1934 begann sich die offizielle Parteilinie zur Exilpolitik zu ändern:
„Die Mitteilung, Heinrich Mann habe für die Zeitung des SDS »Der Schriftstel-
ler« einen Leitartikel geschrieben, wertet Becher enthusiastisch als »entschei-
denden Durchbruch in der Einheitsfrontbewegung«25. Ein – etwa gleichzeitig
geschriebener – Diskussionsbrief aus Moskau gibt die Orientierung, zu versu-
chen, alle die Schriftsteller zu gewinnen, die ehrlich gegen den Hitler-
Faschismus kämpfen, nicht um sie auszunutzen, sondern um ‚sie kamerad-
schaftlich in unseren Kampf einzureihen’ (Becher). Eins der stärksten Über-
zeugungselemente für die bürgerlich radikalen Schriftsteller sei »unsere litera-
rische Praxis«. Das ist ein neuer Ton, vor allem eine tiefgreifend veränderte
Wertung der künstlerischen Produktion. Seit dieser Zeit, so scheint es mir, hat
24 Fuld, Benjamin, S. 249. 25 „Einheitsfront“ hieß nicht, dass es nicht auch Ausgrenzungen gegeben hätte. Mitarbei-‐ter der -‐ vom „Trotzkisten“ Willi Schlamm geleiteten -‐ Weltbühne zum Beispiel waren nicht ohne weiteres erwünscht.
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es eine eigenständige Tätigkeit der Pariser Gruppe des BPRS nicht mehr ge-
geben. Im Zeichen der »breiten Einheitsfront-Taktik« wurde der Schutzver-
band deutscher Schriftsteller im Exil das eigentliche Wirkungsfeld der Bun-
desmitglieder.“26
Festzuhalten ist hier - meine ich - zum einen die Kritik Bihas, eine ernste Analyse des
Faschismus habe die Gruppe der Schriftsteller-Exilanten „auf ihrem Gebiet“ bisher
nicht hervorgebracht; zum anderen die durchaus merkwürdige Vorstellung Bechers,
eines der stärksten Überzeugungselemente für die „bürgerlich radikalen Schriftstel-
ler“ sei die „literarische Praxis“ der im BPRS organisierten Autoren - ohne dass diese
näher von ihm definiert würde.27
Im Spannungsfeld dieser Selbst- und Enttäuschungen hält Benjamin seinen Vortrag
Der Autor als Produzent. Er will explizit beides: die literarische Praxis der revolutionä-
ren Schriftsteller beleuchten, und dies mit dem Anspruch, damit zur Analyse des Fa-
schismus beizutragen. Die Mitarbeiter des Pariser Instituts (unter ihnen sehr wahr-
scheinlich auch Oto Biha) werden ihm zugehört haben, aber haben sie auch hinge-
hört? Eine Publikation des Textes jedenfalls erfolgte ebenso wenig wie eine Auffor-
derung zur weiteren Mitarbeit.
Erst in den 60er Jahren und vor dem Hintergrund der westdeutschen Studentenbe-
wegung bildete die Veröffentlichung von Der Autor als Produzent (In: Versuche über
Brecht) den Auftakt zu einer Rekonstruktion der historisch-materialistischen Literatur-
theorie Benjamins und damit zu einer Diskussion antifaschistischer Literatur, die ins-
besondere auch den Positionen Brechts Raum gab.
Während der weiteren Exilzeit jedenfalls hatte dieser Diskurs kein Forum gefunden,
sondern war seit 1937 durch die anders gelagerte, in der Moskauer Exilzeitschrift
Das Wort ausgetragene „Expressionismusdebatte“ mit ihren Protagonisten Lukács,
26 Schiller, Zur Arbeit des BPRS. 27 Eine Minimaldefinition findet sich in den Statuten des sowjetischen Schriftstellerver-‐bands von 1934: „Der sozialistische Realismus, der die Hauptmethode der sowjetischen schönen Literatur darstellt, fordert vom Künstler wahrheitsgetreue, historische konkre-‐te Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung“.
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Brecht, Bloch28 und Kurella überdeckt worden.29 Vor allem Brecht hat sich in dieser -
zur Problematik des literarischen Erbes und dem Begriff des Realismus gehenden -
Debatte gegen Lukács und dessen Konzeption positioniert; verzichtete aber be-
zeichnender Weise auf den Abdruck seiner Ausführungen, die erst mit seinem Nach-
lass veröffentlicht wurden.
Ideologisch verortet wurde das kommunistische Literaturmagazin Das Wort durch
Alfred Kurella und Johannes R. Becher, den beiden führenden Kulturpolitiker der
KPD in Moskau; operativ geleitet durch Fritz Erpenbeck. Sowohl Kurella als auch
Erpenbeck übernahmen gegen Brecht die Position von Lukács: „Erpenbeck bekämp-
fet noch in der DDR Brechts Konzept vom epischen Theater auf schärfste mit dem
Argument der ‚volksfremden Dekadenz’ und nahm dabei Lukács klassischen Stand-
punkt, die Forderung nach aristotelischen Regeln der Dramatik, ein. Erst Ende der
fünfziger Jahre unterzog Erpenbeck seine Position einer Selbstkritik“.30
1938 zeichnet Walter Benjamin in diesem Zusammenhang folgendes Gespräch mit
Brecht auf: „Brecht liest mir mehrere polemische Auseinandersetzungen mit Lukács
vor, Studien zu einem Aufsatz, den er in Das Wort veröffentlichen soll. Es sind ge-
tarnte aber vehemente Angriffe. Brecht fragt mich, was ihre Publikation angeht, um
Rat. Da er mir gleichzeitig erzählt, Lukács habe derzeit ‚drüben’ eine große Stellung,
so sage ich ihm, ich könne ihm keinen Rat geben. ‚Hier handelt es sich um Machtfra-
gen. Dazu müsste sich jemand von drüben äußern. Sie haben doch Freunde dort.’
Brecht: ‚Eigentlich habe ich dort keine Freunde. Und die Moskauer selber haben
auch keine - wie die Toten’.“
28 Vgl. die Sonderrolle Blochs, der von einem „Tendenz-‐Latenz-‐Überschuss“ des Materi-‐als sprach, der über die Faktizität der Wirklichkeit hinausgelange. Cf. Ernst Bloch: Erb-‐schaft dieser Zeit, 1935. 29 Der Expressionismus wurde von den Faschisten als „entartet“; von den Kommuni-‐sten in Hinsicht auf seine „Brauchbarkeit“ im Klassenkampf als „dekadent“ abgelehnt. Die Diskussion entzündete sich an Gottfried Benns Parteinahme für den Nazismus und kehrte zu Lenins Forderung der Anknüpfung an die „schöne Literatur“, als Modell für sozialistische Literatur, zurück. Aktueller Bezugspunkt blieb die Volksfrontbewegung und die Vorstellung von Literatur „als Waffe“ (H. Mann, Der Weg der deutschen Arbeiter, 1936). W. Pieck sprach demgemäß von einer „Volksfrontliteratur“, deren wesentliche Kategorie ein erzieherischer Realismus zu sein habe. Cf. Hans-‐Jürgen Schmitt: Die Ex-pressionismusdebatte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978. 30 Schmitt, Expressionismusdebatte, S. 24f.
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In der DDR sah die Intelligenzija sich weiterhin in der Tradition der Volksfrontbewe-
gung und rezipierte daher auch die Expressionismusdebatte als wesentliches Ele-
ment dieses Erbes (1968 erscheint ein Reprint von Das Wort). Kurella hatte 1938 in
einem sogenannten „Schlusswort“ die Realismus-Debatte und deren Ergebnis für
eine „sozialistische Literatur“ rückblickend bewertet; im Wiederabdruck 1961 (dies-
mal unter dem Titel: „Zwischendurch“), führt er dazu aus: „Damals schon rief meine
Identifizierung des Geistes, der Gottfried Benn die Feder führte, und des ‚Geistes’
der Naziideologie lebhaften Protest hervor. Ich habe die spitzen, ja überspitzten
Formulierungen von damals stehen lassen. Soll sich auch heute noch einmal der
Streit an ihnen entzünden! Dass nicht so viele deutsche Intellektuelle dem Nazismus
zum Opfer gefallen wären, wenn sie nicht durch die Auflösung aller humanistischen
Werte (! - SR) durch Leute wie Benn und durch den dekadenten Grundzug des gan-
zen Expressionismus geistig und moralisch entwaffnet worden wären, ist heute noch
meine Überzeugung. Und man sehe einmal zu, wo alle Expressionisten (mit Aus-
nahme derer, die aufhörten, es zu sein und sich zu neuen sozialistischen Positionen
durchrangen) heute gelandet sind, wem ihr Werk heute dient!“.31
In Ostdeutschland kam es 1970 durch Gerhard Seidel zu einer Publikation ausge-
wählter Schriften Benjamins unter dem Titel „Lesezeichen“. Darin schrieb der Her-
ausgeber: „Die im Sommer 1924 auf Capri eingeleitete Wendung zum Marxismus hat
Benjamin nie rückgängig gemacht. Ausgedehnte Studien der klassischen und zeit-
genössischen marxistischen Literatur und - seit 1929 - der freundschaftliche Umgang
mit Bertolt Brecht haben Benjamins Denken vollends in den hellen Mittag materiali-
stischer Erkenntnis geführt.“
Wenige Jahre zuvor jedoch hatte Seidel in einem internen Gutachten für den Aufbau-
Verlag zur Übernahme der in Westdeutschland 1966 veröffentlichen Sammlung Ver-
suche über Brecht (darin auch Der Autor als Produzent) mit folgenden Worten davon
abgeraten, die Svendborger Gespräche zwischen Benjamin und Brecht mit zu über-
nehmen: „Zahlreiche der in diesen Gesprächen nur angerissenen Probleme, vor die
sich die progressiven Schriftsteller in den ersten Exiljahren gestellt sahen - man den-
ke an bestimmte Erscheinungen in Politik und Kulturpolitik der Sowjetunion im Zei-
chen des wachsenden Personenkults -, würden jedoch hier und heute einen sehr
ausführlichen historischen und ideologischen Kommentar verlangen, der unsere
31 Schmitt, Expressionismusdebatte, S. 24.
Stefan Rosinski, August 2013
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(Benjamin-)Ausgabe zu stark belastete. Die marxistische Literaturwissenschaft hat
diese Texte keineswegs zu scheuen; von ihrer Veröffentlichung in extenso in einer
Ausgabe des Aufbau-Verlags soll jedoch abgeraten werden“.32
Der Text
Benjamin beginnt seinen Text vom Autor als Produzenten mit der Feststellung, dass
die Zeitumstände des herrschenden Faschismus jeden Künstler und Intellektuellen -
ob sie wollten oder nicht - zu einer „Entscheidung“ nötigten: zu der Entscheidung, in
wessen „Dienst“ man seine Aktivität stelle. In einer solchen historischen Situation
kann es keine Entscheidungslosigkeit geben, denn jede Form der Publikation ist per-
formativ: Handlung im Kontext der mörderischen Frage von Affirmation oder Konfron-
tation. Das „Existenzrecht“ des Dichters ist angesichts der nazistischen Verfolgungs-
politik zweifach in Frage gestellt: als nacktes Leben und in dem Anspruch auf die
Autonomie der Kunst und des Denkens. Ein „fortgeschrittener Autor“ wird sich des-
halb, so Benjamin, „auf die Seite des Proletariats“ stellen und die Autonomie durch
die „Tendenz“ ersetzen.
An dieser Stelle setzt Benjamin seinen Hebel an: Die Tendenzdebatte sei bisher
unglücklich gelaufen, weil sie den Zusammenhang von Tendenz (also dem auf den
Klassenkampf bezogenen Denken) und literarischer Qualität nicht plausibel machen
könne. Insofern sei der alleinige Begriff der „Tendenz“ ein vollkommen untaugliches
Instrument der politischen Literaturkritik. Dagegen formuliert er seine These: Ein
Werk, das die richtige Tendenz zeige, müsse notwendig auch jede sonstige (soll
heißen: literarische) Qualität aufweisen. Dies wolle er im Folgenden „beweisen“ und
damit das Studium des Faschismus befördern.
Wenn ein Werk „richtiger Tendenz“ notwendig auch literarische Qualität zeigt, kann
im Umkehrschluss literarische Qualität (die freilich noch zu definieren wäre) ein Indi-
kator richtiger politischer Tendenz sein, ohne dass unter Umständen deren politi-
scher Gehalt als Gesinnung explizit würde. Benjamin hält jedenfalls fest: „Die Ten-
denz einer Dichtung kann politisch nur dann stimmen, wenn sie auch literarisch
32 Wizisla, S. 44.
Stefan Rosinski, August 2013
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stimmt“. Auch wenn "im Zentrum der Philosophie der Klassenkampf" stehen müsse,
versichert er, dass "Kritik in der Sprache der Artisten reden muss".
Damit reicht das Parteibuch eines Autors ebenso wenig wie seine zu Markte getra-
gene „fortschrittliche“ Gesinnung als Ausweis der richtigen politischen Tendenz sei-
ner Werke. Denn erst die „literarische Tendenz“ erzeuge deren - politisch notwendige
- Qualität. Benjamin denkt also eine „literaturtheoretisch begründete moderne Autor-
schaft und die Verantwortung des Intellektuellen zusammen“, eine avancierte Äs-thetik als antifaschistische Literaturpraxis.33
Dies ist zunächst eine Absage an sozialistische Trivialliteratur, wie sie als Gut- und
Richtiggemeintes zuhauf publiziert wurde. Diese sei - egal wie revolutionär und poli-
tisch nonkonformistisch sie sich gebe - „ästhetischer Verrat“, so Benjamin. Die „so-
zialistische Romanform“ etwa sei eher ein Rückzugsgefecht bürgerlicher Belletristik
als ein Vorstoß proletarischer und daher ästhetischer Konformismus von Schwarz-
Weiß-Zeichnungen.34
Den Konformismus-Begriff verwendet Benjamin indes auch in einem anderen Zu-
sammenhang: Faschismus sei Konformismus, hervorgegangen aus der tödlichen
Mendelung von Nihilismus mit Idealismus35. Konformismus als Teil einer Funktions-
weise der Technokratie werde von dieser erzeugt; als das Einverstandensein mit
ihren Verfahren, ohne dass deren Ergebnisse aushandelbar wären.36 Über den Kon-
formismusbegriff rückt Benjamin sozialistische Tendenzliteratur, soweit sie reine Ge-
sinnungsliteratur ist, in den Umkreis eines faschistischen Denkens.
Um seinen Begriff der literarischen Tendenz genauer bestimmen zu können, zieht
Benjamin die Kategorie der Produktionsverhältnisse heran. Nicht die Frage, wie
ein Werk zu diesen Verhältnissen stehe (das wäre Gesinnung), sei entscheidend,
sondern wie es in ihnen stehe. Diese Frage, so Benjamin, ziele „unmittelbar auf die
schriftstellerische Technik“. Erst die Technik eines Werkes gebe Aufschluss darüber,
33 C. Kambas, Positionierung der Linksintellektuellen im Exil. In: Benjamin Handbuch. 34 Vgl. Zum gegenwärtigen Standpunkt des französischen Schriftstellers. 35 Bert Brecht: „Die Durchführung dieses gigantischen Programms in seinen drei Teilen erforderte selbstverständlich die ungeheuerlichsten Anstrengungen des gesamten Vol-‐kes und jenen eingangs erwähnten Idealismus. Ohne einen solchen Idealismus können Programme solcher Art nicht durchgeführt werden“. Schriften 2.1, S. 13. 36 Cf. Walter Benjamin: Theorien des deutschen Faschismus. In: GS III, S. 238.
Stefan Rosinski, August 2013
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ob die literarische Tendenz in einem Fort- oder Rückschritt liege. An ihr erkenne
man, welche Funktion ein Werk innerhalb der schriftstellerischen Produktionsver-
hältnisse einer Zeit habe. (Selbstverständlich beschreibt das Technische einen
grundlegend anderen Sachverhalt als das Technokratische.)
Den Begriff der Funktion verbindet Benjamin mit einem Ausdruck des russischen
Schriftstellers (und Brecht-Freundes) Tretjakows: dem vom „operierenden“ Schrift-
steller im Unterschied zum „informierenden“. Der fortschrittliche, operierende Schrift-
steller „greift ein“, indem er die Formen der Literatur verändert. Formveränderung ist
hier im Kontext eines historischen Bewusstseins gedacht, das sich selbst in einem
„gewaltigen Umschmelzungsprozess“ reflektiert. Dieses Bewusstsein des Umbruchs
war kein Alleinstellungsmerkmal der Linken, sondern erfasste das gesamte Spektrum
des politischen Denkens der Zwanziger und Dreißiger Jahre.
Umgeschmolzen werden müssen mit den Formen auch die Funktionen und damit die
Produktionsverhältnisse: Wer ist zukünftig Schreibender, wer Lesender, wer ist Spie-
lender, wer Zuschauer? Ja, mehr: die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum
selbst beginne sich aufzulösen. Ein Aspekt, den Benjamin in seinen Arbeiten zum
epischen Theater intensiv weiterverfolgen wird und der für Brechts „Maßnahme“ fun-
damental ist.
Mit dem breiten Zugriff der Werktätigen auf die Medien - Benjamin exemplifiziert hier
am Beispiel der Sowjetunion - sei jeder „Lesende jederzeit bereit, ein Schreibender
zu werden“. Die „Arbeit selbst komme zu Wort“, und man könne nicht weniger als die
„Literarisierung der Lebensverhältnisse“ beobachten. Schauplatz dieses Vorgangs
seien die Zeitungen, Schauplatz einer „hemmungslosen Erniedrigung des Wortes“.
Freilich: dies gelte nur für die Sowjetunion, denn woanders seien diese Medien keine
geeigneten Instrumente des politischen Fortschritts, weil sie nach wie vor im Eigen-
tum der Kapitalisten stünden.
Folglich gilt für den Autor im Kapitalismus eine andere Aufgabenstellung als in einem
Land, wo der Schriftsteller aufgefordert ist, unmittelbar in die Produktion oder wie
Tretjakow in die Kollektivierung einzugreifen. Hier kann Literatur als Produktionsmit-
tel sozialisiert werden, indem Bildung nicht länger ein Privileg von Intellektuellen ist.
Stefan Rosinski, August 2013
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Anders im Kapitalismus: Ist der Autor imstande, die eigene Arbeit, ihr Verhältnis zu
den Produktionsmitteln, d.h. den Stand ihrer Technik wirklich revolutionär zu durch-
denken?
Benjamin wählt die Beispiele des Aktivismus und der Neuen Sachlichkeit als zwei
literarische Strömungen, die sich gesellschaftskritisch geben. Sind sie es nur der Ge-
sinnung nach, oder übt der Autor seine Solidarität mit dem Proletariat auch als Pro-
duzent? Wird die Stellung der Intelligenz im Produktionsprozess kritisch reflektiert?
Benjamins Kritik an den Konzepten von Vertretern dieser Strömungen, explizit Alfred
Döblin und Heinrich Mann, fällt vernichtend aus. Hier werde ein „Begriff des Geisti-
gen“ ohne Rücksicht auf die Stellung der Intelligenz im Produktionsprozess vertre-
ten. An die Stelle der materialistischen Dialektik sei im Aktivismus das Prinzip des
„gesunden Menschenverstandes“ getreten; der Begriff des Sozialismus ein reaktio-
närer. Benjamin zitiert hierzu Döblin: Sozialismus sei „Freiheit, spontaner Zusam-
menschluss, Ablehnung jedes Zwanges, Empörung gegen Unrecht und Zwang,
Menschlichkeit, Toleranz, friedliche Gesinnung“. Diesem „Aktivismus“ als „geistiger
Erneuerung“, so Benjamin abschließend, gehe jede Analysefähigkeit und kritische
Selbstwahrnehmung ab.
Dem Aufbruch der Autoren in der Sowjetunion zum Verwechseln ähnlich sehen mag
die Literatur der sogenannten Neuen Sachlichkeit. Sie habe die Reportage literatur-
fähig gemacht, integriere Elemente der Illustrierten, des Radios, der Photomontage.
Sie wolle das Elend zeigen - und erniedrige es doch zum Gegenstand des Konsums.
Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Walter Mehring - so der Befund - verwandelten den
politischen Kampf aus einem „Zwang zur Entscheidung“ in einen Konsumartikel.
Benjamin bescheinigt dem Großteil der linken Literatur, dass sie „der politischen Si-
tuation immer neue Effekte zur Unterhaltung des Publikums abzugewinnen“ vermö-
gen. Der „revolutionäre Routinier“ beliefere ohne zu verändern (auch mit „revolutio-
nären“ Themen) und bediene damit den bürgerlichen Produktionsapparat, der er-
staunliche Mengen von revolutionären Themen assimilieren könne, ohne seine Be-
stand (und den seiner besitzenden Klasse) ernstlich zu gefährden. Dabei könne es
doch nur um eines gehen: den (literarischen) „Produktionsapparat durch Verbesse-
rungen der herrschenden Klasse zu entfremden“.
Stefan Rosinski, August 2013
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Benjamin zitiert zustimmend Brecht (und integriert Teile eigener Aufsätze zum Epi-
schen Theater), dass es um „Umfunktionierung“ ginge: Umfunktionierung der Pro-
duktionsformen im Sinne einer dem Klassenkampf dienlichen (statt: dienenden) Intel-
ligenz. Am Beispiel des Theaters dokumentierten Brechts Arbeiten, dass der Produk-
tionsapparat so beliefert werden könne, dass er im Sinne des Sozialismus gleichzei-
tig verändert werde. Künstlerische Arbeiten sollen - so fordere Brecht - „nicht mehr
so sehr individuelle Erlebnisse sein, sondern mehr auf die Benutzung (Umgestaltung)
bestimmter Institute“ gerichtet werden. Nicht geistige Erneuerung, wie sie die Faschi-
sten proklamieren, sei wünschenswert, sondern technische. Vom politisch aufgeklär-
ten Künstler müsse man erwarten dürfen, dass er den Produktionsapparat dem mo-
dischen Verschleiß entreiße und ihm den revolutionären Gebrauchswert zurückgebe:
Die Arbeit des modernen Autors „wird niemals nur die Arbeit an Produkten, sondern
stets zugleich die an den Mitteln der Produktion sein. Mit anderen Worten: seine
Produkte müssen neben und vor ihrem Werkcharakter eine organisierende Funktion
besitzen. Und keineswegs hat ihre organisatorische Verwertbarkeit sich auf ihre pro-
pagandistische zu beschränken. Die Tendenz allein tut es nicht. “
An dieser Stelle soll zumindest angedeutet werden, dass Benjamins Ansatz eine ge-
wisse Verwandtschaft mit den Arbeiten der russischen Formalisten in den zwanzi-
ger Jahren zeigt. Ich zitiere Hans Günther aus seinem Vorwort zu dem Band Mar-
xismus und Formalismus von 1973: „Bei den Formalisten herrschte durchaus das
Bewusstsein, dass sie als Revolutionäre auf dem Gebiet der Erforschung der Litera-
tur innerhalb ihres Bereichs, d.h. als Literaturwissenschaftler und Kritiker der literari-
schen Entwicklung, an der totalen Umgestaltung der Gesellschaft teilnahmen. Aller-
dings setzten sie sich gegen eine voreilige Synthese mit dem Marxismus, gegen das
oberflächliche Engagement zur Wehr. Die Position der Identität von gesellschaftlicher
Revolution und Revolution in der Kultur und Wissenschaft vertrat mit überschwängli-
chem Pathos Osip Brik, der im OPOJAZ (= Gesellschaft zur Erforschung der dichte-
rischen Sprache) den besten Erzieher für die junge proletarische Literatur sah
(1923): ‚Der OPOJAZ hilft den Genossen Prolet-Schriftstellern, die Traditionen der
bürgerlichen Literatur zu überwinden (...) Der OPOJAZ hilft dem proletarischen
Schaffen nicht mit nebulösen Phrasen von ‚proletarischem Geist’ und ‚kommunisti-
schem Bewusstsein’, sondern mit exaktem technischen Wissen über die Verfah-
rensweisen des modernen dichterischen Schaffens. Der OPOJAZ ist der Totengrä-
Stefan Rosinski, August 2013
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ber des poetischen Idealismus’“. - Dieses Wissen ist spätestens 1930 verloren ge-
gangen, als die russische Formale Schule „den mit wachsender Schärfe geführten
dogmatischen Angriffen und dem immer stärker werdenden administrativen Druck“
schlussendlich erlag. Mit Lunatscharskis Unterscheidung von „ideologischer“, gesell-
schaftlich aktiver und wertvoller und „formaler“, d.h. ideenloser, dekadenter Kunst
„wurde ‚Formalismus’ von den 30er Jahren an zum Schimpfwort, das (....) vor allem
gegen moderne Gestaltungsverfahren in der Kunst gerichtet war“.
Für Walter Benjamin war die wesentliche Bezugsgröße denn auch nicht der russi-
sche Formalismus, sondern der französische Surrealismus. Dies ist im wichtigen
„Sürrealismus“-Aufsatz von 1929 ausgeführt; aber auch in dem 1934 in der Zeitschrift
für Sozialforschung publizierten Artikel „Zum gesellschaftlichen Standort des franzö-
sischen Schriftstellers“. Hierin heißt es zum Ende: „So haben (die Surrealisten) den
Intellektuellen als Techniker an seinen Platz gestellt, indem sie über seine Technik
dem Proletariat Verfügung zuerkannten, weil nur dieses auf ihren fortgeschrittensten
Stand angewiesen ist. Mit einem Wort - und das ist ausschlaggebend - sie haben
das, was sie erreichten, kompromisslos, auf Grund der ständigen Kontrolle ihres ei-
genen Standortes erreicht. Sie haben es als Intellektuelle erreicht - und das heißt auf
dem weitesten Wege. Denn der Weg des Intellektuellen zur radikalen Kritik der ge-
sellschaftlichen Ordnung ist der weiteste wie der des Proletariers der kürzeste. Dar-
um der Kampf, den sie Barbusse und allen denen ansagten, die im Zeichen der „Ge-
sinnung“ bestrebt sind, diesen Weg abzukürzen. Darum gibt es für sie unter den Ar-
me-Leute-Schilderer keinen Platz.“37
Benjamins Verständnis eines die Verhältnisse neu organisierenden technischen Ver-
fahrens wird vom ihm nicht inhaltlich gefasst. Tatsächlich kommt es weniger auf die
ästhetische Konkretion an, als auf die Haltung, die damit „vorgemacht“ wird. Eine
Tendenz haben heißt: eine Haltung vormachen, „in der man ihr nachzukommen hat“:
„Und diese Haltung kann der Schriftsteller nur da vormachen, wo er überhaupt etwas
macht: nämlich schreibend“. Im Schreiben zeigt der Autor Tendenz als Haltung: als
technisches, „unterweisendes Verhalten“. Hier zitiert er Brecht: „Ein Autor, der die
Schriftsteller nichts lehrt, lehrt niemanden“. Und er fährt fort:
37 Benjamin, GS, II 2, S. 802.
Stefan Rosinski, August 2013
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„Also ist maßgebend der Modellcharakter der Produktion, der andere Produzenten
erstens zur Produktion anzuleiten, zweitens einen verbesserten Apparat ihnen zur
Verfügung zu stellen vermag. Und zwar ist dieser Apparat umso besser, je mehr er
Konsumenten der Produktion zuführt, kurz aus Lesern oder aus Zuschauern Mitwir-
kende zu machen imstande ist. Wir besitzen bereits ein derartiges Modell (...). Es ist
das epische Theater von Brecht“.
Benjamin zu Brecht Um im Folgenden diese „organisierende Funktion“, dieses „Modell“ genauer zu be-
schreiben, bezieht sich Benjamin auf seine eigenen Untersuchungen zum Epischen
Theater, wie er sie bereits in verschiedenen Texten ausgeführt hatte.38
Brecht, so Benjamin, habe den Funktionszusammenhang zwischen Podium und Pu-
blikum verändert. Die Elemente der Wirklichkeit würden im Sinne einer Versuchsan-
ordnung behandelt. Das Theater wird zu einem dramatischen Laboratorium, das den
Zuschauer „durch Denken den Zuständen entfremdet“, in denen er lebt. Dies ge-
schieht dadurch, dass das epische Theater konsequent das Verfahren der Montage
verwendet, d.h. montierend die Handlung unterbricht und dadurch „Zustände ent-
deckt“: „das Montierte unterbricht ja den Zusammenhang, in welchen es montiert
ist“.39 Zustände werden also nicht „wiedergegeben“, sondern tatsächlich entdeckt.
Benjamin hat in diesem Kontext auch von einer „Dialektik im Stillstand“ gesprochen:
das Bild friert ein und erlaubt auf diese Weise einen Blick auf die „gewohnteren Sze-
nen des heutigen Daseins“, der dem „eines Fremden“ gleicht. Das Verfahren der
Montage von Zuständen unterbricht, wirkt damit der Illusion entgegen und zwingt zur
Stellungnahme. Aus dem Bekannten kann ein Erkanntes werden. Die Unterbrechung
hat „eine organisierende Funktion“.
Kritik der Kritik Die Aufgabe des fortschrittlichen Intellektuellen ist Kritik an den Verhältnissen durch
ein Durchdenken der Stellung der eigenen Technik in ihnen. Der Modellcharakter
liegt im „unterweisenden Verhalten“, mit dem der Autor sein Schreiben technisch or-
38 „Was ist das epische Theater?“ (1), 1931. Benjamin hat in einem Brief an Adorno sei-‐nen Text Der Autor als Produzent als „Gegenstück“ zum ersten Brecht-‐Essays bezeichnet. 39 Benjamin, GS II 2, S. 697.
Stefan Rosinski, August 2013
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ganisiert. Dabei geht es - wie wir gehört haben - um „Umformung“, eine Verbesse-
rung des Apparates.
Indem Benjamin in seinem Text die Techniken des epischen Theaters nicht nur be-
schreibt, sondern sie in dieser Beschreibung auch anwendet, sie als Mittel seiner
eigenen Beschreibung verwendet, werden sie ihrerseits einer Kritik unterzogen.
Demzufolge ginge es Benjamin nicht so sehr um das lehrhafte Modell des epischen
Theaters als vielmehr um die Funktion von „Kritik“ in Bezug auf dieses Modell der
Kritik (wie auch auf ein jedes andere Modell der Kritik): um eine Kritik der Kritik also.
Es soll auch für die Beschreibung von Brechts Modell gelten, was es für sich in An-
spruch nimmt: einen Blick auf die gewohnten Szenen des heutigen Daseins zu wer-
fen, der der eines Fremden ist. Benjamin montiert folglich seinerseits die Elemente
des epischen Theaters Brechts in einer verändernden Weise, dass es nun selbst im
Sinne einer Versuchsanordnung behandelt wird. Er unterbricht den politisch fort-
schrittlichen Diskurs Brechts und gewinnt dadurch gleichfalls „Zustände“ dieses
Theatermodells - Zustände, die den vermeintlich konsistenten Entwurf eines aufge-
klärten Theaters von sich selbst entfremden.
An einem einfachen Beispiel wird dies sinnfällig. Die Ausführungen zum epischen
Theater in Benjamins Text sind zum großen Teil als direktes Zitat aus dem von ihm
verfassten Essay „Was ist das epische Theater?“ (1) entnommen. Dort heißt es: „In
dem Augenblick, da die Masse in Debatten, in verantwortlichen Entschließungen, in
Versuchen begründeter Stellungnahme sich differenziert, in dem Augenblick, da die
falsche, verschleiernde Totalität „Publikum“ sich zu zersetzen beginnt, um in ihrem
Schoß den Parteiungen Raum zu geben, welche den wirklichen Verhältnissen ent-
sprechen - in diesem Augenblick stößt der Kritik das doppelte Missgeschick zu, ihren
Agentencharakter aufgedeckt und zugleich außer Kurs geraten zu sehen (...) Mit die-
sem Verhalten des Publikums kommen ‚Neuerungen’ zur Geltung, die jedes andere
Denken als das in der Gesellschaft realisierbare ausschließen und damit in Gegen-
satz zu allen ‚Erneuerungen’ treten“.
Was hier als einfacher Gegensatz zwischen Reform („Erneuerung“) und Revolution
(„Neuerung“) erscheint, löst sich bei genauerem Hinsehen durch die semantische
Doppeldeutigkeit der Sprache auf. Während es bei Brecht noch deutlich heißt: „zu
zertrümmern sei jedes andere denken als das in einer gesellschaft realisierbare“,
Stefan Rosinski, August 2013
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ergeben sich in Benjamins scheinbarer Wiederholung zwei Auslegungsmöglichkei-
ten, je nachdem, wie man betont: Ist es jedes andere Denken außer dem realisierba-
ren, das auszuschließen ist - oder ist, ganz im Gegenteil, womöglich das realisierba-
re Denken auszuschließen, weil es das einer „falschen“ Gesellschaft ist?
Benjamin zitiert Brecht und verfremdet ihn gleichzeitig. Die semantische Irritation hat
hier eine unterbrechende Funktion - als Kritik am Modell des Brechtschen Theater-
entwurfs, das es in seinen Mitteln auf sich selbst anwendet. Sie zeigt nämlich, dass
die wesentliche Referenz dieses Entwurfs, die vorgebliche „Realität“ in Sachen der
Revolution die strittigste ist.
Einig sind sich Brecht und Benjamin darin, einen Idealismus abzulehnen, der der
Realität eine realitätsfremde Utopie entgegenstellt.40 Brechts Verweis auf die not-
wendige Realisierbarkeit des Denkens erteilt scheinbar allen idealistischen Kategori-
en eine Absage - und führt doch einen transzendentalen Begriff der Realität ein. Der
Dramatiker verwendet die Begriffe von Realität und Gesellschaft als der Erfahrungs-
erkenntnis vorgelagert, sie erst ermöglichend. „Realität“ wäre bei Brecht Bedingen-
des statt Bedingtes (bedingt etwa durch unsere Kognitionsmatrix oder durch die
Sprache etc.). Benjamins verändernde Verwendung des Zitats kritisiert, dass Brechts
theoretische (und dem Konzept des historischen Materialismus folgende) Forderung
der „Erkennbarkeit des Realisierbaren“ eine von Zweideutigkeit freie Sprache vor-
aussetzen würde. Zweideutigkeit aber ist das Prinzip des Gestischen, wie Brecht es
selbst formuliert hatte.
„Damit steht das gesamte Brechtsche Unternehmen auf dem Spiel. Zur kritischen
Unterscheidung von gut und böse, Wahrheit und Meinung, revolutionär und reaktio-
när bedürfte es eben dessen, was Brecht als ‚Realisierbarkeit’ bezeichnen möchte.
Ohne diesen Prüfstein der „Realisierbarkeit des Denkens“ (...) schlüge der Anspruch
um in totalitären Dogmatismus“.41
Hier, so mag der mitwirkende Leser schließen, liegen die Aporien und unüberwindba-
ren Widersprüche der Texte Benjamins, liegt aber auch die Politik des revolutionären
Autors. Dass sie sich heftig am Werk Brechts entzündeten, dokumentiert ein Brief,
den Benjamin 1935 an Adorno schrieb, der die größten Bedenken gegen den Ein-
40 Vgl. Nikolaus Müller-‐Schöll, Theater des konstruktiven Defaitismus. 41 Müller-‐Schöll, Defaitismus.
Stefan Rosinski, August 2013
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fluss des Dramatikers hegte. Brecht, so Benjamin beschwichtigend, habe seiner Ar-
beit nie „Direktiven“ beschert - wohl aber „Aporien“.42
Benjamin geht es nicht darum aufzuzeigen, wie die Stellung des fortschrittlichen Au-
tors im Produktionsprozess zu sein habe. Letzteres würde auf ein Inhalts- oder: Ge-
sinnungsmodell hinauslaufen, das lediglich die normative Ästhetik der aristotelischen
Dramaturgie durch die der epischen ablösen würde. Genau dagegen hatte Benjamin
polemisiert. Die einzige Forderung, die er erhebt, lautet: „die Forderung nachzuden-
ken, seine Stellung im Produktionsprozess sich zu überlegen“. Dieses Nachdenken
ist ein kritisches, wo es die „falsche Totalität ‚Publikum’“ zersetzt, um den „Parteiun-
gen Raum“ zu geben. Genau darin werden der Zuschauer und der Leser „Mitwirken-
de“.
Ich komme zurück auf das Geschehen beim „Kongress der antifaschistischen
Schriftsteller zur Rettung der Kultur“ im Juni 1935. Die Äußerung von Abusch, Revo-
lutionen hätten nicht spontan zu sein, ist - seinerseits spontan - im Bewusstsein des
vermeintlich sicheren Wissens darüber getan, wie Gesellschaft, Realität und Revolu-
tion funktionieren. Darin gibt sie ihren dogmatischen, ja totalitären Charakter zu er-
kennen. Andererseits jedoch, jenseits der performativen Wirkung der Aussage, wird
hier etwas zweites berührt: ein Vortrag, der das spontane Absingen der Internationa-
le bewirkt, ist mitnichten das Ergebnis einer kritischen Intervention wie sie von Ben-
jamin am Beispiel des epischen Dramatikers beschrieben wird: „Er sieht es weniger
darauf ab, das Publikum mit Gefühlen, und seien es auch die des Aufruhrs (!), zu
erfüllen, als es auf nachhaltige Art, durch Denken, den Zuständen zu entfremden, in
denen es lebt“. So ließe sich der Hinweis des Parteifunktionärs auf die wenig will-
kommene spontane Geste durchaus im Sinn des fortschrittlichen Autors als Produ-
zenten und seiner potentiell nicht abschließbaren Kritik, wie sie sich erst dem Den-
ken erschließt, verteidigen.
Coda.
Walter Benjamin versteht die „Rolle“ des Intellektuellen durchaus im Sinn der damit
angesprochenen Theatermetapher. So wie der epische Schauspieler spielt und sein
42 Wizisla, S. 22.
Stefan Rosinski, August 2013
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Spielen gleichzeitig zeigt, so besteht auch die kritische Haltung des Intellektuellen in
einer doppelten Maßnahme zur Sicherstellung der Distanzierung vom Gegenstand.
Im Schreiben des revolutionären Autors fallen Zeigen und Gezeigtes auseinander,
und zwar so, dass der Lesende zum Mitwirkenden wird: Ihm erschließt sich ein Text
mit „literarischer Tendenz“ als ein organisierender, der jede Partei zersetzend aus
ihrer Konkursmasse Parteiungen über seine Auslegung erzeugt. So wie „der Blick
des epischen Dramatikers verfremdet“, tut es auch der des Kritikers, der des revolu-
tionären Autors, des Autors als Produzenten. In diesem Sinn dürfte Benjamins Satz
gegen Brecht zu verstehen sein, dass der Begriff der „revolutionären Intelligenz“ an
sich schon ein konterrevolutionärer sei. Benjamins Antifaschismus ist immer auch ein
Antitotalitarismus gegen jegliche Form des Dogmatismus.
Der Autor wird als Ingenieur gedacht, der die Vergesellschaftung der geistigen Pro-
duktionsmittel voranbringt. Er arbeitet als Techniker, als Spezialist an der Umfunktio-
nierung der Formen und im Namen einer Revolution, deren genaue Inhalte er nicht
kennt: „Je vollkommener er seine Aktivität auf diese Aufgabe auszurichten vermag,
desto richtiger die Tendenz, desto höher notwendigerweise auch die technische
Qualität seiner Arbeit“.
Dass der Intellektuelle darüber zum Verräter an seiner „Ursprungsklasse“ wird, be-
zahlt er mit einer Strafe, die Einsamkeit heißt. Einsamkeit ist seine Armut, die - para-
dox genug - gleichwohl auch sein „Kapital“ darstellt: „Es handelt sich aber darum: die
Erkenntnis, wie arm der Schriftsteller ist, und wie arm er zu sein hat, um von vorn
beginnen zu können“.
Postskriptum
2004 hat Boris Buden, der kroatische, in Berlin lebende Philosoph, der die Signatu-
ren der „postkommunistischen Gesellschaften“ erforscht, einen Text veröffentlicht mit
dem Titel: Benjamins ‚Der Autor als Produzent’. Eine Re-Lektüre im postkommunisti-
schen Osten. Darin macht er folgenden Gedanken geltend: Kann es eine Antwort auf
die Frage geben, welche Position ein Kunstwerk in den Produktionsverhältnissen
UNSERER Zeit einnimmt, wenn die Frage nicht mehr zur Verfügung steht?
Soll heißen: „Können wir heute diese selbe Frage wiederholen? Haben wir heute et-
was wie die kritische Methode des dialektischen Materialismus zur Verfügung für un-
Stefan Rosinski, August 2013
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sere Reflexionen? Die Antwort lautet - un/glücklicherweise nein! (...) Denn diese Fra-
ge ist heute in sich zu einer Antwort ohne ihre eigentliche Frage geworden. Es ist die
allgemeine Frage nach den materiellen Bedingungen künstlerischer Produktion, die
unter den gegebenen ideologischen Bedingungen ihre gesamte Bedeutung einge-
büßt hat“.
Damit wird von Boris Buden der für einen Linken schmerzliche Aspekt berührt, dass
wir heute in einem historischen Raum leben, der jeglichen explizit politischen Bezug
zu linken Erfahrungen abgeschnitten hat. Ein solcher Bezug aber war es, in dem
Benjamin arbeitete und dachte: Benjamin benützt „reflexive Methoden wie den dia-
lektischen Materialismus, die nicht nur Möglichkeiten kritischer Philosophie oder intel-
lektueller Kritik sind, sondern funktionierende Instrumente - um nicht Waffen zu sa-
gen - einer wirklichen, zu dieser (seiner) Zeit sehr starken internationalen, politischen
Bewegung und einer existierenden sozialen Organisation und Institution, nämlich des
sowjetischen Staats“.
Der Text Benjamins wäre danach auf gewisse Weise referenzlos geworden. Und so
schließt Buden seinen Text mit einem Appell, der selbst leer bleiben muss: „Es gibt
deshalb keine neuen Antworten auf Benjamins alte Fragen. Was wir stattdessen
brauchen, sind neue Fragen, hervorgerufen von seiner alten Antwort“.
Mit dieser Frage nach den Fragen schließen auch meine Ausführungen, die notabe-
ne mit einem Fragezeichen enden müssen.
sr