ALEA

71

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Du möchtest die ganze Wahrheit erfahren? Du möchtest von mir hören, wie das Leben mit ihr war? Für mich war es wie ein realer Traum von einem Paradies. Ich kenne das Paradies nicht. Man hat mir viel darüber erzählt. Obwohl es klare Richtlinien über den Weg dahin gab, waren sich sogar die Glaubensbeauftragen über den Ort und das Leben im Paradies nicht einig. Früher war mir mein Leben als Vorbereitungszeit für das Paradies wichtig. Ich hatte alles darauf ausgerichtet. Doch mit Alea war alles anders. Das erstrebenswerte Paradies lag nicht in ferner Zukunft. Das Paradies war zu mir gekommen. Damals waren das verbotene Gedanken, die man besser nicht aussprach, aber besser kann ich es nicht beschreiben. Vielleicht war es auch nur eine besondere Form der Erwartung, weil ich sie mit meinem Blut zum Leben erweckt hatte. Aber schon in den ersten Sekunden war zwischen mir und Alea eine intime Vertrautheit, ganz so, als ob sie ein Teil meines Körpers und aus mir und meinem Leib erschaffen worden wäre.

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[Vierundzwanzigstes Kapitel]

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Monotonie

„Je länger ich darüber nachdenke, umso mehr wird mir bewusst, dass

ich mich vollkommen falsch verhalten habe. Noch immer gelingt es

mir nicht, mich zu beherrschen. Wenn ich nicht lerne, meine Gefühle

zu verbergen, wird mir mein Versagen zum Verhängnis.

Ich hätte es ihr nicht sagen sollen und wahrscheinlich wäre es besser

gewesen, sie anzulügen. Aber konnte ich damit rechnen, dass sie

ausgerechnet an dem Platz auftaucht, wo ich sie niemals erwartet

hätte? Sie weiß doch, dass sie da nicht hingehört.

Ich habe immer noch ein schlechtes Gewissen, weil ich jeder

Konfrontation aus dem Weg gegangen bin. Normalerweise gehe ich

nicht da hin. Eigentlich gehe ich nirgendwo hin. Ich hasse

Ansammlungen von Menschen, ich hasse die Ausdünstungen und die

Geräusche. Ich will nur mit meiner Alea zusammen sein, und mehr

möchte ich nicht.“

Noui

____________________

Groß-Berlin

Samstag, 11. Mai 2080

Wenn Glück ist nichts anderes ist als gute Gesundheit und

schlechte Erinnerung, dann weiß ich nicht, warum ich jetzt daran

denken muss. Zu viel verschwindet, so als ob das Erlebte nie

geschehen wäre. Andere, eigentlich gewöhnliche Ereignisse haben in

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grauen Fassade und den verschnörkelten Verzierungen, inmitten der

glitzernden Fassaden der City noch gab.

An der Hauswand, neben dem Torbogen mit dem kaum noch

als Engel erkennbaren Torabschluss befand sich ein mit rostigen

Schrauben befestigtes, blaues Blechschild mit der durch Steinwürfe

nur schwer lesbaren Aufschrift „Ludwigkirchplatz.“

Alle nannten sie nur die graue Maus. Der Zugang zu der Bar

mit dem seltsamen Namen lag gut versteckt in dem

heruntergekommenen Hinterhof des Hauses, und er war nicht leicht

zu finden. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wer mir damals gesagt

hat, dass ich da hingehen soll. Ich kann mich auch nicht mehr

erinnern, was mich an diesem Tag, so ganz entgegen meiner

Gewohnheiten, da hingetrieben hat. Es war nicht wegen einer Frau.

Ich habe mich immer an die gesetzlich festgelegten Regeln gehalten

und meine Erfahrungen mit Frauen waren, wie es meinem Rang und

meinen Privilegien entsprach, auf den nicht vermeidbaren Umgang

und der für uns vorgeschriebenen Regeln der Kommunikation

beschränkt. Ich dachte nicht mehr an Frauen, ich hatte auch keinen

Bedarf. Warum auch? Als privilegierter Bürger genoss ich die

Sicherheit und den Wohlstand der Inneren Stadt, und das war mehr

wert. Zwar war es noch nicht gelungen, mit den frei erhältlichen,

triebdämpfenden Mitteln, die als sozialschädlich identifizierten

Bedürfnisse vollkommen zu unterdrücken. Dazu war die Umformung

mehrerer Generationen notwendig.

Ich war ein strikter Befürworter der neuen Zeit und ich

empfand es nicht als Nachteil, dass ich zur Einhaltung der Gesetze

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Sex, denn Sex bedeutete Verantwortung, die ich damals nicht

übernehmen konnte.

Manchmal empfand ich meine Unscheinbarkeit auch als

Vorteil. Die wenigen Frauen die es in meiner Umgebung noch gab

beachteten mich nicht und ich hatte meine Ruhe.

Mein zweites Erlebnis war mit einer älteren und sehr

betrunkenen Prostituierten aus einem äußeren Bezirk. Danach wollte

ich nur noch vergessen und mich auf meine Arbeit konzentrieren.

Vielleicht weil es eine widernatürliche und eigentlich monströse Tat

war, hat es sich unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingebrannt.

Zu der damaligen Zeit konnte man sich in den äußeren Bezirken noch

relativ frei bewegen. An die Bezeichnung des Viertels kann ich mich

nicht mehr erinnern, aber den Geruch der aus dem Loch in der Wand

kam, habe ich immer noch in der Nase. Die Mischung von Urin,

Erbrochenem und aufgekochten Gemüseersatzstoffen war damals

typisch für die gutbürgerlichen Hauseingänge. Sie stand regungslos

da und sie sah mich nicht an, aber ich wusste, dass sie jede meiner

Bewegungen genau wahrnahm. Vielleicht hat mich diese gespielte

Gleichgültigkeit gereizt.

Meine Frage: „Sag mir, wo ich hier bin?“ war eigentlich

dumm, denn ich war ja nicht durch einen Zufall hier. Ich wusste

genau, dass es verboten war, und sie wusste es auch. Zwar waren die

Strafen für Kontakte mit Frauen aus den Außenbezirken noch gering,

aber es bestand immer die Gefahr, dass Kontakte mi Trashys durch

eine Unachtsamkeit bemerkt und in mein Führungsprofil gelangen

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neuen Zyklen in die verbotene Einteilung der alten Zeit umzurechnen.

Vielleicht ist es nur eine skurrile Angewohnheit, die sich irgendwie in

meinem Gehirn verselbstständigt hat. Nach meinen Notizen gab es

früher einmal einen Tag - der siebte Tag - der ein heiliger Tag war,

aber warum das so war, habe ich vergessen.

Ob die für die Privilegierten staatlich garantierte

Vollbeschäftigung ein Segen oder ein Fluch war, weiß ich nicht, weil

ich nichts anderes kannte. Als operativer System-Analytiker nahm ich

eine besondere Stellung innerhalb der streng abgegrenzten

Hierarchie ein. Seit hundert Arbeitszyklen war ich mit einer

komplexen Aufgabe beschäftigt, die mich voll in Anspruch nahm. Ich

sollte eine Theorie zur Verbreitung von Krankheiten über

internationale Verkehrsknotenpunkte entwickeln. Warum man

ausgerechnet mich dafür ausgewählt hatte, weiß ich nicht.

Für die zu entwickelnde Strategie war ich die denkbar

schlechteste Wahl, denn ich hatte bis auf gelegentliche Ausflüge in

die äußeren Bezirke, noch keine Erfahrung mit den sogenannten

internationalen Verkehrsknotenpunkten. Eigentlich hatte ich

überhaupt keine Vorstellung davon, was unter dem Begriff

„Verkehrsknotenpunkt“ zu verstehen war.

Ich habe nicht nachgefragt. Fragen stellen war unerwünscht,

weil sich die Theorie durchgesetzt hatte, dass aus Fragen alles Unheil

entstehen kann.

Mein Leben spielte sich in meinem Appartement im

achtzehnten Stock eines für meine Begriffe luxuriösen Towers für

Singlemänner und vor meinen Bildschirmen ab. Obwohl ich

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du leben willst, geh raus aus deiner zwanghaften Monotonie. Sei kein

Feigling, zeig endlich Mut und geh in deiner freien Zeit dahin, wo das

Leben ist.“

Auch wenn ich es damals nicht wahrhaben wollte, dieser

Samstag im Mai war der erste, winzige Schritt des Versuchs eines

Ausbruchs aus der Routine meines Lebens. Ein Leben, das so perfekt

geregelt war, dass es mir manchmal vorkam, als ob Andere vor mir es

schon einmal, sozusagen zur Probe und zum ausmerzen aller Ecken

und Kanten gelebt hätten.

Das Gedränge in den verwinkelten Räumen und die

verschiedenen Gerüche empfand ich als unangenehme Erfahrung,

und das laute Stimmengewirr mit Lauten, die so disharmonisch

klangen, dass ich sie nicht als Musik definieren konnte, betäubten

meine Ohren. Zwischen den vielen Männern in der engen Bar fühlte

ich mich wie in einem hermetisch abgeschotteten Behälter. Ich

befand mich am falschen Ort um eine Lösung für meine Probleme zu

finden und schon nach kurzer Zeit wollte ich eigentlich nur noch weg.

Wie ich an den großen Getränkeausschank gekommen bin

weiß ich nicht mehr. Vielleicht war es eine geheimnisvolle Fügung,

oder nur die Kräfte von Druck und Gegenwirkung. Die sich dicht

drängenden und schwitzenden Leiber hatten mich an diesen Platz

geschoben.

Zuerst waren es undeutliche Wortfetzen, die zwischen dem

lauten Stimmengewirr nur bruchstückhaft zu mir durchdrangen.

„Es ist einfach unbeschreiblich, du musst es ausprobieren“,

war der Satz, der mich aufhorchen ließ. Die drei Typen, die aussahen,

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vermutlich weil er sich für den Mittelpunkt der Welt hielt. Er hatte

auch die unangenehme Angewohnheit, zu dicht heranzurücken,

sodass ich seinen von schlechten Zähnen beeinflussten Atem und den

intensiven Körpergeruch wahrnehmen konnte. Ich wollte mich schon

mit einer gemurmelten Ausrede wegdrehen, um unauffällig in der

Menge in Richtung Ausgang zu verschwinden, aber als Ika auch noch

seine Hand auf meinen Arm legte und nicht mehr wegnahm, war es

zu spät. Eingekeilt im Gedränge konnte ich nicht mehr weg.

Mit lauter Stimme bestellte Ika ein Getränk. Sofort bekam ich

von einer Hilfskraft mit dem für Dienstpersonal vorgeschriebenen,

enthaarten Schädel, einen weißen Plastikbecher. Ich betrachtete die

dickflüssige rötliche Flüssigkeit, und Ekel stieg in mir auf.

„Ich muss es dir jetzt erzählen. Ich hab mir eine liefern lassen.

Du glaubst ja gar nicht, was das für ein Kracher ist.“

Am Anfang verstand ich nicht, von was Ika so begeistert

schwärmte. Mit einem neutralen „Hauptsache, du bist damit

zufrieden“ wollte ich das Gespräch abwürgen. Ich nahm an, dass er

irgendein, vermutlich vollkommen nutzloses technisches Spielzeug

erworben hätte, und nach ins Unendliche ausufernden Diskussionen

stand mir inmitten der drangvollen Enge und mit meinen bohrenden

Kopfschmerzen nicht der Sinn. Ich nahm einen Schluck aus dem

Plastikbecher. Das Getränk schmeckte bitter und ich spürte ein

Kratzen in meinem Hals. Ich wollte mich abwenden, aber Ika hielt

mich fest und redete einfach weiter.

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Ministerien stillschweigend geduldet wurde. Denn trotz aller

Maßnahmen war es immer noch nicht gelungen, den

Geschlechtstrieb vollständig zu unterdrücken. Darum mussten die

Triebe kanalisiert werden, und von Liebe sprach schon lange niemand

mehr, seit der Begriff und alles damit Zusammenhängende als

unerwünschtes Wort diffamiert war. Ich vertrat schon immer die

Meinung, dass Sex nur als Dienstleistung noch eine zeitlich

beschränkte Funktion haben konnte. Ich war noch nie prüde, und

man konnte mit mir sogar über so etwas Verbotenes wie Sex reden.

Aber den Ort zwischen den vielen laut redenden Männern fand ich

irgendwie unpassend.

Mit einem uninteressierten „das weiß ich doch“ wollte ich das

peinliche Gespräch abtun. Als ich die Hand hob, um dem Keeper

einen Wink zum Bezahlen zu geben, drückte Ika meinen Arm runter.

„Nein, es ist ganz anders. Es ist keine richtige Frau, eher eine

bessere Frau. Es ist sogar erlaubt. Sag bloß, du hast noch nichts

davon gehört?“

„Von was soll ich was gehört haben?“ Das Getränk begann

meinen Verstand zu vernebeln, und ich spürte, wie ich mit meinen

Fragen unvorsichtig wurde.

„Ich hab mir eine von den neuen Züchtungen zugelegt.

Eigentlich ist es eine Mischung zwischen Pflanze und Tier. Es ist

unglaublich, aber es ist wirklich so. Es ist eine Bio-Frau.“

Einen Moment dachte ich, Ika habe zu viele blaue Mind-Drinks

getrunken und wollte mich auf den Arm nehmen, um sich dann

lautstark und ausgiebig über meine Blödheit auszulassen.

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Wir gingen das kurze Stück zu Ikas Penthouse am Ende der

ehemaligen Lietzenburger Straße. Das Blechschild mit der ungültigen

Straßenbezeichnung war noch nicht entfernt, und das neue

Piktogramm, das endlich den alten Namen ersetzen sollte, war

mannshoch, aber nur provisorisch auf eine Holztafel aufgemalt.

Offensichtlich kamen die Stadtplaner mit dem Auswechseln der

Schilder immer noch nicht voran.

Ika drückte den Schalter neben der Abbildung von vier

Handflächen mit ausgestreckten Fingern. Mit dem Aufzug fuhren wir

ins zwanzigste Stockwerk. Ika sah kurz in den Irisscanner, und die

schwere Metalltür zu seiner Wohnetage öffnete sich.

Den Anblick werde ich niemals vergessen. Er war eine

atemberaubende, wie die bis ins kleinste Detail auf Wirkung geplante

Inszenierung. Eine vollkommene Frau mit einem ebenmäßigen

Gesicht, umrahmt von hellblonden, leicht gelockten und wie pures

Gold schimmernden Haaren stand am großen, im Boden

eingelassenen Fenster, an der gegenüberliegenden Seite des Raums.

Im Hintergrund konnte man die glitzernde Skyline der weiten Stadt

und am Horizont zwei der neuen mächtigen Gebäude in der glutrot

leuchtenden, von kleinen schwarzgrauen Wolken umrahmten

Abendsonne sehen. Dazwischen stiegen wie von bizarren

Gewächsen, dunkle Rauchwolken auf, die sich am Himmel zerrissen.

Ich war von dem Anblick wie elektrisiert. Ika, der Spinner, der

Aufschneider hatte nicht zu viel, eher zu wenig erzählt.

Die hohen Wangenknochen gaben ihr ein exotisch eurasisches

Aussehen, oder jedenfalls das, was ich dafür hielt. Ihre Augen

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Beinen sahen wunderschön aus und keine Unebenheit zeichnete sich

auf Ihrer Haut ab. Ika besaß eine schöne Frau, die er mir, seinem

Freund vollkommen nackt vorführte. Ich konnte es an seinen Gesten

erkennen. Mit dem Stolz des Besitzers genoss er meine unverhohlene

Bewunderung.

Als ob er mir die Rechtmäßigkeit seiner Erwerbung zusätzlich

beweisen wollte, deutete er auf das breite, schwarze Halsband aus

einem unzerstörbaren Kunststoff.

„Ich sehe es dir an, dass du mir nicht glaubst. Da steht es,

schau es dir an.“

Zu der schönen Frau sagte er: „Komm mal her.“

Als ob sie darauf abgerichtet wäre, jedes Wort ihres Besitzers

bedingungslos zu befolgen, kam sie näher.

„Sieh dir mal die Kennmarke an. Alles ist legal und amtlich

registriert.“

Ika gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, was sie tun

sollte. Als sie sich lächelnd zu mir vorbeugte, sah ich ein in das

Halsband eingeschweißtes Plastikschild, das mit einem Siegel des

Güterverteilungsministeriums und einem Bild Ika als rechtmäßigen

Eigentümer auswies. Meine Gefühle schwankten zwischen Neid und

Bewunderung. Gleichzeitig wünschte ich Ika zum Teufel und für sein

Verhalten die Pest an den Hals. Damals ahnte ich nicht, dass nicht nur

der Teufel verführerisch seine Beute betrachtete.

„Du kannst sie haben, wenn du willst, ich leih sie dir“ war Ikas

herablassend-gönnerhafte Antwort und er lachte, als er meinen

verblüfften Gesichtsausdruck sah.

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und ihr könnt sogar Menschen kaufen.

Kann man ein Stück Natur kaufen?

Auch das ist möglich.

Ob man Menschen, Liebe und Natur dauerhaft beherrschen

kann, ist eine andere Frage.

Eine Antwort kenne ich nicht. Darum stellt keine Fragen.“

Noui

____________________

2081

Unzählige Gedanken gingen Noui durch den Kopf.

„Was sind das für Ideale? In was für einer oberflächlichen

Gesellschaft muss ich leben? Ist alles was geschieht nur noch auf

Äußerlichkeiten fixiert.“ Noui empfand Ikas Verhalten zutiefst

materialistisch und dekadent. Er schwor sich: „Niemals werde ich

mich an dem Rummel um die künstlichen Frauen beteiligen.“

Aber dann, in den langen Nächten in denen Noui nicht

schlafen konnte, sah er in seinen fiebrigen Phantasien Ikas schöne

Frau vor sich. Der Anblick ihres nackten, makellosen Körpers am

Fenster, von der Abendsonne mit feurigen Strahlen umhüllt, hatte

sich unauslöschlich in seiner Seele eingebrannt. Die heimlich

geflüsterten Sagen von der Liebe waren nicht nur Hirngespinste. Noui

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Doch offensichtlich hatten die Zensurbehörden neue Richtlinien

bekommen, und gesperrte Bereiche für die Privilegierten geöffnet.

Noui konnte sich nicht satt sehen. „Mein Leben dauert noch lang und

ich will nicht mehr allein sein.“ Noui wollte auch so eine Frau

besitzen.

Irgendwo hatte Noui gelesen, dass nur die Mutigen

Entscheidungen treffen können. Damit schaffen sich die Mutigen ihre

eigene Moral, und die Anderen, die Mutlosen müssen sich dieser

Moral unterwerfen. Noui musste noch nie Entscheidungen treffen. Er

musste auch nicht um die Erfüllung seiner Grundbedürfnisse

kämpfen. Noui war in Sicherheit. Er zeichnete sich nicht durch

übermäßige Intelligenz oder durch herausragende Fähigkeiten aus.

Noui war aus einem ihm unbekannten Grund schon seit seiner

Geburt privilegiert. Manchmal dachte er, dass es vielleicht mit seiner

Herkunft zusammen hängen könnte. Marius, sein Vater hatte

weitreichende Verbindungen besessen hatte und früher wurde Noui

häufig von Beauftragten der MCG3000 oder den Mitarbeitern

irgendeiner Regierungsbehörde besucht. Es waren harmlose, fast

freundschaftlich aussehende Besuche, deren Zweck Noui nicht

deuten konnte. Manchmal wurde er gebeten, einen

Geschicklichkeitstest durchzuführen. In regelmäßigen Abständen

waren auf seinem Bildschirm umfangreiche Fragenkataloge einer

Behörde für Sozial- und Bevölkerungshygiene, die er beantworten

sollte. Obwohl er die ungehörige Aufforderung als eine Zumutung

empfand, beantwortete er die vielen Fragen oft wahrheitsgemäß,

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empfunden hatte, verkam zu einer Reduzierung seiner

gleichförmigen Bedürfnisse. Ikas neue Frau und seine Träume waren

die Ursachen, dass er etwas verändern wollte.

„Nur meine Mutlosigkeit ist an allem schuld. Mit meiner

Mutlosigkeit werde ich niemals etwas beherrschen können, außer

vielleicht mich selbst.“ Aber wenn Noui die Bilder und kurzen

Präsentationssequenzen der angebotenen Biofrauen auf seinen

Bildschirmen betrachtete und Hand an sich legte, ahnte er, dass er

dabei war, sich vor sich selbst zu rechtfertigen.

„Ich werde alles sehr genau auf Legalität und Seriosität

prüfen. Wenn es sich zeigen sollte, dass irgendetwas nicht korrekt

abläuft, mach ich es nicht.“ Für Noui war es eine unerträgliche

Vorstellung, dass er auf Scharlatane hereinfallen könnte. Der zu

erwartende Spott, dem er vielleicht ausgesetzt wäre, ließ ihn immer

wieder zweifeln.

Es dauerte einige Tage und er hatte Ika noch einmal besucht.

Noui dachte sogar daran, Ikas Angebot anzunehmen, aber als Ikas

schöne Biofrau mit ihm allein im Raum war, verließ ihn der Mut.

„Ich helf dir, sonst wird das nichts.“ Ika drängte Noui, sich

doch endlich zu entscheiden. „Ich geh mit, wenn du dich nicht

traust.“

Zuerst wollte Noui Ikas Hilfe nicht annehmen, aber die

Entscheidung den ersten Schritt zu tun, war schwieriger als er dachte.

Noui bekam keine Erlaubnis, eines der mächtigen schwarzen

Gebäude zu betreten. In einer höflich formulierten Nachricht wurde

Noui mitgeteilt, dass der Schutz vor möglichen Verunreinigungen

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ab. Jede Zwillingsfrucht wird von uns rund um die Uhr beobachtet.

Eine computergesteuerte Sondentechnik sorgt dafür, dass die

Früchte im Reifungsprozess mit genau dosiertem Wasser und allen

wichtigen Nährstoffen versorgt werden. Sobald die Messgeräte zum

Beispiel einen Kalium-Mangel registrieren, versorgt die

Computersteuerung die notleidende Pflanze umgehend mit einer

Extra-Portion Kalium. Wir können damit zielgenau die Wünsche

unserer Kunden steuern und zum Beispiel das Wachstum, aber auch

bestimmte Merkmale, beeinflussen.“

Noui hörte aufmerksam zu, während sich Ika mehr für die in

den Gängen zwischen den Aufzuchtwannen geschäftig hin und

hergehenden Technikerinnen zu interessieren schien.

„Wir messen mit den Sonden auch elektrische Spannungen

und die Konzentration von Nährstoffen. Eine weitere weltweit

einzigartige Errungenschaft kommt dem Bedürfnis unserer Kunden

nach ökologischer Aufzucht entgegen. Vor dem Hintergrund der

weltweiten Wasserknappheit haben wir festgestellt, dass sich das

Wachstum und die Qualität der Früchte durch die Bewässerung mit

Brauch- und Abwasser erheblich verbessern. Wir nutzen damit alle

wertvollen Ressourcen und schaffen gleichzeitig qualitativ

hochwertige Biofrauen, die nicht nur über einen hohen individuellen

Customer-Individualwert verfügen, sondern auch der Allgemeinheit

dauerhaft nutzen. Wir können Ihnen heute schon die vierte

Generation von Biofrauen präsentieren, die durch unbehandelte

Abwässer, die reich an Phosphaten und Nitraten sind, eine bessere

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kostete natürlich mehr, aber für Noui war es eine

Selbstverständlichkeit, wie mit technischen Sonderwünschen für ein

beliebiges Produkt. Ika hatte Noui zugeflüstert: „Wer daran Spaß hat,

warum nicht.“

Nur eines war nicht möglich. Es gab keine Biofrau, die

einmalig war. Es gab immer einer zweite, die der ersten bis ins

kleinste Detail glich und die auf einen anderen Erwerber wartete –

und es war nicht möglich zwei zusammengehörende Biofrauen zu

erwerben.

Bevor Noui den Kauf- und Liefervertrag unterschreiben

konnte, wurden seine Privilegierten-Legitimation und seine

Befähigung überprüft. Die vielen Erklärungen, die er an einem

Terminal abgeben musste, empfand Noui als lästige, aber

notwendige Pflicht. Er hasste es, dass Ika dabei war und sich mit

seinen Bemerkungen und Ratschlägen nicht abschütteln ließ.

Noui musste versichern, dass er für den Unterhalt und die

geeignete Unterbringung seiner neuen Frau aufkommen würde. Die

Beitrittserklärung in einen anerkannten Schutzbund für biologische

Nutzwesen unterschrieb er ohne zu zögern. Als er seine Biofrau

aussuchen und gleich mitnehmen wollte, bekam Noui zur Antwort:

„Ihre ganz persönliche Biofrau wird nach Ihren Vorstellungen

gezüchtet. Sie erhalten Qualität und die Produktion dauert eine

gewisse Zeit.“

Als Noui an einem Bildschirm eine umfangreiche Wunschliste

zu den Eigenschaften seiner Wunschfrau erstellen sollte, begann für

ihn der schwierigste Teil. Zuerst wusste er nicht, wie er seine

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Pflanzen mit weiblicher Natur gab, die wie perfekte Frauen aussahen.

Es war noch nicht gelungen, Pflanzen mit männlichen

Primärmerkmalen zu züchten, aber die Referentinnen des Seminars

verstanden es, rhetorisch geschickt, auch die geheimsten Phantasien

zu wecken. „Es ist nur eine Frage der Zeit bis auch ungewöhnliche

Wünsche erfüllt werden können.“ Als die Referentin den Satz

ausgesprochen hatte, gab es im Saal Gelächter und Getuschel.

Nach den ausführlichen Erklärungen der Vorteile, erschien die

Pflege der Biofrauen einfach.

„Biofrauen sind weitgehend anspruchslos“ war der Satz, der

Noui überzeugte. Sie kannten keine geregelten Essenszeiten. Die

Nahrung bestand aus einer Art Tablette mit einer faserigen

Konsistenz die man in Wasser auflösen musste und die sie tranken.

Sie benötigten viel Wasser, aber das wurde nur am Rande, eher

beiläufig erwähnt. Ansonsten konnten sie wochenlang ohne Nahrung

auskommen.

„Biofrauen sind sehr reinlich. Sie baden gern, oft mehrere

Male am Tag.“

Den Hinweis empfand Noui als eine Beruhigung. Reinlichkeit

war für ihn eine positive Eigenschaft. Mehr musste nicht beachtet

werden.

„Biofrauen sind äußerst robust. Bis heute sind keine

Anfälligkeiten für Krankheiten bekannt. Verletzungen verheilen sehr

schnell und man kann sie für jeden gewünschten Zweck einsetzen.“

Das aufkommende Gelächter im Saal empfand Noui als

peinliche Reaktion auf eine geschmacklose Bemerkung. Aber die

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Noui musste über die schlagfertige Antwort lachen und

antwortete nicht darauf. Er sah, wie hinter einer Glaswand mehrere

Ärztinnen aufgeregt miteinander tuschelten. Aber er dachte sich

nichts weiter dabei.

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dachte Noui, dass seine Wohnungsnachbarn darüber reden würden.

Aber er wusste, dass seit neuestem, auffallend viele schöne Frauen in

seinem Living-Tower lebten und er ahnte schon länger, dass er mit

seinem Kauf nicht mehr allein war. Noui war kein Außenseiter mehr,

er gehörte jetzt dazu.

Es ist schon seit Menschengedenken so. Der erste Eindruck

entscheidet über die Kräfte der Liebe. Bei Noui war es nicht anders.

Die Lieferbox war makellos weiß und besaß die Form eines eineinhalb

Meter hohen Würfels. An der linken Seite klebte ein kleines grünes

Siegel mit der Aufschrift „geprüfte Markenqualität“, das Noui ein

intuitives Gefühl der Sicherheit für einen guten Kauf vermitteln sollte.

Als die Plomben an den Verriegelungen geöffnet und die

gepolsterten Seitenwände und die Abdeckung der Box entfernt

waren, fiel ihm zuerst auf, dass der Stahl ihres eng anliegenden

Halsbandes matt in der Mittagssonne schimmerte. Sie streckte sich

und Noui sah, wie sich die Muskeln unter ihrer Haut bewegten. Vor

Noui lag nackt und halb aufgerichtet, in einer obszön unschuldigen

Pose, eine wunderschöne Frau. Noui besaß wenige

Vergleichsmöglichkeiten, aber sie kam ihm vor, als ob sie gerade

achtzehn Jahre alt geworden wäre.

Innerlich aufgewühlt und nervös gab er sich alle Mühe, ruhig

und souverän zu wirken. Sie sah ihn mit einem lockenden und

gleichzeitig fragenden Blick an. So als ob sie ihm sagen wollte: „Du

bist mein Herr, wie kann ich dir gehorchen?“

Für die zwei Mitarbeiter der Lieferfirma war es alltägliche

Routine. Sie standen mit einem gleichgültig erscheinenden

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Ihr Gesicht war perfekt und doch auf eine wunderschöne Art

unvollkommen. Die schulterlangen, tiefschwarzen Haare fielen ihr

wie sinnlich schimmernder Samt weich über die weißen Schultern.

Wie gebannt sah Noui in ihre blaugrauen Augen mit den etwas

geweiteten, tiefschwarzen Pupillen, die für ihn ein geheimnisvolles

Feuer ausstrahlten. Noui versprachen diese Augen Unnahbarkeit und

bedingungslose Hingabe. Eigentlich war sie noch schöner, als er es

sich in seinen Träumen vorgestellt hatte. Er war unsterblich in die

nach seinen Wünschen gezüchtete Frau verliebt.

Noui war es schwer gefallen, sein Geheimnis für sich zu

behalten. Biofrauen waren zwar bekannt, aber durch die seit Jahren

eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten und die rigiden

Beschränkungen des zensierten Internets hatten noch nicht allzu

viele Männer von den einfachen Anschaffungsmöglichkeiten

Gebrauch gemacht. Selbst bei den Privilegierten mit einfacheren

Zugangsmöglichkeiten, rankten sich immer noch viele Gerüchte um

die Erwerber, weil die Wenigen die eine Biofrau besaßen, ihre neue

Sexualität zu offensichtlich auslebten und darum als etwas

verschroben galten. Auch moralisch fühlte sich Noui noch unwohl.

Die religiösen Gebote waren noch nicht geändert und es gab noch

keine allgemein gültigen Stellungnahmen der

Glaubenskongregationen.

Noui nahm an, dass er etwas sehr Seltenes gekauft hätte.

Vielleicht wollte er mit seinem Kauf auch demonstrieren, dass er jetzt

unzweifelhaft und offensichtlich zu den Privilegierten des inneren

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Wir

„Am Anfang aller Zeiten stand nicht das Wort. Es war auch nicht

dunkel und die Welt war nicht öd und leer. Alles was geschrieben

steht ist falsch. Ganz am Anfang gab es nur die Phantasie. Daraus ist

die Welt entstanden. Das Leben besteht aus Phantasie und das Ende

ist ohne Phantasie nicht denkbar.

Aber die Phantasie ist schwach. Allein kann sie kann nichts

erschaffen und nichts erobern. Ihr fällt nichts ein – sie ist dumm. Sie

braucht einen Antrieb.

Sex ist der Antrieb der Phantasie.

Sex bewegt die Welt. Sex verwandelt Phantasien in Produkte,

versieht sie mit Preisschildern und verkauft sie an phantasielose

Menschen. Produkte sind Treibstoff für die Phantasie.

Sex und Phantasie gehören zusammen –

sie sind der Anfang, das Leben und das Ende der Welt.“

Noui

____________________

Groß-Berlin

November 2082 bis Dezember 2083

Du möchtest die ganze Wahrheit erfahren? Du möchtest von

mir hören, wie das Leben mit ihr war? Für mich war es wie ein realer

Traum von einem Paradies. Ich kenne das Paradies nicht. Man hat mir

viel darüber erzählt. Obwohl es klare Richtlinien über den Weg dahin

gab, waren sich sogar die Glaubensbeauftragen über den Ort und das

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[Vierundzwanzigstes Kapitel]

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Schon Monate vor der Lieferung wurde ich mit

Werbeinformationen über die Ausstattung, Pflege und Unterbringung

von Biofrauen überhäuft. Eines Tages stand für mich vollkommen

überraschend sogar eine Verkaufshostess des Biodesign-Centers vor

meiner Tür und in einem Anfall von Großzügigkeit und Vorfreude

habe ich ohne zu überlegen eine Erstausstattung mit hochhackigen

Schuhen und einigen kurzen Oberteilen bestellt. Ich habe die Schuhe

meiner Alea hingestellt und es sah aus, als ob die Schuhe nur für sie

gemacht wären.

Im ersten Moment hat es mich etwas irritiert. Mit Schuhen

war sie etwa fünfzehn Zentimeter größer als ich, was durch die

hochhackigen, roten Schuhe noch verstärkt wurde. Ich hätte es nicht

gedacht, ich habe mich schnell daran gewöhnt. Es war ein ganz

besonderes Gefühl, eine schöne selbstbewusste Frau an meiner Seite

zu haben, auch wenn ich zu ihr aufsehen musste.

Wie lang ich sie nur betrachtet habe, weiß ich nicht mehr. Für

mich war es ein unbekannter, ästhetischer Genuss ihr zuzusehen, wie

sie mit ihrem stolzen Gang und kleinen Schritten einen Fuß vor den

anderen setzte. Mir gefiel ihr gerader Rücken, der durch die hohen

Schuhe noch edler wirkte. Ich konnte mich nicht satt sehen. Alles hat

mich fasziniert, ihre festen Brüste, ihre hohen Pobacken und das Spiel

der Muskeln unter ihrer straffen Haut. Es war eine unbeschreiblich,

erotischer Anblick, wenn sie sich voller Genuss auf dem Boden

räkelte und vor mir kniete.

Meine vorsichtigen Berührungen beantwortete sie mit leisen,

zärtlichen Lauten, die meinen Körper und meine Seele durchdrangen.

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[Vierundzwanzigstes Kapitel]

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ich vier Arbeitszyklen ausfallen lassen, und ich genoss das die Zeit

ohne den ständigen Blick auf meine Bildschirme. Schon am ersten

Abend legte sie sich mit leisen, fast zärtlichen Lauten zu mir. Ihr

fester, gelenkiger Körper schmiegte sich an mich und ich wagte nicht,

mich zu bewegen. Aleas Haut war glatt, aber ich spürte auf meinen

Fingerspitzen kleine weiche Härchen auf ihrer Haut, die sich bei

meinen Berührungen wie elektrisiert aufstellten. Am intensivsten

empfand ich die Wärme ihres Körpers, als sie sich ihren den

samtweichen Haaren an meinem Oberschenkel rieb. Hellwach hielt

ich sie eng umschlungen in meinen Armen. Aleas kaum

wahrnehmbarer Geruch, eine feine Mischung von sinnlichem

Moschus, Vanille, frischen Rosenblättern und duftenden Wiesen,

benebelte meine Sinne. Es war ein mir bis dahin unbekannter,

erotischer Rausch, der die Schranken meiner Persönlichkeit zerriss. In

diesem Moment war ich mir hundertprozentig sicher: Sie wollte

mich, nur mich und sonst nichts anderes, und das war unser Paradies.

Sex hatten wir erst am frühen Morgen des nächsten Tages, als

die Sonne glutrot aufging. Alea war für mich die virtuose Liebesgöttin

und eine Hohepriesterin der Lust. Eine wundervolle Mischung

zwischen unschuldigem Mädchen, herrschender Göttin und läufiger

Schlampe. Das Zittern, das in kleinen Schauern ihren Körper durchlief,

empfand ich als unbeschreiblich sinnlich. Sie konnte sich vollkommen

hingeben und ich dachte einen Moment an die weit offenen

Schlafzimmerfenster. Vielleicht war es auch die Angst, dass die

Nachbarn sie in der Morgenstille durch die dünnen Wände hören

könnten. Denn offiziell war der Kontakt mit Frauen immer noch

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[Vierundzwanzigstes Kapitel]

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Ich brachte ihr Begriffe und abstraktes Denken bei. Auf einem

Blatt Papier, das ich trotz der Abgabeappelle noch besaß, zeichnete

ich einen Kreis. Alea sah die Zeichnung an und sagte: „Rad“, obwohl

sie noch nie zuvor ein Rad gesehen hatte.

Als ich sie erstaunt fragte, ob sie denn wüsste, welchen Sinn

und Zweck das Rad hätte, bekam ich ein leises „Ja“ zu Antwort.

Ich lachte und dachte, dass es nicht sein könnte, dass meine

Alea, ein ungebildetes Wesen, das in der Entwicklungskette weit

unter dem Menschen stehen müsste, so eine komplexe Frage

vollständig beantworten könnte. Mit einem überheblichen Lächeln

fragte ich nach: „Sag mir doch mal, wie du darauf kommst, dass die

Zeichnung ein Rad ist und wozu der Mensch das Rad erfunden hat.“

Ich wollte Alea necken, um ihr dann mein Wissen zu zeigen.

Alea, die ich erst wenige Tage besaß und die nur eine Züchtung war,

begann zuerst zögernd, dann zusammenhängend mit leiser,

sinnlicher Stimme zu sprechen: „Der Kreis ist die eindimensionale

Vollkommenheit. Der Kreis ist das Transportmittel, um den Weg in

die Zukunft zu finden. Also muss es ein Rad sein. Aber um die

Zukunft, die Gegenwart und die Vergangenheit zu einen, bedarf es

mehr. Es bedarf einer perfekten Kugel ...“

Ich war verblüfft. Die Antwort auf meine Frage überstieg mein

Begriffsvermögen und ich musste über das Gehörte zuerst

nachdenken. In dieser Zeit habe ich wieder viel gelesen. Zwar gab es

nicht mehr viele frei erhältliche Schriftstücke, aber Marius hatte eine

große Büchersammlung besessen und ich hatte, obwohl es streng

verboten war, einige der alten Bücher in die neue Zeit gerettet. Einige

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[Vierundzwanzigstes Kapitel]

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Erst viel später habe ich die Zusammenhänge verstanden.

Neues Leben passt sich nun mal schnell neuen Situationen an, oder

es geht als Missgriff der Natur unter. Zwischen mir und Alea war es

wie ein Wettrüsten zwischen konkurrierenden Lebensformen. Zuerst

war ich hilfreich und nützlich. Durch meine Existenz habe ich ihr

Leben gesichert. Erst sehr viel später habe ich erkannt, dass mit

zunehmendem Wissen die Vorteile, die sie in mir gesehen hat,

zunehmend weniger wurden. Sie hat sich mir angepasst, weil es die

beste aller Möglichkeiten war. Ihr Organismus war schon Millionen

Jahre vorhanden und aus den Sedimenten der Urzeit haben wir sie

wieder zum Leben erweckt. Ich war nur ein unbedeutender Teil der

Wirtspopulation. Sie war stärker, Menschen sind zu schwach.

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Noui

Katastrophen, Turbulenzen, Zwänge, Not.

Alles was geschieht hat komplexe Ursachen und jede Tat führt zu

scheinbar unabsehbaren Auswirkungen.

Nichts ist einfach und die Realität - so wie sie ist - führt ins Nichts.

Ihr wollt euch erheben? Euren Zustand ändern? Ein besseres Leben?

Schärft zuerst euer Denken. Denken ist eine wirksame Waffe.

. Geht behutsam damit um, denn Denken kann euch an Orte bringen,

die ihr noch nie zuvor gesehen habt.

Doch dort, an diesem fremden Ort, hängt das Überleben von eurer

Intelligenz ab. Intelligenz ist schnell. Schneller als ein Vogel, listiger

als ein Fuchs und ängstlicher als ein Hase.

Ihr habt Denken und Intelligenz verlernt?

Lernt von der Natur.

Nur wenn ihr die Zeichen der Natur versteht, werdet ihr überleben.

____________________

Mittwoch, 24. Dezember 2098

Nachmittag

„Konzentriere dich. Gebrauch deinen Verstand.“ Langsam,

zitternd und als ob sie der Lebensmut verlassen hätte, öffnete sich

seine Faust. Die blau gefrorenen Finger seiner linken Hand bewegten

sich wie beim Erwachen aus einem Tiefschlaf. Zuerst der Daumen,

dann der Zeigefinger, und dann einer nach dem anderen, um sich

quälend langsam zu strecken und wieder zu einer zitternden Faust zu

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Dann nach einer kleinen Pause: „… und auch nichts.“

Sein kaum handflächengroßes, uraltes Notizbuch gab ihm Halt

und den Glauben an die Wiederkunft einer längst untergegangenen

Welt. Mit tränenden Augen streichelte er sein Heiligtum, den

abgegriffenen Plastikeinband, der nur noch notdürftig die

zerfledderten und fleckigen Seiten zusammenhalten konnte. Seine

gemurmelten Worte endeten in einem Hustenanfall, und der Schleim

lief aus den Mundwinkeln über sein Kinn und an seinem Hals entlang.

Der im Verhältnis zu seinem ausgemergelten Körper viel zu groß

wirkender Kopf mit den tiefliegenden Augen und den eingefallenen

Wangen, bewegte sich in kreisenden Bewegungen scheinbar

unkontrolliert auf den Schultern. Dann, wie um lästige Geister

abzuwehren, schüttelte er den Kopf und mit der rechten Hand

begann er sich zwischen den grauen, verfilzten Haaren an den kahlen

Stellen zu kratzen.

„Wenigstens die Läuse haben genug zu fressen“, dachte er

und sein leerer Magen machte sich wieder mit einem stechenden

Schmerz bemerkbar. Seit vielen Tagen hatte Noui nichts zum Essen

gefunden, wenn er die zwei Ratten, die vielleicht zu dumm oder im

Liebesrausch zu unvorsichtig gewesen waren, nicht mitzählte.

„Warum ich? Warum muss ausgerechnet ich weiterleben?“

Der Regen hatte aufgehört und Noui war aus der Sicherheit

seines Verstecks herausgekrochen, um vielleicht das letztemal in

seinem Leben die Wärme des Sonnenlichts zu spüren. Die Sonne war

immer noch stark. Nach den langen Jahren der Dämmerung und des

Verfalls besaß sie immer noch genug Kraft, um die Mauerreste und

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verlöschender Feuerball am Himmel.

„Manchmal braucht man sehr lang, um alles zu verstehen.

Und dann entdeckt man nur und Irrtümer und hat doch nichts

verstanden …“

Mit blinzelnden Augen sah er ins ungewohnte Licht und sein

Lächeln wurde wieder von einem schleimigen Husten unterbrochen.

Noui versuchte sich an Alea zu erinnern, aber in seinem Gedächtnis

war nur noch ihr Lachen und ihr Gesicht war zu einem

verschwommenen Fleck verkommen.

„Es ist doch eigenartig. Eigentlich sind es nie die großen,

scheinbar weltbewegenden Ereignisse. Nur kleine Momente bleiben

für kurze Zeit in deiner Erinnerung lebendig. Lange bevor du stirbst ist

alles verschwunden.“

Dann sah er wieder auf sein schwarzes Buch und murmelte

vor sich hin: „Dich darf ich niemals verlieren. Alles ist unwichtig, aber

du bist alles in meinem Leben. Du bist mein Glaube und meine

Erinnerung …“

Vielleicht war es nur der ständige Hunger, der seinem Gehirn

einen Streich spielte. Noui hob den Kopf und sah in die glutrote

Scheibe zwischen den sich auftürmenden, am Himmel treibenden

Wolken. Plötzlich kam es ihm vor, als ob sich in dem Feuerball

tiefschwarze Flecken ausdehnen und dann wieder in sich

zusammenfallen würden.

Die Wärme der Sonne hatte die Nässe aufgesogen und den

grauen Beton aufgewärmt. Für Noui war es schön, in dem

schützenden Eck zwischen zerborstenen Betonplatten und wie

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darüber nach.

Noui fühlte sich zu schwach um aufzustehen. Der Weg durch

Trümmer und bizarr verbogenem Metall erschien ihm zu

beschwerlich. Schwer atmend dachte er: „Lohnt es sich noch da hin

zu kriechen?“

Seine Hände zitterten und er griff, einem inneren Zwang

folgend, nach dem Wichtigsten in seinem Leben, seinem schwarzen

Buch. Dann spürte er wieder das nagende Hungergefühl. Mit

Schmerzen im Rücken, wie Stiche mit einem glühenden

Metallsplitter, stand er vorsichtig auf. Sein linkes Bein knickte ein,

und keuchend versuchte er sich an der Mauer abzustützen. Langsam

und mit zitternden Bewegungen tastete er sich vorwärts, zu dem

leblosen Körper zwischen den Trümmern.

Dunkelrot glänzendes Blut lief aus der weit aufgerissenen

Brust über die Steine und sickerte in den grauen Staub. Fast liebevoll

betrachtete Noui die bizarre Schönheit des rot glitzernden Rinnsals.

Es war ein faszinierender Anblick und Nouis aufgesprungene Lippen

verzerrten sich zu einer Grimasse, die wie ein Lächeln aussah. Der

Leib rührte sich nicht mehr, nur das, und nichts anderes im Leben war

noch wichtig. Vorsichtig witternd sah sich Noui um, aber er konnte

nichts Auffälliges entdecken.

„Vielleicht ist dein Blut ein Zeichen? Vielleicht ein Weg in eine

andere Welt, irgendwo tief unter der Erde?“ Niemand antwortete auf

die leisen, fast liebevoll geflüsterten Worte. Noui war mit seiner

Beute allein.

Obwohl Noui die Zeit zwischen dem längst verhallten Schuss

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„Du bist mein Vorrat für die nächsten Wochen. Jedenfalls

solange sich die Maden nicht zu sehr vermehren.“ Nouis

Lebensgeister begannen sich zu erholen. Er fühlte sich wieder sicher

und zufrieden.

„Es ist schon seltsam. Manchmal denkt man, es ist alles

verloren. Aber wenn ich ihn nicht zuerst gesehen hätte, wäre ich sein

Weihnachtsbraten geworden.“

Nouis Weihnachtsgeschenk war nicht nur Fleisch für einige

Wochen. Der Mistkerl hatte eine uralte AK-74 besessen, und

zufrieden streichelte Noui das verschrammte Metall. Die Dinger

waren noch relativ weit verbreitet und scheinbar unverwüstlich,

obwohl seine schon fast achtzig Jahre alt war. Aber noch wertvoller

waren die drei vollen Magazine. Jetzt besaß Noui neunzig Chancen

zum weiterleben.

Der schwere Revolver, den er mit Lederbändern unter seiner

linken Achselhöhle befestigt hatte, war etwas Besonderes. Noch nie

zuvor hatte Noui so eine Waffe gesehen. Sie glänzte mattschwarz und

gefährlich. An den Kanten war sie abgestoßen und das blanke Metall

schimmerte durch. Das Gewicht der Waffe lag Noui schwer in der

Hand. Nachdenklich las er die eingeprägte Schrift „RUGER SUPER

BLACKHAWK, 44 Magnum.“

Ungläubig betrachtete Noui die Zeichen. War es eine

Botschaft aus einer längst untergegangenen Welt, als die Menschen

noch die Macht über die Schrift besaßen? Die Ruger musste vor

hundert Jahren eine ungeheure Durchschlagkraft gehabt haben. Aber

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seines Opfers auf. Dann untersuchte der die zerrissenen Taschen der

Hose, dann die ausgebesserten Nähte und die Flicken der graugrünen

Jacke und auch die dreckverschmierten und löchrigen Stiefel. Jede

Kleinigkeit erschien ihm wichtig. Noui betrachtete noch einmal die

Waffen von allen Seiten. Dann hob er die altertümliche

Pappschachtel, in der er die Munition für die Ruger gefunden hatte,

und die achtlos aufgerissen im Blut lagen auf. Aber er fand keinen

Hinweis.

„Woher kam denn der? Den darf es doch gar nicht mehr

geben?“

Der Schweiß auf Nouis Stirn zeichnete kleine Furchen in sein

dreckverschmiertes Gesicht. Wenn der Kerl, sein

Weihnachtsgeschenk, höchstens fünfzehn Jahre alt war und älter

konnte er auf keinen Fall gewesen sein, dann war er in einer Zeit

geboren, in der es fruchtbare Menschenfrauen schon seit

Jahrzehnten nicht mehr gab.

„Der hat eine menschliche Mutter gehabt …“

Um Noui herum begann sich alles zu drehen. Je länger er

darüber nachdachte, umso sicherer war er sich: „Irgendwo gibt es

noch Menschenfrauen. Es muss sie noch geben. Ich muss sie finden.“

Mit der einbrechenden Dunkelheit fühlte sich Noui wieder so

stark, dass er weiterziehen konnte. Es war gefährlich, zu lange an

einem Ort zu bleiben. Noui hatte keine Lust das Schicksal seines

Weihnachtsbratens zu teilen. Der Geruch von verbranntem Fleisch

verbreitete sich zwischen den Ruinen und sein Instinkt sagte ihm,

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immer stärker gewesen. Viele vor ihm hatten es versucht, aber sie

waren einfach verschwunden und nie zurückgekehrt. Wer alleine

aufbrach, um sich mühsam zu Fuß durch die Ruinen, hinaus aus der

Agonie der verfallenden Städte zu bewegen, begab sich in

Lebensgefahr. Ein Menschenleben besaß keinen Wert mehr. Man

konnte von Glück sprechen, wenn man nur zusammengeschlagen

und seiner Waffen beraubt wurde.

Vor vielen Jahren hatte es auch Hungerrevolten gegeben.

Verzweifelte Männer hatten mit Gewalt versuchten, die Sperren weit

draußen vor der Stadt zu durchbrechen, aber es stellte sich schnell

heraus, dass es ein vergebliches Vorhaben war. Was konnte man mit

ein paar Messern und verrosteten Gewehren gegen eine

übermächtige Streitmacht, ausgerüstet mit modernsten Waffen und

Suchgeräten auch ausrichten. Und es gab zu viele Spitzel, die für

kleine Vorteile jeden aufkeimenden Widerstand verrieten. Noui hatte

sich mit seinem Schicksal abgefunden. Nur manchmal machte ihm

das Leben in der zerstörten Stadt Ruinen auch Spaß. Besonders dann,

wenn er die Chance bekommen hatte, mit vollem Magen noch einige

Wochen zu überleben.

Schon seit vielen Nächten hallten die weithin hörbaren

Stimmen der Ausrufer durch die Ruinen. Die großen Gangs hatten

nach langen Verhandlungen einen zweitägigen Waffenstillstand

beschlossen, und mit Einbruch der Dunkelheit sollte eine

Versammlung der Überlebenden stattfinden. Jeder, der noch etwas

Verstand besaß, sah ein, dass die Kämpfe aufhören mussten.

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Noui zwischen stehenden und liegenden den Gestalten. Es war

besser, nicht aufzufallen und möglichst unscheinbar zu wirken. „Nur

niemand direkt ansehen, das ist zu gefährlich. Jedem möglichen Streit

aus dem Weg gehen und sofort zurück in die Dunkelheit.“ Das hatte

er sich vorgenommen.

Was sich als Waffe eignete, wurde demonstrativ gezeigt, oder

unter Lumpen versteckt mitgeführt. In der Dunkelheit konnte Noui

Keulen aus gezackten Blechstücken erkennen. Er sah lange Stangen

an denen messerscharfe Granatsplitter befestigt waren, und Lanzen

mit sichelartigen Spitzen, die einem Angreifer schreckliche Wunden

zufügen konnten. Nur vereinzelt entdeckte Noui ein automatisches

Gewehr oder eine Pistole, oft nur noch zur Abschreckung, denn

passende Munition war nur noch sehr schwer zu bekommen.

Hinter der Tribüne, wie eine schaurige Kulisse für einen

Totentanz, ragten fünf riesige Säulen wie mahnende und blutrote

Finger in die Dunkelheit der Nacht. Am Stein waren die Spuren von

Einschüssen erkennbar. Offensichtlich hatte es um diesen Ort

schwere Kämpfe gegeben. Die kaum noch lesbare Inschrift „DEM

DEUTSCHEN VOLKE“ auf den Mauerresten über den Säulen las sich

wie Hohn. Das, was sich davor versammelt hatte, war nicht mehr das

Volk. Es war überhaupt kein Volk mehr. Es waren die traurigen

Überreste, der Bodensatz einer aussterbenden Spezies.

Die Versammlung sollte auch die Einzelgänger, die von den

Gangs verächtlich „Fuckin-Loser“ genannt wurden, aus den Ruinen

anlocken und zum Anschluss an die Gangs bewegen. Der Vorteil war

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darunter versteckt. Sie war zu wertvoll, um sie zu zeigen und

Begehrlichkeiten zu wecken. Noui liebte die Sicherheit seiner neuen

Waffe und er schwor sich, sie nie wieder herzugeben.

Noui wusste nicht genau was es war. Der fleckige, mit einem

Gemisch von Schmieröl und Staub beschmierte Armeehelm in der

Menge sah aus, wie viele andere auch. Vielleicht war es ein

wiedererwachender Instinkt, irgendwo zwischen ungläubigem „es

kann nicht sein“, von „aber“, von „wie“ und „warum.“

Noui stand etwa zwei Meter hinter der Gestalt. Die geflickte

Lederjacke mit den schweren Ketten und den Metallbeschlägen sah

nach Kampf, Abschreckung und skrupelloser Erfahrung aus. Auf dem

Rücken, festgeschnallt mit Lederriemen, trug er eine Waffe, die wie

ein langes, gebogenes Schwert aussah, und Noui zweifelte keinen

Moment, dass er wusste, wie man das Mordinstrument einsetzen

musste, um eine Gasse in die Meute zu schlagen.

Als Noui sich durch die dicht gedrängten Körper näher an ihn

heran schob, konnte er erkennen, dass er auch mehrere Messer und

sogar eine Pistole besaß. An seinen Unterarmen hatte er lange

Manschetten mit scharfgezackten Metallteilen befestigt. Eine falsche

Bewegung und er würde sein Messer ziehen und Noui ohne lange zu

diskutieren, mit einem vermutlich oft geübten Stich niederstrecken.

Noui hatte keine Lust, aufgeschlitzt als namenlose Leiche im eigenen

Blut zu enden. Aber trotz der Gefahr blieb er unauffällig in seiner

Nähe.

Vielleicht war es Intuition oder ein animalischer Jagdtrieb.

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in dieser Hölle zu überleben, war sie gefährlich und unberechenbar.

Noui hatte die schwere Ruger in der rechten Hand, den Lauf auf den

Boden gerichtet und den Arm dicht an seinen Körper gepresst.

Nahrung hatte er für mehrere Tage, und wenn er sparsam damit

umging sogar für einige Wochen, und Noui hatte sich vorgenommen,

sie nur zu töten, wenn es sich nicht umgehen ließ. Seine

Kalaschnikow war noch auf dem Rücken festgeschnallt.

Noui stand unschlüssig in der Dunkelheit des Torbogens und

bewegte sich nicht. Sein Atem ging stoßweise und kam ihm vor, wie

ein unüberhörbares Schnauben, obwohl er kaum zu atmen wagte.

Sein Blut schien laut und pochend in seinen Ohren zu rauschen. Wie

aus weiter Entfernung konnte er die Schreie und das Gegröle der

Männer auf dem Versammlungsplatz hören. Sonst war nichts zu

hören. Noui schüttelte resigniert den Kopf und murmelte „Scheiße,

ich hab sie verloren“ vor sich hin. Als er langsam den Kopf hob,

konnte er in der Mitte eines Torbogens eine steinerne Fratze

erkennen, die ihm die Zunge herausstreckte. Dann spürte er einen

mächtigen Schlag und sein Kopf schien zu explodieren.

Wie viele Jahrzehnte vergangen, ob er es nur geträumt, oder

ob es verschwommene Abbildungen waren, er wusste es nicht. Noui

dachte an platzende Melonen und eine Herde wütender Elefanten.

Der Vergleich gefiel ihm. Sein Kopf fühlte sich wie eine matschige

Melone an, auf der eine Herde wildgewordener Elefanten herum

getrampelt war. Ein grelles Licht blendete ihn, als er die

schmerzenden Augen aufschlug. War alles nur ein Traum gewesen?

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