Aikido

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aikido Die friedliche Kampfkunst Stefan Stenudd

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Hintergründiges zur Kampfkunst Aikido

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aikidoDie friedliche Kampfkunst

Stefan Stenudd

Stefan Stenudd, Berlin Lehrgang, 2002. Foto: Larry Kwolek.

Stefan Stenuddarríba

aikidoDie friedliche Kampfkunst

STEFAN STENUDD:Geboren 1954 in Stockholm und aufgewachsen in dessen Vororten,Debüt als Schriftsteller 1979. Verfasser von über zehn Romanen undFachbüchern - darunter die Übersetzung von Musashis Buch der fünfRinge und des chinesischen Klassikers Tao te ching. Er begann 1972Aikido zu trainieren. Inzwischen ist er Inhaber des 6.Dan und unter-richtet Aikido in Malmö, wo er 1991 einen eigenen Club ins Leben rief.Außerdem hat er den 4.Dan in Iaido. Er gibt regelmäßig Lehrgänge inanderen Aikido-Clubs in Südschweden sowie in Berlin, Tschechien undder Slowakei. Stefan Stenudd war von den frühen achtziger Jahren bis1991 und von 1995 bis 1999 Vorsitzender des schwedischen Aikidover-bands und ist seit dessen Gründung Mitglied des Graduierungskomiteesdes schwedischen Aikikai. Stefan Stenudd forscht als Ideenhistoriker ander Universität von Lund über Schöpfungsmythen.

Aikido – di friedliche KampfkunstStefan Stenudd2., überarbeitete AuflageÜbersetzung: Sabine Neumann© Stefan Stenudd 1992, 1998, 2004 (PDF edit 2)Arriba Verlag, Box 6001, 200 11 Malmöwww.arriba.se

Stefan Stenudd,Berlin Lehrgang, 2002.

Foto: Larry Kwolek.

Osensei Morihei Ueshiba (1883-1969), der Aikidobegründete und es energisch bis zu seinem Tod lehrte.

"Der Kern des Aikido ist es, Harmonie mit der Bewegung desUniversums zu erlangen und mit dem Universum selbst in Ein-klang zu sein. Wer zum Kern des Aikido gelangt ist, hat das Uni-versum in sich und kann sagen: ich bin das Universum."

Morihei UeshibaBegründer des Aikido

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Tokyo, den 6. August 1992

Ich bin sehr erfreut darüber, dass ein neues Buch über Aikido,geschrieben von Stefan Stenudd, bald in Schweden veröffentlichtwerden soll. Ich gratuliere!

Ich hoffe, dass dieses Buch allen Aikidoausübenden inSchweden helfen wird, den Geist und die Prinzipien des Aikidotiefer zu erfassen, und dass es sie als Resultat zu einem nochenthusiastischeren Training inspiriert.

Moriteru UeshibaGeschäftsführer

Aikido Hombu Dojo, Tokyo

Moriteru Ueshiba, Stockholm 1989. Foto: Cattis Åsander.

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Moriteru Ueshibas Gruß nach der Ausgabe der ersten Auflage.

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Stockholm, den 6. August 1992Mit großem Interesse halte ich jetzt einen uniken Beitrag zu derlangsam aber sicher wachsenden Schar von Aikidobüchern in derHand. Morihei Ueshiba, osensei, schuf Aikido und verlieh damiteiner Vision Form, die sich in ständiger Veränderung und Ent-wicklung befindet. Es macht mich besonders froh, wenn einschwedischer Aikidoka, wohlbekannt sowohl auf als auch fern derMatte, sich daran wagt, seine Interpretation dieser Vision zugeben. Mit einer bildreichen und grenzenlosen Sprache gibt unsStefan Stenudd hier seinen Beitrag zur Aikidoliteratur, einefarbige Darstellung der Botschaft des Aikido.

Neben seinen unzähligen Meriten innerhalb des Aikido kannStefan sich mehrere Jahre als Lehrer, Aikidoklub-Leiter, Sprecherfür das schwedische Aikido und vor allem zwanzig Jahre als Aiki-doka anrechnen. All diese reichen Erfahrungen zusammengenom-men, verbunden mit seinem starken Engagement, machen ihngut vertraut mit der Welt des Aikido auf vielen Ebenen.

Ich glaube, dass dieses Buch viele Aikidoausübende inspi-rieren wird und hoffentlich auch den Teil der Menschheit, der Ai-kido und Morihei Ueshiba noch nicht entdeckt hat.

Danke Stefan!Jan Nevelius

Jan Nevelius im Hombu Dojo in Tokyo (1985). Jan war1991-1993 Vorsitzender des schwedischen Aikidoverbandes.

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InhaltVorwort 11

Vorwort zur zweiten Auflage 13Die Prinzipien des Aikido

Die unmögliche Kampfkunst 16Kein Gegner, kein Kampf 19Morihei Ueshibas Weg 24Wasser, Luft und Vakuum 26So wie die Jungen 33Weiblicher Vorteil 39Von sich werfen 41Können oder lernen 48Hier und jetzt 54Gemeinsame Fahrt 56Die Sache mit der Selbstverteidigung 59Wohlbehagen 63

Stefan Stenudd, Berlin Lehrgang, 2000. Foto: Frank Weingärtner.

10 Aikido – die friedliche Kampfkunst

Die Grundlagen des AikidoDo - der Weg 68Ki - Lebensenergie 75Ai - Harmonie 83Dreieck, Kreis und Quadrat 88Tanden - das Zentrum des Körpers 90Aiki - Rhythmus und Richtung 95Kiai - Kraft sammeln 101Kamae - die perfekte Stellung 107Kokyu - Bauchatmung 115Ma-ai - der sichere Abstand 120Irimi, tenkan - nach innen, nach außen 123Omote, ura - Vorderseite, Rückseite 125Go tae - statisches Training 128Ju tae - weiches Training 131Ki nagare - fließendes Training 133Zanshin - der ausgestreckte Geist 138Uke - der geführt wird 141Keiko - trainieren, trainieren, trainieren 149Takemusu - grenzenlose Improvisation 150Nen - eins mit dem Augenblick 153Kototama - die Seele der Wörter 158

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Stefan Stenudd, Järfälla 1975.

VorwortIch war siebzehn Jahre alt, als ich das erste Mal von der merk-würdigen japanischen Kampfkunst Aikido hörte. Es war Krister,ein um einige Jahre älterer Freund, der erzählte, dass er es trainierthatte.

Wie ernst er das ganze nahm, begriff ich teilweise daraus,dass er so lange damit gewartet hatte, etwas von seinem Wissenpreiszugeben - obwohl er sicher wusste, wie sehr das einem Teen-ager imponieren würde - und teils aus seiner behutsamen, feier-lichen Art, von Aikido zu erzählen. Krister beschrieb etwas ganzanderes als eine Reihe von Tricks um einen doppelt so großenGegner zu Fall zu bringen, auch etwas anderes als einen Sport, derzu einer gesunden Seele in einem gesunden Körper führt. WovonKrister erzählte war eine Art zu leben - eine Kunst, eine Philo-sophie, ja eine Art Religion.

Schließlich, als ich Kristers sowohl faszinierenden als auchunbegreiflichen Darlegung mit immer größeren Augen gelauschthatte, musste ich ihn dazu bringen mir zu zeigen, wie das zuging.Auch da zeigte er sich erstaunlich widerwillig. Als ich eine Weileauf ihn eingeredet hatte, zeigte er eine der allereinfachsten

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Stefan Stenudd, Brandbergen 1981.Techniken, ai hanmi katatedori nikyo, wobei mein Handgelenkauf eine solche Weise verdreht wurde, dass ich von dem stechen-den Schmerz zu Boden fiel.

Mein Handgelenk tat so weh, als wäre es ganz abgegangen,obwohl es unverletzt war, und sicher hatten die Knie von meinemabrupten Aufschlagen auf dem Boden blaue Flecken bekommen,aber ich war hingerissen von diesem einen: der Schönheit derTechnik. Krister hatte seine Hand nur um die meine gewickelt, soeinfach wie ein Schmetterling mit den Flügeln schlägt, wenn erauf einem Grashalm sitzt. Das war alles. Und ich fiel so abruptauf den Boden wie durch einen Hammerschlag.

Das war schön, mitten im Schmerz. Das war magisch, unbe-greiflich, obwohl es so einfach aussah. Das wollte ich lernen. Alsder Anfängerkurs im Herbst begann, stand ich da, in meinemblauen Trainingsanzug, aufgeregt und erwartungsvoll.

Wie ein dunkelnder Himmel, auf dessen Hintergrund Sternum Stern sich für das Auge offenbart, so hat Aikido mir in denJahren immer größere Reichtümer enthüllt. Und doch glaube ich,dass dieser Halbwüchsige, der von Kristers nikyo zu Bodenplumpste, faktisch alles sah, womit die Jahre von Training danachmich bekanntmachten. Was folgte, war weder mehr noch wenigerals Bekräftigungen - lebendige Bekräftigungen.

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Wie exotisch einige der Bewegungsmuster im Aikido auchsind, werden sie immer von einem Gefühl des Wiedererkennensbegleitet. Wenn man es zustandebringt, dass die Technik irgend-wie funktioniert, da ist sie nicht länger wie eine Vokabel einerfremden Sprache, die man nach stundenlangem Pauken endlichauswendig gelernt hat. Nein, sie ist ein alter Freund, der sich nacheiner Weile Abwesenheit zeigt, oder ein kleiner Muskel, der langegeruht hat und jetzt wieder in Gebrauch genommen wird. AlleGeheimnisse des Aikido sind déja vu - man erkennt sie wieder.

Wie kann das so sein? Vielleicht dürfen wir mit Platon sagen,dass der Mensch nichts lernen kann als das, was er in seinemInnersten schon von Anfang an konnte. Alle Weisheit ist von Ge-burt an in unseren Köpfen, wir müssen uns nur daran erinnern.Das ist nicht wunderlicher als der Gedanke, dass etwas aus etwaskommen muss, niemals aus nichts.

Eine solche Vorstellung ist mir nicht fremd, aber genauerausgedrückt begreife ich in meinem Inneren, dass das Wieder-erkennen einem bestimmten Umstand entspringt: das, was ichvon Anfang an wiedererkennen und klar sehen kann - wie wenigich es auch geübt habe - ist das Wahre.

Was wahr ist, völlig wahr, wird unmittelbar von jedemMenschen wiedererkannt - wenn er nur will. Wenn ich irgend aufmeine Sinnen vertrauen konnte, so wusste ich also vom erstenAugenblick an: Aikido ist wahr.

Malmö, im August 1992

Vorwort zur zweiten AuflageAls die erste Auflage dieses Buches 1992 erschien, fand es sowohleinen Absatz als auch eine Hochschätzung, die mich überrasch-ten. Selbst hatte ich eher damit gerechnet, gewisse Kritik dafür zubekommen, dass ich es wagte, über die Prinzipien und die Philo-sophie von Aikido zu spekulieren - wir haben in dieser Hinsichteine Tendenz, alles, was nicht aus den ursprünglichen Quellenkommt, als loses Geschwätz, nahezu als Lästerung abzutun. Aufdiese Weise können wir in unserer Demut so weit gehen, dass wirnahezu von ihr erstickt werden. Ich will eher glauben, dass eshöchste Zeit für uns ist, die wir diese verwirrende Kampfkunst

Stefan Stenudd, Malmö c. 1994. Foto: Ulf Lundquist.lernen, dass wir - selbst wenn wir Westler sind - es wagen zu expe-rimentieren, zu erneuern und ohne Stammeln zu erörtern, auchAspekte, in denen wir nicht behaupten können, ein sicheres Wis-sen zu haben. Nur auf diese Weise kann Aikido sowohl am Lebengehalten werden als auch wachsen und sich entwickeln, so dassauch die Proselyten der Zukunft in Erstaunen gesetzt werden undsofort feststellen, dass man dieser Sache eine Lebenszeit widmenkann, ohne ihr überdrüssig zu werden.

Solchen Mut bei Aikidoausübern jeder Art zu wecken, dazuwird dieses Buch meiner Hoffnung nach beitragen.

In die neue Auflage wurden mehr Fotografien eingefügt,ebenso einige neue Textabschnitte und Komplettierungen vorallem der Geschichtsschreibung, was die Jahre seit 1992 betrifft.Außerdem habe ich mich mit der ständigen Kleinlichkeit desAutors nicht davon zurückhalten können, die Sprache ein wenigzu putzen. Im Wesentlichen ist doch der Inhalt des Buchs der-selbe. Schneller geht die Entwicklung im Aikido nicht, scheint es,als dass ich nun feststelle, dass ich nach weiteren sechs JahrenTraining ziemlich genau dasselbe über die Prinzipien und Grund-lagen des Aikido denke - und ja, ich bin ebenso hilflos verzaubert.

Malmö, im Juni 1998Stefan Stenudd

Jonas Dahlqvist, Malmö. Foto: Ulf Lundquist.

Die Prinzipien des Aikido

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Die unmögliche Kampfkunst

Budo ist der zusammenfassende Name für alle japanischenKampfkünste, wie Judo (Ringen), Karatedo (Schläge und Fußtrit-te), Kendo (Fechten), Iaido (Schwert), Kyudo (Bogenschießen),Jodo (Stock) und viele mehr. Wie diese hat auch Aikido seinenUrsprung in Japan und teilt einen guten Teil seiner Eigenschaftenmit den anderen Budoarten.

Jede der japanischen Kampfkünste hat sicherlich ihre tech-nischen und theoretischen Besonderheiten, aber selbst wenn mandas berücksichtigt, so nimmt Aikido eine Sonderstellung ein. Diemeisten der Eigenheiten von Aikido kann man mit Negationenbeschreiben: in Aikido gibt es keinen Wettkampf, keine Angriffs-techniken, keinen Gegner, man gebraucht keine Körperkraft, undes ist nicht möglich, den Weg abzukürzen. Selbst die grund-legendsten Bewegungen von Aikido sind schwer zu lernen, und esgibt wohl wenige, die von sich sagen, dass sie - selbst nach mehre-ren Jahrzehnten Training - Aikido auch nur teilweise beherrschen.

Man könnte also Aikido fast als völlig unmöglich bezeichnen.Der Weg ist lang bis zu den kurzen Augenblicken, da die eigenenBewegungen sich nicht mehr plump anfühlen, und noch längerbis zu den seltenen Momenten, da man auch Harmonie mit denBewegungen des Trainingspartners erfährt. Deshalb kann manleicht fragen, warum es überhaupt Menschen gibt, die sich darinversuchen.

Nun, die bei Aikido bleiben - und das sind nicht überwälti-gend viele - scheinen gerade von den Schwierigkeiten angezogenzu sein. Die moderne Welt bietet viel zu oft leicht errungeneBeute, mit blendendem Äußeren und schalem Inhalt. Manchemöchten deshalb auf etwas setzen, was auf der Oberfläche nichtglänzt oder sogar fast abweisend zu sein scheint, dessen Inneresaber womöglich etwas völlig anderes birgt.

Es gibt zwar im Aikido eine Vielzahl von Techniken undTrainingsformen, doch sein sichtbarer Teil ist nur die Spitze desEisbergs. Es ist sein Inneres, das eigentlich umfangreich ist, undje weiter man in der eigenen Entwicklung kommt, desto

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anspruchsvoller wird auch das Training. Der Anfänger ahnt dieKomplexität von Aikido vielleicht, kann sie aber unmöglich inihrer Gänze erkennen. Sie zeigt sich nur schrittweise, so wie eineLandschaft sich desto mehr dem Blick öffnet, je höher man steigt.

In Japan ist es eine anerkannte Tatsache, dass ein Schüler zuBeginn nicht wissen kann, was der Lehrer zu geben hat, selbstwenn dessen Methode die beste ist. Es dauert drei Jahre, so sagtman, bis der Schüler sich soviel angeeignet hat, dass er zu ent-scheiden vermag, ob der Lehrer und dessen Kenntnisse ihmzusagen. Erst nach dieser Zeit ist der Schüler in der Lage zu sagen,ob er sich einen anderen Lehrer suchen soll. Wer lange vor demEnde dieser Dreijahresperiode eine Beurteilung abzugeben ver-sucht, muss in die Irre gehen. Wenn er von Lehrer zu Lehrerineilt, von einer Kunst zu einer anderen, so wird er nie etwas ande-res finden als das, was er von Beginn schon wusste. Mehr kann erja nicht sehen. Für ihn ist der imponierendste Lehrer der, welcherseinem eigenen Können am nächsten ist, und die schönste Kunstdie, die nichts anderes zeigt als das, was er schon kennt.

Höhere Qualitäten können wir nur ahnen, und Ahnung istder einzige brauchbare Wegweiser für den Anfänger. Wir gehendahin, wohin unsere Ahnung, unsere Intuition uns zieht, und wirbleiben, bis wir genau wissen, was uns angezogen hat. Dann kön-nen wir, wenn wir wollen, weiter gehen.

Es dauert etwa drei Jahre um zu diesem Punkt zu kommen.Ein altes japanisches Sprichwort lautet: Selbst auf einem Stein -drei Jahre. Das bedeutet, dass man selbst etwas für etwas so Ein-faches wie für das Sitzen auf einem Stein drei Jahre braucht, umes zu lernen. Wenn man jeder Aufgabe im Leben mit dieser Ein-sicht begegnet, wenn man bereit ist, sich jeder Aufgabe auf dieseWeise mit Hingabe zu widmen, so kann man sich stattlicheFähigkeiten aneignen.

Das Sprichwort sagt im Grunde aber auch, dass wir nach dendrei Jahren wirklich auf dem Stein sitzen können. Viele Lehrer,die Schüler mit einem Vertrag auf Lebenszeit an sich binden wol-len, unterschlagen gewöhnlich diese Seite der Medaille. SeinenSchüler in fortwährender Abhängigkeit zu halten, kann für einenLehrer von Vorteil sein, der keine hohe Meinung von seinem

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Jan Hermansson, Stockholm. Foto: Ulf Lundquist.

eigenen Können hat. Die Folge ist freilich, dass der Schüler, dersich in solchem Garn fangen lässt, nicht einmal in dreißig Jahrenviel lernen wird.

Man kann freilich nicht behaupten, dass man alles innerhalbvon drei Jahren beherrschen kann. Aber am Ende dieser Zeitmuss man entscheiden können, ob einem die Sache zusagt odernicht. Man ist seines Lehrers dann noch nicht ebenbürtig, man istauch noch nicht ein Meister seiner Kunst, aber man kann sichbereits deutlich vorstellen, wie weit der Lehrer und die Kunsteinen auf dem Weg des Lebens führen können.

Von denen, die es ein Mal mit Aikido versuchen, kommteine Minderheit auch ein zweites Mal, und es ist eine ver-schwindende Anzahl, die nach dem ersten Halbjahr weitermacht.Diese bleiben in der Regel ihr Leben lang bei Aikido - ohnejemals das Gefühl zu haben, dass sie die Kunst beherrschen, undohne jemals ihres Inhalts überdrüssig zu werden. Sie sind eineeigentümliche Schar. Jedes Freizeitinteresse, jedes Hobby, jedeSportart versammelt wohl Gleichgesinnte, und vielleicht ist dasauch eine ihrer wichtigsten Funktionen, ungeachtet ihrer jeweili-gen Besonderheiten und Ausprägungen.

Wir leben in einer Welt, in der wir ständig von bedeutendmehr Menschen umgeben sind als wir wirklich kennenlernen

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können. In der Anthropologie spricht man vom Menschen alsvon einem Herdentier. Im weitaus längeren Abschnitt unsererVergangenheit haben wir in kleinen Gesellschaften von ca. 80Individuen gelebt. Darauf sind wir eingestellt. Die moderne Weltzwingt uns statt dessen in riesigen Horden zu leben, so als wärenwir Schafe.

Ein beachtlicher Teil der geistigen Schwierigkeiten der Be-wohner moderner Gesellschaften liegt darin begründet; deshalbstreben wir unbewusst danach, uns mit einer Gruppe von Men-schen zu umgeben, die der kleinen Herde entspricht, und andereGesichter von uns fern zu halten. Wir brauchen also Methoden,um eine geeignete Gruppe zu finden, am besten natürlich eineGruppe von Gleichgesinnten - oder von verwandten Seelen, wenndas möglich ist. Je spezieller ein Freizeitsinteresse ist, desto klarerversammelt es eine homogene Gruppe. Worin die Stimmigkeiteiner Gruppe genau besteht, kann man schwerer auseinander-setzen.

Aikidomenschen beschreiben sich in der Regel als Träumerund Grübler. Nie wählen sie Worte wie Athlet oder Kämpfer. Ob-wohl sie eine Kampfkunst trainieren, betrachten sie sich meistensals Pazifisten, und Gewalt hat absolut keinen Platz in ihrem Her-zen. Das Ideal im Aikido besteht auch nicht darin, einen Streit zugewinnen, sondern zu verhindern, dass ein Streit aufkommt - ja,die Gewalt selbst zunichte zu machen.

Aikido ist definitiv mehr Kunst als Sport, und als Kampf-kunst viel eher Frieden als Kampf.

Kein Gegner, kein Kampf

Das Aikidotraining selbst ist denkbar klar in seiner Form. Einergreift an und einer verteidigt sich - der erste mit einem Griff,einem Schlag oder einer der vielen Waffen der Kampfkünste, derzweite mit den weggleitenden Aikidobewegungen.

Die Angriffstechniken sind kein Aikido. Sie können von denanderen Kampfkünsten entliehen sein, oder ganz einfach ein Griffoder Schlag, welcher überhaupt nicht zu einer Kunst entwickelt

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wurde. Es ist nur die Verteidigung, die Aikdio ist. Diese Vertei-digung darf auch nicht im geringsten aggressiv ausgeführt wer-den, etwa um den Gegner zu unterwerfen und als Sieger dazuste-hen. Wenn es einen Sieger gibt, so sagt das Aikido, so gibt es inWirklichkeit zwei Verlierer. Die Techniken des Aikido sollengekennzeichnet sein von unendlicher Folgsamkeit, sie führen dieangreifende Kraft sanft an seinem Ziel vorbei und in Bogen aufeinen harmlosen Schluss zu, in dem keiner Schaden nimmt. Siesollen in einem friedvollen Geist ausgeführt werden, so als hätteein Streit nie stattgefunden, und sollen sowohl den Angegriffenenals auch den Angreifenden vor Schaden bewahren.

Das Ideal ist nah, wenn ein außenstehender Beobachter sic-her ist, dass der Verlauf zwischen Angreifer und Verteidiger abge-sprochen ist, wenn es für ihn wie Mogelei aussieht. Idealerweisesoll der Angreifer im Verlauf der Bewegung nie etwas anderesdenken, als dass sie so verläuft wie gewünscht und beabsichtigt,dass das, was geschieht genau das ist, worauf der Angriff vonAnfang an hinzielte.

Eine gute Weise, Aikido zu beschreiben ist zu sagen, dassman nicht versucht, einen Angriff abzuwenden, sondern ihm zuseiner Vollendung zu verhelfen. Derjenige, welcher Aikido nichttrainiert, um seine eigenen Bewegungen beherrschen zu lernen,sondern als eine Möglichkeit, dem Anfallenden zur Vollendungseiner eigenen Bewegungen zu verhelfen, hat sicher eine großeAnmut in seiner Ausführung. So gesehen ist es völlig ein-leuchtend, dass man in Aikido von Partnern, nicht von Gegnernspricht. Aikido soll beiden Übenden genauso behilflich sein.

Ebenso hat in einem solchen Ideal der Wettkampf keinenPlatz. Ein Wettkampf setzt voraus, dass des einen Vorteil desanderen Nachteil ist, dass zwei Personen nicht gleichviel Gewinnhaben oder das gleiche Ziel erreichen können. Statt dessen ver-suchen die Gegner in einem Wettkampf, den Gegener so schwachund plump wie möglich zu machen. Eine solche Einstellung ver-größert Konflikte anstatt sie zu lösen, härtet die Ausführendenanstatt sie weicher zu machen. Und die Grenze für die Entwick-lung eines Menschen wird auf diese Weise ganz und gar vom Ver-mögen seines Gegners bestimmt. Für Aikido ist diese Grenze viel

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zu eng. Wenn beide Übende stattdessen zusammenarbeiten, kön-nen sie einander helfen und sich weit über die Grenzen dessenhinaus entwickeln, was ihre Voraussetzungen zu sein schienen.

Man wechselt sich ab. Zuerst greift der eine an, dann derandere. Ein korrekter Angriff setzt große Energie und Kraftan-sammlung voraus, die Verteidigung kann dagegen in entspanntemZustand und in Folgsamkeit vor sich gehen. Der gerade, unbeug-same Angriff trifft auf eine ausweichende Verteidigung. Diegerade Linie des Angriffs wird in einen Bogen geführt, der genaudort aufhört, wo der Angreifende begonnen hat. Die Kraft kehrtzu ihrem Ursprung zurück und gar nichts ist geschehen. Gutausgeführt wird die Bewegung in keiner Weise ein Kampf,sondern ein Tanz. Ein weicher Tanz ohne Kollisionen, ohne dasMessen von Kraft.

Ebenso ist es wichtig im Aikido, die Techniken nicht alsKonter, als Reaktionen auf plötzliche Angriffe zu sehen. Die Tech-niken sind Bögen und Spiralen, die sich ständig im Trainierendenbewegen - und im Raum der ihn umgibt. Das ist ungefähr dasselbe wie der Tanz, der sich in der Melodie und im Rhythmus derMusik verbirgt. Was der Angreifende macht, ist ganz einfach eineAufforderung zum Tanz.

Jan Nevelius und Jorma Lyly, 1998. Foto: Jöran Fagerlund.

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Die Bewegungen kommen völlig natürlich aus der ständigenGegenwart dieser Musik und dem einleitenden Schritt des Part-ners.

Die Musik des Aikido ist der Fluss von Energie, eine Be-wegung, die ständig in unserem lebenden Kosmos vorhanden ist.Wenn es die Bewegung nicht gäbe, würde es kein Leben geben.Leben ist Bewegung, Existenz ist Bewegung. Aikido öffnet sichfür die ständige Beweglichkeit des Daseins und macht sie sich zueigen. Die Techniken sollen so natürlich sein wie die fundament-ale Bewegung der Natur.

Diese Bewegung ist harmonisch. Gewaltige Himmelskörperkreisen elliptisch umeinander, Atome vibrieren in einem unbe-greiflichen Leerraum, Hunderte von Tierarten bewegen sich una-blässig umeinander im kleinsten Gehölz. Natürlich kommt es vor,dass sie zusammenstoßen, mit oder ohne Absicht, aber jeden Teilder Natur kennzeichnet vor allem eine Balance, eine reibungsfreieOrdnung zwischen allen Dingen. Das auf den ersten Blick zufälligwirkende Muster aller kleinen Bewegungen strebt ständig nachFrieden und Ruhe, wie eng die Ansammlung auch ist.

Alles bewegt sich, immer. Deshalb gibt es niemanden deranfängt, und auch niemanden, der aufhört. Der Wirbel derBewegungen ist unabgeschlossen, ständig und überall fließend.Im Aikidotraining kommt es nur dazu, dass zwei Personen das abund zu sichtbar machen. Es kann keinen Gewinner oder Verlierergeben, nicht einmal einen Initiator, in diesem Kontinuum! Wasvor sich geht ist lediglich, dass der Angreifer versucht hat, sichgegen die natürliche, harmonische Beweglichkeit aufzulehnen,und deshalb mild zu ihr zurückgeführt wird. Konflikt zu suchenheißt sich in der Bewegung der Natur zu verirren - das ist nurmöglich, wenn man aus dem Gleis seiner eigenen natürlichenBewegung ausgespurt ist. Die Techniken des Aikido haben keinanderes Ziel als den Verirrten zurück auf sein eigenes Gleis zuführen.

Aikidotechniken werden dann richtig ausgeführt, wenn es indem Geist geschieht, dass sie bereits ausgeführt wurden. Weil essich nur darum handelt, den Partner zurück zum natürlichenZustand zu führen, gibt es nur zwei Punkte: zuvor, als alles so

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Morihei Ueshiba. Foto: Yasuo Kobayashi.

war, wie es sein sollte, und danach, da alles wieder so ist wie essein soll. So als reichte man jemandem seine Hand, der strauchelt,oder als weckte man jemanden der eingenickt ist. Wenn die Be-wegung beginnt, ist sie schon ausgeführt. Es gibt verständlicher-weise keine Möglichkeit sie abzubrechen.

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Die natürliche Bewegung ist allumfassend und allmächtig.Gegen sie zu verstoßen, beispielsweise in einem Angriff, ist des-halb unendlich anstrengend. Aber den Angriff zurück zur Har-monie zu führen ist nur erholsam. Wer einen harmonischenMenschen angreift, versucht, die Ordnung der Natur zu stürzen,und das kann nicht glücken. Die Person, die den Angriff abwen-det und die Balance bei seinem Angreifer wieder herstellt, tutnichts anderes als den Naturgesetzen zu folgen und kann deshalbnicht scheitern. Es gilt nur, das zu erkennen, und dann, es zuleben.

Morihei Ueshibas Weg

Alles bewegt sich und verändert sich - selbst Aikido. Das merktman deutlich bei jedem Einzelnen, der beginnt es zu lernen. Ob-wohl es ein und derselbe Idealzustand sein muss, der Neuanfängerzum Training lockt, so werden sie schnell von den anfänglichenBegrenzungen ihres Körpers und ihres eigenen Verstands einge-fangen und eine Zeitlang zu einem Aikido verführt, das ein Schat-ten von dem ist, was es werden kann.

Sie sind nicht allein damit. Jeder einzelne - sogar der Begrün-der des Aikido - hat das selbe durchgemacht. Die Entwicklungfolgt mit Naturnotwendigheit dem Temperament des Alters undder Reife. Morihei Ueshiba, der in der ersten Hälfte dieses Jahr-hunderts Aikido aus den vielen traditionellen Kampfkünsten ent-wickelte, zeigte in seiner eigenen Entwicklung genau das, was alle,die Aikido trainieren, durchmachen müssen.

Er begann als schwacher Vierzehnjähriger, der verzweifeltsah, dass sein Vater von größeren und stärkeren Männern schi-kaniert wurde. Selbst war der junge Morihei sowohl kleiner alsauch zarter als die meisten. Er wollte natürlich durch sein fleißi-ges Training der Kampfkünste stark genug werden, um sich weh-ren zu können. Das wurde er, und mehr als das. Das intensive,hingegebene Training machte ihn mit der Zeit so überlegen, dasser keine Befriedigung mehr darin finden konnte, über die frühe-

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ren Gegner zu siegen. Er hatte Kraft wie wenige und es warschwer für ihn, jemanden zu finden, der ihm etwas voraus hatte.Konnte er sich denn mit denen einlassen, die ihm gegenüber hilf-los waren?

Überdies hatten die Kampfkünste ganz andere Größen, ganzandere Essenzen, als die Süße der Rache und des Siegs bloßgelegt.Im Innern der tausendjährigen Tradition der Kampfkünste fandensich Samen für ganz andere Werte. Diese hatten Morihei Ueshi-bas Aufmerksamkeit geweckt. Er erkannte das mit großer Ver-wunderung, als er eines Tages im Jahr 1925 von einem Offizierherausgefordert wurde, der seine Kräfte gegen ihn messen wollte.Anstatt dem Angriff des Offiziers mit noch größerer Aggressivitätund Kraft zu begegnen, glitt er unter jedem Angriff durch. AmEnde hatte der Offizier seine ganze Energie an kraftvolle Angriffevergeudet, die nie ihr Ziel trafen, und musste zur Erde sinken undaufgeben.

In diesem Augenblick wurde Aikido für Morihei Ueshibageboren, der zu dem Zeitpunkt 41 Jahre alt war. Und doch wurdedie Kampfkunst, die er zu lehren begann, nicht ganz so konse-quent. Sie nahm ihren Anfang in den weggleitenden Manövern,sicher, aber nur um sofort danach den Angreifer gewaltsam zuBoden zu werfen. Ueshibas Kraft war groß, so dass auf jeden, derihn angriff, schwindelerregende Flüge warteten. Sicher gab es daeine Weichheit, die anderen Kampfkünsten abging, und eine ver-dächtige Leichtigkeit in der Ausführung, die immer wieder jungeKämpfer zweifeln und ihn dann herausfordern ließ. Aber diesehatten ein jäheres Schicksal als der Offizier.

Als Morihei Ueshiba in den 30er Jahren um die fünfzig war,hatte seine physische Kraft ihren Höhepunkt erreicht. Keinerkonnte ihm Paroli bieten, keiner war ihm überlegen. Er warunbezwinglich wie olympische Athleten, aber die Zeit verging fürihn wie für jene - wenn auch langsamer. In den 50er Jahren, als er70 Jahre alt geworden war, nahm ein anderes Aikido überhand. Erwar sicherlich weiterhin unbezwinglich, aber mehr auf die Weise,in der er dem wütenden Offizier dreißig Jahre zuvor begegnetwar. Die physische Kraft und Unnachgiebigkeit machte Platz füretwas, das der weichen Stärke des Windes glich. Die Techniken

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wurden wie schwebend und zeigten keine andere Kraft als die desAngreifers. Ueshibas Aikido bekam das Äußere eines alten Man-nes, aber das Innere eines lebensfrohen Kindes. Gerade weil er nieim Weg stand, war es unmöglich, ihn zu Boden zu bringen.

In den 60er Jahren, als sein Leben zu Ende ging, wurden dieBewegungen noch subtiler. Vor allem änderte er das Tempo. SeinAikido wurde wie Synkopen in der Musik, es begann so zeitig,dass es manchmal dem Angriff zuvorkommen schien. Wenn Ai-kido eine Methode ist, den Angreifer zurück zu der natürlichenHarmonie, zum natürlichen Frieden zu führen, so tat Ueshiba dasschon in dem Augenblick, in dem die Idee zum Angriff im Kopfdes Parners entstand. Er machte seine Techniken nicht mit demKörper des Partners, sondern mit dessen Intention. Deshalb wur-den die Techniken wie Abstraktionen. Eine schweifende Be-wegung mit der Hand in dem Moment, in dem der Partnerlosstürmte, und dieser fiel um. Geschwindigkeit war kein Pro-blem, denn bei einem Spiegel ist diese natürlich die des Lichts.

Man kann sagen, dass Ueshibas Aikido schließlich zu reinleitenden Gesten wurde, so dass der Partner unmittelbar dasganze Aikido von allein machte. Ueshiba muss sich selbst als einsmit der Bewegung der Natur erlebt haben. Diese dem Partnerehrlich und unverblümt zu zeigen, machte den Angriff zunichteund führte ihn stracks zur natürlichen Ruhe zurück. Das kannman sagen - aber es auszuführen steht auf einem ganz anderenBlatt.

Wasser, Luft und Vakuum

Auch wenn wir nicht mit der selben spektakulären Entwicklungprahlen können wie Morihei Ueshiba, so meine ich doch, beijedem Aikidoka, Aikidoausübenden, Tendenzen der selben Ver-edlung zu sehen. Wir machen in unserem Aikido Stadien durch,sicher jeder von uns mit untschiedlicher Geschwindigkeit undunterschiedlicher Amplitude, aber ohne auch nur eine von ihnenüberspringen zu können. Wie friedlich auch der Neuanfängerglaubt zu sein, so will er doch durch die Techniken des Aikido

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Kraft und Können zeigen. Er will weit und schnell werfen, dengrößten Gegner zu Fall bringen, und die Kraft des Angreifers mitseiner eigenen überbieten. Das ist natürlich überhaupt nicht Ai-kido, aber ich zweifle, dass man an dieser Phase vorübergehenkann.

Die Kraft, von der der Anfänger keinen Abstand nehmenkann, ist natürlich die selbe wie die des Angreifers. Die Technikendes Aikido sind bis dahin Kniffe, mit denen die Kraft des Ver-teidigers Überlegenheit erlangt. Aikido ist für ihn wie eine Waffe,eine technische Überlegenheit, die er mit ungefähr derselbenHaltung des Aufstands gegen die Ordnung der Natur - vage mas-kiert hinter der Ethik der Selbstverteidigung - ausführt, die auchder Angreifer zeigt. Auf diesem Niveau muss jeder Wettkampf-sport mit Sicherheit stagnieren. Der Anfallende und der Vertei-diger tun in allem genau dasselbe.

Auf der nächsten Stufe gleiten die zwei auseinander. Dasgeschieht, wenn unser Aikidoka so lang in seinem Vermögengeschwelgt hat, dass er nicht länger Stolz darauf empfinden kann.Der Zeitraum, den es benötigt, um dahin zu kommen, unter-scheidet sich bedeutend von Mensch zu Mensch, und es zeigtsich, dass dessen Länge überhaupt nichts mit dem Lippen-bekenntnis zu tun hat. Bemerkenswert ist meiner Erfahrungnach, dass genau die, die sich am wärmsten für Weichheit undFolgsamkeit aussprechen, am längsten damit warten, dieses Idealvon ihren Bewegungen illustrieren zu lassen. Sie sehen vielmehrihre Worte als Alibi oder wie eine Kosmetik dafür, wie sie faktischihr Aikido ausführen, so als würde das Wort so vollständig überdie Wirklichkeit herrschen, dass es sie verwandeln könnte. WasGeorge Orwell in seinem Roman "1984" Neusprache nannte istAlltagskost in den meisten Mündern. Wenn wir wiederholt Frei-heit Unfreiheit nennen, hören wir wir vielleicht auf, uns danachzu sehnen. Wenn man das Harte weich und das Aggressive fried-lich nennt - da wird es vielleicht am Ende wahr.

Nichts da. Die einzigen Augen, die sich betrügen lassen sinddie derer, deren Münder eine solche Neusprache sprechen - wennüberhaupt. Nein, wirkliche Weichheit und Folgsamkeit sindoffensichtlich für jedes Auge und noch deutlicher erkennbar für

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den Angreifer. Die, welche noch im Vorweisen von Stärke fest-sitzen, können gewiss Bewegungen haben, die so folgsam undfließend sind wie die des wirklich Weichen, aber sie geraten stär-ker mit dem Partner aneinander und sie fühlen in ihrer Brust,dass sie getrotzt, niedergeworfen haben. Wirklich folgsames Ai-kido wird nicht eine Zentrifuge, in die der Angreifende gestecktwird, sondern ein frischer Wind, der ihn umgibt und seine Be-wegung diskret zu einem harmlosen Schluss führt. Ein Schluss,da keiner niedergeworfen oder bestraft wurde.

Man kann das mit den Elementen der Natur vergleichen.Der Anfänger ist in erster Linie wie Stein - unbeweglich, ange-spannt, kantig. Dann Holz - nachgiebig, weich werdend, wennauch immer noch so gut wie unbeweglich. Wenn der Anfängerendlich den panischen Griff der Füße am Boden verliert und sichfrei im Raum bewegen kann, wenn er seine Techniken genaudurch das Momentum ausführen kann, das die freie Beweglich-keit gewährt - da ist er wie Wasser geworden.

Große Befriedigung enspringt aus diesem Stadium, ebensoimponierendes Vermögen. Die Techniken fließen, Angreifer fallenwie Kegel, gleichwie ob sie einer nach dem anderen oder mehreregleichzeitig kommen. Man kann sein Aikido über lange Zeit hin-weg ausführen, ohne die Kontrolle zu verlieren oder in seinerEnergie zu ermatten. Deshalb ist es leicht, in diesem Stadium zuverbleiben und zu glauben, dass man das Ziel erreicht hat. Mantrainiert nicht länger, um das Unvollendete von sich zu werfenund sich von Grund auf zu erneuern, sondern nur um die Fähig-keiten, die man erreicht hat, zu putzen und zu feilen. Aber dasWasser ist nicht das Weichste, nicht das Folgsamste. Der jämmer-lichste Bach bohrt sich durch Berge, Wellen werfen große Schiffeherum, sogar der Regen schlägt manchmal hart zu und treibtMenschen in die Flucht. Die Kraft des Wassers ist groß, aber seineFolgsamkeit ist gering. Das ist nicht genug für Aikido.

Das demütigste der Elemente ist die Luft, die selbstverständ-lich Platz für alle anderen macht. Die Luft umfängt, ohne zuerstzu knuffen, sie fügt sich, ohne sich zuerst zu sperren. Wo dasWasser vom ersten Augenblick seine Widerspenstigkeit offenbart,ist die Kraft der Luft eine, die nur mit unserer eigenen Geschwin-

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Lennart Larsson und Lennart Inedahl. Foto: Magnus Hartman.

digkeit zunimmt. Erst wenn wir ihr trotzen, wird ihr Wesen deut-lich für uns, und nur bis zu dem Grad, den wir selbst wählen.Natürlich kann der Wind sowohl Menschen als auch ganze Häu-ser niederreißen, aber er verfolgt nicht, er weht vorbei und schontdas, was sich beugt. Das Wasser ist nicht so schonend wenn esüber uns spült. Wären wir Fische, so wäre das Verhältnis natürlichanders, aber da das nicht unsere Natur ist, tun wir gut daran, unsmehr wie Luft zu verhalten.

In Aikido bedeutet das eine Weichheit ohne darunter liegen-de Drohung oder Trotz, eine Folgsamkeit nach den Bedingungendes Angreifers, in Einheit mit dem Angriff, so dass der Partnerkeiner anderen Kraft hinter den Bewegungen gewahr wird als sei-ner eigenen. Derjenige, den er angreift, steht ihm nicht im Weg,übernimmt nicht das Kommando, drückt ihn nicht nieder. Nein,statt dessen wird ihm zu einem derartigen Schwung in seiner Be-wegung verholfen, dass diese aus reiner Begeisterung weitergehtund woanders landet als sie zunächst beabsichtigte.

Wenn Aikido wie Luft wird, ist es nur die Kraft des An-greifers, die auszumachen ist. Die Techniken können so dichtsein, dass sie einen ganzen Dojo (Trainingsraum) füllen, so über-

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wältigend großartig, dass die Wände beben - aber sie beinhaltennichts Unterwerfendes. Sie lassen die Kraft des Partners freianstelle sie zu dämpfen.

Der wilde Tanz der daraus folgt, würde unbestreitbar als ehr-würdiges Ziel für Aikido gelten, der Aikidoka, der so weit gekom-men ist, ist begeisternd. Wie sind damit auch durch sämtlichedrei Aggregatszustände gegangen, die über alle Stoffe der Naturherrschen: von der festen Form zum Fließenden zum Gas. Aberes gibt mehr. Sogar Luft leistet - wenn auch sehr diskret - einengewissen Widerstand. Sie bezwingt auch, hat auch eine Ober-fläche und kann diesem Umstand nicht entgehen. Wenn es auchschwer ist, so ist es doch möglich, in der Luft einen Feind zusehen, ein Ziel für Aggressionen. Man kann an und für sich nichtüber die Luft siegen, sie schlagen oder bezwingen, aber man kannihrer Identität gewahr werden und sie damit herausfordern. WennAikido den Streit unmöglich machen soll, wenn es die Agressionselbst zunichte machen soll, ist die Luft keine Antwort. Was ist dadas nächste?

Vakuum. Leerer Raum hat keinen Körper, keinerlei Subs-tanz. Trotzdem ist keine Kraft groß genug, es zu bezwingen, keinFeuer, es zu verbrennen, keine Macht, es zu bedrohen, kein Raumist so groß, dass es ihn nicht füllen könnte, oder so klein, dass eskeinen Platz darin fände. Die Leere ist das einzig Unverwundbare,und es gibt sie überall - zwischen den Himmelskörpern im Mak-rokosmos und zwischen den Atomen im Mikrokosmos.

Obwohl sie nicht den geringsten Willen ausübt, ist sieunmittelbar verheerend für den, der ihr trotzt. Wären die Astro-nauten nicht ordentlich eingekapselt, würde das Leben sofort ausihnen gerissen. Der leere Raum ist so vollständig offen, so gren-zenlos nachgiebig, dass alles Lebende in ihm vergeht. Es ist nichtnur so, dass ein Angriff völlig fruchtlos ist, ja, jedes Ziel vermisst.Er vermisst allgemein die Substanz, die es benötigt, um den Wil-len beizubehalten. Überhaupt einen Gedanken zu denken istschwer, und alles was man braucht damit der Gedanke völlig ver-schwindet, ist sich eben der Leere des Raums zu entsinnen. Dasreißt die Kraft aus jedem Kampf, kühlt unmittelbar die heißesteWut.

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Wenn Aikido wie leerer Raum wird, verliert der Angreiferunmittelbar all seine Kraft, ebenso deutlich und plötzlich als wür-den ihm die Beine unter dem Körper weggeschlagen. Der Angriffmuss ein Ziel haben - worauf soll er sonst zielen? Die Leere kannkein Ziel sein, deshalb verliert der Angreifer seine Kraft in ebendem Moment, da er versucht, sie gegen dieses Nichts zu richten.Der die Leere beherrscht, braucht dem Partner nur sein Vakuumzu zeigen, damit dieser völlig kraftlos zusammenfällt. Die weg-gleitenden Techniken sind verschwunden, an deren Stelle öffnetsich ein unendliches Nichts. Der Angriff stirbt im selben Augen-blick da er eingeleitet wird.

Wenn man sein Vakuum im selben Moment zeigt, da derAngreifer für den Angriff ansetzt, wird dieser seine Festigkeit undseine Fahrt verlieren wie Laub im Wind. Wenn man ständig offenist und sein Vakuum zeigt, wird es unmöglich für andere, auchnur an Angriff zu denken.

Die Leere ist kein Trick, sie kann nicht von jemandemgelernt werden, der wünscht, den optimalen Selbstverteidungs-griff zu beherrschen. Gegen die Leere ist keiner gefeit - auch

Endo sensei. Foto: Magnus Hartman

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nicht, wenn er sich in sie einfühlt. Sie muss mit ganzem Herzenrealisiert werden, man muss sich ihr vollständig hingeben unddarf deshalb nicht einmal in sich selbst, in seinem Wesen, etwasfühlen, das Substanz hat und der Verteidigung wert wäre. Leereist, sich selbst völlig rückhaltlos zu vergießen, sich aufzugeben, sowie vor dem Tod. Nur wenn man selbst fühlt, dass man keinenKörper ausmacht, keine Substanz, die anderen Kräften ausgesetztwerden könnte, wird diese Erfahrung auch zu der des Angreifers.Wer sich selbst für die Leere aufgegeben hat und Vakuum gewor-den ist, kann selbst nicht länger sehen, was in ihm selbst einemAngriff ausgesetzt werden könnte. Deshalb kann auch keinanderer das sehen.

Das Aikido der Leere hat natürlich nichts mit Techniken undBewegungsmustern zu tun. Der Betrachter kann nicht begreifenwas geschieht, wenn es ausgeübt wird, der Angreifer kann es zwarerleben - aber nur als etwas, das ausschließlich in ihm selbstgeschieht. Er verliert die Kontrolle wie einer, der in Ohnmachtfällt, büßt seine Kraft ein wie nach harter Arbeit auf fastendenMagen, vergisst seine Intention wie einer, der nach einem Tag-traum zu sich kommt.

Wenn der Angreifer das Gefühl hat, dass die Person, die ervor sich hat, das fertiggebracht hat, so ist die Leere nicht voll-ständig. Der Anfallende soll keinesfalls eines anderen Willensgewahr werden als seines eigenen, er soll keine anderen Erklärungzu seinem Fiasko finden als die eigene Unzulänglichkeit. DieUmgebung kann nichts anderes glauben als dass ein solches Ai-kido abgesprochen ist, dass der Angreifer den Angriff nur fingiertund sich dann selbst zu Boden wirft. Der Angreifer soll das selbstnicht auf andere Weise erklären können. Im Aikido der Leere istder Aikidoka unsichtbar geworden, nicht vorhanden. Es ist nurder Partner, in welchem und um welchen herum sich allesbewegt. Selbstverteidigung ist nicht länger Bestandteil in diesemAikido, Drohung und Gewalt schmelzen fort. Erst in diesem Sta-dium kann man hoffen einen Frieden zu erreichen, der währt undder sich außerhalb des eigenen Sinnes erstreckt, hin zu der ach soschwer zu zügelnden Umgebung.

Vielleicht kommt danach eine andere Art Aikido - wer weiß?

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Auch wenn man es sich schwer vorstellen kann, darf man dasnicht als Argument nehmen um sich in seiner Suche zur Ruhe zusetzen. In dem Augenblick, da man das Ziel erreicht zu habenglaubt, wird man unweigerlich seine Tore schließen, versteinernund verdorren. Auch die Leere muss man von sich werfen, auf-geben. Anders ist es unmöglich herauszufinden, ob auf der ande-ren Seite davon etwas liegt.

So wie die Jungen

Vor allem unter japanischen Aikidolehrern ist die Ansicht ver-breitet, dass mehr ätherische Formen von Aikido besser für Älterepassen. Sie meinen, dass junge Ausübende lieber mit Kraftfülleund Schnelligkeit brillieren, weil das zu ihrem Alter gehört. Erstwenn das Alter die Gelenke steifer macht und die Bewegungenschrumpfen lässt, so soll man sich dem Aikido zuwenden, das soweich wie Luft ist, und erst wenn das Grab auf einen lauert, sollman zu dem Aikido übergehen, das die Leere zeigt - sofern mandas kann.

Es ist sicher richtig, dass junger Eifer es schwer hat, dasKraftvolle sein zu lassen, und schwer, so sanft wie ein Windhauchzu sein. Jünglinge wollen viel lieber ihre Glieder mit einer solchenKraft prüfen, dass es in ihnen knackt, und ihren Partner auf dieMatte schwingen, dass es staubt. Ich glaube nicht, dass der Päda-goge geboren ist, der junge Menschen dazu bringen kann, vonsolchem Spiel abzusehen. Aber man belügt sich und andere überAikido, wenn man sagt, dass sie in diesem Zustand verbleibenmüssen, bis sie zu schwach dafür werden. Wenn das stimmenwürde, dann wäre das Aikido der Luft schwächer als das Aikidodes Wassers und das Aikido der Leere wäre das schwächste vonallen. Das ist nicht wahr.

Auch diejenigen, die in ihrer frühen Kindheit mit dem Aiki-dotraining beginnen, können eine ganz andere Kraft ausmachenals die der Muskeln, und sie sehnen sich nach ihr. Das pflegt vorallem für die richtig Jungen zu stimmen, die nicht Neugierde von

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Stolz überstimmen lassen. Ihnen zu sagen, dass sie warten und ineiner primitiveren Form von Aikido verbleiben sollen, nur weilsich noch kein hinreichend achtenswertes Alter erreicht haben, istnichts anderes als eine Sünde. Wenn Menschen von einem nied-rigeren zu einem höheren Zustand übergehen wollen sollten wirsie nicht aufhalten - wir sollten jubeln!

Hinter dem, was man in der Bibel Sünde nennt, liegen imhebräischen Original drei verschiedene Begriffe. Sie haben alle mitder Fahrt auf ein Ziel zu tun, wie etwa der Weg eines Pfeils zurSchießscheibe. Eine Sünde ist, auf dem Weg zum Ziel die Ge-schwindigkeit abzubremsen, eine andere, unnötige Umwege zunehmen, eine dritte, völlig davon abzuweichen. Sünde ist also,nicht so direkt und schnell auf das Ziel zuzustreben, wie man esvermag.

Im Aikido bedeutet das, dass dem Anfänger, ungeachtetseines Alters, natürlich zugestanden werden soll, sich an jedemStadium, das er erreicht hat, zu erfreuen und es zu erforschen -aber auch, dass man untrüglich eine Richtung nach vorne auf-zeigt, hin zum nächsten Niveau und zum nächsten. Genauso wiees für den Lehrer unmöglich ist, den Schüler in einem höherenTempo durch die Stadien zu drücken als der Schüler selbst ver-mag, so ist es unverzeihlich für den Lehrer, auch nur im mindes-

Brandbergen. Foto: Gunilla Welin

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ten eine Ansicht darüber zu heben, in welcher Geschwindigkeitdas vor sich gehen sollte. Man kann nur wünschen, dass dieGeschwindigkeit hoch ist, und dass der Schüler in seiner Ent-wicklung keine längeren Pausen macht als er muss, um weiter-machen zu können.

Die Ansicht, dass jede Sache ihre Zeit hat, scheint oft vondenen vertreten zu werden, welche selbst wünschen, in einemStadium zu verbleiben, das sie eigentlich hinter sich lassen müss-ten, weil sie die nötige Reife erreicht haben. So wie jedes Alter imLeben der Menschen seinen Lohn und seinen Preis hat, so mussman in jeder Phase seiner Entwicklung etwas aufgeben, um etwasanderes aufnehmen zu können. Manchmal kann es schmerzen,dieses Etwas aufzugeben, man bleibt in seiner Unschlüssigkeit,aus dem einfachen Grund, weil man weiß was man hat, abernicht, was man bekommt.

Morihei Ueshiba ist ein deutliches Vorbild, aber er wird alssolches unterschiedlich genutzt und gedeutet. Viele wollen ausihm ein unnahbares Ideal machen, einen Heiligen auf einemhohen Sockel. In ihren Augen ist es fast aufrührerisch zu ver-suchen, sich ein ebenso hochstehendes, genauso blendendes Ai-kido anzueignen wie osensei (der große Lehrer) es beherrschte.Ich bin überhaupt nicht sicher, dass er sich selbst als solches Uni-kum betrachtete. Warum hätte er sich dann überhaupt darumbemüht, seine Kunst weiterzugeben? Moriheit Ueshiba trieb seineSchüler mit einer Fülle von Erklärungen und Anweisungenvoran, auch wenn diese nicht immer begreiflich für jeden ein-zelnen waren. Wenn wir ihn als einen Entdecker betrachten,einen Neugestalter der Kampfkunst, da ist es plausibler, dass wirnach seinem Tod nicht den Rückzug antreten, sondern unsdarum bemühen, dort weiterzumachen, wo er aufhörte. Wir soll-ten uns mit all unserer Kraft bemühen und uns beeilen, um zudem Aikido zu kommen, das Ueshiba kurz vor seinem Tod be-herrschte, um von da aus weiterzumachen.

Ich glaube, dass das möglich ist. Jedenfalls weiß ich, dass esunmöglich ist, wenn wir es nicht versuchen.

Morihei Ueshiba wurde im Lauf der Jahre oft gefilmt. Aufdiesen Filmen sieht man seine Entwicklung ungeheuer deutlich.

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In den frühesten bekannten Dokumentationen seines Aikido, von1935, ist die Kraft groß und die Techniken mindestens genausoplötzlich und hart wie die Angriffe. Wie viele sich auch über ihnwerfen, sie werden mit noch größerer Kraft zurückgeworfen. Aberin den letzten Filmen, die in den 60er Jahren aufgenommen wur-den, geht er größtenteils nur herum und gestikuliert weich,geradezu gentleman-like, in die Richtung seiner Angreifer, unddas bringt sie schon zu Fall - im selben Augenblick, da sie sichzum Angriff anschicken.

Unter Aikidomenschen gibt es viele, die den Film von 1935für den Favoriten halten. Da kann jeder sehen was für ein groß-artiger Kämpfer osensei war. Die letzten Filme hingegen scheuensie mit einem Gefühl von Verwirrung und Zweifel. Was er dazeigt, das ist wohl nicht möglich? Das ist wohl nur ein alterMann, der von sehr gehorsamen Assistenten umgeben ist? SeinAikido wurde also so, dass sogar Aikidoausübende zu glaubenbegannen, dass alles abgegemacht war. In meinen Augen sinddiese letzten Filme die unvergleichlich faszinierendsten und anzie-hendsten. Da sieht man eine Kunst, die Klarheit schenken, dievielleicht dem Leben eine Bedeutung geben könnte. Also warumnicht dahin streben, mit allem was man vermag?

Natürlich ist es möglich, die Stadien des Aikido mit den Sta-dien des Menschenlebens zu vergleichen, ebenso wie mit denAggregatszuständen feste Form, Flüssigkeit und Gas. Aber wirsollten nicht verlangen, dass Menschen diesen Intervallensklavisch wie Gefängnisbewohner folgen. Menschen sind sounterschiedlich, so unvorhersehbar, dass wir besser damit rechnensollten als es für unmöglich zu halten, dass ein Kind die Form derLeere zeigen kann, ebenso wie alte Menschen bis zu ihrem letztenAtemzug an einem Aikido des Steinstandbilds festhalten können.Eigentlich glaube ich, dass die Altersgruppe, der osensei in seinenletzten Tagen am meisten glich, die eines Jugendlichen war. Nichtim physischen Ausdruck, gewiss, aber im Geist.

Man kann in Konturen ahnen, wie der Geist jeder Alters-gruppe beschaffen ist. Kinder sind naturgemäß wunderbar vor-aussetzungslos, sie verschlingen die Behauptungen ihres Lehrersmit Haut und Haar, schonen sich selbst keine Spur, wenn sie sich

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Järfälla. Foto: Magnus Hartmann.

auf dem Weg des Aikido versuchen. Bei den Erwachsenen ist dasnicht genauso leicht. Erwachsene haben Prestige und vorherge-fasste Meinungen, über die sie mit Sorge und Bestimmtheitwachen. Sie hören dem Lehrer reserviert zu, weil sie sich nicht zuGedanken verführen lassen wollen, denen sie nicht von Anfang anhuldigen, oder zu Entdeckungen, deren Wert sie nicht von An-

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Åke Bengtsson, Stockholm. Foto: Magnus Hartmann.

fang an einschätzen können. Oft sind sie so voll von ihrem Selbst-gefühl, dass sie nicht in der Lage sind, etwas zu lernen, undhöchstens die eine oder andere Fertigkeit vervollkommen wollen.Damit sind sie zufrieden, so als wüssten sie schon alles, was dasLeben geben kann. Sie können bis zum Alter zögern, bis sie sich

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öffnen, und in diesem Fall mit einem Gefühl, das dem der Jugendsehr nahe ist.

Sicher sind Jugendliche oft begeistert von den einfacherenVorzügen von Aikido, sicher können sie völlig unverhüllt in Kraft,Tempo, Energie und anderen solchen rein körperlichen Groß-taten schwelgen. Aber da sind es nur ihre Körper, die sich veraus-gaben. Ihr Geist ist in der Regel ein ganz anderer. In der Tiefeihres Herzens sind Jugendliche grenzenlos lebensdurstig und -vielleicht die wichtigste der menschlichen Eigenschaften -neugierig. Wo das Kind schnell das Interesse verliert und seineAufmerksamkeit verfliegt wie eine Schneeflocke im Wind, dakönnen Jugendliche all ihre Zeit und ihren letzten Funken Ener-gie auf ein und dasselbe verwenden, wenn es nur ihre Faszinationgeweckt hat. Wo erwachsene Menschen sich damit bremsen, dasssie zuerst fragen, wie sie wieder herauskommen oder wie das inihrer Alltagsordnung funktionieren soll, fühlen Jugendliche nichteinen einzigen Stich von Bedenklichkeit, bevor sie sich in dietiefen Wasser des Unbekannten stürzen.

Die Erklärung ist vermutlich: Faszination. Jugendliche lassensich faszinieren - von charismatischen Idolen, von den Reproduk-tionsmechanismen der Biologie, oder von einer friedlichenjapanischen Kampfkunst. Faszination ist ihre Batterie und dieRutschbahn, auf der sie vorwärts kommen. Das ist ein sehr guterGeist, um Aikido zu entdecken. Anstelle den jungen Schüler aufseiner Fahrt zu bremsen, sollte jeder Erwachsene sein Bestes tunum sich mitreißen zu lassen - oder aus der Bahn treten. Nur wersich von Aikido hinreißen lässt, kann jemals zu einem Aikidogelangen, das hinreißend ist.

Weiblicher Vorteil

Wenn der Sprachgebrauch es von mir erforderte, eine Ge-schlechtsbezeichnung anzugeben, habe ich konsequent das Mas-kulinum verwendet - "er", "ihm" und so weiter. Das bedeutetnicht, dass Aikido ausschließlich etwas für Männer ist oder ihnen

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näher liegt - überhaupt nicht. Das ist nur eine Vereinfachung,damit ich eine umständliche Schreibweise wie "er oder sie", "ihmoder ihr" vermeide. Aikido macht keinen Unterschied zwischenden Geschlechtern - überhaupt keinen.

Schon in ersten Jahren des 20. Jahrhunderts hatte MoriheiUeshiba mehrere weibliche Schüler, die unter gleichen Be-dingungen wie die Männer und mit diesen trainierten und dieebenso imponierende Fertigkeiten erlangten. So ist das fortwähr-end. Beide Geschlechter trainieren uneingeschränkt miteinanderund entwickeln ihre Fertigkeiten nach persönlichen Voraus-setzungen, die nicht das geringste mit der geschlechtlichen Zuge-hörigkeit zu tun haben.

Allerdings, wenn man verallgemeinern muss, so kann manvorsichtig sagen, dass eines der beiden Geschlechter einen gewis-sen Vorteil, einen gewissen Vorsprung hat: die Frauen. Das beruhtauf der Natur des Aikido. Jungen und Männer haben die Ge-wohnheit, ihre Muskeln anzuspannen und sich mit Siegergelüstenund Trotz in den Kampf zu werfen. Das ist fern vom Ideal desAikido. Frauen tendieren generell eher dazu, den weicheren Wegauszuprobieren, Nachgiebigkeit anstelle von Sturheit zu zeigenund lieber zu folgen als zu leiten. Das ist ein besserer Keimbodenfür hochstehendes Aikido.

Obwohl sowohl in Japan als auch in Schweden Aikido vonmehr Männern als Frauen ausgeübt wird, kann man oft diesenweiblichen Vorsprung in der Ausführung und Entwicklungsehen. Frauen haben selten das selbe Bedürfnis nach Selbst-behauptung, von dem Männer allzuoft beherrscht werden, undsie finden auf diese Weise den schnelleren Weg zu einem Aikido,das durchwirkt ist von Sanftheit, Generosität und Wohlwollen.Das ist ein strahlender Vorzug.

Leider machen gewöhnlich dieselben Eigenschaften Frauenunwilliger als Männer, sich vor eine Gruppe zu stellen und zuunterrichten, so dass es von den Männern eine enorme Anstreng-ung erfordert, zu dieser zentralen Lehre zu gelangen und sie sichanzueignen. Um der Harmonie und des Gleichgewichts willen istes wichtig, hellhörig für das Weibliche zu sein - in sich selbst,welchen Geschlechts man auch ist, und um sich herum.

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Von sich werfen

Aus dem alten Japan wird von einem Fürsten berichtet, der Kyu-do, die Kunst des Bogenschießens, meistern wollte. Deshalbsuchte er den Mann auf, von dem das Gerücht ging, dass er derhervorragendste Meister des Bogenschießens von allen war. DerMeister war ein bescheidener, ein wenig in die Jahre gekommener,Mann. Sie machten einen Spaziergang auf der Wiese hinter des-sen einfacher Wohnstatt, als der Fürst sich vorsichtig nach demKönnen des Meisters erkundigte.

Gerade als sie so in ruhigem Schritt dahingingen, kam einkrächzender Vogel hoch über ihnen herangeflogen. Sofort hatteder Meister den Bogen in seiner Hand und schoss einen Pfeil ab- ohne auch nur in die Richtung des Vogels zu sehen. Es ging soschnell wie ein Gedanke. Der Pfeil traf den Vogel mitten in derBrust, und dieser plumpste auf den Hügel nieder.

Der Fürst war begeistert. Niemals zuvor hatte er eine solcheAnmut, eine solche Schnelligkeit und Treffsicherheit mit demBogen gesehen.

"Ihr müsst mein Lehrer werden!", sagte er.Aber der Meister schüttelte den Kopf.

Mutsuko Minegishi. Foto: Magnus Hartman.

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Lennart Linder c. 1980. Foto: Göran Marin.

"Nicht kann ich, der ich selbst nur ein Anfänger bin, jeman-den in Kyodo unterrichten."

So sehr der Fürst auch bat, der Meister gab nicht nach. Statt-dessen sagte er schließlich.

"Komm in zehn Jahren zurück - vielleicht bin ich es dannwert, dein Lehrer zu sein."

Mit diesem Bescheid musste der Fürst sich zufriedengeben,und er kehrte zu seinem Hof zurück. Aber er vergaß den Meisterund dessen überwältigende Vorführung nicht. Als zehn Jahre ver-gangen waren, suchte er ihn erneut auf.

Auch dieses Mal machten sie einen Spaziergang auf der Wie-se und der Fürst war voll von der Frage, wie der Meister sich inseiner Kunst wohl entwickelt haben mochte. Bald kam ein Vogelkrächzend über den Himmel. Der Meister schaute nicht einmalin dessen Richtung, spannte nur die Sehne des Bogens - ohneeinen Pfeil darauf zu setzen - und ließ los. Der Vogel fuhr zusam-men, wie von einem Pfeil getroffen, und fiel auf den Hügel.

Der Fürst wusste nicht welche Worte er für seine Bewun-derung finden konnte, und erklärte, dass der Meister jetzt Schüleraufnehmen müsse.

"Nein, nein", sagte der Meister. "Ich bin immer noch nichtmehr als ein Anfänger."

Aikido – die friedliche Kampfkunst 43

Wie eindringlich der Fürst auch bat, er musste sich mit einererneuten Zehnjahresfrist zufriedengeben.

"Vielleicht bin ich es dann würdig", sagte der Meister.Und die Jahre vergingen. Nun geschah es so, dass das Reich

nach einigen Jahren Unruhen einen neuen Herrscher bekam, undder alte Fürst von seinem Thron gestoßen wurde. Er kam mitdem Leben davon, aber er verlor all seine Macht und sein Eigen-tum. Er bewegte sich auf den Straßen inmitten seiner früherenUntertanen und lebte in Armut.

Als er eines Tages auf den Straßen der Stadt herumging,erblickte er eine große Menschenansammlung. Viele Menschendrängten sich um einen alten Mann, so konnte er sehen, und siehörten andächtig auf das, was der Alte zu sagen hatte. Als es demFürsten gelungen war, sich durch die Menge nach vorne zudrängen, erkannte er in dem alten Mann den Meister des Bogen-schießens wieder, und er grüßte ihn mit großer Freude.

"Meister", sagte er demütig, "wie weit seid Ihr mit EurerKunst in all diesen Jahren gekommen? Welches Wunder vermögtIhr jetzt mit Eurem Pfeil und Bogen?"

Der Meister sah ihn mit verwunderter Miene an und fragte:"Was ist Pfeil? Was ist Bogen?"In den japanischen Kampfkünsten ist es eine bekannte

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Weisheit, dass man seine Fortschritte von sich werfen muss, umzu neuen zu gelangen. Wem es gelingt, einmal etwas Großeszustande zu bringen, und der dann nicht davon lassen kann, deres nicht vergessen kann, in dem ist kein Platz für Neues. DasKönnen wird so leicht ein Gefängnis, in dem die Eitelkeit einachtsamer Wächter ist. Wenn man zu einer Geschicklichkeitgelangt ist, die so groß ist, dass man auf sie Stolz empfinden kann,so wird es schwer weiterzugehen. Das Können ist ein Vermögen,so lockend und so verführerisch wie Gold. Wenn man sich anjede Fertigkeit klammert, so wird man schnell so schwer belastet,dass die Beine nachgeben und keinen einzigen Schritt mehrzustandebringen.

Man spricht in Japan von der vollen Teeschale. Man kanndem, der seine Schale schon bis zum Rand gefüllt hat, keinen wei-teren Tropfen einschenken. So viel man auch gießt, es fließt nurüber. Wer etwas aufnehmen will, muss sich zuerst leeren, weretwas lernen will, muss zuerst vergessen.

Wir stellen uns gewöhnlich vor, dass der, welcher seinenGeist andauernd leert, seine Erkenntnis nie erweitert und immerdumm und unkundig bleibt. Eher streben viele danach, ihr Gefäßzu erweitern, so dass es noch mehr aufnehmen kann. Aber dasGefäß hat sein vorgegebenes Volumen, und es gibt eine absoluteGrenze für das, was es aufnehmen kann. Da muss man es wagen,seine Kenntnisse von sich zu werfen, um etwas Neues zu lernen.Die Angst davor, das zu tun, gründet in der Unwissenheit überden Unterscheid zwischen Können und Verstehen. Namen vonDingen, Maße und Gewichte, Zeitpunkte, all das erfordert Platzin unserem Kopf, damit es bei uns bleibt. Ebenso erfordert es Zeitin Form von Übung und Wiederholung, damit es uns nicht trotzallem entschlüpft. Aber das Verstehen besetzt keinen Platz. Wasman einmal verstanden hat kann einem nicht entfliehen, und esnimmt doch keinen Platz im Kopf ein.

Das Wissen an sich ist etwas Totes und Versteinertes. WennWissen zum Verstehen führt, so erfährt es Leben und Bedeutung.Es ist auch in diesem Augenblick, dass das Wissen ausgedient hatund genauso gut verkümmern kann - so wie es natürlicherweisewill.

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In der Mathematik, einer Wissenschaft mit zahlreichen trotzihres hohen Alters unveränderten Einsichten, kann keine Aufgabeals gelöst angesehen werden, bevor die Richtigkeit der Lösungbewiesen wurde. Es reicht nicht, dass der Schüler auf eine Formelin der Formelsammlung deutet und glaubt, dass sie richtig seinmuss, weil sie da steht - er muss sie selbst beweisen können. Des-halb ist die Mathematik eine vitale und frische Wissenschaft, ob-wohl sie vielleicht die allerälteste ist. Jeder neue Mathematikerkann alle ihre Thesen und Schlussätze den ganzen Weg zurück biszu ihrem logischen Fundament verfolgen, das nichts anderes istals das logische Fundament des Menschen. Da die Mathematikbis zu ihrer Entstehung zurückverfolgt werden kann, kann sieauch, wann immer, von wem immer sie ausgeübt wird, vonGrund auf wiedererschaffen werden. Wer hat da Angst davor,Wissen von sich zu werfen?

Wissen mag einer Konversation einen interessanten, impo-nierenden Einschlag geben, aber seiner Natur nach ist es eine Be-lastung. Es ist eine schwere Last, die man von sich wirft, sobaldman das Ziel der Reise erreicht hat. Wissen ist nur der Brennstoff,der Rohstoff, der zum Verstehen führen soll. Wenn das erreichtist, gibt es keinen Grund, am Wissen festzuhalten. In der Tatkann es - auch wenn es die Schale nicht ganz bis zum Rand füllt- ein Hindernis sein.

Ich ging in die Grundstufe, als wir ziemlich vorsichtig began-nen, mit dem Fach Chemie bekannt zu werden. Wir löstenZuckerstücke in kaltem und dann in warmem Wasser auf, undandere einfachere Dinge. Unsere Lehrerin erklärte die Prozesse aufdie notdürftige Weise, die wir verstehen konnten. Als wir schließ-lich in die Mittelstufe kamen, erklärte unser Chemielehrer in sei-nem ersten Zusammentreffen mit uns:

"Vergesst alles, was ihr in der Grundstufe gelernt habt!"Wir durften von vorne anfangen, mit dem periodischen Sys-

tem, mit Atomen und Molekülen, und wie das alles heißt. Bis zurOberstufe hatten wir einiges auswendigzulernen, und da begrüßteuns der neue Chemielehrer mit den Worten:

"Vergesst alles, was ihr in der Mittelstufe gelernt habt!"Wir durften wieder völlig von vorne anfangen. Ich fühlte

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mich danach nicht so geneigt, Chemie auf der Universität zu ver-suchen.

In jedem Abschnitt hatten wir Chemie mit Hilfe von Verein-fachungen gelernt - um uns die komplizierte Wissenschaft zugutezu führen. Wir brauchten diese Vereinfachungen, um schrittweisezu einem umfassenderen Verständnis von Chemie zu gelangen,das die fortgeschritteneren Thesen für uns begreiflich machensollte. Sicher wäre es schneller gegangen, sich direkt auf die äußer-sten Einsichten und jüngsten Errungenschaften der Chemie zustürzen, wenn uns das möglich gewesen wäre. Das war es abernicht. Die Vereinfachungen dienten uns als verständliche Etap-pen, aber wenn wir am früheren Wissen festgehalten hätten, sohätte unser Verständnis sich niemals auch nur einen Dezimetervertieft. Es war notwendig, dieses von uns zu werfen. Obwohl dasWissen auf seine Weise, in seiner Phase, richtig war, war es ausder Perspektive der neuen Phasen nichts als eine Fälschung.

So funktioniert also auch Aikido, wenn auch nicht immergenauso deutlich. Wer nicht das Können von vorhergehendenPhasen von sich werfen kann, versucht höhere Einsichten auffalschem Grund zu bauen. Das geht nicht.

Peter Spangfort. Foto: Binge Eliasson

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Man soll in seinem Lernprozess immer auf das Verständniszielen und das Wissen versickern lassen, wenn es auf natürlicheWeise danach strebt. Warum seine grauen Zellen so anstrengenwie die Oberarme beim Faustdrücken, anstatt sich zu entspannenund das Wissen Nutzen wirken zu lassen, bis es von selbst ver-fliegt? Man muss darauf vertrauen, dass das Gehirn das Wesent-liche behalten wird. Man behält die Formel und wirft das Beispielvon sich.

Im Aikido lernt der Anfänger, völlig aufmerksam auf seinenKörper zu achten, auf alle kleinen Details der Technik. Diese wer-den durch ständige Wiederholung im Training verfeinert, derkleinste Fehler wird verbessert. Bei all diesen Scherereien mit derkleinen Perspektive ist der Anfänger oft dessen unbewusst, was imgroßen Ganzen passiert. Während er die immergleichen Grund-techniken eins ums andere Mal übt, macht sich sein Körper undseine Sinne immer mehr auf natürliche Weise und unumstößlichdie wirklichen Gründe des Aikido zueigen. Die Haltung, dieAtmung, der Fluss von Energie und die erweitete Aufmerksam-heit - all das kommt unmerklich durch das Training zu ihm undwird ein selbstverständlicher Teil seines Wesens. Und das ist derKern des Aikido. Seine Bewegungen bekommen ein Zentrumund einen Fluss, seine Sinne werden offener und klarer - währendsein Gehirn mit all diesen Grundtechniken beschäftigt ist.

Dehalb muss er, wenn er in seinem Wesen mit dem Kernaller Techniken vertraut worden ist, diese von sich werfen. Ermuss sie vergessen, weil sie jetzt in ihm sind. Wenn er eineAikidotechnik benötigt, kann er sie unmittelbar neu erschaffen.

In modernen naturwissenschaftlichen Termen kann man sa-gen dass sein Aikido vom bewussten Denken, irgendwo in denGehirnwindungen, sich in die Reflexe des verlängerten Rücken-marks hinein verlagerte. Die Bewegungen beanspruchen keineBewusstheit mehr, sie gehen per Reflex. Der entspannte Geistagiert augenblicklich in einer Situation, auf die dafür geeigneteWeise. Man wirft sein Wissen fort und vertraut darauf, dass daseigene Innere und der eigene Körper wissen was getan werdensoll, und dass sie es dann richtig tun. Da hat man ein wirklichesKönnen erreicht.

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Järfälla. Foto: Magnus Hartman

Das ist der Weg des Aikido zum Verstehen, und er gilt füralle Budoarten. Nur wer wagt zu vergessen wird lernen, und jemehr man hinter sich zu lassen wagt, desto mehr wird man fin-den.

Können oder lernen

Wir stellen uns vor, dass die Errungenschaften der Naturwissen-schaften unumstößliche Wahrheiten sind, und dass sie in einemgleichmäßigen Schrittempo auf eine größere Klarheit über dasFunktionieren der Welt zumarschieren. So ist das aber keinesfalls.Ein Forscher mit Namen Thomas S. Kuhn legte die Entwicklungder Naturwissenschaften dar und stellte fest, dass sie überhauptnicht gleichmäßig und gerade ist wie die Bahn der Hundertmeter-läufer. Die Wissenschaften werden durch plötzliche Revolutionenweiterentwickelt, und in der Zeit zwischen diesen herrscht einenahezu nutzlose Stagnation.

Kuhn spricht von Paradigmen und Anomalien. Jede wissen-schaftliche Periode bekennt sich zu einem gewissen Paradigma,eine Art Grundgesetz dafür, wie Dinge innerhalb dieser Wissen-

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schaft funktionieren. Das Paradigma beschreibt also die Natur-gesetze, die jederzeit gelten müssen. Aber die Wirklichkeit weistAbweichungen von diesen Paradigmen auf. Sie werden Anoma-lien genannt und sind Phänomene, die sich nicht so verhalten wiesie sich dem geltenden Naturgesetz gemäß verhalten sollten.Anstatt dass man das Augenmerk auf diese Anomalien legt unddas Paradigma erneut prüft, stößt man sie ganz einfach beiseite.Sie werden von den Wissenschaftlern vergessen und negiert.Schließlich werden die Anomalien so zahlreich, dass sie sich nichtlänger verschweigen lassen. Da kommt es zu einer Revolution, dasParadigma wird auf den Müllhaufen geworfen und ein neues wirdformuliert, das die Anomalien erklären kann.

Schnell wird diese neue Ordnung befestigt und beginntihrerseits, die Anomalien zu überdecken, auf die sie unvermeid-lich stößt. Dieser periodische Prozess ist wie das Bauen einesHauses, das abgerissen und auf dem selben Grund neu gebautwird, immer und immer wieder. Kuhn fand heraus, dass dasGanze mit großer Regelmäßigkeit zu geschehen scheint. Inner-halb der Chemie, wenn wir schon dabei sind, geschieht das ineinem Abstand von ungefähr siebzig Jahren, so fand er heraus.

Aber warum diese uneffektive Trägheit, dieses Widerstreben,in diesem Tempel der Sachlichkeit und der gesunden Vernunft?Warum werfen sich die Forscher nicht neugierig über jede Ano-malie, sobald sie ihrer gewahr werden? Die Ursache ist natürlichsowohl einfacher als auch menschlicher als die Potentaten derWissenschaft es jemals zugeben wollen. Sie widmen einen großenTeil ihres Lebens darauf, sich Paradigmen anzueignen und allderen Konsequenzen und Beispiele auszuforschen. Sie wollennicht all das von sich werfen um von vorne anzufangen - und daaußerdem mit keinerlei Vorsprung gegenüber den jungenNovizen, die ihre Schüler sein sollen. Deshalb halten sie an ihremParadigma fest und pfeifen darauf, wie weit dieses sie mit der Zeitvon der Wirklichkeit wegführt. Sie schlagen Wurzeln im Ver-gangenen und versuchen, die Zukunft mit einem Bann zu bele-gen. Da sie an den Universtitäten und Forschungseinrichtungenherrschen, können sie auf diese Weise Veränderungen ein wenigverzögern, aufhalten jedoch können sie sie niemals. Ihr Kardinal-

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fehler ist, dass sie niemals lernen wollen, sie wollen können. Daskann im Aikido genauso leicht passieren.

Nun ist Aikido rund um die Welt nicht genauso homogen,nicht so kontrolliert wie die Naturwissenschaften, aber es isttrotzdem möglich, dass wir auch im Aikido Paradigmen, Anoma-lien und periodisch wiederkehrende Revolutionen erkennen kön-nen. Viele fallen in die lockende Falle dieses Könnens. Ich glaubeeigentlich, dass diese Personen schon von Anfang an darin fest-saßen. Ihre Teeschalen waren nicht voll, aber sie wollten sie soschnell wie möglich füllen und dann einen Deckel darauf legen.Sie können niemals überrascht werden, niemals etwas andereserreichen als das, was sie sich schon vom Anfang an vorstellenkonnten. Dann beeilen sie sich damit, laut und durchdringendihr Wissen über allen auszuschütten, als wollten sie ihr Paradigmaerneut verhärten und sich vor Anomalien schützen.

Wer wirklich lernen will, macht es anders. Wenn ihm je-mand etwas zeigt, vergleicht er es nicht zuerst mit seinen eigenenEinsichten um das Neue bei Nichtübereinstimmung zu verwer-fen. Er versucht zu verstehen, auf welche Weise das, was ihmgezeigt wird, stimmen könnte. Der Grund liegt wohl in positivgegenüber negativ. Wenn man mit etwas Fremdem konfrontiertwird, sollte man sich zuerst fragen, wie das stimmen könnte, wiedas richtig sein könnte - und nicht sofort bei der ersten Diskre-panz aufstehen und rufen: "Das ist unmöglich!"

Vieles am Aikido kann am Anfang völlig verrückt wirken -etwa dass man den ganzen Körper vom Schlag wegdreht anstattsich ganz einfach zu ducken, oder dass man alle Muskeln ent-spannt, um sich aus einem harten Griff zu befreien anstatt sichloszureißen. Das hält man am Anfang für falsch, es ist da auch ingewisser Weise falsch, aber es wird mit der Zeit immer richtiger.Man lernt. Wenn man immer lernen will, ist man offen für neueLösungen und hat deshalb keine Angst vor neuen Schwierig-keiten. Man gibt sich nicht damit zufrieden, immer und immerwieder nur die Techniken zu trainieren, welche man beherrscht,sondern man vergisst sie und geht weiter in Richtung aufBereiche des Aikido, in denen man sich am allerunsicherstenfühlt. Wenn ein Problem auftaucht, wenn etwas plötzlich nicht

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funktioniert, steigt die Lust daran, zu probieren und wieder zuprobieren. Da kommt die Lösung.

Ein Beispiel ist, wenn man Aikidotechniken an völligenAnfängern ausführen soll. Die angenehmen Bewegungen werdenoft angespannt, runde Formen werden kantig, und plötzlich funk-tioniert eine Technik an einem Anfänger überhaupt nicht, soleicht man sie auch an anderen ausgeführt hat. Das beruht meistdarauf, dass der Anfänger falsch angreift - zum Beispiel passiv, wiejemand, der es nicht ernst meint, oder steif, wie jemand der weiß,dass er nichts riskiert. Trotzdem darf man die Schuld nicht nurdem Anfänger zuschieben und sich dann beeilen, zu anderenTechniken überzugehen, oder sich aus demselben Grund mit derplumpen, unharmonischen Ausführung der Technik zufrieden-geben. Die Gelegenheit muss genutzt werden. Hat der Anfängerwirklich falsch angegriffen, und in diesem Fall: auf welche Weisefalsch? Ist es möglich, ein harmonisches Aikido auf diesem Angriffauszuführen, obwohl er fehlerhaft ist, und in diesem Fall wie?

Aikido hat die Eigenheit, dass es am besten bei den besten,geschicktesten und entschlossensten Angriffen funktioniert. Dasbedeutet jedoch nicht, dass Aikido bei einem schlechteren An-

Toshikazu Ichimura, iaido, Järfälla 1973. Foto: Stefan Stenudd.

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greifer hilflos ist. Aikido muss auch den weniger guten Angriffhantieren können. Erst wenn man das gelöst oder einen Weg zurLösung gefunden hat, kann man weitergehen und den Angriffkorrigieren. Anders wird jeder Aikidoka schnell gefangen inBegrenzungen und Bedingungen seiner Kampfkunst, wie im Netzeiner Spinne. Wer können will, beginnt immer damit, andere zukorrigieren, wer hingegen lernen will, korrigiert zuerst sich selbstund dann - wenn das gewünscht wird - seinen Partner.

Die Welt ist voll von Sprichworten wie "je klüger man wird,desto weniger weiß man", "je mehr man lernt, desto mehr gibt eszu lernen" und so weiter. Obwohl an diesen Worten nichts falschist, so geschieht es leicht, dass sie nichts weiter als leere Wortebleiben. Gewiss lernt man Dinge, gewiss gibt es etwas, das manweiß. Und wenn man seine Sinne auch nur ein wenig beisammenhat, so müsste das mit den Jahren mehr und mehr werden. Nein,das eigentlich Kluge wäre, darauf zu vertrauen, dass man weißwas man weiß, und deshalb ständig gewillt und bereit zu sein,dieses Wissen in Frage zu stellen. Der Mensch hat eine großeMenge Gehirnzellen und außerdem, tief in seinem Inneren, einenRadar, der unfehlbar die Wahrheit erkennt und das Erkennensignalisiert. Es liegt keine Gefahr darin, das Unbekannte aus vol-lem Herzen zu prüfen, sich für widerstreitende Erklärungen zuöffnen. Nur wenn man es immer so macht, weiß man, dass dieeigenen Wahrheiten wirklich standhalten.

Diejenigen, die an ihrem Können mit hartem Griff festhal-ten, bekommen verständlicherweise mit der Zeit Beschäftigungs-probleme. Da sie sich gegen Neues und gegen Veränderungensperren, müssen sie die Zeit mit etwas Anderem füllen. Um denGefahren der Qualität zu entgehen, wenden sie sich der Quantitätzu. Sie steigern die Anzahl der Beispiele für ein und das selbeParadigma.

In sämtlichen Budoarten gibt es Katas, eine Trainingsformmit Bewegungen in einem vorherbestimmten Muster. Traditionellist das eine gute Methode, um sich mit maximaler Konzentrationund Sorgfalt in den Gründen der Kampfkunst zu üben. Man trai-niert seine Kata bis zur Perfektion und findet gerade in der unauf-hörlichen Wiederholung den Schlüssel zu einer anderen Art In-

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Brandbergen 1982.

spiration, einer anderen Ebene des Bewusstseins in der Aus-führung. Doch sicher können Katas auch eine reine Formsachewerden. Es gibt eigentlich keinen besonders schwer wiegendenGrund dafür, mehr als eine Kata zu lernen, wenn diese nur für ihrZiel gut komponiert ist. Je mehr Katas man kennenlernt und zumemorieren versucht, desto größer ist das Risiko, sich in ihrerVielzahl zu verlieren. Man gewinnt Stolz daraus, sie alle zubeherrschen, und gleichzeitig sind es so viele, dass man keinedavon zur Zufriedenheit trainieren kann. Katas in einer solchenMenge öffnen keine Tore. Sie werden nur zu einer gewaltigenMenge Techniken.

Deshalb ist in jeder Budoart die Anzahl der Grundtechnikenstreng begrenzt - die Anzahl Variationen jedoch, die natürlich ausdem Augenblick geboren werden, ist riesig. Wenn die Grundtech-niken zu zahlreich werden, bleibt die Aufmerksamkeit der Trai-nierenden am Technischen haften und ihr Budo wird nie leben-dig.

Im Aikido schreitet man dadurch fort, dass man sich voll-ständig auf das konzentriert, was man im Augenblick tut, um esdann von sich zu werfen, zu vergessen, und sich vollständig auf

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das Nächste zu konzentrieren. Es geht darum, im Jetzt zu sein.Gerade deshalb, weil man nichts in sich ansammelt, gibt es keineGrenze dafür, wieviel man lernen kann.

Hier und jetzt

Im Kyudo, dem japanischen Bogenschießen, ist es unangebrachtfür den Anfänger, mehr als einen Pfeil in seinem Köcher zu ha-ben. Sonst geschieht es leicht, dass er, wenn er mit dem erstenPfeil zielt, schon an den nächsten denkt. Man muss voll und ganzauf das, womit man beschäftigt ist, auf das, in dem man steckt,konzentriert sein. Demjenigen, der sich von dem, was vorhergeschah oder dem, was später kommt, zerstreuen lässt, fällt esschwer, die Zielscheibe zu treffen.

Das gilt selbstverständlich für alles, was man sich vornimmt.Wer dabei ist, etwas zu lernen, macht auf dem Weg unvermeid-lich viele Fehler. Wenn man sich von diesen beunruhigen lässt,hat man es doppelt so schwer, sie hinter sich zu lassen. Eineschlechte Leistung muss vergessen werden, damit sie den Aus-übenden nicht entmutigt. Ebenso kann eine gute Leistung sogarfür den Routiniertesten zum Hindernis werden, wenn er sichnämlich Sorgen macht, ob es möglich ist, sie zu wiederholen.

Für den optimistischen Anfänger ist es am üblichsten, dass ereifrig Pfeile abschießt, in der Überzeugung, dass der nächste nochbesser wird und der danach besser als jener. Er wird also ein strah-lender Bogenschütze sein - in der Phantasie. Will er das auch inder Wirklichkeit sein, so ist es am besten, den Köcher zu leerenund zu lernen, sich auf einen Pfeil nach dem anderen zu konzen-trieren.

Das ist nicht nur eine pädagogische Finte, sondern eingrundlegendes Prinzip der östlichen Kultur. Im Shintoismus, deralten japanischen Religion, entspricht das Wort nakaima ungefährdem christlichen Begriff Paradies. Nakaima ist aus zwei Wörternzusammengesetzt: hier und jetzt. Wer ausschließlich hier undjetzt leben kann, genau da, wo er sich befindet, still halten kann

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und sich nicht von etwas anderem ablenken lässt, der hat gewisseinen paradiesischen Zustand erreicht.

Im Budo ist das so gut wie identisch mit der Leere. Wennman das Vergangene, die Zukunft und alle anderen Orte außerdem, an dem man sich befindet, vergessen kann, wird man leer.Alles was geschieht - auch das, was man selbst tut - sind Über-raschungen. Deshalb kann man nicht von etwas überrumpeltwerden, nichts kann einem zuvorkommen. Man ist augenblick-lich in allem.

Bei den Samurais in der Geschichte Japans gab es ein grund-legendes, teilweise aus dem Zen entlehntes, Prinzip, wie man derGefahr begegnen solle. Sie meinten, man solle sich mit der Atti-tüde ins Duell begeben, dass man bereits tot sei - da könne mannicht verlieren. Wer hart am Leben festhält, den lähmt seineAngst, dieses zu verlieren, und er wird deshalb geschlagen. Wennman statt dessen zu sich sagen kann, dass alles schon vorbei ist,dass man schon tot ist, so kann man von nichts abgelenkt werden.Man ist hier und jetzt, völlig voraussetzungslos. Man ist leer, unddamit kann man unmöglich überlistet oder überrumpelt werden.

Wenn man in Kendo oder Iaido lernt, mit dem Schwert zuschlagen, oder in Karate mit der zur Faust geballten Hand, ist esam besten zu sich selbst zu sagen: es ist schon vorbei. Da wähltder Körper, das innerste Wesen, den besten Augenblick für denHieb oder Schlag, und man wird selbst genauso überrascht wiesein Partner. Gegen solche Hiebe und Schläge kann man sich nurmit der selben Form von Leere wehren.

Welche Technik man auch ausführen soll, in welche Situa-tion man auch gelangt - wenn man fühlen kann, dass alles bereitsgetan, bereits vorbei ist, da kann man nichts aufhalten oderändern. Solches Aikido ist in seiner Natur so, als würde es garnicht vom Aikidoka ausgeführt, sondern von etwas anderem,höherem. Wagt man auf dieses Höhere zu vertrauen und seineHandlungen diesem zu überlasen, so bekommt man wahrhaftigein Aikido, das niemandem und nichts trotzt und hingegen Fri-eden schafft. Es ist eins mit dem Natürlichen.

Das ist wiederum nicht so leicht auszuführen wie zubeschreiben. Aber es ist den Versuch wert, wie lange es auch

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dauert, dahin zu gelangen. So lange sind wir jetzt auf der Erdegewandert, nun muss es genug sein mit Siegen, die die Niederlageanderer erfordern, mit einem Fortschritt, der auf dem Rückenvon anderen ausgetragen wird, genug mit Menschen, die auf Kos-ten anderer leben. Es ist eine Lebenszeit wert zu versuchen, eineandere Art und Weise des zwischenmenschlichen Handelns zufinden, eines, das nicht schadet, das nicht den einen belohnt undseinen Tribut vom anderen fordert. Wenn man sich dieses Idealaneignet, bekommt man langsam ein Aikido, das nicht nur aus-sieht wie Tanz - es wird Tanz. Ein Tanz von Begeisterung undLebensfreude, eine spielerische Weile.

Gemeinsame Fahrt

Im Buddhismus spricht man von Hinayana und Mahayana alsden zwei Wegen zum Heil. Die Wörter bedeuten etwa der kleineWagen und der große Wagen. Das spielt an auf die Fahrt desMenschen von der Verwunderung und dem Suchen zur Erleuch-tung, zur großen Gewissheit.

Hinayana ist, sich einsam in den Wagen zu setzen und zuseinem Ziel zu reisen. Das war das Gewöhnlichste im indischenAltertum. Wenn sie das mittlere Alter erreicht hatten, verließenviele Männer Haus und Heim, ihre Frau und die großgewor-denen Kinder, um den Weg zu einer größeren Wahrheit, zumSinn des Lebens zu finden - bevor es an der Zeit war, dass dasLeben sie verließ. Für diese Männer waren Ewigkeit und Wahr-heit Größen, die nur von einem einzelnen Menschen, von seinemunheilbar einsamen Selbst angetroffen werden konnten.

Mahayana war stattdessen wie eine Gruppenarbeit. MehrereMenschen, die alle den Sinn von all dem hier finden wollten,wurden in einem Wagen gesammelt und begaben sich auf einegemeinsame Fahrt. Sie konnten einander dabei Unterstützung,Rat und Hilfe auf dem Weg geben. Ja, sie waren sicher darin, dassso große Wahrheiten, wie sie sie suchten, nur durch die gemein-same Anstrengung mehrerer Menschen erreicht werden konnten.

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Åsa Scherrer und Urban Aldenklint. Foto: Magnus Hartman.

Der Einsame geht in die Irre, so meinten sie, aber die Gruppeleitet ihre Mitglieder recht.

Sicher kann man wohl eine allgemeingültige Wahrheitirgendwo in der Mitte zwischen beiden Wegen finden - aberwährend die selbstgewählte Einsamkeit die Unterstützung undHilfe der Gruppe ausschließt, ist auf der gemeinsamen Fahrt dieindividuelle, private Erfahrung nicht unmöglich. Es scheint mir,dass Mahayana automatisch eine Kombination von beiden Wegenwird. Obwohl zugegeben werden muss, dass eine Gruppe - dashat die Geschichte oft bewiesen - genau so hoffnungslos in dieIrre gehen kann wie ein einsamer Reisender. Es ist auch manch-mal so, dass ein Suchender es schwer hat, Gleichgesinnte zu fin-den, die im Wagen Platz nehmen könnten. Wenn es um diegroßen, ewigen Fragen des Daseins geht, gibt es keine Garantien.

Budo ist auf jeden Fall ausgepräges Mahayana. Man fährtzusammen. Wer glaubt, dass die Trainingskameraden nur gelie-hene Werkzeuge für die eigene Entwicklung sind, kann auf demWeg nicht viele Schritte machen. Man muss einander aus ganzemHerzen helfen und voneinander lernen, in einem ständigen Fluss

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zwischen Mensch und Mensch. Man spricht im Budo vom Spie-gelbild. Der Partner ist ein Spiegelbild meines Aikido und meinerGeistesverfassung, die Schüler sind ein Spiegelbild der Einsichtenund des Könnens ihres Lehrers.

Es ist eine alte Weisheit, dass man einen Lehrer nach seinenSchülern beurteilen soll. Auf diese Weise kann man sowohl wirk-liche Größe als auch peinliches Ungenügen erkennen. Ebenso istkein Ausübender besser als er es mit dem am wenigsten fähigenPartner zu sein vermag. Harmonie, Eleganz und Natürlichkeitsollen die Bewegungen des Aikido auszeichnen, mit wem immerman sie ausführt. Man bedient sich der Techniken keinesfalls, umeinen Sieg zu erringen, sondern um sowohl sich selbst als auchseinen Partner in Harmonie und Natürlichkeit zu üben. Wenndie Technik ausgeführt wurde, sollen beide sich bereichert fühlen.Mit fortgesetztem Training sollen beide der Wahrheit näher kom-men. Wer mit der Absicht zum Dojo kommt, nur an seinereigenen Entwicklung zu arbeiten, hat es schwer, etwas zu lernen,er wird mit einer solchen Einstellung viel zu blind, um dieeigenen Mängel zu erkennen oder eine bessere Weise für die Aus-führung seines Aikido zu ahnen. Er steht still, und wer mit ihmtrainiert, fühlt Unbehagen.

In alten Zeiten wurde eine solche Einstellung als Budo desTodes bezeichnet. Man kann damit gewiss lernen, seinen Partnerzu verletzen und den einen oder anderen Kampf zu gewinnen,aber nicht, dem Partner Leben, Lust und Wohlbehagen zu schen-ken. Man wird eine allzu harte Klinge, die eines Tages brechenmuss. Wer in seinem Training den Gedanken an Selbstvertei-digung nicht aufgeben kann, den Traum davon, unüberwindlichzu sein, fällt in diese Falle.

Ebenso im Geist des Mahayana liegt die Einsicht, dass Aikidonicht etwas ist, das man kaufen oder erobern kann - manbekommt es als Geschenk. Aikido ist eine Gabe - von dessenGründer, Morihei Ueshiba, von seinen Vorgängern und Nach-folgern, von den Lehrern, mit denen man selbst trainiert hat undvon allen Trainingskameraden. Die einzige Möglichkeit, die manhat, diese Gabe zu vergelten, ist, dass man sie weitergibt, anderenschenkt, egal ob man das als Lehrer oder als Partner macht. Da-

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Foto: Magnus Hartman.

rin ist kein Platz für Eigensinn. Als Partner soll man danach stre-ben, seinem Trainingspartner alles zu geben, was er braucht, undals Lehrer, seinen Schülern alles zu geben, was man vermag. Fürden Schüler soll es wichtiger sein, dass der, mit dem man trainiert,etwas lernt und sich entwickelt, als dass man das selbst tut, undfür den Lehrer das selbstverständliche Ziel, dass seine Schüler ihnin ihrer Entwicklung überholen und über ihn hinauskommen.

Mahayna beinhaltet, dass, solange nicht alle eine gewisseHöhe erreicht haben, diese eigentlich von niemandem erreichtwurde.

Die Sache mit der Selbstverteidigung

Die östlichen Kampfkünste haben eine Aura um sich, die nicht inallen Teilen sympathisch und auch nicht erstrebenswert ist. Schonals der gewaltige Oddjob im James Bond-Film Goldfinger Möbel-einrichtungen mit "Karateschlägen" zertrümmerte, setzte dasGanze in Gang - oder vielleicht noch früher, mit Viking Cron-holms Buch "Jiu-jitsutricks: das japanische System für Selbstver-teidigung", das am Anfang des 20.Jahrhunderts herausgegeben

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wurde. Wie es immer mit dem Unbekannten ist: die Gerüchteum dem geheimnisvollen Trick, der einen kleinen Mann befähigt,einen großen Kerl zu Fall zu bringen, bekamen gewaltigen Auf-wind. Seit man im Westen Budoarten trainiert, sind sie immerauch ein Anziehungspunkt für temperamentvolle Personengewesen, die lernen wollten, wie man sich prügelt. Das ist nichtdie meist wünschenswerte Personengruppe.

Aikido ist bis jetzt angenehm verschont geblieben von sol-chen Gerüchten und solcher Art des Zulaufs. Wenn grimmigeMenschen einem in entspanntem und freundschaftlichem Geistdurchgeführten Aikidotraining zuschauen, verlieren sie dasInteresse und suchen andere Sportarten auf. Meist haben sie nichteinmal Geduld, während der Aufwärmübungen sitzen zu bleiben.Sie gehen, bevor das eigentliche Aikidotraining beginnt.

Eigentlich erst in den späten 80er Jahren des 20.Jahrhun-derts, mit Steven Seagal und seinen gewaltsamen Abenteuerfil-men, nahm Aikido Eintritt in die Welt der weißen Leinwand undder Prügelei. Dazu muss man sich ziemlich bedenklich verhalten.Seagals Aikidovorführungen im Abenteuerfilm haben nicht vielgemeinsam mit dem Geist und dem Ideal des Aikido.

Nunja, sonst ist Aikido mehr als eine Form von graziöserGymnastik bekannt denn als Selbstverteidigung und Kampf-kunst. Sicher ist das geruhsam für den Ruf des Aikido, aber auchein wenig irreführend. Aikido ist, für den der das wissen will, einehöchst effektive Selbstverteidigung. Anders wären seine Prinzi-pien fehlerhaft, seine Bewegungen falsch ausgerichtet, und dasganze Training nur ein massiver Selbstbetrug.

Das Charmante am Aikido ist, dass die, welche es trainieren,kein besonders großes Vertrauen in Aikido als Selbstverteidigunghaben. Statt dessen stellen sie fest, wie schwer es ist, wie un-zureichend ihr eigenes Vermögen ist, und sie können sich nichtvorstellen, dass sie bei einer wirklichen Bedrohung eine Aikido-technik ausführen könnten. Diejenigen, welche in solchen Situa-tionen landeten, berichten dagegen mit aufrichtiger Verwun-derung, wie sie sich reflexmäßig mit der und der Aikidotechnikverteidigten, und wie verdutzt sie waren, als diese ganz ausge-zeichnet funktionierte.

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Generell ist es faktisch so mit Aikido, dass die Technikenbedeutend leichter an einem unvorbereiteten Partner als an denTrainingspartnern im Dojo durchzuführen sind. Die letzterensind ja vorbereitet auf das, was geschehen wird und haben gelerntzu widerstehen. Aber Aikido ist so konstruiert, dass es den ges-chicktesten Gegner neutralisiert, und das selbe gilt für die Kampf-künste, aus denen Aikido sich entwickelt hat. Wenn diese Tech-niken und Methoden nicht funktioniert hätten, hätte man sieschon lange vergessen. Man kann also zu einem gewissen Gradsagen, dass sich das traditionelle Budo ungefähr nach dem dar-winistischen Prinzip der natürlichen Auswahl herausgebildet hat.Die Ausüber unterlegener Disziplinen überlebten ganz einfachnicht.

Wenn die Bewohner des Westens sich beeilen, die altenBudoarten zu rationalisieren und zu verändern, vergessen sie dielange Entwicklung. Wie soll ein einzelner Mensch klüger sein alsdie Erfahrung von unzähligen Menschen im Lauf der Jahrhun-derte? Es ist also klar, dass Aikido funktioniert.

Und trotzdem tut Aikido als Selbstverteidigung vor allem imVerborgenen Nutzen. Lang bevor der Trainierende das Gefühl

Ulf Evenås und Morihiro Saito, Iwama. Foto: Jöran Fagerlund.

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hat, dass seine Techniken ausgefeilt sind, hat er schon eine deut-lich bessere Balance und Standfestigkeit gewonnen als zu Beginnseines Trainings, er ist reaktionsschneller geworden und hatgelernt, seine körperlichen und mentalen Ressourcen effektiverauszunutzen. Solches Können ist nicht offenbar, aber trotzdemäußerst wirklich und bedeutungsvoll.

Wenn Raubtiermännchen sich miteinander um ein Weib-chen oder um ein Revier schlagen, kommt es selten vor, dass sieeinander ernsthaft Schaden zufügen. Sie kennen ihre Ressourcenund wissen, wann sie aufhören müssen. Tauben hingegen habennicht die selbe Beherrschung. Sie können einander gut aufgrundder trivialsten Uneinigkeit tothacken, weil sie ihre Kraft nichtkennen. Diejenigen welche eine Budoart trainieren, werden in derRegel aus dem selben Grund friedfertig. Sie wissen die Kraft unddie Wirkungen der Gewalt zu respektieren und wollen nichtsmehr, als diese zu verhindern. Sogar Heißsporne werden gewöhn-lich durch das Training und das Können, das sie dadurch gewin-nen, bedeutend abgekühlt.

Das Wesen des Aikido ist Frieden und Wohlwollen, damitwird es schwer für den Lernenden, einen kriegerischen Sinn zubewahren. Mit der Entwicklung des Könnens wächst auch dieFriedfertigkeit und die Abscheu vor aller Gewalt. Ich glaube auch,dass einer, der diese Entwicklung in seinem Inneren durchge-macht hat, andere selten zum Angriff ermuntert. Friedfertigkeitist genauso ansteckend wie Aggressivität, und vielleicht - hoffent-lich - noch mehr.

Als die Japaner ihre jutsu zu do machten, war dies eine derzentralen Absichten. Aus den kriegerischen Künsten der Samuraiswollten sie den friedlichen Inhalt herausdestillieren. Sie solltenWege zu einer höheren Religiosität und Reinheit werden - ihremunsprünglichen Ziel entfernt. Japanischen Augen ist alles andereein Greuel. Aggressivität ist vulgär, Herausforderung und Trotzsind simpel. Wer sich auf eine wahre Kampfkunst konzentriert,hat keinen solchen Wunsch. Er sucht den Frieden und meidet dieGewalt.

Deshalb ist Aikido als Selbstverteidigung nicht ein Mittel,um als Sieger aus einem Kampf hervorzugehen, um Herr im

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Haus zu werden. So etwas schlägt Wunden, die Zeit brauchen umzu heilen und tut sowohl dem Betroffenen als auch dem Verur-sacher weh. Aikido soll verhindern, dass ein Streit überhaupt auf-kommt, ihn abwenden, auch wenn der Angriff schon eingeleitetwurde.

Sicher klingt das wie eine utopische Vision - das ist es auch.Man kommt nicht in der Kürze des Moments dorthin. Aberschon lange bevor die Entwicklung des Aikido dort angekommenist, ist es als Selbstverteidigung milder als viele seiner Kollegen,und erweist sich damit damit faktisch nur an Effiktivität über-legen.

Wohlbehagen

Ich habe jetzt ziemlich viel darüber geschrieben, welche Einstel-lung, Attitüde und Methode die fruchbarste ist, um Fortschritteim Aikido zu machen. Aber eine Frage drängt sich auf: warumsoll man Aikido überhaupt lernen? Das ist eine in höchstem Gradberechtigte Frage. Wenn man nicht irgendeine Antwort darauf insich trägt, glaube ich kaum, dass man besonders lang in einemDojo bleibt. Man braucht ein Motiv.

Es gibt eine Reihe Argumente für Aikido, auf verschiedenenEbenen. Das unmittelbarste ist die Bewegung und der Nutzen,die diese für den Körper hat. Man lernt auch, besser mit seinenGliedmaßen, seiner Haltung und seinem Gleichgewicht um-zugehen. Selbstverteidigung ist auch eine denkbare Motivation,auch wenn ich bis jetzt noch keinen einzigen Aikidoka getroffenhabe, der der Meinung ist, dass dieses Argument schwer wiegt.Beim nächsten Schritt stößt man auf die lebensspendende Ener-gie, Ki, und dass man tanden findet, das Zentrum des menschlic-hen Körpers. Aber all das könnte genauso gut ein Kalbsteak sein,das weit weg von uns in unerreichbarer Höhe am Himmelschwebt, vielleicht sogar ein Schwindel, wenn nicht auch der Wegzum Erwerben all dieser Vorteile eine Anziehungskraft hätte.

Ich glaube, dass keines der großen Ziele in Wirklichkeit

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etwas wert ist, sondern dass es vor allem um das befriedigendeGefühl geht, das man empfindet, wenn man Aikido übt. DerWeg ist das Ziel, und wenn der Weg nicht in sich selbst Beloh-nung genug ist, dürfte die Zukunft auch nicht mehr zu bietenhaben. Es soll vom ersten Moment an auf eine andere Weisebefriedigend sein, Aikido zu trainieren. Wer dieses Gefühl nichthat, dem will ich gleich empfehlen, sich nach einer anderen Be-schäftigung umzusehen.

Natürlich ist die Befriedigung ihrer Natur nach reich nuan-ciert, und meist unerklärlich. Aber sie ist immer unbestreitbar,vernehmbar für jeden einzelnen. Entweder ist sie da oder nicht.Man braucht keinen Meister, der einem sagt, wie das eigentlich ist- wenn man nichts empfindet, dann gibt es da nichts für einen zufinden. Die einzigen, die etwas anderes behaupten, sind solche,die sich zu Herren über das Leben anderer Menschen machenwollen. Sie behaupten etwas zu wissen, was sie nicht zeigen kön-nen und etwas zu verstehen, was sie nicht erklären können. Siebluffen.

Dass es drei Jahre dauert, um sowohl seine eigenen als auchdie Qualitäten des Lehrers zu erkennen, bedeutet nicht, dass mangenauso lang warten muss, um entscheiden zu können, ob dielange Zeit einem etwas gibt. Obwohl es einige Zeit dauern kann,bis man den Inhalt zur Gänze erfassen kann, so dauert es keineSekunde, bis man ihn wahrnimmt. Man fühlt unmittelbar, tief insich selbst, ob es da etwas von Wert für einen gibt. So kann mansofort entscheiden, ob man dabei bleiben oder weitergehen will.Diese innere Ahnung ist die einzige zuverlässige Motivation. Es istbesser, an dieser Wahrnehmung festzuhalten, selbst wenn sie zueinem unaufhörlichen Aufbruch und Abschied führen sollte, alssich selbst in der Sklaverei von Denkbarheiten und eines Raison-nements über Nutzen zu verstricken.

Die selbe innere Ahnung soll während des Trainings vorhan-den sein, wie lang man auch dabei bleibt. Und obwohl es manch-mal aufreibend, vielleicht schmerzlich oder schrecklich monotonsein kann, führt diese Ahnung ein Gefühl von Wohlbehagen mitsich. So lang man Wohlbehagen empfindet, ist man auf demrichtigen Weg. Das Wohlbehagen ist seiner Natur nach etwas

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ganz anderes als zum Beispiel Genuss, Ehrgeiz, Stolz oder Nutzen.Das Wohlbehagen ist demütig und generös. Es verbirgt sich vordem, welcher schnöden Gewinn sucht, aber es übergeht niemalsden, welcher es gut meint. Es zeigt nicht nur einen gangbarenWeg - denn es gibt viele solche - sondern den schönsten Weg, dersogar die Götter selbst zum Lächeln bringt.

Ich glaube, dass der, welcher in seinem Training kein Wohl-behagen empfindet, etwas falsch macht, wer es aber fühlt, wirdentdecken, dass nicht nur sein Traininspartner das selbe erlebt,sondern die ganze Umgebung. Eine andere Motivation ist kaumerforderlich, eine andere Belohnung kaum erstrebenswert.

Nobuyoshi Tamura. Foto: Magnus Hartman.

Enighet. Foto: Stefan Stenudd.

Die Grundlagen des Aikido

Aiki taiso, Brandbergen. Foto: Gunilla Welin

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Do - der Weg

Das Wort Aikido besteht aus drei Begriffen, von denen jeder fürsich genommen gelinde gesagt komplex ist - ai, ki und do. Dererste bedeutet ungefähr Harmonie oder Vereinen, der zweite stehtfür die Lebensenergie, die kosmische Grundkraft, und der drittebedeutet Weg. Am besten versteht man deren zusammengenom-mene Bedeutung dadurch, dass man sie in rückwendiger Reihen-folge liest: Der Weg durch Lebenskraft zur Harmonie.

Aber das ist ja auch das reinste Chinesisch, wenn man so sa-gen darf. Man muss eine Weile bei jedem Wort verweilen. Wirbeschließen wieder zurückzugehen und beginnen mit do, Weg.

Das Zeichen für do ist eine Kombination von zwei Bildern -einem Kopf und dem Zeichen für vorwärts gehen - also einfachausgedrückt der Vorwärtsmarsch des Kopfes. Mit westlichenBegriffen: mentale Entwicklung. Hier ist also viel mehr gemeintals nur eine abgemessene Strecke zwischen zwei Punkten. Eshandelt sich nicht um einen x-beliebigen Weg, wenn auch dasZeichen in so profanen Zusammenhängen wie eben für die Kenn-zeichnung ganz gewöhnlicher Straßen und Wege benutzt werdenkann.

Es kann bereichern, wenn wir das Schriftzeichen näher anse-hen - ein so genanntes kanji, womit die Japaner die komplizierteBildschrift bezeichnen, die ihren Ursprung in China hat. DasKanjizeichen für do besteht wie gesagt aus zwei Teilen, wobei derTeil, der einen Kopf symbolisiert, seinerseits aus dem Zeichen fürein Auge und dem, was eine Augenbraue darstellen soll, der Um-gebung des Auges also, besteht. Dass das Auge damit als daswesentlichste Organ des Kopfes gilt, ist nicht ungewöhnlich fürdas östliche Denken, man findet es auch im Westen zum Beispielin der Aussage der Perzeptionspsychologie, dass wir mehr auf denGesichtssinn vertrauen als auf jede andere Sinneswahrnehmung,dass der Seheindruck klar unsere Erfassung der Umwelt domini-ert.

Das Zeichen für vorwärts gehen, oder sich vorwärts bewe-gen, besteht aus zwei Teilen - einem Fuß und dem, was nach

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Das Schriftzeichen für do, Weg, Kalligraphie des Autors.

Ansicht des großen Sinologen Bernhard Karlgren in einer älterenForm das Zeichen für Mensch war, also der Mensch, der seinGewicht auf einem Fuß hat, ein elegantes Symbol für den Schritt,der dadurch zustande kommt, dass man seinen Schwerpunkt aufden einen Fuß verlagert, um den anderen vorwärts bewegen zukönnen. Das ist auch deshalb interessant, weil das die Aufmerk-samkeit auf denjenigen Fuß legt, der nach landläufiger Meinungdie geringere Bedeutung hat - für uns wäre es wohl natürlicher,den Fuß hervorzuheben, der hochgehoben und nach vornegestreckt wird als den, auf den der Körper sich in dem Momentstützt. Man soll also an die Bedeutung erinnert werden, die darinliegt, dass man standfest im Fuß ist, wenn man sich vorwärtsbewegt, wenn man nach vorne eilt.

Zusammengenommen hat das Zeichen eine Menge zu sagen- der Mensch kann mit seinem Denken vorwärtskommen, wenner die Augen anwendet und in seinem Vorwärtsgehen Festigkeithat. Es handelt sich also auch um Bedächtigkeit, um Vorsicht -das Auge, das wahrnimmt und der Fuß, der schwer auf dem Bo-

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den ruht. Das ist mit anderen Worten ein Weg, der sich genausogut an einem einzigen Ort abspielen kann. Ich will das mit einemHirschen vergleichen, der mitten im Sprung innehält, in alleRichtungen wittert, hellhörig, angespannt, um dann plötzlich ineine neue Richtung loszuspringen. Die Scheu und Schnelligkeitdes Hirschen sind beträchtlich, und wenn er sich in Bewegungsetzt, so tut er das mit einer gewaltigen Geschwindigkeit. Aber indem einen Augenblick steht er wie festgefroren. Festgefroren abertrotdem voll von Bewegung, ungefähr wie wenn ein Film mittenin der Rolle angehalten wird.

So steht auch der Mensch, von Zeit zu Zeit aufgehalten inseinem Laufmarsch durchs Leben, verwundert darüber, welchesdie beste Richtung ist. Wir brauchen vielleicht kein deutlichausgewiesenes Ziel, aber wir müssen eine Richtung haben, umuns bewegen zu können und um durch den Lauf des Lebensüberhaupt irgendwohin zu gelangen. Der Weg, den das Zeichenbeschreibt, ist vor allem der Weg der geistigen Reise des Men-schen - hin zum Vollkommenen, zur Erleuchtung oder was fürein sublimes Ziel wir uns vorstellen können.

Mehr als zweitausend Jahre ist dieser Weg ein Begriff imOsten gewesen. Das Schriftzeichen ist chinesisch, wo es tao heißt(oder dao in der modernen Schreibweise) und spielt einebedeutende Rolle in den ältesten Urkunden der chinesischenPhilosophie. Am deutlichsten ist das im Tao te ching, dem Buchüber den Weg und die Tugend, das einige Jahrhunderte vorunserer Zeitrechnung entstanden ist. Diese Abhandlung über dasLeben in 81 Versen soll von Lao tse geschrieben worden sein, undes bildet die erste Quelle sowohl des philosophischen als auch desreligiösen Taoismus.

Im Tao te ching ist der Weg etwas viel Größeres als bloß derKurs des Menschen durch das Leben. Er ist selbst die Ordnungund steuernde Kraft des Universums. Alles was existiert, "diezehntausend Dinge", folgt natürlich diesem Weg, wie die Elektro-den um den Atomkern kreisen oder wie das Wasser im Flussbettfließt. Der Weg ist die große Ordnung der Natur, und es gab ihnschon, bevor das Universum erschaffen wurde. Lao Tse zufolgehat der Mensch die freie Wahl: entweder er beugt sich dieser Ord-

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nung des Lebens, und das Schicksal wird ihm gnädig sein, oder ertrotzt dieser Ordnung und leidet damit viele unvermeidlicheQualen. Wer in Einheit mit dem Weg lebt, hat Tugend.

Der Weg des Taoismus ist so großartig, dass er ein so gut wieunbeschreibliches Mysterium wird. Er steht über und hinterallem - nicht einmal wie ein höchster Gott, sondern als das Prin-zip dem auch die Götter folgen müssen. Der erste Vers des Tao teching lautet:

Das Tao das beschrieben werden kann ist nicht das ewige TaoDer Name der genannt werden kann ist nicht der ewige NameDas Namenlose ist der Ursprung von Himmel und ErdeDas Benennen ist die Mutter der zehntausend DingeWer frei von Begehren ist sieht das GeheimnisWer voll von Begehren ist sieht die ManifestationenDiese zwei entspringen derselben Quelle aber sie unterscheiden sichim NamenDiese zwei sind GeheimnisGeheimnis der GeheimnisseDas Tor zu allen Wundern

Dieser Weg ist nicht besonders leicht zu fassen, sei es fürHirsch oder Mensch. Er ist was er ist, und wir können nur -durch unsere Tugend - versuchen, ihm gerecht zu werden. Wennwir der Begierde entsagen, ahnen wir dieses Geheimnis, wenn wirBegierde empfinden, sehen wir seine Manifestationen. Vielleichttreffen sich beide Perspektiven in ihrem Äußersten - wenn manvöllig frei von Begehren ist oder wenn man völlig davon erfüllt ist.

Nun, der Weg des Aikido ist nicht so großartig und kryptischwie der des Taoismus.

Obwohl Morihei Ueshiba kein Zenbuddhist war, ist es ange-messen, sich im Fall von Aikido dem Begriff des Wegs zu nähern,wie er im Zen beschrieben wird. Die anderen japanischen Kampf-künste verwenden die selbe Endung - judo, kendo, iaido, karatedound so weiter. Der übergreifende Name für die japanischenKampfkünste, budo, tut das ebenfalls.

In der Perspektive des Zen ist der Weg eine Strecke auf der

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man vorwärtskommt - nur scheinbar um ein Ziel zu erreichen.Sicher gibt es eine Art Ziel im Zen, das heißt satori und bedeutetin etwa Erleuchtung, aber es gibt nicht nur ein satori zu erreichen,sondern mehrere, und es gibt auch keine vorhersehbare Methode,um dahin zu gelangen. Die Person, die satori erreicht, tut das im-mer in einer plötzlichen Überraschung und muss dann einzig undallein wieder mit allem von vorne anfangen. Man kommt zu sei-ner Erleuchtung, seinem Schimmer völliger Klarheit, einemMoment, in dem kein Mysterium unfassbar, kein Umstand imDasein kompliziert ist. Dieser Augenblick ist sicherlich sehrbefreiend, heilend, und von der Kraft die man da gewinnt, derinnere Ruhe die man findet, macht man Gebrauch, indem mansich dem Leben noch ehrlicher, noch mehr von Grund aufwidmet.

Ja, man beginnt von neuem und macht alles noch beschwer-licher für sich selbst. Und in der Zukunft können neue Satoriskommen. Auch im Aikido ist so etwas möglich. Um es als Ziel zunehmen, ist Satori jedoch viel zu launisch und viel zu plötzlich alsauch vorübergehend. Nach so etwas kann man nicht streben - esist auch so, dass der, welcher der Erfahrung von Klarheit einesSatoris nachjagt, es unmöglich vernehmen kann, denn durch An-strengung blockiert man sich.

Im Zen ist also der Weg das Ziel. Man trainiert seine Kunstin Stunden, Tagen und Jahren. Je mehr man den Gedanken los-lassen kann, wohin man damit kommt, desto mehr kann zueinem kommen. Denn die wirkliche Entwicklung geschieht sozu-sagen im Geheimen, hinter dem was zu geschehen scheint, vorder Entwicklung, die man selbst wahrnehmen kann. Der großeDurchbruch ist nicht wie der Goldpokal am Ende des Regen-bogens, sondern er versteckt sich genau an dem Punkt, wo mansich befindet - hier und jetzt.

Der Weg des Aikido kann unleugbar eintönig klingen: erbesteht einfach darin zu trainieren, keiko, und dann weiter zutrainieren, ohne sich irgendwelche Vorstellungen davon zumachen, was man daraus gewinnt. Auf diese Weise wird dieeigene Ambition oder Phantasie nie eine Grenze für das, was manerreichen kann. Und doch hat der Weg eine klare Richtung. Er

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Doshu, Jan Nevelius, Mouliko Halén, Stockholm 2001. Foto:Magnus Hartmann.

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Jan Hermansson. Foto: Ulf Lundquist.

führt unfehlbar auf das Wahre und Natürliche zu - wenn manvoraussetzungslos auf ihm wandert.

In der Geschichte sowohl des Zen als auch der Kampfkünstegibt es eine Menge Anekdoten über die Bedingung des Wegs undsie sagen alle, dass man sich nur auf ihm halten kann und ihm in

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die richtige Richtung folgen kann, wenn man selbst ohne Be-dingung ist. Die Vernunft ist ein schlechter Wegführer, Gedankenund Analysen lassen den Wanderer nur im Kreis gehen. Aikidosoll intuitiv erfasst werden, die Bewegungen sollen als Reflexe imverlängerten Rückenmark entstehen.

Am Anfang des Wegs ahmt man seinen Lehrer nach, mankopiert sorgfältig das Bewegungsschema der Techniken. Abersobald man sie zum Funktionieren gebracht hat, sobald sie natür-lich fließen, soll man sie vergessen. Man soll aufhören nachzuah-men, um anstelle die Bewegungen aus sich selbst heraus zu schaf-fen. Da wird man mit jeder Ausführung einen weicheren, natür-licheren, wahreren Weg in ihnen finden. Sie werden sozusagenautomatisch zur Vollendung geschliffen.

Den Weg des Aikido geht man also mit einem leeren Kopf,und ohne einen speziellen Bestimmungsort in Sicht zu haben.Planlos, wie ein Schlafwandler. Gleichgültig darüber, wie die Rei-se vorwärts geht, wie auf einem Marsch, der auf der Stelle tritt.

Ki - Lebensenergie

Von Indien weiter bis zum östlichen Ende Asiens sind ver-schiedene Atemübungen ein wichtiger Teil der Selbstheilung vonMenschen. Bei diesen Völkern ist es ein allgemeines Wissen, dassder Atem der wichtigste Schlüssel zur Gesundheit und zumWohlbefinden ist. Wer sich täglich Atemübungen widmet, hateine größere Chance, gesund und rüstig zu bleiben.

Es ist verwunderlich, dass in Europa keine ähnlichen Tradi-tionen entstanden sind, obwohl wir seit Urzeiten wissen, dass derAtem selbst die Voraussetzung für das Leben ist - vom erstenAtemzug und dem nachfolgenden Gebrüll des Neugeborenen biszum allerletzten Seufzer der Alten. Dazwischen scheint man imWesten den Atem für gegeben zu halten, etwas, worum sich aus-schließlich das autonome Nervensystem kümmert, das wie allegrundlegenden biologischen Mechanismen unsere Aufmerksam-keit nicht verdient. Vielleicht ist es ein Kennzeichen für unsere

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Schriftzeichen für ki, Lebensenergie, Kalligraphie des Autors

Kultur - im Guten wie im Schlechten - das Alltägliche, das Natür-liche zu vernachlässigen, zum Vorteil aller Wunderlichkeiten diewir erfinden können.

Nun, unter den vielen asiatischen Atemübungen ist eine, dienach dem Prinzip des Quadrats funktioniert: vier gleich langeSeiten. Man atmet in einem langgezogenen, tiefen Atemzugdurch die Nase bis hinunter in den Bauch ein. Dann hält manden Atem so lange an, wie das Einatmen benötigte. Danach atmetman genauso lange durch die Nase oder den Mund aus, hält denAtem den gleichen Zeitraum an, und dann fängt man wieder vonvorne an.

Es ist wichtig, tief und ruhig zu atmen - kürzere Intervalle alszehn Sekunden sind nicht sinnvoll - und eine gute Haltung zuhaben, mit aufrechtem Rückgrat, entspannten Schultern undleicht vorgestrecktem Magen. Man braucht dieses Atemquadratnicht oft zu wiederholen, damit das Resultat sich zeigt: Wohl-befinden, Entspannung und eine Luft, die sozusagen besserschmeckt. Die Intervalle zu verlängern ist ein nützliches Trainingund eine natürliche Entwicklung dieser Übung. Da wird man

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auch schnell der großen Crux gewahr: drei der vier Seiten derÜbung kann man ausgezeichnet verlängern, aber es ist unglaub-lich schwer, den Atem nach dem Ausatmen etwas länger zu hal-ten. Die Brust tut weh und der Körper löst alle möglichen Alarm-signale aus. Das ist ein ziemlich dummes Gefühl.

Man sollte also die Zeitintervalle danach ausrichten, wie langman irgend bequem den Atem nach dem Ausatmen anhaltenkann, ohne von Panik ergriffen zu werden oder den ganzen Ober-körper im Kampf gegen den Impuls des Einatmens zu ver-krampfen. Die Übung soll ja zu Entspannung führen, nicht zueinem Stellungskrieg zwischen dem bewussten Willen und denInstinkten.

Es gibt eine Möglichkeit, die Intervalle merklich zu ver-längern und trotzdem ruhig zu atmen. Anstelle den Atem anzu-halten, indem man die Muskeln zusammenzieht, sozusagen einenDeckel auflegt, sollte man denken, dass der Atemzug weitergeht- obwohl keine Luft kommt. Wenn man seine Lungen mit Luftgefüllt hat, hält das Gefühl des Einatmens dennoch an, und wennman seine Lungen von Luft geleert hat, hält das Gefühl desAusatmens an. Es klingt verwunderlich, aber es ist keine schwer-ere Übung für die Phantasie, als sich eine Übung zu denken,bevor man sie ausführt. Obwohl die Luft nicht länger fließt, kannman sie wie ein Brausen fühlen, eine Flut durch den Körper vomBauch bis zu den Nasenlöchern. Die Atmung hat keinen Anfangund kein Ende, sie wendet nur zwischen Ein und Aus, aber mitder Zeit wird auch dieser Unterschied abgenützt. Die Atmungwird ein ständiges Fließen, gleichzeitig sowohl in als auch aus.

Die Wahrnehmung, die man auf diese Weise übt und ver-stärkt, dieses Brausen eines unterirdischen Flusses, ist ki - die kos-mische Lebensenergie. Ki funktioniert ungefähr wie der Atem,man kann es beschreiben als Atem vor dem Atem, die eigentlichelebensspendende Essenz - ungefähr wie die verborgene Funktiondes Sauerstoffs in der Luft. Wenn wir atmen, sind der Sauerstoff,den wir aufnehmen und das Kohlendioxid, das wir abgeben ineinem ständigen, lebensnotwendigen Kreislauf. Der Sauerstoffverbirgt sich in der Luft. Das Ki ist auch versteckt, vor und außer-halb der Luft die wir atmen.

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Die Ähnlichkeit zwischen Sauerstoff und Ki ist so schlagend,dass der moderne Analytiker Ki am liebsten als nichts anderes alsdie östliche Ahnung eben des Sauerstoffs beschreiben möchte.Man wusste früher nichts von der Existenz und Funktion desSauerstoffs, aber man konnte natürlich die lebenswichtige Bedeu-tung des Atems erkennen. Es war plausibel sich eine verborgeneEssenz in der Luft vorzustellen, eine Lebenskraft, die ständigdurch uns fließen muss, damit wir uns am Leben erhalten kön-nen.

Und doch ist das weit entfernt von allem, was Ki aus der asia-tischen Perspektive ist. Ki hat nicht die Begrenzungen, die für denSauerstoff gelten. Zum Beispiel muss das Ki nicht dem Weg derLuft durch Nase oder Mund in die Lungen folgen, um dann wieSauerstoff im Körper verteilt zu werden. Nein, das Ki kann durchden Menschen in jede Richtung fließen - hinein durch die Fuß-sohlen und Handflächen, hinaus durch die Fingerspitzen oder dieStirn oder den Brustkorb. Ki bündelt alle Wahrnehmungen derSinne in einem Strahl von Aufmerksamkeit. Wenn Ki ein Ätherist, so besteht es am ehesten aus der Gewissheit ich bin, dem Be-wusstsein davon, dass es einen gibt und dass man sich zur Um-welt verhält. Wenn Leben Bewegung ist, so ist Ki der Wille hin-ter jeder Bewegung, der Impuls dafür und etwas, das den Bodendafür bereitet. Der Körper bewegt sich mit Hilfe von Muskelnund Verbrennung, aber der Wille bewegt sich mit der Hilfe vonKi. Und es ist der Wille, der dem Körper vorausgeht und ihnsteuert.

Vielleicht kann man Ki den Äther der Intention nennen.Wenn man zum Beispiel einen Schneeball auf ein Verkehrsschildwerfen will, so wird zunächst im Bewusstsein eine gedachte Wurf-parabel zwischen dem Schneeball und dem Blech des Verkehrs-schilds geschaffen. Die Parabel beginnt jedoch nicht im Schnee-ball, den man in der Hand hält, sondern im Körper, da, wo dieKraft für den Wurf herkommt - unterhalb des Nabels, im Zent-rum des Menschen. Diese gedachte Parabel vom Kern des Will-ens zur Zieltafel wird ein Fluss von Ki. Je deutlicher und stärkerdieser Fluss ist, desto sicherer wird die Bahn des Schneeballs und

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Ulf Evenås, Göteborg. Foto: Jüri Soomägi.

desto deutlicher der Treffer. Alle Bewegungen im Aikido werdenin dieser Geisteshaltung ausgeführt.

Auf chinesisch heißt das chi (oder qi in der modernenSchreibweise). Das Schriftzeichen besteht aus zwei Teilen - Reis-korn und Dampf. Der kochende Reis, das wichtigste Symbol desOstens für das Lebensspendende. Reis kann nicht gegessen wer-

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den, bevor er gekocht ist, erst wenn er Energie bekommen hat,kann er Energie geben. So ist es auch mit Ki - die Bewegung istselbst seine Voraussetzung, die Zirkulation seine ständige Beding-ung. Wer seine Hähne zudreht und sein Ki einschließt, wirdschrumpfen. Die Lebenskraft in ihm wird muffig, fad, und er ver-liert den Funken. Um seine Kraft zu steigern, muss man das Kiherausfließen lassen. Da kommt eine weiter Ähnlichkeit mit demAtem hinzu - wer nicht ausatmet kann auch nicht einatmen. Manmuss geben um zu bekommen, muss sich leeren um gefüllt wer-den zu können, wegwerfen um etwas Neues gewinnen zu kön-nen.

Leben ist Veränderung, eine endlose Bewegung ohne Anfangoder Ende, ohne einen fixen Startpunkt oder ein endgültiges Ziel.So ist auch Ki. Der Ki-Fluss bewegt sich nicht in geraden Bahnen,eher wie die Himmelskörper in Bögen und gekrümmtem Lauf.Man sagt, Ki sei Spiralen in Spiralen in Spiralen. Die natürlicheBewegung von Ki ist wie eine Serpentine - die scheinbar geradeLinie besteht aus einer Spirale, die voranschießt. Und in der Spi-rale verbirgt sich die nächste Spirale und in jener die nächste. Werseinen Kifluss stimulieren will, sollte eher gerundete Bewegungenwählen als direkte und eher einen wiederkehrenden Verlauf alseinen sich verlierenden. Ki fließt am stärksten bei Bewegungen,die dem Lauf der Himmelskörper gleichen - in Ellipsen.

Man spricht oft vom Kreis - sowohl wenn man vom Aikidoals auch wenn man von Astronomie spricht - aber es ist in beidenFällen genauso unwahr. Ein natürliches Aikido, das in den Bah-nen von Ki fließt, bildet Ellipsen. Genauso ist es mit Planetenund Asteroiden. Einige Planeten - zum Beispiel der Neptun unddie Erde in unserem Sonnensystem - bewegen sich in Bahnen, dienahezu Kreise zu sein scheinen. Wenn man diese genauer studi-ert, sieht man jedoch, dass auch sie sich elliptisch bewegen - mitder Sonne in einem der beiden Brennpunkte. Je näher sie der Son-ne sind, desto höher ist ihre Geschwindigkeit, je länger von ihrweg sie sich befinden, desto langsamer bewegen sie sich. KeinHimmelskörper hat eine gleichmäßige Geschwindigkeit - sie ver-langsamen und beschleunigen. Auch das ist natürlich für Aikidound für Ki.

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Eine gleichmäßige Geschwindigkeit und eine gerade Liniesind unveränderlich, wie der Tod. Da das Ki selbst Lebensenergieist, sind seine Form und sein Ausdruck immer am längsten vondem entfernt, was dem Tod gleicht. Ki kann erweitert odergesammelt werden, beschleunigen oder sich verlangsamen, aber eskann niemals still stehen. Wer wirklich in Harmonie mit Kigelangt, ist in der Lage, die Energie zu steuern, aber er tut dasimmer in Bahnen, die diesem passen, zu denen es natürlich strebt.Da wird Ki nicht nur ein Mittel für den Menschen selbst, son-dern ein grenzenloser Fluss, der durch den ganzen Kosmos fließt.Man spürt diesen Fluss und folgt ihm, wie in einem universellenTanz, einer Musik der Sphären.

Morihei Ueshiba sprach von Ki als von etwas sowohl Persön-lichem als auch Universellem. Der persönliche Ki-Fluss jedesMenschen muss nach einer Vereinigung mit dem universellenFluss streben. Es liegt ein kleinlicher, fast lächerlicher Ehrgeizdarin, sein Ki zu stimulieren, um die eine oder die andere groß-artige Tat auszurichten. Wenn das Ki wirklich grenzenlos fließt,schenkt das eine geistige Erfahrung, die das Individuelle völligbedeutungslos macht. Man beginnt, den kosmischen Äther selbstzu atmen, und das ich bin, das den Kern des Ki bildet, geht aufim ganzen Seienden des Universums. Man ist nicht länger von derExistenz unterschieden, sondern wird eins mit dem Weltall.

Ueshiba sprach auch von positivem und negativem Ki. Dasnegative ist destruktiv, eine Kraft, die von der Umwelt getrennt istund selten auf Dauer etwas anderes zustandebringt als Zer-störung. Sie drückt nieder, hemmt und schadet, führt immernäher zum Tod. Allein in positivem, freigiebigem Geist bekommtman ein Ki, das schaffen, heilen und uns recht führen kann, dasüber die Begrenzungen des eigenen Ich hinausreicht. Die ihr Kinegativ machen, wollen es in gerade Linien zwingen, sie wollen esaufhalten und bändigen - und damit auch das Ki von anderenbändigen. Solche Menschen können einiges zustandebringen,manchmal auch anderen imponieren, aber was sie tun, fühlt sichnie angenehm an. Leider können sie manchmal sogar das Ki vonanderen ins Negative wenden. Wenn man sein Ki übt, ist es des-halb von größtem Gewicht, das nicht für sich selbst zu tun, sich

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Claes Wikner, Stockholm. Foto: Magnus Hartman.

nicht von den Werken fangen zu lassen, die man mit Kiauszuführen vermag. Man sollte alles zurückgeben, was manbekommt - man sollte es zum Wohlbefinden von allen fließenlassen.

In der okkulten Tradition des Westens findet man ähnlicheWarnungen. Man spricht da von weißer und schwarzer Magie.Die erstere ist wohlwollend und weich in ihrem Ausdruck, diezweitere aber hart und destruktiv. Vielleicht kann man denBegriffen auch mit der Polarität Liebe und Macht näher kom-men. Sowohl mit Ki als auch mit Magie ist es nicht unmöglich,sich von den Möglichkeiten zur Macht verführen zu lassen, aberdas wirkt verdunkelnd. Das Vermögen, das man erhält, soll manvon sich werfen, denn verglichen mit dem guten Geist, den manum sich verbreiten kann, hat es keinen Wert.

Die westliche parapsychologische Forschung spricht heuteoft von psi. Es handelt sich dabei um einen zusammenfassendenNamen für Kräfte, die man nicht erklären kann - Telepathie,Psychokinese und so weiter. Wenn diesen Phänomenen Realitätzukommt, so muss eine Art Kraft oder Vermögen hinter ihnenliegen, so nimmt man an, und es ist einleuchtend, dass man sich

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da dem östlichen Begriff Ki nähert. Es gibt eine weitere Parallelezu Ki. Die Forscher, die mit parapsychologischen Experimentenarbeiten, sind sich ziemlich klar darüber, wie man die bestenResultate erhält: wenn die Versuchsperson entspannt, vertrauens-voll ist und sich nicht bemüht, Erfolg zu haben.

In Asien ist Ki jedoch so etabliert, dass es schon Welten vonEntwicklung und Anwendung umfasst. Zum Beispiel arbeitet dietraditionelle Medizin und Massage hauptsächlich mit dem Ki-Fluss und wie dieser durch den Körper des Patienten verläuft. Beider Massage ist es das Ki des Masseurs, das das Ki des Patientenstimuliert, die rein anatomische Behandlung ist von untergeord-neter Bedeutung, und bei der Akupunktur sind es die Ki-Fluss-punkte des Patienten, die stimuliert werden. Allgemein ist Ki einderart etablierter Begriff in Asien, dass er selten die metaphysischeBedeutung bekommt, die ihm in der westlichen Betrachtungsofort verliehen wird.

So gilt zum Beispiel im Aikido das Ki und die Stimulierungdes Ki-Flusses nicht an sich als Hauptsache im Training. Alswichtiger Teil, gewiss, aber meist in der selben Weise, wie manBenzin braucht, damit ein Auto rollen kann oder wie Essen undTrinken einen Menschen handlungsfähig machen. Sicher ist dieQualität des Brennstoffs bedeutend für das Resultat - aber er istnicht mit dem Resultat identisch. Das was man mit Ki zustande-bringen kann, ist das Interessante - und die große Herausforder-ung.

Ai - Harmonie

Die erste Silbe im Wort Aikido lässt sich am leichtesten mit derchinesischen Schrift zeichnen, die die Japaner kanji nennen, aberes ist bei weitem nicht genauso leicht, seine Bedeutung zu über-setzen. Wir pflegen zu sagen, dass ai (auf chinesisch hé) Harmo-nie bedeutet, aber dieses Wort wird von keinem Wörterbuch ver-wendet. Streng sprachlich ist es richtiger, von "Vereinigung","Übereinstimmung" oder "Einigkeit" zu sprechen. Das Wort wird

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Das Schriftzeichen für ai, Harmonie oder eher Einigkeit.Kalligraphie des Autors.

auch bei gewissen Maßangaben verwendet. Das Schriftzeichenstellt einen Mund, die Ziffer eins und darüber ein Hausdach dar,was man so deuten kann, dass unter diesem Dach alle wie miteinem Mund sprechen. Der Begriff Einigkeit scheint am nächstenzu liegen.

In der Kombination, die das zusammengesetzte Wort Aikidobildet, ist jedoch die gewöhnlichste Übersetzung von ai Harmo-nie, um auf eine Einigkeit hinzuweisen, die nicht nur die Ab-wesenheit von Uneinigkeit ist, sondern so tief und selbstverständ-lich, dass sie wie ein eigener angenehmer Zustand geworden ist,eine friedlich wirkende Kraft.

Für Morihei Ueshiba und für seine Nachfolger ist Aikidokeinesfalls ein Weg zum Sieg im Kampf, und auch nicht nur einWeg vom Kampf. Dabei handelt es sich, trotz ihrer offensicht-lichen Verdienste, letztlich doch nur um Negationen. Hier darfman nicht stehen bleiben. Der Mangel an etwas kann nicht solebenskräftig sein wie die Fülle von etwas anderem. Eine Weltohne Krieg wäre kein dauerhafter Segen, bevor nicht alle fühlenkönnten, dass der Frieden etwas Selbständiges, Zuverlässiges ist,welches die Zivilisation durchdringt. Frieden muss mehr sein alsnur der Stillstand zwischen zwei Kriegen, Einigkeit muss mehr

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sein als nur die Ruhe zwischen zwei Auseinandersetzungen. Des-halb das Wort Harmonie - ein schöner Zustand mit einer solchenLeuchtkraft und Anziehung, dass keiner, der ihn kennengelernthat, solche Ruhe jemals abbrechen will. Eine Einigkeit, die ange-nehmer ist als ein Streit erlösend sein kann, ein Frieden, der won-niger ist als ein Krieg erschreckend sein kann. Der gute Zustandmuss so überwältigend sein, dass dessen Gegensatz ausbleicht undim Vergleich nur abgestanden erscheint. Erst mit einem solchenGlanz wird ai das wichtigste Wort der drei in Aikido, erst da wirddie Harmonie das Ziel unseres Übens.

Im Zen werden oft Rätsel angewendet, um den Suchendenzu satori zu führen. Diese nennt man koan und wirken auf denersten Blick wie unmögliche Paradoxe. Das bekannteste der vie-len Zen-Koans ist dieses: wie klingt das Klatschen einer Hand?Mehr als einmal ist es mir passiert, wenn ich das Rätsel einemNeugierigen gegenüber erwähnt habe, dass dieser als Antwort mitseiner Hand auf eine Weise gewedelt hat, dass diese faktisch selbstgeklatscht hat - die Fingerspitzen schlagen gegen die Handfläche.Einige sind richtig gut darin. Ihre Antwort ist natürlich völligkorrekt. Auch der Unbeholfene kann die "richtige" Antwortgeben, indem er die eine Hand in der Luft bewegt, wie man dasbei einem Applaus macht, die andere Hand aber ruhen lässt, undsagt: "So!"

Das Wort ai in Aikido ist auch etwas wie ein Koan, ein parad-oxes Rätsel, das man unmöglich ausschließlich mit Worten lösenkann. Man kann es machen wie mit dem Klatschen der Hand -mit Bewegung und Handlung zeigen und sagen: "So!" Die große,wonnige Harmonie ist keine These, die man in Büchern nieder-zeichnen kann, sie ist eine innerliche Handlung, eine Lösung imMoment und in der exakten Situation.

In Aikido steht man niemals an einem Platz, wenn der An-griff kommt, sondern man bewegt sich zur Seite. Wenn man aufden Zuggleisen geht und ein Zug gefahren kommt, geht mannatürlich von den Gleisen herunter. Etwas anderes wäre ver-heerend. Das ist so klar wie das Klatschen mit der Hand. Warumzusammenstoßen? Warum im Weg stehen angesichts einer Kraft,die so deutlich ihre Richtung anzeigt? Ai bedeutet, immer vom

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Gleis herabsteigen, niemals stehenzubleiben oder der Kraft zutrotzen - auch wenn man die Kraft hätte sich dagegen zu stellen.Auch den kleinen Märklinzug einer Modelleisenbahn lässt manpassieren. Man steigt nicht deshalb von den Gleisen herab, weilman den Zug nicht zu stoppen vermag, sondern weil man ihnnicht zu stoppen wünscht. Die Harmonie des Aikido ist, den Zugmit Freude vorbeifahren zu lassen und ihn in der Ferne ver-schwinden zu sehen. Und da steht man, winkend.

Das kann zunächst lauten wie das Prinzip der Passivität, wieeine Methode, um Schaden zu vermeiden, indem man allem ge-genüber aufgibt. So ist das keinesfalls. Man hält keine Bewegungauf, man wehrt sich nicht gegen eine Kraft - aber man beugt sichihr auch nicht, man fügt sich ihr nicht. Man vermeidet den Kon-flikt so, dass auch der sich im Konflikt befindende Wille nicht mitErfolg gekrönt wird. Wenn die Absicht des Zuges also war, mitder Person auf dem Gleis zusammenzustoßen, so wurde dieAbsicht in nichts verwandelt. Keine Kollision, keine Unter-werfung. Wenn der Zug verschwunden ist, klettert man wiederzurück aufs Gleis und macht weiter wie zuvor.

Das meiste des Elends und der Schmerzen auf der Weltscheint darauf zurückzugehen, dass Willen sich im Konfliktbefinden - einer will haben, was ein andere nicht hergeben will,einer will stehen, wo ein anderer sich befindet, und so weiter.Und doch ist die Welt groß und reich genug für alle. Wir müsstenin der Lage sein, volle, schöne Leben zu leben, ohne einander zubestehlen. Im Aikido ist das eine selbstverständliche Über-zeugung. Harmonie ist der höchste natürliche Zustand, jeder, dergegen ihn verstößt, muss misslingen. Wer bereit ist, für seine Inte-ressen zu streiten, kann weder das realisieren, wonach er strebt,noch kann er einen Streit beginnen. Wenn er einen anderen Men-schen wegdrängen will, wird er nur zurück zu seinem eigenenPlatz geführt, wenn er versucht, andere zu etwas zu zwingen, soentschlüpft dieser ihm, so dass er nur mit leeren Armen weiter-stolpert. Seine Kraft schlägt zurück auf ihn selbst und er wirdjedes Mal zum Ausgangspunkt zurückgeführt.

Wenn Aikido nicht genau auf diese Weise wirken würde,würde es zu Streit und Uneinigkeit ermuntern anstatt dazu zu

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führen, dass diese abgeschafft wird. Die Harmonie, die nicht alleeinschließt, zeigt früher oder später, dass sie keinen einschließt.Die Streit suchen, befinden sich in einem Zustand von Verwir-rung, von Fehlauffassung. Aber sie können weder auf den richti-gen Weg geführt werden, indem man sie unterwirft, noch indemman ihnen ihren verwirrten Willen lässt. Die Harmonie des Ai-kido soll so schön sein, dass es sie auf den rechten Kurs führt, dasses ihre Augen aufgrund seiner Selbstverständlichkeit öffnet. Da istder Friede nicht nur ein Moment von unruhigem Wartenzwischen einem Krieg und dem nächsten, sondern eine Majestät,die weder zur Herausforderung einlädt noch von irgendeinemHeerführer gestürzt wird.

Für Morihei Ueshiba war diese großartige Harmonie sozentral und so wunderbar, dass er sie im Alter immer öfter miteinem gleichlautenden Wort der japanischen Sprache verglich: aikann man mit einem anderen Zeichen schreiben, und da bedeutetes Liebe. Die Harmonie in Aikido soll so universell, so innerlichsein, dass sie in Liebe aufgeht.

Mikael Eriksson, c. 1973.

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Dreieck, Kreis und Quadrat

Drei der wiederkehrenden Symbole für Aikido sind die drei geo-metrischen Figuren Dreieck, Kreis und Quadrat. Diese lassen sichauf mehreren verschiedenen Ebenen erklären. Teils sind sie Bilderdafür, wie Aikido ausgeführt werden sollte, teils sind sie mit deröstlichen Philosophie verknüpft.

Das Dreieck repräsentiert die Grundposition hanmi gamae,da die Füße und der Körper in ihren Richtungen eine trianguläreForm andeuten. Ebenso, auf einer höheren Ebene, zeigt dasDreieck, wie man dem anfallenden Partner begegnet - mit einemSchritt nach vorne. Wenn der Partner die Grundlinie des Dreiecksist, so ist der erste Schritt eine der Seiten des Dreiecks. Also nie-mals gegen die Kraft, sondern neben sie.

Der Kreis zeigt, wie man Aikidotechniken ausführt - in ger-undeten Formen um das Zentrum des Partners so wie um daseigene Zentrum herum. Jeder Kreis hat, wie osensei betonte, einZentrum. Deshalb ist der Kreis ein Symbol sowohl für die kreis-förmigen Bewegungen des Aikido als auch für das Zentrum desKörpers, der Mittelpunkt für alle Bewegungen sein muss. Viel-leicht wäre es noch richtiger, die Ellipse als Symbol dafür zu ver-wenden. Teils hat sie eine Krümmung, die besser zu den Be-wegungen des Aikido passt als die des Kreises, und teils hat siezwei Brennpunkte, zwei Zentren - das eigene und das des Part-ners.

Das Quadrat steht für Entschlossenheit und Kraft, wie etwain der Festhalteposition, mit der die meisten Aikidotechnikenabgeschlossen werden, oder dem Wurf, der den Partner auf eineganz andere Bahn schickt als dieser geplant hatte. Das Quadrat istdie Schwere und Festigkeit, die man bekommt, wenn man sichauf sein Zentrum konzentriert. Man kann auch sagen, dass manerst mit dem Prinzip des Quadrats Kontakt zu seinem Partnerbekommt. Sowohl das Dreieck als auch der Kreis sind ihrer Na-tur nach ausweichend, aber mit dem Quadrat kommt eine Begeg-nung zustande. Ohne eine solche wäre Aikido nichts als ein vor-übergehender Windhauch, ein Nebel, der an und für sich jeden

Aikido – die friedliche Kampfkunst 89

Angriff aussichtslos machen würde, der jedoch niemandens Ent-wicklung vorwärtsbringen könnte.

Morihei Ueshiba sprach auch von der Vereinigung der dreiSymbole in einem einzigen, so dass sie zusammen gezeichnet wer-den, zum Beispiel mit dem Dreieck im Kreis im Quadrat. Ersagte:

"Wenn das Dreieck, der Kreis und das Quadrat eins werden,bewegen sie sich in sphärischer Rotation zusammen mit dem Ki-Fluss, und es entsteht das Aikido, das die Klarheit der Sinne unddes Körpers ist (sumi-kiri)."

Nicht nur innerhalb Aikido sind diese drei geometrischenFiguren bedeutungstragende Symbole. Im Zen kommen sie auchvor, ebenso im Taoismus und in vielen anderen Bereichen. So istder Kreis gewöhnlich ein Bild für das All - oder für das Nichts.Das Quadrat steht für das Weltliche, die Materie, wie dieBausteine in Häusern und Mauern. Das Dreieck repräsentiert oftgöttliche Prinzipien, auch in der Dreifaltigkeit des Christentums.

Brandbergen, c. 1984.

90 Aikido – die friedliche Kampfkunst

Tanden - das Zentrum des Körpers

Die Techniken des Aikido sind nicht nur auf den ersten Blick wieein Labyrinth. Die Arme gehen da hin, die Beine gehen dort hin,die Hände werden abgewinkelt und der Körper wird in die eineoder andere Richtung gedreht. Allein seinen eigenen Körper imrichtigen Bewegungsschema zu steuern, kann ebenso unmöglicherscheinen wie das vertrackteste koan. Wenn es dann darum geht,einen anderen Menschen in diesen Bahnen zu steuern, odermehrere Angreifer auf einmal - da liegt es nahe, seufzend denKopf zu schütteln. Da ist doch wohl zu viel im Zaum zu halten?

Ja, so ist es. Wenn der Mensch eine Art Maschine wäre, indie jedes Können, das er sich aneignen will, einprogrammiert wer-den müsste, da wäre Aikido schnell eine viel zu große Herausfor-derung. Aber der Mensch ist keine Maschine, und Aikido istnicht irgendein beliebiges Muster von eigenartigen Bewegungen.Aikido ist Natürlichkeit, und der Mensch hat seit seiner Entste-hung eine feste Wurzel im Natürlichen.

Wir brauchen also nur empfänglich für unsere innere Stim-me, unsere innere Gewissheit zu sein, um die Bewegungen desAikido sofort so selbstverständlich ausführen zu können, als seienwir selbst es gewesen, die sie erfunden haben. Wenn wir diesenInstinkt für das, was richtig ist, nicht fühlen können, wenn die-ser innere Kompass niemals irgendeinen Ausschlag unter demAikidotraining gibt - da sind wir von Anfang an auf der falschenSpur, und kein Fleiß, keine Anstrengung der Welt können daskompensieren.

Die Wurzel des Menschen im Natürlichen, sein innererKompass und untrügerischer Fühler, ist sein Zentrum. Das heißtauf japanisch tanden (chinesisch: dantien) oder seika no itten,und befindet sich mitten im Körper, im Bauch, ungefähr dreiFingerbreit unter dem Nabel. Der selbe Punkt ist auch derSchwerpunkt des Körpers. In der indischen Mystik spricht manvon sieben chakras, Energiepunkten im menschlichen Körper -vom Geschlecht hinauf bis zur Spitze des Schädels. Chakrabedeutet eigentlich "Rad" und jedes von ihnen steht für seine

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spezielle Eigenschaft. Tanden ist derzweite Punkt von unten in diesemSchema und wird in Indien svadhish-thana genannt.

Das Schriftzeichen für tandenbedeutet teils Zinnoberrot und teilsReisfeld, also das zinnoberrote Reis-feld. Da Reis in jenem Teil der Weltdas wichtigste Nahrungsmittel ist,steht er an sich schon für Lebensener-gie, ein ganzes Feld davon ist alsoungleich mehr Energie, und wenn esrot ist, so als ob es glühte - wie derfunkelnde rote Kristall Zinnober - dawird das ein Ausdruck für eine ge-waltige Menge Lebenskraft. Das Zent-rum für diese Kraft ist ein Punkt einigeZentimeter unter dem Nabel, im Kör-per. Der Punkt wird auch ki kai tandengenannt, ein "Meer von Ki" in diesemzinnoberroten Reisfeld, oder seika noitten, was "der einzige Punkt" bedeu-tet. Im Deutschen können wir am ein-fachsten von "Zentrum" sprechen.Dieses Zentrum ist für den Anfängerebenso schwer vorzustellen wie wahr-zunehmen. Deshalb ist es von äußer-ster Wichtigkeit für den Übenden, dasser von Anfang an versucht, sein Ki unddie Wahrnehmung seines Zentrums zustimulieren - die beiden führen zuein-ander. Tanden ist das Meer von Ki, dieunerschöpfliche Quelle der Lebens-energie und das "Mundstück", zu undvon dem Ki zu fließen tendiert. Jemehr man sich auf sein Ki konzen-triert, desto deutlicher nimmt man

Tanden.Kalligraphie des Autors.

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sein Zentrum wahr, und je mehr man sich auf sein Zentrumkonzentriert, desto stärker wird der Ki-Fluss.

Im Aikido ist dieses Zentrum in erster Linie teils der Aus-gangspunkt für Gleichgewicht und Standfestigkeit sowie derSchwerpunkt des Körpers, und teils die Quelle durch die dasmeiste Ki fließt. Wenn man sich auf sein Zentrum konzentriert,so wird man standfest, die Bewegungen werden kraftvoll undunbeirrbar, und das Ki fließt. Das kommt natürlich mit der Zeit.Alle Bewegungen im Aikido haben ihren Ausgangspunkt in tan-den und führen in Bögen und Spiralen dorthin zurück. Am deut-lichsten zeigt sich das im Schwerthieb.

Das japanische Schwert, katana, wird mit beiden Händengegriffen. In der Grundposition hält man das Schwert ungefährteine faustbreit vor seinem Zentrum, die Schwertspitze zeigt zumAuge des Partners (genau gesagt zum linken Auge). Der Winkelist nicht so besonders steil, weil das Schwert nach oben gebogenist und der Partner sich in einem größeren Abstand befindet als inwaffenlosem Training. Wenn man dann zuschlägt, hebt man dasSchwert in einem Bogen über den Kopf - ausgehend vom Zent-rum. Beim Zug nach oben atmet man ins Zentrum ein, beimSchlag atmet man von dort aus.

Es ist selten so deutlich wie im Schwertschlag, aber alle Be-wegungen im Aikido haben den selben Verlauf - vom Zentrum ineinem Bogen zurück dazu. Wenn man in seiner Bewegung dieseVerbindung mit seinem Zentrum verliert, wird die Technikschwach und unsicher, meist völlig missglückt. Tanden ist aufdiese Weise wie eine Richtschnur, ein ständig gegenwärtiges Fazitfür die Aikidotechniken. Später wird tanden viel mehr als das.

Es scheint so zu sein, dass man in der Psychiatrie teilweisedarüber spricht, sich zu zentrieren, sein Zentrum wiederzufinden.Da zielt man auf die Verwirrtheit, von der wir erfasst werden kön-nen, weil das Dasein unleugbar viel größer und viel komplizierterist als wir es manchmal hantieren können. Menschen mit Sinnes-verwirrung verlieren das Gefühl von Verwurzeltsein, von Festig-keit, das ihnen die Chance geben würde, sich nach emotionellenStürmen zu erholen. Sie müssen lernen, sich sozusagen in sichselbst niederzulassen, allen mentalen Wirrwarr fortzuschälen, bis

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sie zu einem reinen und festen Erlebnis davon gelangen, wer sieim Grunde eigentlich sind. Wir müssen alle Zerstreuungenabschütteln können und entdecken, dass wir wir selbst bleiben,durch emotionelle Unwetter und die peitschenden Winde derVeränderung hindurch.

Das Zentrum des Menschen im asiatischen Denken ist unge-fähr das selbe. Im Kern meines Wesens selbst gibt es keinen Zwei-fel - es gibt mich und ich bleibe, durch alle Abenteuer und Um-wälzungen hindurch. Im Unterschied zur Psychiatrie ist dieses

Seiichi Sugano. Foto: Magnus Hartman.

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Zentrum jedoch nicht nur eine mentale Therapie oder Konzen-trationsübung. Tanden ist im höchsten Grad konkret - ein Punktim Bauch, so zuverlässig wie der Schlag des Herzens in der Brust.Für Asiaten ist dieses Zentrum reine Wirklichkeit.

Beobachten Sie kleine Kinder, die gerade das Gehen gelernthaben. Sie schieben den Bauch nach vorne wie Sumo-Ringer undmachen ihre Schritte mit der selben Schwere, derselben Konzen-tration auf ihr Zentrum. Es passiert gewiss, dass Menschen, wennsie älter werden, den Kontakt mit ihrem Zentrum verlieren. Derunmittelbare Effekt ist schlechtes Gleichgewicht und Schwächein den Bewegungen. Leider leben viele ihr ganzes Leben auf dieseWeise. Wenn man sich darin übt, sein Zentrum im Bauch wahr-zunehmen und sich darauf zu verlassen, was man auch tut, dawächst die Gewissheit um das eigene Wesen. Man gewinnt denKontakt mit sich selbst zurück, die Sicherheit darin, sowohl zuwissen, dass es einen gibt und dann, sich besser und besser ken-nenzulernen. Der Weg zur Selbsterkenntnis geht durch Tanden.

Im Aikidotraining konzentriert man sich ständig auf seinZentrum, so dass es mehr und mehr der Initiator und Motor derBewegungen wird. Diese physische Übung von Tanden bekommtauch eine psychische Entsprechung. Man schlägt sozusagen Wur-

Christian Tissier. Foto: Magnus Hartman.

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zeln im Dasein und läuft immer weniger das Risiko, das physischeoder psychische Gleichgewicht zu verlieren. Es geschieht durchdas Zentrum, dass man heil wird und ein Selbstgefühl gewinnt,welches sich nicht auf Erfolge oder Eroberungen stützt. DiesesSelbstgefühl besteht ganz einfach darin, geradeheraus und auf-richtig zu konstatieren: ich bin der ich bin.

Wenn ich gezwungen wäre, einen Faktor, ein Element ausdem Aikido zu wählen, welches am wichtigsten ist - da wäre dasohne Zweifel tanden, das innere Zentrum des Menschen. Es gibtim ganzen Aikido nichts Wichtigeres. Im Training mit dem Part-ner sind es also im Wesentlichen zwei tanden, die zusammen-arbeiten und durch die Prinzipien des Aikido zu harmonischemAusdruck geführt werden sollen, weshalb die wichtigste Aufgabeder Trainierenden sein muss, gegenseitig das Zentrum des ande-ren zu stimulieren und einander zu helfen, das eigene Zentrum zufinden, zu erfahren und diesem dann immer mehr Ausdruck zuverschaffen.

Aiki - Rhythmus und Richtung

Es wird von einem alten Samurai im alten Japan berichtet, derfühlte, dass seine Zeit gekommen war. Deshalb wollte er einletztes Mal seine Söhne prüfen und sehen wie es um deren Reifeund Fertigkeiten im Bushido, dem Weg des Kriegers, bestellt war.

Über der Schiebetür zu seinem Zimmer plazierte er ein klei-nes Kissen, so dass es fallen würde, wenn man die Tür öffnete,und rief dann seinen jüngsten Sohn herein. Als der Sohn in denRaum trat, fiel das Kissen und traf ihn an der Schulter. Aberbevor es den Boden erreicht hatte, hatte der Junge sein Schwertgezogen und das Kissen mit einem hochmütigen Kampfschrei inder Mitte zerteilt.

"Pfui!" rief der Vater aus und setzte mit scharfer Stimme fort:"Mein Sohn, du hast nichts von Bushido verstanden. Du musstviel, viel mehr trainieren!"

Nachdem er den betrübten Sohn des weiteren zurechtgewie-

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Knut Högvall, Uppsala.

sen und ihm Anweisungen gegeben hatte, wie er sein Training inder Kunst der Samurai fortsetzen solle, schickte der Vater ihn hin-aus und setzte ein neues Kissen über seine Tür. Er rief nach demzweitjüngsten seiner drei Söhne.

Auch dieses Mal fiel das Kissen, aber bevor es den Jünglingtraf, hatte der einen raschen Schritt zur Seite gemacht, seinSchwert gezogen und es entzwei geschlagen.

"Mein Sohn", sagte der Vater mit ernster Stimme, "du übstunsere Kunst fleißig, aber das ist nicht genug. Du hast noch vielzu lernen und musst viel mehr trainieren."

Sobald der Sohn ihn verlassen hatte, machte er die selbeSache mit einem dritten Kissen und rief nach seinem ältestenSohn.

Der junge Mann wollte gerade die Tür zu seines Vaters Zim-mer öffnen, als er in der Bewegung innehielt. Statt dessen glitt ermit der Hand nach oben und griff vorsichtig nach dem Kissen,bevor es sich auch nur von seinem unsicheren Platz bewegenkonnte. Dann öffnete er die Tür, ging hinein und legte das Kis-sen erneut an den selben Platz.

"Mein Sohn, mein Sohn - du hast wahrhaftig den Weg derKrieger gelernt! Ich kann mit Stolz sagen, dass du mich nicht

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mehr brauchst", sagte der Vater und lächelte warm. "Ich bittedich, dich um deine Brüder zu kümmern und sie in ihrem fort-gesetzten Streben recht zu leiten."

Eine von den Inspirationsquellen, die Morihei Ueshiba amnächsten lagen, war die alte Kampfkunst Daito ryu Aikijutsu. DasWort jutsu bedeutet Technik, Kunst oder Fertigkeit und betontalso die praktische, funktionelle Seite einer Kampfkunst. InSchweden ist zum Beispiel ju-jutsu bekannt und hat ungefähr dieselbe Bedeutung. Aikijutsu ist eine Strategie, um im Nahkampfzu gewinnen, von Samurais in Jahrhunderten geübt. In Japan gibtes viele hundert verschiedene jutsu, die von ausgewählten Samu-rais durch die Generationen weiter geführt wurden und so restrik-tiv wie derb trainiert wurden.

In dem Zusammenhang ist der Begriff aiki nicht genau derCharakter eines geistigen Wegs, sondern eine praktische Vor-gehensweise, um aus einem Kampf mit dem Sieg hervorzugehen.Man vereint sein Ki mit dem des Partners, um über ihn zu siegen.Wenn auch das Ziel im Vergleich mit dem des Aikido dürftig ist,so muss man doch konstatieren, dass die Strategie, die aus dertraditionellen Bedeutung von aiki hervorgeht, dennoch glänzendist. Es ist im Grunde eine Frage des Rhythmus:

Grundlegende Selbstverteidigung pflegt in einer Art Zweitaktzu geschehen. Zuerst wird der Angriff des Partners blockiert oderpariert, dann wird er beantwortet. Eins, zwei. Das Problem istdabei, dass der Partner gute Chancen hat, den Konter zu blockie-ren und dann seinerseits erneut anzugreifen. Wenn die Kontra-henten ebenbürtig sind, wird es womöglich ein unendlichesMatch, wie im Tennis - der Ball fliegt vor und zurück über dasNetz, bis der eine ihn verfehlt oder der andere eine richtige Perlezum Smash verwandelt. In der Kampfkunst, die schon bei demersten auf diese Weise "gewonnenen Ball" ein fatales Endenimmt, sind solche Odds nicht gut genug.

Man versucht vielleicht, die Lage zu verbessern, indem manso schnell kontert, wie es nur möglich ist. Der Zweitakt geht überzum Vorteil für die Schnelligkeit, wie bei einem Doppelschlag aufder Wirbeltrommel: ta-tam. Wird das geschickt gemacht, so hatder Partner keine Möglichkeit, sich zu schützen, sein Angriff hat

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ihn hilflos entblößt. Schon da ist also der Angriff die schlechtesteVerteidigung, und dieser Rhythmus ist der unvergleichlichgewöhnlichste in allen östlichen Kampfkünsten. Sie entwickeltenBlockierungen und Paraden, die es möglich machten, amschnellsten zu kontern. Ta-tam.

Das ist jedoch nicht genug, und das ist nicht aiki, keine Ver-einigung der Energie der Kontrahenten. Damit eine solche statt-finden kann, muss alles gleichzeitig passieren, beim ersten Schlagim Takt. Aiki impliziert, dass beide Kämpfer gemeinsam handeln.Die Samurais, mit ihren rasierklingenscharfen Schwertklingen,durften sich auf nichts anderes verlassen.

Eine einfache Übung, Schwert gegen Schwert, wiederholteMorihei Ueshiba sein ganzes Leben lang. Die beiden Schwert-kämpfer führen genau gleichzeitig einen Schlag gegen den Kopfdes anderen aus - aber wo der eine geradeaus geht, bewegt sich derandere schräg nach vorne, so dass der Hieb des Partners fehlgeht,sein eigener hingegen trifft. Er bewegt sich sozusagen weg vomZug, aber schlägt ihn von der Seite. Wie das meiste in diesemBuch ist das bedeutend leichter zu beschreiben als korrekt auszu-führen. Die Schwierigkeit liegt natürlich vor allem in dem, waswir Timing nennen: man muss es schaffen, gleichzeitig mit demangreifenden Partner für seinen Hieb zu ziehen, und man muss indem Augenblick zur Seite gleiten, da der Partner die Richtungseines Anfalls nicht länger ändern kann.

Das kann nicht mit angespannter Wachsamkeit zustande-kommen, im Gegenteil sind Entpanntheit und eine bestimmteArt Feinfühligkeit nötig. Man muss sich selbst zugunsten desPartners vergessen, man reagiert fast wie er auf die Impulse des-sen Willens, man ruht sozusagen in dessen Zentrum. Wenn er daden Impuls zu seiner Angriffsbewegung gibt, gibt er automatischden Impuls für die Bewegung seines Kontrahenten. Sie finden zurselben Zeit statt.

Das wird durch Entspannung erreicht, dadurch, dass manden Angriff voraussetzungslos abwartet. Dann ist der gewinnendeSchritt aus dem einfachen Grund möglich, dass der Angegriffeneimmer eine Sache weiß: worauf der Angreifer abzielt. Ein Angriffwird von dem Faktum begrenzt, dass er eine ganz bestimmte

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Osensei Morihei Ueshiba. Foto: Yasuo Kobayashi.

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Richtung hat - auf den anderen zu. In aiki ist dieses Wissen mehrals genug, man muss nicht Bescheid wissen, welche Art Angriffdas wird oder wie hart und stark er sein kann. Man geht aus demWeg und weiß schon vor diesem Schritt, wo der Partner sich be-finden muss, wenn er seinen Angriff gemacht hat. Da man weiß,woher er kommt und wohin er sich begibt, kann man voraus-sehen, wo er sich nach seinem Angriff befindet, und diesen Punktins Auge fassen anstatt der Position, von der er ausgeht. Unddaher wird, wenn beide Hiebe gleichzeitig fallen, der eine ver-fehlen und der andere treffen.

Das ist der Grund von aiki: Der Rhythmus, das heißt, dassalles auf den ersten Schlag im Takt geschieht, und die Ver-änderung der Position, die bewirkt, dass der Angreifer verfehltund der Angegriffene trifft. Die angenehme Lektion in dieserStrategie ist, dass der Angreifer dadurch verwundbar wird, dass eres wählt, anzugreifen. Wenn er selbst abwarten könnte, so würdeer zweifelsohne auch den großen Vorteil von aiki genießen. Nurwer angreift, ist verwundbar für aiki. Am besten ist es also, nie-mals anzugreifen. Deshalb ist aiki nicht nur die schlauste allerStrategien, sondern auch die ethischste.

Aber wenn Aiki bei solchen strategischen Schlauheitenstehen bleibt, wird Aikido kaum mehr als ein, wenn auch noch sospitzfindiges, Selbstverteidigungssystem . Es gibt verflixterweisegenauso einen Gewinner und einen Verlierer, was unweigerlich zuneuen Kontroversen führt. Wenn ein Angriff eingeleitet wird,kann man das so beschreiben, dass der Äther der Intention, denwir Ki nennen, eine Richtung bekommt, die die Bahn darstellt,welche der Angriff dann nimmt. Dieser Fluss von Intention istdie eigentliche Substanz des Angriffs, während die Technik unddie Körperbewegung, welche folgen, sekundär sind - sowohl inder Zeit als auch in der Bedeutung. Wenn der Intention getrotzt,wenn sie gebrochen wird, wenn dieser Fluss aufgehalten wird,kann der Konflikt nicht anders als weiterbestehen, auch wenn derAngreifer im Grunde besiegt wird. Das aiki des Aikido ist stattdessen, dass der Verteidiger sein Ki, seine Intention, gemeinsameSache mit der des Angreifers machen lässt. Sie sollen die selbeRichtung haben, einander wie Spielkameraden folgen, zu einem

Aikido – die friedliche Kampfkunst 101

Jan Hermansson, Haninge 1982.

natürlichen Ende der Bewegung, deren Aussehen aus dieserGemeinsamkeit geboren und durch sie geformt wird. Sanfte undelegante Techniken entstehen mit eigener Selbstverständlichkeitin dem Augenblick da die Intentionen und Kräfte von Angreiferund Verteidiger beginnen, in die selbe Richtung zu gehen. Mansoll also die ganze Zeit darauf achten, dass die Aikidotechnik mitder Angriffsbewegung läuft anstatt gegen sie - den ganzen Weg dieTechnik hindurch.

Kiai - Kraft sammeln

Es war Verkaufstag auf dem Marktplatz in der Stadt und unterallen Ständen und Verkäufern hatte man eine besondere Attrak-tion eingerichtet. Man hatte eine kleine Meerkatze an einen Pfahlgekettet, und wer seine Geschicklichkeit erproben wollte, sollteeinen Speer gegen den Affen werfen. Die Kette, die die Meerkatzean ihrem Platz festhielt, war so lang, dass der Affe frei um denPfahl laufen konnte. Und jedes Mal, wenn jemand den Speer

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schwang, schlüpfte jener schnell herum zur Rückseite des Pfahlsund entging der Speerspitze. Es spielte keine Rolle, wie schnell derSpeer geschleudert wurde oder wie lange der Werfer zielte, bevorer ihn loswarf, - der Affe konnte sich immer hinter dem Pfahl inSchutz bringen.

Immer mehr Menschen sammelten sich, um die Schnellig-keit der Meerkatze zu bewundern und laut über das Misslingender anmaßenden Menschen zu lachen. Die Stunden gingen da-hin, einer nach dem anderen versuchte es, aber der Affe behieltseine heile Haut. Auch ein junger Schüler des berühmten Lanzen-meisters Jubei Taneda machte einen Versuch, mit ebenso schlech-tem Resultat.

Der Jüngling berichtete seinem Meister von der Prüfung undam nächsten Tag folgte Taneda ihm zum Markt. Der stattlicheSamurai hob den Speer und richtete seinen Blick fest auf denAffen. Da wurde dieser plötzlich wie gelähmt, gab einen Schreivon sich und fiel auf den Boden, ohne dass Taneda seinen Speergeschleudert hätte. Der Samurai hatte einen lautlosen kiai ange-wendet, und auf diese Weise eine solche Kraft gezeigt, dass derAffe betäubt worden war.

Kiai kommt in allen Budoarten vor. Meistens zeigt er sichmit einem Laut - einem kräftigen Schrei im Augenblick der Aus-führung der Technik. Aber Kiai ist keinesfalls der Schrei selbst,sondern die Kraftansammlung, für die der Schrei ein Zeichen ist.Ein lautloser Kiai ist deshalb auch ein Kiai, wenn er auchschwerer zu beherrschen ist.

Die zwei Wörter, aus denen Kiai zusammengesetzt ist, sinddie selben wie in aiki. Die umgedrehte Ordnung ist wesentlich,sie weist auf eine andere Zielsetzung, eine andere Einstellung hin.In aiki ist es Ki, das zur Harmonie führen soll, im Kiai soll hinge-gen statt dessen die Harmonie zum Ki führen. Kiai bedeutet, dieLebensenergie Ki in eine Richtung zu bündeln, für einen Zweck.Man konzentriert sich voll und ganz auf das, was man ausführensoll und lässt alle seine inneren Ressourcen zusammengehen, umdieses Ziel zu erreichen. Kiai ist, all seine Kraft und sein Vermö-gen in einem Augenblick und einer Bewegung zu versammeln.Alles Ki eines Menschen strahlt zusammen und bekommt eine

Aikido – die friedliche Kampfkunst 103

Sokaku Takeda.

exakte Richtung, so wie in einem Laser der Rubin das Licht ineiner schmalen, geraden Linie ausrichtet. Genau wie der Laser, someinen die Asiaten, kann diese Ansammlung einen überwältigen-den Effekt erzielen. Die Bewegung wird unwiderstehlich, die

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Schärfe von Wille und Technik wird so überwältigend, dass derErfolg erreicht ist, bevor etwas geschehen ist.

Das ist im Westen nicht unbekannt. Der Gewichtheberbrüllt, wenn er die gewaltigen Gewichte hochheben soll, derRinger, wenn er seinen Gegner zu Boden werfen will. Der Schreiist eine allgemein bekannte Methode, um extra Kraft zu gewin-nen, um Schmerzen zu ertragen oder um andere Menschen zumGehorchen zu bringen oder sie aufzuhalten. Mark Twain witzeltedarüber, als er berichtete, wie seine stolzen Vorväter immer sing-end in den Kampf gingen, wenn sie im letzten Glied waren, undwie sie schreiend aus dem ersten Glied davonliefen.

Nun, dieser Schrei ist das äußere Zeichen dafür, dass manseine Kraft sammelt und sie fließen lässt. Wenn man nicht schrei-en würde, so könnte es leicht pasieren, dass die Kehle und dieAtmung den Ansturm von Kraft aufhielten und man seine Kraftersticken würde. Wenn man wirklich anpacken muss, ist es natür-lich, die Kehle zu öffnen und den Laut kommen zu lassen. ImBudo wird dieser Schrei trainiert, so dass er unbehindert kommtund dem Trainierenden dabei hilft, seine inneren Kräfte aufs Äuß-erste zu mobilisieren.

Wir wissen aus der medizinischen Wissenschaft, dass dasAdrenalin die Methode des Körpers ist, die äußersten Reservendes Körpers zu sammeln. Kiai ist eine Methode, das Adrenalin zustimulieren, augenblicklich die eigenen Ressourcen zu steigern, sodass diese das übertreffen, was man normalerweise schaffen kann.

Natürlich soll der Schrei aus dem Bauch kommen, aus demOzean an Ki, und viel mehr sein als nur ein Laut. Das Volumenist keinesfalls das Primäre. Wenn man sich zu sehr anstrengt, umein tierisches Gebrüll zustandezubringen, stockt die Kraft in derKehle und findet nicht zu der Bewegung, auf die Kraft abzielte.Der Laut ist einfach das unabsichtliche Resultat der Kraft-ansammlung, und nicht andersrum. Wenn man Kiai übt, geht esalso nicht darum, den Schrei selbst zu trainieren, sondern dieAnsammlung von Kraft - um augenblicklich seine Energie mobi-lisieren und sie nach vorne schicken zu können.

Kiai wird eine reinigende, selbstreinigende Übung. Wennman all sein Ki in einem einzigen Augenblick und einer Be-

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wegung verausgabt hat, wird man wie leer. Knoten lösen sich,Zerstreuungen hören auf, die Sinne festzuhalten, und man stehtvoraussetzungslos da, gesammelt und bereit für das, worauf manseine Aufmerksamkeit richtet.

Man kann sagen, dass es drei verschiedene Augenblicke fürden Kiai gibt, mit drei in gewisser Weise unterschiedlichen Zie-len: vor der Bewegung, während der Bewegung, am Ende derBewegung. Ein Kiai vor der Bewegung, wie ihn der Samurai laut-los von sich gab, statt den Speer auf die Meerkatze zu schleudern,dient teils dazu, den eigenen Sinn zu erhöhen und zu reinigen,teils dazu, den Partner aus seinem Gleichgewicht zu bringen. Erist eine glänzende Methode um zu markieren: "Hier bin ich!", sodass man selbst Stolz und Vermögen darin findet und der Partnerim selben Grad erschreckt wird, sich duckt.

Kiai während der Bewegung macht diese kraftvoll undscharf, so dass sie ihr Ziel erreicht und nicht schwankt oder vomPartner weggeschlagen wird. Das Gefühl in diesem Kiai ist unwi-derruflich und unausweichlich. Mit einer solchen Überzeugungwird es schwer für den Gegner, auszuweichen, und genausoschwer, sich zu wehren.

Am Ende der Bewegung ist Kiai eine Art, die Vollendung zumarkieren, genau in diesem endgültigen Augenblick wie eineExplosion von Kraft und Konzentration zu sein. Ein solcher Kiailässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Kampf vorbei ist,dass das Erzielte erreicht ist und nicht ungetan werden kann. Esist so, wie wenn Beschluss und Handlung eins geworden sind.

In Karatedo wird oft die dritte Sorte von Kiai angewendet,zum Beispiel wenn die ungeschützte Hand ihr Ziel trifft, um siezu stärken und zu verhindern, dass sie verletzt wird. Die Schwert-kunst Kendo hat einen Kiai, der durch alle drei Zeitpunkte läuft,von der ersten Angriffsbewegung und lang über den Treffer hin-aus, wie ein Unterstreichen der Technik und des Unvermeid-lichen von deren ganzem Verlauf, und ein Nachklang, der - wieein Siegesschrei - besagt, dass der Kampf nun vorüber ist. Im Ai-kido ist Stille das Gewöhnlichste, aber wenn ein Kiai vorkommt,dann ist das immer gleichzeitig mit der Bewegung. Die Stillebedeutet natürlich nicht, dass der Kiai fehlt. Er wird oft lautlos,

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Toshikazu Ichimura. Foto: Magnus Hartman.

da Aikido versucht, nur der Kraft des Angreifers zu folgen unddeshalb eins mit dem Kiai des Angreifers zu sein.

In Aikido ist es deshalb undenkbar, um nicht zu sagen un-möglich, den armen Affen aufzuspießen.

Morihei Ueshiba gab so gut wie die ganze Zeit Laute vonsich, all sein Aikido wurde von Rufen und unterschiedlichenTönen begleitet. Diese waren ihrer Natur nach gewiss Kiai, abersie hatten auch einen anderen Inhalt. Ueshiba war tief engagiertin der japanischen Mystikphilosophie kototama, wo jeder Lauttypseinen höheren Gehalt hat. Seine Kiai waren also sowohl Kraft-ansammlungen als auch eine Methode, bestimmte Bedeutungenauszudrücken, mit einer höheren Wirklichkeit eins zu werden.

Es wird natürlich auch so, dass eventuelle Laute, die mit demKiai kommen, ihre Prägung davon bekommen, was man mit demKiai bewirkt, welche Einstellung dahinter liegt. Der Kiai desAngreifers lautet immer anders als der des Verteidigers, ebensounterscheiden sich Kiais voneinander, je nachdem welche Technikausgeführt wird. Am deutlichsten merkt man das in Kendo, wodie Ausübenden ganz einfach den Namen der zu treffenden Kör-

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perstelle als Kiai für ihre Bewegungen anwenden. Der Angriffgegen den Kopf heißt men, was Kopf bedeutet, gegen das Hand-gelenk kote und gegen den Bauch do. Ebenso gibt es wohl eineErklärung dafür, dass viele, die Karatedo trainieren, bei ihrem Kiaischreien: "Kiai!"

Kamae - die perfekte Stellung

Es war einmal ein alter Meister in chado, Teezeremonie, derschönen Kunst, Tee zuzubereiten und zu servieren. Er war sehrerfahren in seiner Kunst und ein Stolz für seinen Herrscher, einenvon Japans Provinzherren. Daher wollte der Provinzherr ihn gernmit sich haben, als es Zeit war, zum shogun, dem Herrscher desLandes zu reisen, um diesem seine Loyalität zu bekunden.

Es war notwendig, sich für diese Reise in die Tracht desSamurais zu kleiden, aber der Teemeister wusste nichts von derSchwertkunst und der Sitte der Samurais, und so bat er seinenHerren darum, ihm das zu erlassen. Der Provinzherr gab nichtnach, und so musste der alte Meister die zwei Schwerter in seinenGürtel stecken, etwas was dem Stand der Samurais vorbehaltenwar, und mit nach Edo (dem jetzigen Tokyo) kommen.

Der Shogun war von der schönen Teezeremonie des Meistershingerissen und der Provinzherr schmunzelte, doch als der Meis-ter an einem Tag in den Straßen von Edo spazierenging, traf ereinen ronin, einen frei wandernden Samurai, der ihn sofort zumDuell aufforderte. Es war Sitte unter Samurais, ihre Geschick-lichkeit aneinander zu prüfen, und der Teezeremoniemeisterkonnte um der Ehre seines Herren willen weder ablehnen nochzugeben, dass er kein Samurai war. Aber er bat seinen Heraus-forderer um einen Aufschub von einigen Stunden, um seinemHerrn mitteilen zu können, was bevorstand, und um seineGeschäfte abschließen zu können. Das wurde bewilligt.

Der Meister beeilte sich, den besten Meister der Schwert-kunst aufzusuchen, den es in der Stadt gab und erklärte ihm, wasihm bevorstand.

108 Aikido – die friedliche Kampfkunst

"Ich weiß, dass ich ein solches Duell nicht gewinnen kann",sagte er, "aber um meines Herrschers willen ist es notwendig, dassich wie ein Samurai sterbe. Wollt ihr mich deshalb lehren, wie ichmich recht verhalten soll, damit mein Herausforderer die Wahr-heit nicht ahnt?"

Der Fechtmeister war zutiefst gerührt von der demütigenBitte des Alten, fern vom Hochmut, den seine eigenen Schüleraufwiesen.

"Ich kann dir helfen", sagte der Schwertmann, "wenn duzuerst deine Teezeremonie für mich ausführst."

So geschah es, und der Schwertmann war von der Kunst desAlten hell entzückt.

"Nur eine Sache musst du wissen", erklärte der Schwertmeis-ter dann. "Wenn du vor dem Herausforderer stehst, zieh deinSchwert und denk dann genau auf dieselbe Weise, wie wenn dumitten in deiner Teezeremonie bist."

Diese Anweisung verdutzte den Teezeremoniemeister, aber erging zu dem besprochenen Duellplatz und tat, wie ihm gesagtworden war, zog sein Schwert und konzentrierte sich genau aufdieselbe Weise wie bei seiner Teezeremonie. Der Herausfordererzog auch sein Schwert und näherte sich seinem Gegner vorsich-tig. Aber wie er auch probierte und versuchte, fand er in der Stel-lung des Teezeremoniemeisters keine einzige Blöße, keinen einzi-gen schwachen Punkt, gegen den er seinen Anfall richten konnte.Den Angriff gegen eine Stellung ohne die geringste Öffnung zurichten, das ist der sichere Tod. Als er seinen Gegner lang undgründlich auf diese Weise geprüft hatte, musste er deshalb auf-geben und senkte sein Schwert.

"Ich bitte um Verzeihung", sagte der Herausforderer mitdemütiger Stimme. "Ich verstehe, dass ich Euch unmöglich besie-gen kann." Und er verließ den Platz.

In den Budokünsten wird die Grundposition, die Ausgangs-stellung, Kamae genannt. Sie unterscheidet sich in Kendo, Judo,Karatedo, Aikido und den anderen Künsten, aber die Prinzipiensind die selben. Man soll bereit, entspannt sein und einen leerenKopf haben. Das Schriftzeichen für den Begriff ist ein wenigmerkwürdig, da es aus dem Zeichen für Holz oder Baum und für

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Spalier oder ähnliche zusammengefügte Konstruktionen besteht.Das gibt ein Bild von der Grundstellung als komplexe Konstruk-tion, wo jedes Teil seinen speziellen Platz und seine Funktion hat,und wo die Festigkeit des Ganzen darauf beruht, dass alle Teileihre richtige Lage gefunden haben.

Viele glauben, dass die beste Verteidigung angespannteBereitschaft ist, dass man in seinem Kopf Unmengen von Tech-niken und Tricks haben soll, um sie anwenden zu können, wennder Angriff kommt. Aber mit einer solchen Einstellung ist manleicht zu überlisten und in die Irre zu führen. Das Gehirn ist lang-samer als die Hand und kann leicht besiegt werden. Das besteKamae besteht darin, sich selbst von Plänen, Unruhe und Sieger-gelüsten zu leeren, so dass die Reflexe sich der Verteidigungannehmen. Mit einer solchen Einstellung kann man nicht über-rascht werden.

Als der Teezeremoniemeister an seine Kunst dachte, wurde erauf diese Weise leer und rein im Inneren, wie in tiefer Ruhe.Daher konnte man keine Blöße sehen. Der Herausforderer wurdenicht in die Irre geführt, da es dem alten Meister vermutlich in

Shoji Nishio. Foto: Magnus Hartman.

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diesem Zustand geglückt wäre, genau das Richtige zu tun, wenner angegriffen worden wäre, obwohl er nie zuvor ein Schwert be-nutzt hatte.

Kamae ist wirklich eine Meisterprüfung. Schon da - bevoreine Bewegung eingeleitet wurde - unterscheidet sich der An-fänger markant von dem Erfahrenen. Es gibt unzählige Geschich-ten in Japan darüber, wie Duelle zwischen Samurais schon inKamae entschieden wurden, ohne dass ein einziger Hieb gefallenwar. Derjenige welcher ein überlegenes Kamae hat, verliert denKampf nicht.

Der große Schwertmeister unserer Zeit ist der alte KiyoshiNakakura, graduiert zum neunten dan sowohl in Kendo als auchin Iaido (den zehnten Dan kann man in diesen Budoarten nurposthum zuerteilt bekommen). Er hat in seinen jüngeren Tagenauch Aikido trainiert. Nakakura erzählte mir einmal, wie er seineDanprüfungen durchführt. Er studiert nur das Kamae des Trai-nierenden, dann weiß er, welchen Dangrad dieser haben soll undsieht überhaupt nicht darauf, was sie unter der ganzen restlichenPrüfung machen. Hier und da passiert es trotzdem, dass er zögert- soll dieser Schüler den dritten oder vierten Dan haben? In einemsolchen Fall hält er die Augen auf die allererste Bewegung. Gleichob das ein Anfall oder ein Parieren ist, Nakakura weiß sofort, wel-cher Grad es wird - und schließt die Augen. Mehr muss er nie-mals sehen.

Kamae ist wie gesagt in den Budoarten jeweils ein wenigunterschiedlich. Das hat mit deren Techniken und Zielen zu tun.Im Judo steht man mit den Füßen genau unter den Schultern, sodass sie einige Dezimeter Abstand haben, aber kein Fuß ist vordem anderen. Das ist die beste Ausgangsstellung für die vielenWürfe und Fußschwünge des Judo, wenn man schnell zwischenVerteidigung und Angriff wechseln will. In der grundlegendenStellung von Karatedo macht man einen großen Schritt vorwärts,so dass der Körper gesenkt wird, das hintere Bein wird gestrecktund das vordere gebeugt. Die Füße stehen etwas mehr als schul-terbreit. Die Position soll maximale Standfestigkeit und Kraft fürdie dynamischen Karate-Techniken geben. In Kendo macht manetwa einen halben Schritt vorwärts und hebt die hintere Ferse.

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Tomas Ohlsson und Stefan Stenudd, aikibatto, Malmö.

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Stefan Stenudd und Håkan Karlsson, Ven.

Die Füße befinden sich fast auf der selben Linie, ein gutes Stücknäher zusammen als schulterbreit. Das macht man, um eineschmale Zielscheibe zu werden und sich in einem Ausfall mitmaximaler Schnelligkeit nach vorn werfen zu können, ohne einenSatz machen zu müssen.

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Im Aikido ist die gewöhnlichste Grundposition hanmigamae, etwas länger als der halbe Schritt im Kendo und mit demhinteren Fuß zur Seite zeigend, dem vorderen Fuß gerade nachvorne, und der Körper ist ein wenig zur Seite gewandt - so alswäre man auf dem Weg in zwei Richtungen gleichzeitig. Das istauch eine der Ursachen. Man will Halt für freie Bewegungen zurSeite sowie nach vorne haben. Die erste Bewegung ist ja so gutwie immer ein Schritt schräg nach vorne. Der Winkel des hinte-ren Fußes nach außen bewirkt auch, dass man bedeutlich mehrKraft für einen schnellen Schritt nach vorne hat.

Aber das vornehmste Kamae, das man im Aikido haben kannist die Stellung, die keine besondere Stellung ist. Wir wollen dieseAnti-Kamae nennen. Im Aikido akzeptiert man niemals denKampf - man ist niemals darauf aus. Deshalb sollte man auchkeine Stellung haben, die Bereitschaft für Kampf ausdrückt. Einrichtig harmonisches Aikido geht vom gewöhnlichen Spazier-schritt aus, so dass man nicht einmal in der Ausführung der Tech-niken den Spaziergang unterbricht. Kamae ist nichts anderes alsdie Position, in der man sich zufällig befindet, wenn man mittenin einem Schritt stehenbleibt: der eine Fuß einige Zentimeter vordem anderen, der Körper nach vorne gerichtet und die Händeentspannt an den Seiten herabhängend, wie es sich ergibt. Manspricht von shizentai, der natürlichen Körperstellung, und Mori-hei Ueshiba betonte: "In Aikido gibt es keine besondere Vertei-digungsstellung, sondern wir stehen und bewegen uns völlignatürlich."

Das Kamae von Aikido unterscheidet sich damit völlig vondem der anderen Budoarten. Es wird unsichtbar, nicht existie-rend. Deshalb hat es keine Schwächen. Es soll den Partner nichtwarnen, indem es Bereitschaft und Können zeigt, es soll auchnicht die Wahlmöglichkeiten des Aikidoka begrenzen dadurchdass es nur zu einer bestimmten Verteidigung passt. Es soll nichtsanderes sein als das, was es zufällig wird.

Wenn man in seiner Grundposition keine Wachsamkeitzeigt, schafft man keinen Argwohn, wenn man seine Integritätund seinen Willen zur Verteidigung nicht markiert, wird der Part-ner nicht zur Herausforderung animiert. Man wird wie Luft.

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Mouliko Halén und Rose-Marie Millberg. Foto: Magnus Hart-man.

Aggression braucht eine Zielscheibe, gegen die sie sich richtet.Das ist sowohl bei Menschen als auch bei Tieren dasselbe. DerInstinkt anzugreifen wird augenblicklich sowohl dadurchgeweckt, dass man jemanden fliehen sieht, als auch dadurch, dassman jemanden sich zur Gegenwehr rüsten sieht. Nur der welcherkeine Bedrohung zu bemerken scheint, kann den Angreifer dazubringen, seine Absicht zu vergessen, oder sogar dazu, dass ihmniemals etwas derartiges in den Sinn kommt.

In der Ausführung von Aikidotechniken wendet man Kamaeauch auf eine ziemlich paradoxe Weise an - um einen Angriff aus-zulösen. Dadurch, dass man eine Blöße in seinem Kamae zeigt,kann man den Partner dazu bringen, genau diese anzugreifen, indem Augenblick, in dem man die Blöße zeigt. Man öffnet seinKamae und lockt damit den Partner zum Angriff. Mit beharr-lichem Training kann man auf diese Weise lernen, den Angreiferso unmerklich wie umfassend - und ausschlaggebend - zu manöv-rieren und manipulieren. Nicht einmal der wütendste Schwert-kämpfer will direkt in die gedeckte Stellung des Gegners springen,aber nimmt er eine Blöße in der Stellung wahr, einen Mangel anKonzentration - da attackiert er unmittelbar. Wenn der Vertei-

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diger es wählt, eine solche Blöße zu zeigen, kann er damit denanderen dazu bringen, seinen Anfall zu machen - und dieserrichtet sich gerade gegen die gezeigte Blöße. Deshalb soll man imAikidotraining immer zusehen, seinen Partner zu genau demAngriff zu verleiten, für den man die Verteidigung übt - teilsdamit der Angriff glaubwürdig und durchführbar wirkt, und teils,weil man sich so in der Kunst übt, den Angreifer versteckt zumanövrieren.

Wenn man statt dessen immer ein uneinnehmbares Kamaebehält, oder das Anti-Kamae, das den Angreifer seinen Willenzum Angriff vergessen lässt - da gibt es ja nicht viel zu trainieren.

Kokyu - Bauchatmung

Kokyu wird mithilfe von zwei Zeichen geschrieben - ko, dasbedeutet Ausatmen, und kyu, das bedeutet Einatmen - zusam-mengenommen beinhaltet das ganz einfach Atmung. Im Aikidozielt das Wort jedoch auf die spezielle Bauchatmung, die ange-wendet wird, um Kraft und Ausdauer zu geben. Man soll mit tan-den, seinem Zentrum im Bauch atmen, was auch den Kiflussstimuliert. Vielleicht wird das von der Reihenfolge der Wort-bestandteile angedeutet - man atmet aus, bevor man einatmet,aber was gibt es da auszuatmen? Ki natürlich, die Lebenskraft, dienicht auf den Lungen beruht und die uns schon füllt, bevor wirunseren allerersten Atemzug gemacht haben.

In westlicher Bedeutung ist kokyu Atmung mit demZwerchfell, der gewölbten Membran zwischen Brustkorb undBauchraum. Das müssen zum Beispiel Opernsänger lernen, umvolle Töne hervorbringen und sie mit ein- und demselben Atem-zug lang aushalten zu können. Aber im Budo soll man sich abso-lut nicht auf das Zwerchfell konzentrieren, auch wenn es strengphysiologisch dieses ist, welches die Arbeit tut. Nein, der Fokussoll sich präzise im Zentrum des Körpers befinden, tanden, unddie Atmung soll wie der Blasebald dieses Zentrums erlebt werden.Die Luft fährt, genau wie Ki, in tanden und von da wieder her-

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aus, in einem zunehmenden Fluss, der zum Schluss so wird, dassder Unterschied zwischen Ein- und Ausatmung sich auflöst. DieAtmung befreit sich von dem grundlegend linearen Ein und Ausund wird zu einer Spiralbewegung, bei der es nicht länger geht,die Einatmung von der Ausatmung klar zu unterscheiden. Daszeigt sich auch darin wie der Bauch sich mit der Atmung bewegt- überhaupt nicht.

Gute Bauchatmung erfordert aufrechte Haltung mit mar-kiertem Hohlkreuz, wobei der Bauch eher nach vorne gestrecktals eingezogen sein soll, was auch immer das moderne Schönheits-ideal von der Sache halten mag. Richtig deutlich kann man dieseHaltung bei den japanischen Sumoringern sehen - und bei Klein-kindern. Wenn man mit korrekter Haltung atmet, wölbt sich derBauch keinesfalls mit jedem Atemzug vor und zurück, sondernbehält seine Form. Ebensowenig werden die Schultern gehobenund gesenkt. Obwohl Kokyu eine umfassende und kraftvolleAtmung ist, wird es nahezu unsichtbar.

Das gibt auch einen klaren Vorteil im Budotraining. Seit Ur-zeiten weiß man in den japanischen Kampfkünsten von dem Um-stand, dass der Mensch am leichtesten zu überwinden ist, wenner einatmet. Da ist der Körper am schwächsten und verletzlichs-ten, die Bewegungen am langsamsten. Der Angreifer tut klug dar-an, seinen Ausfall genau dann durchzuführen, wenn der andereeinatmet. Wenn da der Unterschied zwischen Ein und Aus aufge-löst wird und der Körper nicht signalisiert, wenn das eine in dasandere übergeht, findet der Gegner keinen Moment, in dem erzum Angriff übergehen kann. Die Techniken des Aikido spiegelndiesen Prozess wieder. Zu Beginn machen sie einen großen Unter-schied zwischen Ein- und Ausatmung, wobei gewisse Momenteder ersten folgen und gewisse der zweiten. Mit der Zeit werdendie Unterschiede eingeebnet, so dass die Techniken unabgebroch-ene Ellipsen und Spiralen werden, in denen die Richtung derAtmung keine Bedeutung mehr hat.

Der grundlegende Hieb mit Katana, dem japanischenSchwert, zeigt das deutlich. Man fasst das Schwert mit beidenHänden und hält es vor tanden, in Bauchhöhe. Die Position wirdchudan kamae genannt. Dann hebt man das Schwert über seinen

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Kopf, gleichzeitig mit der Einatmung, und schlägt es kraftvoll miteiner Ausatmung nieder. Das Schwert landet präzis im selbenchudan kamae, von dem es ausging. Je besser man das Schwertbeherrschen lernt, desto minimaler wird der Unterschied zwisch-en diesem Auf und Ab mit dem Schwert, diesem Ein und Aus mitder Atmung, bis die ganze Bewegung wie ein geschlossenen Kreiswird, ohne Anfang oder Ende. Einem solchen Hieb kann manschwer entkommen.

Eine der besten Methoden, um sowohl sein kokyu, die Bau-chatmung, zu trainieren, als auch ein deutliches und stabilesZentrum, tanden, zu entwickeln, ist dieser grundlegendeSchwerthieb.

Im Aikido gibt es einige Techniken, die genauso deutlicheBeispiele für die Bauchatmung sind. Sie sind danach benannt -kokyuho und kokyonage, der Atmungswurf. Das sind Variationenvon Wurftechniken, bei denen die eigene Atmung die Atmungdes Partners sucht und ihr folgt und damit den Wurf selbstschafft. Die Techniken können gewiss sehr kraftvoll aussehen,aber sie bauen auf eine Vereinigung vom kokyu des Angreifersund des Angegriffenen, so als würden beide absichtlich im Taktmiteinander atmen. Da die Atmung die wichtigste Antriebskraft

Lars Göran Andersson, Torsby.Foto: Jöran Fagerlund.

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jeder Bewegung ist, wird die gemeinsame Atmung unwidersteh-lich.

Der Weg zu einer guten Bauchatmung ist nicht schwer, dochfür viele mühsam. Man muss sich eins ums andere Mal daranerinnern, dass man die Atmung vom Brustkorb zu tanden senkensoll, und am Anfang ist das rein physisch schwer zustande-zubringen. Es ist schwierig, seine Muskeln und Organe zu diri-gieren, aber es kommt Schritt für Schritt, mit Konzentration undÜbung, bis man eines Tages zu seiner Verwunderung merkt, dassman mit dem Bauch atmet ohne überhaupt daran denken zumüssen. Die erste Voraussetzung ist eine gute Haltung. Ohne denselben geraden Rücken und das deutliche Hohlkreuz, mit demder meditierende Buddha immer abgebildet wird, schließt manseine Atmung ein und sie kommt niemals über den Brustkorbhinaus. Die selbe Blockierung kommt von Kleidern, die um denBauch zu eng sitzen. Es gibt zum Beispiel viele, die im Budotrai-ning den Fehler machen, ihren Gürtel um die Taille zu knoten -da können sie kokyu nicht lernen. Der Gürtel soll nie höher alsbei tanden gebunden werden. Man muss seinem Bauch Freiheitschenken, ein abgeschnürter Bauch ist mindestens genauso hem-mend für die Atmung wie ein eng um den Hals geknoteterSchlips.

In der japanischen Weise auf den Knien sitzend hat man einegute Ausgangsstellung, um sowohl die rechte Haltung als auchdie rechte Atmung zu finden. Der Rücken wird so gut wie auto-matisch aufrecht, der Bauch weist nach vorne, und es ist nichtbesonders schwer, seine Atemzüge bis ins Zentrum des Körpershinunterzuziehen. Die Crux liegt darin, diese Atmung und Halt-ung zu behalten, wenn man sich erhebt und mit dem Aikidotrai-ning beginnt. Ebenso schwer ist es für viele, an der Bauchatmungfestzuhalten, wenn sie atemlos werden. Da beginnen sie oft zukeuchen und hastige, kurze Atemzüge mit dem Brustkorb zumachen - obwohl eine solche Atmung nicht so effektiv ist. Dasselbe Problem haben viele, wenn sie plötzlich ordentlich zugreifenmüssen - da kann es geradezu passieren, dass sie den Atem ganzanhalten.

Aber die Bewegungen des Aikido sind im Einklang mit

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kokyu geformt, und so wird die Bauchatmung unmerklich vomTraining selbst stimuliert. Mit der Zeit lernt man richtig zuatmen - und versteht nicht mehr, warum es einem früher soschwer fiel. Kokyu spielt eine so hervorgehobene Rolle im Aikido,dass man immer danach strebt, seinen Bauch direkt auf das zurichten, worauf man sich fokussiert - die Richtung, in die mansich bewegt, oder das Ziel, das man mit seiner Bewegung hat. Dasmacht sowohl der, welcher angreift, als auch der, welcher sichverteidigt. Um zum grundlegenden Schwerthieb zurückzukehren:die Ausgangsstellung chudan kamae ist mit dem Schwert vor demBauch, und da dieses mit beiden Händen gegriffen wird, kannman es schwerlich besonders weit in eine andere Richtung führenals dorthin, wohin der Bauch zeigt.

In allen Budoarten will man die ganze Zeit mit seinem Bauchin die Richtung weisen, in die man agiert. Nur so kann manmaximale Kontrolle über seine Bewegungen und Kraft in ihnenbekommen. Das klingt selbstverständlich, da die Anatomie desMenschen so funktioniert, aber viele Anfänger haben trotzdemSchwierigkeiten damit, in diesem Punkt immer das Richtige zutun. Der Bauch kann auf dem Weg in die eine Richtung sein unddie Arme in eine andere - da geht das Gleichgewicht verloren.Wenn man fühlt, dass der Bauch den Bewegungen nicht nurfolgt, sondern sie eigentlich ausführt, so wie die Nabe, die derAusgangspunkt für die Drehung eines Rads ist, da hat man eingutes kokyu.

Wenn man sein kokyu übt, sollte man seinen Ehrgeiz dahin-ein setzen, den ganzen Körper mit dem Fluss der Atmung zu fül-len und diese weit über die Grenzen des Körpers hinauszustreck-en. Wenn jemand kraftvoll mit tanden atmet, soll man dasweithin vernehmen können, ohne dass die Atmung laut werdenmuss. Man wird ein Blasebalg von Energie und doch diskret, sowie wenn frische Luft durch ein geöffnetes Fenster hereinströmt.Und wenn man ordentlich zugreift, so soll das sein wie bei einemDurchzug.

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Ma-ai - der sichere Abstand

Von den vielen Unterschieden zwischen den Nationalitäten isteiner der deutlichsten, welchen Abstand Menschen von unter-schiedlichen Kulturen gewöhnlich zueinander einnehmen, wennsie miteinander sprechen oder umgehen. In einigen Ländern istder Abstand kurz, man kann einander ohne Problem praktischauf dem Schoß sitzen und sich doch frei unterhalten. In anderen,wie zum Beispiel in Schweden, braucht man mindestens einenhalben Meter Distanz, damit die beiden sich nicht bedrängt füh-len und nach hinten ausweichen. Das wird ziemlich komisch,wenn Menschen von unterschiedlichen Gewohnheiten ein Ge-spräch führen - der eine geht nach vorne, um nicht unanständigdistanziert zu sein, der andere geht zurück, um sich nicht be-drängt zu fühlen.

Man kann von einer privaten Sphäre sprechen, die sich umden eigenen Körper ausbreitet. Innerhalb dieser Sphäre will manallein sein und in Ruhe gelassen werden, wenn es sich nicht umIntimitäten handelt. Japaner sind an Gedränge gewöhnt und ha-ben es deshalb leicht, sich zusammenzudrücken wie Sardinen inKonservendosen, ohne im geringsten auf ihre Integrität zu ver-zichten - sie haben eine Technik, so zu tun, als existierten dieanderen nicht. Wenn sie reichlich Platz haben, ziehen sie einenAbstand vor, der dem der Schweden gleicht.

Nun, in den japanischen Kampfkünsten gibt es eine ähnlichepersönliche Sphäre, die außerdem eine strategische Bedeutunghat. Zwei Kämpfer wählen in ihrer Ausgangsstellung einen gewis-sen Abstand voneinander. Dieser wird ma-ai genannt, was manübersetzen kann mit Abstandsharmonie oder -gleichgewicht. DerBegriff beinhaltet zwei japanische Schriftzeichen, von denen daserste Abstand bedeutet und stellt dar, wie die Strahlen einer Son-ne gerade noch in die Ritze zwischen zwei Schwingtüren zudrängen vermögen. Die andere Silbe im Wort ist dasselbe ai wiein Aikido.

Das Schriftzeichen für Abstand kann auch ein bestimmtesLängenmaß angeben, ungefähr zwei Meter, doch der korrekte

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Abstand zwischen zwei Kämpfenden variiert, abhängig von derenGröße, von der Kampfkunst welche sie ausüben und von eventu-ell verwendeten Waffen. Das grundlegende Prinzip für ma-ai isteinfach: sie sollen so weit voneinander entfernt sein, dass keinerden anderen mit einem Angriff erreichen kann, sondern einenSchritt nach vorne machen muss. Für zwei unbewaffnete Perso-nen beinhaltet das, dass sie mit ausgestreckten Armen nicht mehrerreichen als die Hände des jeweils anderen. Vielleicht liegt imwestlichen Händeschütteln ein Ritual mit derselben Bedeutung -man misst einen korrekten Abstand zueinander ab. In derSchwertkunst sollen Duellanten, die in der Stellung chudankamae stehen, wobei sie das Schwert in Höhe der Taille nach vor-ne strecken, ihre Schwerspitzen gekreuzt halten.

Wenn die zwei Trainierenden einander näher stehen als dasnatürliche ma-ai, so kann keiner von ihnen sich gegen einenplötzlichen Angriff wehren, und das vergrößert das Risiko füreinen Kampf, der aus reinem Unglück ausbricht. Das erinnert anden größten Haken des Rüstungswettlaufs - als die Technik dieZeit zwischen Abschuss und Niederschlag der Missiles auf einigeMinuten verringert hatte, mussten beide Seiten praktisch ständig

Chushingura, 47 ronin. Kuniteru (Sadashige) 1855.

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ihre Hand knapp über dem Knopf halten. Das gewährt nicht vielZeit, um seine Handlungen abzuwägen.

Im Aikido ist dieses ma-ai wie eine unsichtbare Sphäre umden Trainierenden, und erst wenn der Partner in diese Sphäredrängt, werden die Aikidotechniken in Gang gesetzt. MoriheiUeshiba sah seine Sphäre als ein eigenes Universum an, in demseine Naturgesetze herrschten - deshalb war ein Eindringen zumMisslingen verurteilt. Wenn der Angriff in sein ma-ai kam, muss-te er unvermeidbar in die Bahnen geführt werden, die dort herr-schten.

In der Mitte dieser Sphäre, dieses Universums, befindet sichnatürlich tanden, das Zentrum des Körpers. Sich gegen Angriffezu verteidigen ist kein Kampf zum Wiedererlangen der Ober-gewalt über das eigene Universum, sondern nur ein natürlicherAusdruck dieser Obergewalt. Der Angriff muss misslingen, da erdas Eindringen in die Welt eines anderen Menschen bedeutet.Wenn der Partner angreift, bricht er durch die Peripherie derSphäre des Angegriffenen und verliert deshalb die Kontrolle überseine eigene Sphäre und sein eigenes Zentrum. Die Kreis-bewegungen des Aikido befördern ihn wieder nach draußen, mitMitteln, die denen der Zentrifugalkraft gleichen. So lange es demAngreifer nicht gelingt, das Zentrum des Angegriffenen durchsein eigenes zu ersetzen, kann er nicht der Stärkste oder Stabilstesein.

Man könnte das mit dem Versuch vergleichen, eine Debattein einer fremden Sprache zu gewinnen versuchen. Mit seinemEindringen wird der Angreifer gezwungen, sich an die Sprache desAngegriffenen anzupassen. Wie kann das gut für ihn gehen? ImAikido muss man sich also zuallererst darüber im Klaren sein,dass es die Regeln und Bedingungen des Angegriffenen sind, diegelten müssen. Der größte Fehler, den der Verteidiger begehenkann, ist, den Willen des Angreifers gelten zu lassen, indem er ihnin seiner Antwort nachahmt und sich auf diese Weise seinemAngriff fügt. Da hat man schon seine eigene Sphäre verlassen undist Peripherie in der des Partners geworden.

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Irimi, tenkan - nach innen, nach außen

Eigentlich gibt es nur zwei Positionsveränderungen, zwei Schritteim Aikido: nach innen und nach außen, wie in der Atmung. Undwie in der Atmung sollen diese mit der Zeit zusammengleitenund zu Einem werden. Aber zuerst muss man den Unterschiedzwischen ihnen verstehen.

Der Schritt nach innen wird irimi genannt und liegt in seinerNatur der Mentalität des Angreifers am nächsten. Man geht sogut wie direkt auf den Partner zu, direkt in seine Sphäre hinein.Wenn man angreifen soll, gibt es keine andere Möglichkeit, aberauch in der Verteidigung verfährt man so, um zuvorzukommen,um den Angriff zu kontern bevor er vollendet ist. Die Kühnheitzu diesem Schritt nach vorne, einem kraftvollen Angreifer ent-gegen, zu haben, das ist einer der innersten Kerne des Budo - soschwer einem dieser Schritt fallen kann, so viel hat man durch ihnzu gewinnen. Irimi ist der Schlüssel für die Einsicht des Budo,dass der Angriff die schlechteste Verteidigung ist, dass der welcherangreift, eben dadurch dem Verteidiger unterlegen ist. Das kanjifür irimi besteht aus dem Zeichen für hineingehen oder durch-dringen und dem Zeichen für Körper, man geht also mit demKörper hinein.

Der Schritt nach außen wird tenkan genannt und stimmtbesser mit der Situation und der milden Strategie des Verteidigersüberein. Das Schriftzeichen besteht aus dem kanji für wälzen oderumwenden sowie für ändern. Hier geht man vom Angreifer weg,um ihn herum und hinter ihn. Auf diese Weise entkommt mandem Angriff und hat mit einer kreisförmigen Bewegung seineVerteidigung, seinen Gegengriff eingeleitet. Der Angreifende gerätin die Peripherie der Sphäre des Verteidigers.

Sagen wir, dass die zwei Kontrahenten durch ein Seil mitei-nander verbunden sind - der Angreifer am einen Ende und derVerteidiger am anderen. Die Länge des Seils, der Abstand zwisch-en den beiden, kann zweckmässigerweise dieselbe sein wie einkorrektes ma-ai, ungefähr anderthalb Meter. Der Schritt desAngriffs steuert direkt gegen den Angegriffenen, der sich seitlich

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nach vorne bewegt, fast zu der Position, von der aus der Angreiferbegann. Das Seil wird erneut gespannt, die Kontrahenten habenden Platz gewechselt, aber die Dynamik der Bewegung ist derart,dass es nicht erneut zwei Sphären mit je einem Zentrum gibt.Statt dessen gerät der Angreifer in die Peripherie des Angegrif-fenen und kann so selbstverständlich herumgeleitet werden, sowie die Planeten um die Sonne kreisen. Das beruht vor allem dar-auf, dass der Verteidiger zusieht, dass die Bewegung nicht nachdem Angriffsschritt aufhört, sondern sich in einem Bogen fort-setzt. Das erinnert an ein störrisches Pferd in der Manege - eswird mit dem Zaumzeug gezwungen, in der Peripherie des Kreisesdes Dresseurs zu verbleiben, anstatt in seiner eigenen Sphäre ver-harren zu können.

Ja, es ist wunderlich, dass das funktionieren kann. Man musses in der Praxis ausprobieren, um diese findige Dynamik zu ent-decken. Aber so ist es - der Anfallende verliert seine Kontrolle,gerade weil er der Anfallende ist und weil der Angefallene mitseinem ausweichenden Schritt reagiert.

Es ist leicht einzusehen, dass tenkan am stärksten mit denPrinzipien des Aikido übereinstimmt, doch auch irimi wird ange-

Järfälla 1973. Foto: Stefan Stenudd.

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wendet. Aber es ist nie der Fall, dass der Schritt sich direkt gegendie Richtung der angreifenden Kraft bewegt, was nur in einemZusammenstoß resultieren würde. Das irimi des Aikido gehtschräg hinein, in einer ausweichenden Bewegung, genau wie ten-kan schräg hinausgeht. Der Angriff des Partners geht vorbei,während der Verteidiger sich mit irimi vor den Körper des Part-ners und nahe an diesen heran stellt. Mit tenkan stellt sich derVerteidiger statt dessen daneben und so gut wie hinter denAngreifer.

An sich ist fast jede Verteidigungstechnik eine Kombinationaus den zwei Schritten: zuerst ein Schritt zur Seite und auf denPartner zu, dann ein Schritt herum und weg von ihm. Mit demersten Schritt entgeht man dem Angriff, mit dem zweiten leitetman den Konter ein, die Aikidotechnik selbst. Die zwei Schrittegleiten mit der Zeit zusammen zu einer einheitlichen Bewegung,fast einem einzigen Schritt.

Omote, ura - Vorderseite, Rückseite

Die meisten Aikidotechniken gibt es in zwei Versionen, diedadurch gekennzeichnet sind, dass sie ihr Schwergewicht entwe-der auf irimi oder auf tenkan legen - der Schritt hinein oder derSchritt herum. Die Version, die auf irimi basiert, wird haupt-sächlich vor dem Angreifer ausgeführt, während die andere Ver-sion eine Positionsveränderung um diesen herum und hinter die-sen beinhaltet. Es pflegt für Anfänger im ersten Jahr des Aikido-trainings sehr schwer zu sein, diese zwei Versionen unterscheidenzu können und sie mit Verständnis für ihren Unterschied auszu-führen. Selbst hatte ich in der entsprechenden Periode die bemer-kenswerte Eigenheit an mir, dass ich, selbst wenn wir in der erst-genannten Form unterrichtet wurden, die zweite Form ausführte,ohne es zu merken, auch wenn wir diese noch nicht geübt hatten.Mein Lehrer zu jener Zeit, Allan Wahlberg, hatte mächtig Spaßdamit. Selbst will ich glauben, dass das darauf beruhte, dass ichinstinktiv nach der weichsten Möglichkeit suchte, dem Angriff zu

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begegnen, da ich verstanden hatte, dass das der Witz mit Aikidowar, und da wurde die am meisten ausweichende Bewegung dienatürliche.

Als ich anfing, Aikido zu trainieren, war die Terminologiebegrenzt und leidlich ins Schwedische gebracht, und so wurdendie zwei Formen positiv und negativ genannt, während die kor-rekte japanische Bezeichnung omote und ura ist. Im Aikido wer-den diese Begriffe manchmal synonym mit irimi und tenkangebraucht, da sie deutlich paarweise zusammengehören, irimi/omote und tenkan/ura, so wie es weiter oben beschrieben wurde.Aber omote und ura sind komplexe Begriffe mit einer Bedeutung,die sich weit über die technische Terminologie des Aikido hinauserstreckt.

Omote bedeutet in etwa Vorderseite oder Außenseite undkommt ursprünglich von der Bezeichnung für die haarige Seiteeines Pelzes oder die Außenseite eines Kleidungsstücks. Es handeltsich also um das Äußere, das Sicht- und Offenbare. Ura steht fürdie entgegengesetzte Seite, Rück- und Innenseite, das Verborgene.Ursprünglich bedeutet es Futter oder die haarlose Innenseite desPelzes. Dieses Wortpaar kann daher mit den Gegensätzen off-enbar und verborgen verglichen werden, oder, wenn man so will,mit aufrichtig und ausweichend. Ich habe nie den Eindruckbekommen, dass japanische Lehrer irgendeine moralische Wer-tung dahineingelegt haben, obwohl das für uns im Westen nahe-liegen würde. Eher ist mein Eindruck, dass sie das Ganze wie diezwei Seiten einer Münze sehen, so unvermeidlich wie eben dieTatsache, dass ein Kleidungsstück sowohl Innen- als Außenseitehat.

Im Training zieht man einen deutlichen Gewinn daraus,wenn man versucht, sich in diese Gegensätze respektive Charak-tere einzuleben, so dass die Omoteformen einer Technik nahezuaufdringlich durchgeführt werden können, mit der starken Ein-stellung, dem Angriff möglichst schnell zu begegnen - natürlichtrotzdem mit einer weggleitenden Körperdrehung, tai sabaki, sodass man nicht mit der Kraft des Angriffs zusammenstößt -während ura so ausgeführt wird, dass man schon bei der initialenBegegnung sozusagen für den Gegner verschwindet, aus dessen

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Sichtfeld, und weiter weggleitet, in den Schatten hinein. Daskann man im höchsten Grad mit den chinesischen Gegensätzenyin und yang vergleichen, die auf japanisch in und yo heißen, wel-che mit ihrer ursprünglichen Bedeutung Schattenseite und Son-

nenseite deutliche Parallelen zu uraund omote sind. Bei der Ausführungvon omote soll die Attitüde immermit yang vergleichbar sein, das alsextrovert, hell, warm beschriebenwird und traditionell als maskulingilt. Die Uraversion sollte hingegenyin gleichen, das als introvert, dun-kel, kalt und traditionell feminin

gilt. Man kann an und für sich gern die Geschlechterrollen disk-utieren, die darin liegen.

Ein anderes Gegensatzpaar, das mit omote und ura verwandtist, ist der alte Budobegriff shoden und okuden, die vorderen oderersten Lehren respektive die inneren oder tiefen Lehren. EinigeBudostile legten großen Wert darauf, ihre Kunst auf diese Weiseaufzuteilen, wobei ein Anfänger lange und gut shoden übenmusste, bevor er als reif angesehen wurde, in okuden eingeweihtzu werden - für einige wurde das nie aktuell. In gewissen Iaido-stilen zum Beispiel gibt es immer noch eine solche Aufteilung,aber inzwischen gibt es keine Restriktionen, die einen Anfängerdavon abhalten können, beide Arten zu trainieren.

Im Aikido gibt es keine Aufteilung in shoden und okuden,ich glaube, der Gedanke wäre sehr fremd für osensei - auch wenner ein klein wenig zurückhaltend damit war, andere als seine Leh-rer in Kontertechniken, kaeshiwaza, zu unterweisen. Ebensowenighatte Miyamoto Musashi, der legendäre Samurai, der im 17.Jahr-hundert lebte und das immer noch vielgelesene "Buch der fünfRinge" schrieb, irgendwelchen Respekt vor dieser Aufteilung. Ererklärt kategorisch, dass es "im wirklichen Kampf nichts derarti-ges gibt, wie mit einer äußeren Technik zu schlagen und mit einerinneren Technik zu hauen". Er gibt gewiss zu, dass es einfachereund tiefere Dinge innerhalb der Kampfkünste gibt, welche dieSchüler sich während ihrer Entwicklung mit unterschiedlicher

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Leichtigkeit aneignen können, aber er behauptet mit Bestimmt-heit, dass es nicht geht, die Techniken danach zu sortieren. Inne-res und Äußeres gehen unausweichlich ineinander auf: "wennman tiefer und tiefer in den Berg eindringt, wird man sich mit derZeit wieder an einem Eingang befinden."

Go tae - statisches Training

Es gibt im Großen und Ganzen drei Arten, Aikido zu trainieren:go tae, ju tae und ki nagare - statisch, weich und fließend. Auchwenn diese drei als verschiedene Stadien in der Entwicklung desAikidotrainierenden beschrieben werden können, sind sie als Trai-ningsform ständig wiederkehrend und gemischt. Sie komplettie-ren einander.

Go tae, das statische Training, geht von unbeweglichen Posi-tionen aus. Der Partner darf greifen, bevor man beginnt, seineTechnik auszuführen. Das ist natürlich nicht die beste Selbstver-

Yasuo Kobayashi. Foto: Magnus Hartman.

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teidigung, aber es ist äußerst wichtig, dass man lernt, damitzurechtzukommen. Für den Anfänger ist go tae auch die einzigeinleuchtende Möglichkeit, die komplizierten Aikidotechniken zulernen und damit vertraut zu werden, wie man sie ausführt.

Die Japaner haben lange mit großem Interesse trainiert, sichaus Griffen und allen möglichen Umklammerungen zu befreien.Sie betrachten besonders das Vermögen im Aikido, sich sichtlichleichthändig aus dem stärksten Griff zu winden, immer mitgroßem Respekt. Für die Samurais war es besonders angebracht,sich von Festhaltegriffen befreien zu können, die sie daran hinder-ten, das Schwert zu ziehen. Ebenso war es für die Gegner äußerstwünschenswert, die Hände der Samurais blockieren zu können.Aikido, das aus der alten Verteidigungskunst der Samurais hervor-gewachsen ist, beinhaltet deshalb eine Menge Techniken für denGriff ums Handgelenk. Das Training mit diesen Angriffsformenist auch eine hervorragende Möglichkeit, die Prinzipien undMethoden des Aikido auszuprobieren.

Wenn man nicht weiß wie, kann es sehr schwierig sein, sichaus einem starken Griff um die Handgelenke zu befreien - und ingo tae soll der Partner wirklich ordentlich festhalten. Auf dasselbeProblem stößt man natürlich in allen Formen von Umklammer-ungen - Leibgriff, Würgegriff usw. Der Größste und Stärkste hatnach allgemeiner Auffassung alle Trümpfe in der Hand. In go taetrainiert man vor allem zwei der Prinzipien des Aikido, die eineLösung für eine solche Klemme anbieten. Das erste ist, immerzuzusehen, dass man sein Körperzentrum hinter dem hat, wasman ausführt, das andere, die verborgene Beweglichkeit in demunbeweglichsten Zustand zu entdecken.

Das Wissen, dass man den Bauch auf das Ziel richten soll, sodass er Stütze und Abschussrampe für jede Bewegung ist, ist eineebenso souveräne Hilfe, wie wenn man lernt, dass man schwereSachen mit den Beinen und nicht mit dem Rücken heben soll.Alle Bewegungen im Aikido sollen von tanden kommen. Um daszu lernen, achtet man darauf, dass man seinen Bauch immer indie Richtung wendet, in die man gehen will. Das wird mit Kör-perdrehungen gemacht, besonders mit der Flexibilität der Hüft-partie. Es ist nicht allzu schwer, die Arme oder Beine oder den

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Kopf eines Menschen festzuhalten - aber es ist völlig unmöglichihn daran zu hindern, die Hüften zu bewegen und damit dieFlexibilität zu haben, die man braucht, um sich aus jedem Griffzu befreien. Durch Hüftdrehungen findet man einen Weg hinaus,und dadurch, dass man den Bauch in diese Richtung zeigen lässt,hat man Kraft und Festigkeit genug, um sich auf dem Weg nachvorne zu bewegen.

Obwohl es so aussieht, als würden die Hüften die ganzeArbeit machen, so ist es wichtig, sich auf den Bauch zu konzen-trieren - teils um sein Zentrum zu finden und teils weil man sonstleicht Balance und Festigkeit verliert. Ohne gute Balance kannman sich kaum aus einem Griff befreien. Faktisch wird es sichimmer zeigen, dass von zwei Kontrahenten immer der Stärkereist, welcher die beste Balance hat - ungeachtet des Formats vonBizeps und Trizeps. So wie die Boa Halt für ihren Schwanzbraucht, um die Beute zu Tode zu drücken zu können, muss derMensch Balance haben, um seine Stärke anwenden zu können.Und das Gleichgewicht sitzt immer im Schwerpunkt des Körpers- in tanden.

Deshalb kommt man ausschließlich auf dem Weg über dasZentrum des Partners an dessen Gleichgewicht, und das ist nötig,um ihn in die Bahnen der Aikidotechniken zu leiten und sichdamit zu befreien. Im Innern des Bauchs des Partners gibt es im-mer Beweglichkeit, in jede denkbare Richtung, wie ein Potential.Diese kann man wecken und leiten, ungeachtet dessen, wie festder Partner zu stehen scheint und wie schraubstockfest sein Griffist.

Die Beweglichkeit wird dadurch geweckt, dass man sich ent-spannt. Komischerweise ist es genau das Gegenteil von dem, wasMenschen zu tun pflegen, wenn jemand sie festhält. Sie spannenihre Muskeln, reißen und drücken um freizukommen. So etwasmacht den Partner nur stärker, und der Schraubstock wird festergezogen. Aber wenn man sich entspannt und weich wird, da ver-liert der Griff des Partners seine Festigkeit und die vielenRichtungen in die man ihn leiten kann, werden erkennbar. Manbraucht nur zu wählen.

Dieses lustige Naturgesetz ist leicht auszuprobieren. Lässt

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man einen Partner richtig hart am Handgelenk zugreifen undballt selbst seine Hand, spannt die Armmuskeln - so fühlen beide,wie stark der Griff des Partners ist. Aber wenn man plötzlich dieHand öffnet und sich in den Muskeln entspannt, da merkt mandeutlich, wie der Griff des Partners sozusagen abgleitet, seine Stär-ke verliert. Er muss einen neuen Griff machen, erneut zupacken,um die Kraft und die Kontrolle zurück zu gewinnen. Bevor er dastut, ist es leicht, eine Aikidotechnik auszuführen. Es ist ja üblich,die Worte Weicheit und Beweglichkeit als Synonyme anzu-wenden. Wenn man weich wird, kann man sich immer bewegen,so sehr man auch festsitzt. In der Weichheit liegt wirkliche Stärke.

Ju tae - weiches Training

Das Wort go in go tae bedeutet eigentlich hart, aber in diesemZusammenhang trifft statisch besser zu. Der nächste Schritt, jutae, ist jedoch ein markierter Gegensatz zu dem harten: ju bedeu-tet weich - das ist das selbe Wort wie in Judo und Ju-Jutsu.

Ju tae ist das weiche Training, und es ergibt sich als völliglogische Folge des statischen Trainings. Go tae öffnet den Weg zuder weichen Methode, wird faktisch eine weiche Methode, jemehr man trainiert. Der harte Griff wird aufgeweicht und aufge-löst, die steife Position wird verwandelt in eine wogende Be-wegung. In ju tae geschieht das nicht im nachhinein, sondernschon von Anfang an. Man leitet die Aikidotechnik ein, bevor derAngriff vollendet ist, bevor der Griff voll und ganz um sein Zielgeschlossen wird. Wenn der Partner für seinen Angriff nach vornegeht, macht auch der Verteidiger den einleitenden Schritt in sei-ner Aikidotechnik. Nur in dem Augenblick, bevor der Angriffbeginnt, stehen beide still.

Der erste Schritt ist die nach vorne gehende und gleichzeitigweggleitende Bewegung, irimi oder tenkan, omote oder ura. Auchin diesem Schritt sind die Richtung des Bauchs und die Hüft-bewegung das Wichtige. Wenn die Hüfte gedreht wird, ver-schwindet man als Zielscheibe, ungefähr wie wenn eine Tür auf-

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geht, und man kommt neben dem Angreifer an, mit dem Bauchin seine Richtung weisend. Damit hat man einen unschätzbarenVorteil - der Partner hat seine Kraft und seinen Bauch nach vornegerichtet, in die Richtung, in der sich seine Zielscheibe zuerstbefand, während der Verteidiger mit gutem Spielraum in derSphäre des Partners ist und all seine Kraft auf diesen gerichtet hat.Der Partner benötigt einen vergleichsweise langen Zeitraum, umseinen Körper und seine Kraft umzulenken, und während dieserZeit kann der Verteidiger tun, was ihm einfällt.

Das was ihm einfällt, ist eine Aikidotechnik, die die Kraft desPartners in die falsche Richtung führt, dorthin, wo er keinenSchaden ausrichten kann, und ihn dann zu Fall bringt. Nur wennder Partner seinen Kraftfluss aufzuhalten und die Bewegung zustoppen vermag, hat er die Chance, in einer neuen Richtung zuattackieren. Die Aikidotechnik gibt ihm keine solche Chance.Was sie tut ist, ihn in seinem Angriff weiterzuleiten, länger als ersich gedacht hat, ihn aber im Besitz einer Art Hoffnung zu lassen,so dass er in seinem Körper das Gefühl hat, dass er sich andau-ernd in voller Fahrt befindet, um seinen Gegner zu besiegen -obwohl er keine Ahnung mehr hat, wie.

In ju tae gibt es nur zwei Momente des Stillstands - teilsbevor der Angriff eingeleitet wird, wenn die Kontrahenten ein-ander im korrekten Abstand ma-ai betrachten, und teils zu Endeder Technik in einem Festhaltegriff oder nach einem Wurf, derden Partner zu Boden gebracht hat.

Was vor allem in ju tae geübt wird, ist taisabaki, die Drehungdes Körpers, die dazu führt, dass der Angriff sein Ziel verpasst.Gleichzeitig wird dadurch die Aikidotechnik eingeleitet. Im Ver-gleich zu go tae hat man ganz einfach seine Hüftbewegung unddamit seine Schritte zeitlich vorverlegt. Die Bewegung, die einemin go tae erlaubte, sich aus dem harten Griff zu lösen, führt in jutae dazu, dass der Griff niemals Halt bekommt.

Das ist die normalere Art, Aikidotechniken auszuführen, undaußerdem wird es jetzt auch möglich, sich in der Verteidigunggegen Hiebe, Schläge und Fußstöße zu trainieren - so etwas istnatürlich unpassend aus einer statischen Position. Es führt auchautomatisch dazu, dass man von einer schrittweisen Ausführung

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von Aikidotechniken wegkommt. Man bekommt immer mehrein Aikido, in dem sämtliche Momente zusammen fließen undeine einzige, zusammenhängende Bewegung bilden. Damitnähern wir uns ki nagare.

Ki nagare - fließendes Training

Der scharfsinnige Leser hat bereits erkannt, dass der Unterschiedzwischen dem harten, weichen und fließenden Training des Ai-kido nicht so viel mit der Ausführung der Techniken zu tun hatals mit deren Einleitung. Ganz richtig. Go tae beginnt, wenn derGriff des Partners ordentlich geschlossen ist und ju tae, wenn derAngriff eingeleitet wird. Ki nagare hat keinen Startpunkt.

Aikido will in keiner Weise in einer Selbstverteidigungs-situation steckenbleiben, in einem Kampf zwischen zwei Willen.Ungeachtet wie groß die eigene Überlegenheit ist, so besteht dasRisiko, dass man die Herausforderung annimmt und es am Endedes Kampfes einen bitteren Verlierer gibt, egal wer das ist. Nein,

Ulrika Bosaeus, Stockholm. Foto: Magnus Hartman.

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in Aikido will man einen Zustand erreichen, der nicht von Ag-gression gestört, nicht von Herausforderungen erschüttert werdenkann, der nicht vor Feindlichkeiten in Schutz gehen muss. Mantrottet nur dahin, als wäre nichts geschehen.

Das ist ki nagare (oder ki no nagare, wie es auch geschriebenwird), ein ununterbrochener Fluss von Ki. Der angreifende Part-ner wird in diesen Fluss hineingezogen und weggeleitet, ohne dassder Verteidiger dafür seinen Kurs geändert oder Halt gemachthaben muss. Die Aikidotechniken werden auf dem Spaziergangausgeführt, ohne erkennbare Einleitung oder Abschluss. Es istnur der Angreifer, welcher eine Art Startpunkt ausmachen kann- seinen eigenen Angriff.

Wenn es viele Angreifer gibt, wird es sowohl natürlich alsoauch notwendig, ki nagare auszuführen, das nicht bei jemandemstehenbleibt und keine vorhersehbare Strategie enthält. Gutdurchgeführt sieht es unleugbar unterhaltend aus: Der Aikidokawandert planlos in einem Haufen von Angreifern herum, diesämtlich ihr Ziel verfehlen und in alle Richtungen fallen, wieBowlingkegel bei einem Strike. Aber die Prinzipien des Aikidosind deutlich und in dieser Lage nicht so schwer anzuwenden -schwerer ist es faktisch, einer der Angreifer zu sein, der Risikoläuft, von einem der seinen getroffen zu werden und der zudemgroße Probleme hat, die Augen auf dem erwählten Opfer zu hal-ten.

In ki nagare wird dieser natürliche Ki-Fluss und die Posi-tionsveränderung des Körpers in ständigem taisabaki trainiert.Dadurch dass man nie fest auf einem Punkt bleibt, können dieAngreifer sich nicht zu einem ordentlichen Angriff sammeln, da-durch dass man sich in ständigem irimi und tenkan bewegt, kannkein einzelner Angreifer mit seinem Angriff Erfolg haben. Manbemerkt auch das Ausgeklügelte der Aikidotechniken - sie sindalle so ausgedacht, dass man sich sogar während ihrer Ausführungin unaufhörlichem taisabaki bewegt, so dass die umgebenden An-greifer keinen Treffer machen können, während man mit ihremKumpel zu tun hat. Das war eine selbstverständliche Eigenschaftder Verteidigungskunst der Samurais, denn diese bereiteten sichfür das Schlachtfeld vor, nicht nur für Duelle Mann gegen Mann.

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Gisela Döhler, Malmö.

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Gisela Döhler, Malmö.

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Die gewöhnlichsten Techniken in ki nagare sind Würfe, dadiese schnell sind und nicht erfordern, dass man in irgendeinerPosition verbleibt. Aber auch die Festhaltetechniken funktionie-ren, wenngleich etwas modifiziert, gegen mehrere Angreifer. Teilskann man sie zu Würfen oder ein schnelles Zu-Boden-Bringenumwandeln, teils kann man mit ihnen den Partner steuern, sodass er im Weg seiner Kumpanen landet, und teils können selbstdiese mit einer ununterbrochenen Abfolge von taisabaki durch-geführt werden. Sämtliche Techniken bekommen jedoch mehrund mehr die Prägung von Fluss, Spiralen und Ellipsen, welcheWirbelwinden gleich die Angreifer zum Fallen bringen, auch oftdie, an die man nicht direkt Hand gelegt hat.

Selbstverständlich geht es, ki nagare auch zu zweit zu trai-nieren, indem der Angreifer sich nach jedem Fall beeilt aufzu-stehen und erneut angreift. Der Verteidiger sollte sich die ganzeZeit in Bewegung befinden, besser auf den Partner zu als von ihmweg, so dass das Tempo gesteigert wird. Das kann eine ziemlichkonditionsfordernde Trainingsform sein. Eine gelungene Metho-de, das Tempo hochzubringen ist kakari geiko, da mehrereAngreifer in einer Reihe stehen und einer nach dem anderen nachvorne eilt, so bald der Verteidiger den vorhergehenden zu Fallgebracht hat - oder noch besser kurz bevor er noch dahin gekom-men ist. Durch ein solches Training lernt man auch, sich unmit-telbar an das unterschiedliche Temperament, die unterschiedlicheGröße und Stärke usw. der verschiedenen Angreifer anzupassen.

In einem hohen Tempo von ki nagare ist es unmöglich, seineTechniken mit Hilfe des Gehirns zu machen - das ist ein weitauszu langsamer Befehlsgeber. Die Initiative muss in die Reflexe, indie Intuition und ins Gefühl verlegt werden. Man setzt seinenFluss in Gang und lässt die Aikidotechniken dann diesen natür-lich ausdrücken, diesem folgen, wie es kommt. Man kann das mitder Improvisation eines Musikers vergleichen, bei der das Gehirnweit hinter der Bewegung der Finger auf dem Instrument zurück-bleibt.

Ki nagare ist natürlich die Trainingsmethode, die dem Wesendes Aikido am nächsten liegt. Der Aikidoka soll sich ständig indiesem Fluss befinden, der automatisch zu Techniken führt, wenn

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jemand ihn angreift - und das unmittelbar, natürlich, so als wäreder ganze Verlauf vorbereitet und einstudiert. In Wirklichkeit istes unmöglich, ein solches Aikido durch Vorbereitung und Ein-studieren zustande zu bringen. Es muss unvorbereitet aus einemwachen und lebenden Zentrum geboren werden. Wenn es funk-tioniert wie es soll, benötigt man immer weniger physischen Kon-takt um die Aikidotechnik durchzuführen, man wird eher zueinem Strom, in dem der Angreifer mitgerissen wird. WederGrifftechniken noch Wurf erfordern physische Anstrengung oderdass man sich an seinem Partner festsaugt. Es fließt nur. Obwohldas wie eine unzuverlässige Selbstverteidigung wirkt, bevor manversteht, wie es vor sich geht, ist es der Weg zu einem richtig hin-reißenden Aikido. Man sollte mit der Zeit seinen Partner mit dergleichen Leichtigkeit hantieren können, wie der Dirigent seinOrchester - vielleicht am Ende aus derselben Entfernung.

Zanshin - der ausgestreckte Geist

Wenn man in ki nagare wie ein Wirbelwind zwischen den Angrei-fern umherfährt, passiert es leicht, dass Umsicht und Fürsorge aufder Strecke bleiben. Die Angreifer werden weit umher und gegen-einander geworfen, Blessuren und Bitterkeit sind die Folge. Dasist nicht gut. Der wohlmeinende Aikidoka will seine Angreifer vorunnötigem Schaden schützen, er gibt sich damit zufrieden, ihneneinen besseren Weg zu zeigen als den Angriff, den sie sich selbstgedacht haben. Keiner soll zu Schaden kommen, alle sollen stattdessen eine Lehre ziehen und den Kampf als weisere, friedvollereMenschen verlassen. Deshalb hört die Aikidotechnik nicht imund mit dem Wurf selber auf, sondern wird durch die ganze Bahndes Fallenden verlängert und dauert bei ihm an, bis er sich ent-scheidet, seine unfreundliche Gesinnung aufzugeben und wegzu-gehen. Die Aufmerksamkeit und der Kifluss des Aikidokas umge-ben und führen den Angreifer unaufhörlich während des ganzenWurfs, so dass er fühlt, welche Bahn für seinen Fall die schon-endste ist, und erkennt, welche Gesetze in der Sphäre des Aikido-kas, in dessen Universum, gelten.

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Der Wurf im Judo geschieht im selben freundlichen Geist:der Werfende hält den einen Arm des Fallenden so, dass diesersicher auf der Seite landen kann und sein Kopf nicht auf demBoden aufschlägt. Im Aikido hält man den Fallenden selten fest,aber will mit der Richtung seiner Bewegung und seinem Ki denbesten Weg für den Fall weisen. Man will sozusagen nicht nur dieBeine unter dem Angreifer wegziehen, sondern auch ein Kissendahinlegen, wo er mit seinem Hinterteil aufkommt. Wenn sierichtig ausgeführt werden, ist es deshalb nicht so besonders unbe-haglich, von den Würfen des Aikido erwischt zu werden, manfällt weich, und in den Festhaltetechniken wird man sanft um-fangen.

Das kommt durch zanshin zustande, den ausgestrecktenGeist, ein Begriff, der vor allem in Karatedo betont wird, der aberauch im Aikidotraining Bedeutung hat. Das Wort besteht auszwei kanji, teils bewahren und teils Herz oder Sinn, also, einbewahrter Sinn, eine Konzentration, die nicht nachlässt. DasHerz / der Sinn ist auf japanisch shin oder kokoro und wird inungeheuer vielen Zusammenhängen gebraucht - immer in einerBedeutung, die sich von der westlichen darin unterscheidet, dass

Åke Bengtsson, Stockholm. Foto: Magnus Hartman.

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sie nichts mit dem Gefühlsleben zu tun hat, sondern mit Willens-kraft, Sinnesstimmung, Geist. Mit zanshin meint man, dass manden Kontakt mit dem Partner nicht verliert, wenn man den Wurfausführt. Man verbleibt mit seiner Aufmerksamkeit beim Partner,selbst wenn kein Körperkontakt mehr besteht - ungefährt so, wieder Speerwerfer mit dem Blick den Flug des Speers verfolgt, bisdieser auf dem Boden auftrifft. Darin liegt natürlich ein krie-gerischer Aspekt. Der Verteidiger bewacht und kontrolliert denAngreifer bis zu dem Augenblick, da von diesem definitiv keineBedrohung mehr ausgeht. Mit krafvollem zanshin kann man denAngreifer sogar davon abschrecken, seinen Angriff zu erneuern.

Ebenfalls mit zanshin kontrolliert man den Partner in einemFesthaltegriff. Zanshin ist die Kraft der Aufmerksamkeit und dieEntschlossenheit, sein Zentrum zu zeigen und daran festzuhalten.Man fährt fort, den Partner mit seinem Ki zu umschwärmen undzu durchdringen, so dass es keine gangbaren Wege gibt als die, dieman selbst abgesteckt hat. Bei einem Festhaltegriff wird der Part-ner also unbeweglich, nach einem Wurf ist er wie betäubt und hates äußerst schwer, sich zu erheben - so als würde man über ihmstehen und ihn zu Boden drücken.

Die freundlichere Seite von Zanshin ist also auch praktisch.Dadurch dass man seine Aufmerksamkeit über den Moment derAikidotechniken hinaus verlängert, ist es schwerer, ihnen Wider-stand zu leisten, und sie zeigen keine Blöße. Dadurch dass manden Fall und die Landung des Partners mit dem Geist steuert,kann dieser seine Bahn nicht ändern, und dadurch dass man zan-shins verlängerten Geist in Festhaltegriffen anwendet, werdendiese solide, ohne dem Partner Schmerzen zufügen zu müssen.

Man kann sagen, dass zanshin der klare entschlossene Geistist, der den Partner erreichen und durchdringen soll - sowohl vordem Angriff, so dass dieser kommt, wann und wie der Aikidokawünscht, als auch während der Technik und danach. Zanshin istdas Verhältnis des Aikidoka zum Partner, und das soll sein wie dasdes Herrschers zum Untergebenen - aber eines milden Herrsch-ers mit Fürsorglichkeit für seinen Untergebenen. Ein hochste-hendes zanshin ist keinesfalls bloß zum Schutz des Verteidigersda, auch der Angreifer wird davon in Obhut genommen und

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geschützt. Wenn das zanshin eines Aikidoka zu reinem Wohlwol-len geworden ist, glaube ich nicht, dass es länger möglich ist, ihnanzugreifen.

Uke - der geführt wird

Sicherlich sind es nur die Techniken des Verteidigers, die Aikidosind, aber die Rolle des Angreifers kann man dabei nicht vernach-lässigen. Ebensowenig sind die Art und Qualität des Angriffsbedeutungslos. Aikido beinhaltet keine Angriffstechniken, es istdeshalb völlig gewöhnlich, dass die Trainierenden die Übung indiesen und die Konzentration auf sie vernachlässigen. Aberschwache, halbherzige Angriffe führen zu schwachem und halb-herzigem Aikido. Beide Rollen sind gleichwertig, da es sich imAikido um Zusammenarbeit handelt, und darum, die angreifendeKraft zu leiten.

Der Angreifer wird uke genannt, wie in dem Term für dieFalltechnik - ukemi. Das kanji für uke ist ein Zeichen, das bedeu-

Kazuo Igarashi. Foto: Magnus Hartman.

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tet, entgegennehmen und empfänglich sein, und die darinenthaltenen Symbole zeigen eine Hand, die etwas gibt. DerAngreifer ist also der, der geführt wird, der entgegennimmt. DerVerteidiger, derjenige, welcher führt, wird tori oder nage genannt- wie in nagewaza, Wurftechnik. Tori bedeutet ganz einfach neh-men und wird lustigerweise mit Symbolen für eine Hand, diejemanden am Ohr greift, geschrieben - eine Handlung, die gleich-wertig damit zu sein scheint, wie wir westlichen Menschen sieanwenden, und die daher andeutet, dass man ein erzieherischesZiel verfolgt oder zeigen will, dass man berechtigt dazu ist. Es istzu beachten, dass das Wortpaar also nicht geben und nehmen ist,sondern nehmen und entgegennehmen, also haben uke und toriähnliche Aufgaben im Aikidotraining - nur mit dem Unterschied,dass es tori ist, der die Initiative hat, obwohl es uke ist, der mitseiner Attacke einleitet. Man soll also im Aikido zusehen, dassman die Initiative übernimmt, nicht um zu siegen, sondern umzuzusehen, dass beide etwas lernen. Da das so viel mehr bedeutetals nur Leute herumzuwerfen, ziehe ich das Wort tori dem Wortnage vor, obwohl beide im Aikido angewendet werden.

Tori hat die Rolle des Friedvollen, der den Angriff ruhigerwartet und ihn so angenehm neutralisiert, wie er es vermag. DieRolle des Angreifers ist natürlich eine ganz andere. Er soll mitvoller Konzentration und Geschicklichkeit angreifen. Ein minder-wertiger Angriff gibt schlechtes Training und schafft Disharmo-nie in der Ausführung der Aikidotechniken.

Es ist wirklich nicht leicht, ein guter uke zu sein. Man musslernen, eine lange Reihe Angriffstechniken zu beherrschen, koge-kiho, die in der Regel von den anderen Budoarten entliehen sind- etwa die Schläge und Fußtritte des Karatedo, die Schwertformendes Kendo und die Griffe des Judo. Es reicht da nicht, diese Tech-niken lässig anzudeuten, nur weil man weiß, dass man sowiesoverfehlt und geworfen wird. Es geht gewöhnlich gut, wenn maneine Technik das allererste Mal übt, aber schon wenn der uke sicherhebt, um ein zweites Mal anzugreifen, hat sich sein Angriffetwas verändert. Er weiß, welche Technik ihn erwischen wird undsteuert seinen Angriff unbewusst ein wenig um - entweder um dieDurchführung der Aikidotechnik zu verteidigen, oder um sie

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Doshu Kisshomaru Ueshiba, 1921-1999.

leichter und angenehmer zu machen. Leider wird das Trainingvon diesem Augenblick ein wenig verfälscht.

Aikido baut nicht so sehr auf Physiologie - vorgestreckteFäuste oder heranstürmende Körper - wie auf Energien und Ge-setze innerhalb des körperlichen Ausdrucks. Deshalb ist es am

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wichtigsten, dass der Geist im Angriff der richtige ist. Der ukemuss den Geist des Angreifers annehmen und ihn voll und ganzausleben. Sein Schlag strebt danach, den Verteidiger zu treffen,sein Griff danach, ihn festzuhalten - genau wie im wirklichenKampf. Es ist selbstverständlich, dass er trotzdem denselben Typvon Vorsicht zeigt wie nage es seinerseits tut, so dass sie Ver-letzungen vermeiden.

Der Uke soll sich anstrengen, sich in seinem Angriff zubenehmen wie ein großartiger Samurai - vorwärts gehen mit tan-den, mit dem Kifluss und mit Entschlossenheit. Aikido ist so aus-gedacht, dass es beim allerbesten und allergeschicktesten Angriff,beim schwersten Herausforderer funktioniert. Deshalb gibt deruke nur dann, wenn er sein Äußerstes tut, um all das zu werden,dem tori die Chance, seine Technik zu solchem Können zu feilen.

Der uke muss sich die ganze Technik hindurch so verhalten,als ob er wirklich einen Anfall gegen einen Feind ausführte. Vieletrainieren so, das sie einen kraftvollen Angriff machen und dannvöllig abschalten, so bald der nage seine Aikidotechnik einleitet.Es ist, als würde man leblose Dinge werfen oder in einem Festhal-tegriff zu Boden führen. Das ist nicht natürlich. Der Angriffswilledes Angreifers soll die ganze Technik hindurch fortgesetzt werden,so dass es für den uke möglich ist, sich zu befreien und denAngriff sofort zu erneuern, wenn der nage während des Verlaufseinen Fehler macht. Das klingt wie ein aggressives Spiel, aber dasist genau das, wozu die Aikidotechniken da sind, und womit sieam besten umgehen können, und so ist das faktisch der Weg zuden weichsten, angenehmsten Techniken.

Ein tauglicher Angriff folgt den selben Prinzipien wie dieVerteidigungstechniken des Aikido. Das Körperzentrum, tanden,ist die Basis für die Ausführung, und Ki ist die Energie, die dieeigentliche Attacke durchführt. Der uke soll nach gutem Gleich-gewicht und guter Kontrolle streben, den Bauch in die Richtungwenden, in die er sich bewegt, und nie die Konzentration ver-lieren. Er soll veruschen, die Initiative zu behalten - angreifen woer kann und sich schützen, wo er sich bedroht fühlt.

Der dem Anschein nach einfachste aller Angriffe, der Griffum das eine Handgelenk des Verteidigers, ist selbst genau so

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fordernd und komplex wie jeder andere Angriff. Der uke solleinen schnellen Schritt gerade nach vorn machen und das Hand-gelenk des nage in einem festen Griff schnappen, der den torisowohl davon abhält, die Hand wegzuziehen, als auch davon, sei-nerseits anzugreifen. Der Griff ist selbstverständlich Anfall undVerteidigung, und der Angreifer kann ihn natürlich von einemSchlag mit der freien Hand folgen lassen.

Jemanden greifen heißt, ihn mit seinem eigenen Zentrum zuverknüpfen, ungefähr so, wie wenn man einen Hund an der Leinehält. Man steht fest und strebt danach, mit dem Griff eine guteKontrolle über den Körper und die Bewegungen des anderen zuhaben. Genau wie in der Schwertposition chudan kamae hältman seinen Griff vor dem Bauch in der Höhe von tanden undsollte den Arm des anderen so leicht manövrieren können wie daseigene Schwert in chudan kamae. Ja, den Partner zu greifen istungefähr dasselbe wie ein Schwert zu halten. Der kleine Finger istam wichtigsten und schließt sich am härtesten um das Hand-gelenk, das Gleichgewicht und die Kraft im Griff gehen von tan-den aus und man soll jederzeit schnell sowohl seine eigene alsauch die Position des festgehaltenen Arms verändern können.

Wenn der Verteidiger versucht, sich freizuschlagen, kann seinArm leicht nach vorne geführt werden und den Schlag blockieren,wenn der Verteidiger reißt und zieht um loszukommen, soll ernur noch fester sitzen und selbst seine Balance verlieren. DerAngreifer strebt mit diesem Angriff danach, den anderen in seineeigene Sphäre, in sein eigenes Universum zu führen. Das wirdkeinesfalls mit steifen, angespannten Muskeln erreicht, sonderndurch Entspannung und einen konzentrierten Geist. Da kann esrichtig heikel für den nage werden, sich loszumachen, er mussden harmonischen Weg finden.

Während des ganzen Verlaufs der Aikidotechniken setzt derAngreifer damit fort, nach dieser Kontrolle zu streben, er richtetsein Zentrum so gut er kann gegen den Angegriffenen. Wennman die Aikidotechnik in ruhigem Tempo ausführt, kann dasgekünstelt wirken, aber so bald man gelernt hat, Aikido in dernatürlichen Geschwindigkeit auszuführen, merkt man, dass daseinzig mögliche ist. Aikido funktioniert so, dass der Angreifer

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seinen Angriff nicht abbrechen kann, bevor die Technik ihr Endeerreicht hat.

Allgemein nützt Aikido, mit fortschreitendem Training im-mer raffinierter, den offensichtlichen Umstand aus, der für jedenAngreifer gilt - er muss während seines Angriffs damit rechnen,dass auch er verwundbar ist. Wer danach strebt, einem anderen zuschaden, läuft das Risiko, selbst Schaden davonzutragen. Er willsich deshalb ebenso schützen wie er gewinnen will, sich vertei-digen ebenso wie angreifen. Viele Aikidotechniken bauen ganzeinfach auf dem grundlegenden Kampf von Körper und Geist umsein Überleben, auf dem Instinkt sich zu schützen, der jedenbewussten Willen und jedes einstudierte Bewegungsmuster über-trumpft. Selbst der furchtloseste Kämpfer hat Reflexe, die in ihmzucken, wenn empfindliche Teile seines Körpers bedroht werden,und lässt sich daher von dem Angegriffenen manipulieren. Aberdiese Reflexe lassen sich nur anwenden, wenn der uke so konzen-triert in seinem Angriff ist, wie er es wäre, wenn der Angriff inrichtiger Böswilligkeit gründete. Der uke muss also in seinemAngriff dieses Gefühl nachempfinden. Nicht so, dass er mit rabia-ten Attacken vorstürmt, denn das führt nur zu Schäden und einerunlustigen Atmosphäre im Training. Er erreicht das stattdessendadurch, dass er sich auf seine Attacke konzentriert und zuvergessen versucht, was der Verteidiger zu tun gedenkt, wie oft sieauch die selbe Sache gemacht haben.

Das Training mit einer solchen Einstellung ist eine wirkungs-volle Methode, um den Geist von Gedanken zu leeren, ein Wegzur Leere und Reinheit des Budo. Außerdem wird das Wechsel-spiel des Aikidotrainings zwischen Angriff und Verteidigung einausgezeichnetes Training darin, sein Ki zu lenken und sein Tem-perament zu steuern. Im einen Augenblick soll man uke sein - einkraftvoller, überwältigender Angreifer, und im nächsten nage - einfriedlicher folgsamer Verteidiger. Das öffnet die Tür zu einergroßen seelischen Ruhe.

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Shoji Nishio, Malmö Lehrgang 1996. Foto: Ulf Lundquist.

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Nobuyoshi Tamura, Stockholm Lehrgang 1998.

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Keiko - trainieren, trainieren, trainieren

Ich habe wohl früher hier an der einen und anderen Stellezumindest angedeutet, dass ein Buch über Aikido nie eine Vors-tellung vom Training geben kann, oder von auch nur einzelnenAspekten von Aikido und dessen Inhalt. Das Buch kann vonWert sein als Einführung für den, welcher sich fragt, was Aikidosein kann, da riskiert es aber, ein wenig irreführend zu sein, da esnicht das Erlebnis des Trainings vermitteln kann. Das Buch kannauch eine Nebenbeilektüre für den wissenshungrigen Aikidoaus-übenden sein - und in diesem Fall besteht das Risiko, dass er demDenken eine Sonderstellung einräumt, in gewisser Hinsicht demphysischen Training übergeordnet. Nichts könnte falscher sein.

Japanische Lehrer pflegen auffällig restriktiv zu sein, wenn esdarum geht, über die Philosophie und die Prinzipien des Aikidozu sprechen, und ebenso können sie oft auf direkte Fragen wasdas und jenes wohl bedeuten kann oder warum man so oder somacht, ganz einfach ungefähr antworten, dass "es nur darum gehtzu trainieren". Es liegt ein Gedanke darin, um nicht zu sagen eineganze Philosophie. Der Mensch ist ein ganzes Wesen - Intellektund Körper sind nicht isoliert voneinander, ebensowenig ist dereine ausgeschaltet, wenn der andere arbeitet. Wenn wir trainieren,gibt es die ganze Zeit Gedanken, die analysieren, deuten,forschen, Schritt für Schritt verstehen. Aber wenn wir lesen oderauf unseren Hinterteilen sitzen und Aikido erörtern, da hat derKörper nichts zu tun - er wird ausgeschlossen, kann mit nichtsanderem beitragen als dem trainingslüsternen Jucken, das jederAikidoausübende kennt und schon am Tag nach einer Trainings-stunde erlebt. Deshalb gibt es immer mehr zu trainieren, auchwenn die abstraktesten und theoretischsten Gedanken über Ai-kido den Geist beschäftigen.

Keiko ist das japanische Wort für Training, das in allen Budo-arten verwendet wird. Es wird mit zwei kanji geschrieben, diegemeinsam ganz einfach eben als Training oder Studium übersetztwerden, aber mehr erfährt man - wie so oft bei kanji - wenn mandiese Schriftzeichen etwas näher betrachtet. Das erste bedeutet

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nachdenken oder sich erinnern, und das andere bedeutet alt, daswas es lang gegeben hat. Man soll über das Alte nachdenken, überdie Tradition kontemplieren. Also ist es so, dass das Wort, obwohles gerade auf physisches Training angewendet wird, in seiner Ety-mologie ganz klar auf den Gedankenprozess abzielt. Mit anderenWorten wird unterstrichen, dass es eben durch das physische Trai-ning ist, dass man in den großen Gedanken Klarheit gewinnenkann.

Natürlich haben auch theoretische Studien ihren Platz, wennnicht aus anderem Grund, dann weil unsere Neugierde - der besteWegführer den wir in diesem Leben bekommen haben - unsdahin leitet. Wir dürfen nur nicht vergessen, dass es zuallererst inund mit dem Training im Dojo ist, dass solche Einsichten undsolches Wissen an ihren Platz fallen und zum Ausdruck kommen.Erst da werden sie begreiflich.

Takemusu - grenzenlose Improvisation

Das heutige Aikido ist gut organisiert, mit einer Hierarchie, mitRegeln für Kyu- und Danprüfungen, samt eines Systems von

Mikael Eriksson, c. 1973. Foto: Stefan Stenudd.

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Grundtechniken, die auf eine ziemlich festgelegte Weise ausge-führt werden sollen. Aber diese schmucke Ordnung ist nichtMorihei Ueshibas Werk. Mit Politik und Organisatorischemwollte er sich nie befassen. Prüfungen führte er spontan durch,fast aufs Geratewohl - sogar für die höchsten Dangrade. Ebenso-wenig baute er ein System von Grundtechniken auf - es gingmeistens so zu, dass er hier und da während der Trainingsstundensagen konnte: "Das hier ist eine Grundtechnik im Aikido." Undsofort machten seine Schüler Notizen.

Für Morihei Ueshiba war Budo etwas ganz anderes als dieweltliche Ordnung. Die Geheimnisse des Budo - und er war langesehr zurückhaltend mit ihnen - sollten nur von Lehrer zu Schülermittels des praktischen Trainings im Dojo überführt werden.Anderes hatte keine Bedeutung. Von irgendeinem besonderspädagogischen System konnte auch nicht die Rede sein, da AikidoUeshiba zufolge nichts anderes ist als der schöne Ausdruck füreinen reinen Geist und göttliche Prinzipien. Die Techniken hat-ten für ihn keinen anderen Wert denn als Verbindungsglieder zudiesem höheren und inneren Wesen, warum also eine große Sacheaus ihnen machen? Aikido soll absolut nicht bei einer Anzahl fes-ter Würfe und Festhaltegriffe stehen bleiben - im Gegenteil, esmuss takemusu werden, eine grenzenlose Kampfkunst, die imJetzt geboren wird. Improvisation.

Takemusu besteht aus zwei Worten. Take ist genau das selbewie bu in Budo, Kampfkunst, und musu bedeutet ungefähr gebä-ren, schaffen, so wie Geburt und Schwangerschaft. Man kann denganzen Ausdruck gut mit kreative Kampfkunst übersetzen. DieKreativität beinhaltet grenzenloses Anpassungsvermögen undVariation. Dafür reicht natürlich keine wie auch immer großeAnzahl von Grundtechniken. Aikido soll im Augenblick geboren,aus ihm heraus improvisiert werden, so dass es sich nie um einwiederholtes, vorhersehbares Muster handelt.

Die Grundtechniken sind vor allem Übungen darin, seinZentrum zu finden und sein Ki in Bewegung zu bringen. Wennman Aikido eine Zeit trainiert hat, merkt man immer häufiger,wie neue Wege für die Techniken möglich werden Das verlocktzum Experiment. Man fühlt in sich selbst eine konstante Beweg-

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lichkeit und Bewegung, die in tanden, im Zentrum des Körpers,gründet, und wenn man ihr Ausdruck verleiht, so enstehen aufungezwungene Weise Aikidotechniken. Manchmal werden siegenau wie die Grundtechniken, und manchmal so anders, dassman keine Ahnung hat, wie man sie nennen soll.

Leider tendiert die geordnete Form des Aikido für Trainingund Prüfung dazu, dieser Spontaneität und Improvisation ent-gegenzuwirken. Man sollte selbstverständlich die Gründe trai-nieren, so dass man sie beherrscht, und damit auch danach fort-setzen, so dass man sie immer mehr verfeinert. Aber man musssich auch von ihrem Muster freimachen. Variation und voraus-setzungslose Entdeckungsfahrten! Ein Weg, diese Kraft der Phan-tasie in seinem Aikido zu stimulieren ist, dass man mehrere Varia-tionen der Grundtechniken ausprobiert. Erfahrene Aikidolehrerkönnen etliche Variationen von jeder beliebigen Grundtechnikzeigen, aber es ist äußerst lästig zu versuchen, sie sich alle zu mer-ken. Man probiert sie aus und dann vergisst man sie. Ein anderesMal sollen sie natürlich wiedergeboren werden, als Improvisa-tionen und plötzliche Einfälle, und auf die selbe Weise sollenwährend des Trainings weitere Varianten auftauchen.

Man muss vorsichtig sein damit, sein Aikido zu memorierenund zu planen, so etwas entwickelt sich schnell zu Bürden undBegrenzungen. Stattdessen muss man wagen, darauf zu vertrauen,dass tanden alles beinhaltet, man muss es vortreten lassen, wennder richtige Moment da ist. Wenn man den Kopf von Gedankenleert und auf seine innere Kapazität vertraut, soll so vieles sichzeigen, dass man bald selbst seine größte Überraschungsquelleund sein bester Lehrer wird.

Einige Aikidolehrer sind so entzückt über die Variationen, diesie selbst schaffen oder von ihren früheren Lehrern mit sich tra-gen, dass sie sie genau systematisieren und memorieren - und siemit demselben Ernst und derselben Sorgfalt lehren wie dieGrundtechniken. Ich glaube nicht, dass das so viel mit takemusuzu tun hat. Was gewinnt ein Musiker dadurch, dass er seineImprovisationen notiert und dann genau einübt? Takemusu istvon seiner Natur wie ki: lass die Ideen so schnell dahinfahren wie

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sie gekommen sind, und es werden mehr. Es ist der Fluss, derwertvoll ist.

Als Morihei Ueshiba von takemusu aiki sprach, wollte er dar-auf hinaus, dass der harmonische Weg des Aikido auf natürlicheWeise eine unerschöpflich innovative Kampfkunst gebiert. Dergemeinsame Geist zwischen uke und nage in aiki führt zu einemgrenzenlosen budo. Nur dadurch, dass man den einleitenden Sch-ritt irimi oder nage macht, an der angreifenden Kraft des Partnersvorbei und doch im Rhythmus mit ihm, öffnet sich sofort eineLösung für den Verteidiger. Die Technik, die ihm einfällt, wirdsowohl effektiv als auch weich. Das Prinzip des aiki und der folg-samen Bewegung wird ein Tor, das eine Welt von Möglichkeiteneröffnet.

Nen - eins mit dem Augenblick

Der Begriff in Aikido, der vielleicht am schwersten zu verstehenund zu erklären ist, ist nen. Daran kann es liegen, dass sowohl inBüchern als auch in der Unterweisung wenig darüber gesprochenwird. Ich will es trotzdem versuchen.

Brandbergen. Foto: Gunilla Welin.

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Das Zeichen für nen ist aus zwei Wörtern zusammengesetzt- teils ima, das für das Jetzt steht, und teils shin oder kokoro, dasfür Herz und Geist steht. In der westlichen Symbolik wird dasHerz gewöhnlich als Wohnstatt der Gefühle beschreiben, aber injapanischer Perspektive ist es der Wille und der Geist, die dorthingehören. Der Unterschied ist eigentlich nicht so unüberwindlich.Den Weg des Herzens zu gehen, was ein europäisches Ideal ist,auf das zu vertrauen, was das Herz sagt, das kommt der japa-nischen Vorstellung viel näher. Wille, Vorsatz und Streben sindder Ausdruck des Herzens. Mit einem reinen Herzen geht mangeradewegs und ohne Bedenklichkeit nach vorne, ohne abgelenktwerden zu können.

Nen, der zusammengesetzte Begriff, kann in die Alltags-sprache mit Wahrnehmung oder Idee übersetzt werden, ein An-stoß oder Einfall, plötzlich auf etwas kommen. Der Geist befin-det sich im Jetzt, dem Augenblick des Willens. Das Herz ist ange-füllt von einem einzigen Ziel. Die Zusammensetzung von nenmit anderen Worten in unterschiedlichen Begriffen gibt mehrLeitfäden in die Hand. Sennen bedeutet Hingegebensein, vonetwas angefüllt sein. Nenriki bedeutet Willensstärke. Nenjirubedeutet Gebet, neniri Sorgfalt und nengan innerster Wunsch, sowie auch ichinen. Es handelt sich also die ganze Zeit um Willenund mentale Einstellung.

Im Aikido wird die Bedeutung des Worts verlängert und ver-tieft, so dass es eine Richtschnur für die innere Einstellung wird,dafür, wie der Geist im Training funktionieren soll. Es handeltsich in erster Linie darum, sich aus vollem Herzen auf nichtsanderes als auf eben das zu konzentrieren, womit man gerade zutun hat. Man soll mit seiner ganzen Aufmerksamkeit und allenSinnen völlig auf das eingestellt sein, was vor einem liegt, das, woman gerade mittendrin ist.

Auch wenn der Begriff nen sich schwer zugänglich zeigt, soist er trotz allem nicht genauso schwer zu begreifen wie auszu-führen. Genau wie in der Meditation merkt man schnell in sei-nem Training, wie viele unwillkommene Dinge sich einem auf-drängen und die Konzentration stören. Die fünf Sinne scheinenmit dem Gehirn zusammenzuarbeiten, um die Übung zu stören.

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Hans Gauffin. Foto: Magnus Hartmann.

Sie müssen gereinigt und gezügelt werden, genau wie man in kiaiall seine Energie in einer einzigen Bewegung sammelt. Aber denGeist beim Aikidotraining rein und fokussiert zu halten, ist bloßeine Negation und keineswegs das, was nen beinhaltet. Wenn der

Geist auf diese Weise konzentriert wird, entwickelt nen sich baldzu einem Wissen, einem Instinkt und einer Gewissheit, die Ai-kido mit der Eleganz der unerschöpflichen Selbstklarheit gebiert.Man braucht nicht zu denken und zu analysieren, nicht sich vor-bereiten oder bearbeiten. Es kommt automatisch.

Kinder funktionieren oft so mit ihrem Wissen und ihremDenken. Fragt man das mathematisch begabte Kind, wie es eineRechnung löste, so lautet die Antwort oft: "weil es so ist" oder"ich wusste das einfach". Mit reinem Geist und einer Konzen-tration auf den Augenblick und die Aufgabe kommt die Antwortoft genauso schnell und selbstverständlich, als hätten die Engel sieeinem ins Ohr gewispert.

Vielleicht beschäftigte den griechischen Philosophen Platondieser Umstand, als er sagte, dass der Mensch mit allem Wissenim Inneren seines Hirns geboren wird - er muss sich nur daranerinnern. Da ist nen der Zustand der Erinnerung, wenn mannicht mehr in den Windungen des Gehirns nach einer Antwortsuchen muss, seinen Körper nicht mehr ausprobieren muss, umden richtigen Schritt, die richtige Bewegung zu finden. Es fügtsich unmittelbar, natürlich.

Man muss nicht so wahnsinnig lang trainiert haben, um Bei-spiele für deutlich geschärfte Wahrnehmung und erhöhtes Reak-tionsvermögen zu erleben. Ein Angriff, der anders wird als mansich vorgestellt hat, führt ganz automatisch zu einer anderen Ver-teidigungstechnik als der, auf deren Ausführung man sich ein-gestellt hatte. Selbst Angriffen ganz ohne Vorwarnung kann manauf diese Weise entkommen, ohne eine Ahnung davon zu haben,wie es zuging. Nen verleiht ein Vermögen, das man sehr gut mitdem vergleichen kann, was wir "sechster Sinn" nennen. Man ver-mag mehr als man geahnt hat, nimmt Dinge wahr, für die Augenund Ohren fast nicht ausreichen. Und das wird keinesfalls mit derKraft und Schärfe des Gedankens erreicht - im Gegenteil setzt esvoraus, dass man seinen Geist vom Willen und von Voraus-setzungen leert, und so unbeschrieben wird wie das neugeboreneKind.

Morihei Ueshiba erzählte, dass er mit der Zeit einen sechstenSinn bekam, der praktisch wie ein Radar funktionierte. Wenn ein

Angreifer seinen Ausfall machen sollte, vernahm Ueshiba eine Artweißen Funken, der dem Angriff voranging. Er hatte deshalb aus-reichend Zeit um zu entkommen. Dann spielte es keine Rolle, obder Angreifer sich außer Sicht- und Hörweite befand. Der weißeFunke gab immer eine Vorwarnung.

Man kann das auch wie ein Jucken oder Kitzeln im Körperauffassen, wenn man bedroht wird - auch wenn die Bedrohungnicht über einen Einfall im Geist des Angreifers hinausgekommenist. Wenn man zufällig eine Blöße zeigt, fühlt es sich an wie einKitzeln in dem Teil des Körpers der nicht geschützt ist. Um dieseSensibilität zu erreichen, muss man den Lärm seines Gehirnsdämpfen, so dass man die schwachen Signale vernehmen kann.

Man leert das Gehirn von Gedanken, vertraut auf das innereVermögen und sammelt sich in seinem Zentrum.

Morihei Ueshiba meinte, dass nen eine Verbindung zwischendem Menschen und dem großen Ganzen wird, so dass es nichtlänger etwas ist, dass außerhalb des Auffassungsvermögens liegt.Es ist das Einswerden mit dem Universum, mit dem Natürlichen.Deshalb muss man ohne Ziel trainieren, ohne Selbsteingenom-menheit oder vorausgefasste Meinungen.

Wer seine Ambitionen nicht von sich werfen kann, wird die

Franck Noel. Foto: Magnus Hartman.

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ganze Zeit von ihnen gestört und gehemmt. Es ist nur der Vor-aussetzungslose, der akzeptieren kann, was auch immer ihm aufseinem Weg begegnet, und der sich ihm ohne Schwierigkeitenfügen kann. Wenn man den Geist leer macht, so hat er Platz füralles, was ihm begegnet und kann die allerschwächsten Signalevernehmen. So bedeutet nen den Geist leeren, die Gedanken vonsich werfen und Aikido im Moment entstehen lassen - so als hättees dieses vorher nicht gegeben, so als hätte es vorher überhauptnichts gegeben.

Kototama - die Seele der Wörter

Es gibt einen amerikanischen TV-Dokumentarfilm von 1958, der"Rendez-vous with Adventure" heißt, in dem zwei korpulenteHerren mit Cowboyhüten das Hombo Dojo, das Aikidohoch-quartier in Tokyo, besuchen. Sie sind rund um die Erde auf derJagd nach großem Abenteuer für richtige Kerle und werden neu-gierig auf diese merkwürdige Kampfkunst und ihren alten Be-gründer. Zu der Zeit war Morihei Ueshiba etwa 75 Jahre alt, wasihn nicht daran hinderte, mit einem der großgewachsenen Ame-rikaner eine Weile herumzutanzen. Bei einem Tischgespräch fra-gen die TV-Männer, was sich eigentlich hinter Aikido verbirgt,welche Prinzipien dessen Grund ausmachen und wie der alteMann, knapp halb so groß wie sie, solche Großtaten verrichtenkann. Ueshiba weist auf einen gezeichneten Kreis auf dem Tischvor ihnen und sagt, dass jeder Kreis ein Zentrum haben muss -sonst geht es nicht, ihn zu zeichnen. Aha, murmeln die Amerika-ner verwirrt.

Dann erzählt Ueshiba nur von kototama (oft kotodamageschrieben). Der arme Koichi Tohei, der zu der Zeit Ueshiba zuassistieren pflegte, tut was er kann, um in sein mageres Englischzu übersetzen. Schließlich gibt Ueshiba eine Probe der Lautmys-tik, die kototamas Kern ist, und spricht einen langen Vokallautaus, gleichzeitig wie er mit seinem Fächer ein Kreuz in die Luftvor sich zeichnet. Kototama war wirklich der subtile Kern in

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osenseis Aikido, und er konnte seinen Schülern lange Vorträgeüber den Gegenstand halten, die meist nicht viel mehr begriffenals die amerikanischen TV-Journalisten. Glücklicherweise stellteer nie die Forderung an sie, sich in die Lehre zu vertiefen, so wieer selbst es getan hatte. Im Gegenteil sah er es nicht gern, wennSchüler es ihm in seinen geistigen Übungen gleichtun wolltenund unterbrach sie mit den Worten: "Mach mich nicht nach!"

Doch war es in seiner Seele und seinem Herzen zweifellos so,dass Aikido ein Ausdrück für die Kosmologie war, die er in koto-tama gefunden hatte. Sein Aikido war in seinem Kern eine religi-öse Übung, die er auf die Grundlange der Lehre von kototamastellte. Ueshiba hatte ein zutiefst religiöses Weltbild mit shinto-istischem Grund, das speziell beeinflusst war von seinen vielenJahren mit der religiösen Bewegung Omotokyo.

Im traditionellen Shintoismus gibt es ein System von Kos-mologie und Mystik, das kototama genannt wird, und welchesdas Weltall ausgehend von Lauten und Vibrationen beschreibt.Kototama kann ungefähr mit die Seele der Wörter oder der Geistder Wörter übersetzt werden. Es ist ein System von Vokalen,Konsonanten und deren Kombinationen, in dem jeder Lautseinen Inhalt und seine dahinterliegende Bedeutung hat. Wenndie Laute kombiniert und ausgesprochen werden, sind diesedahinterliegenden Kräfte wirksam, wie Vibrationen. Sie trageneine spezielle Bedeutung und wirken auf den, der sie ausspricht.In kototama werden also, als eine Form der Meditation oder alsReinigungszeremonie, diese in ihren Zusammenhang gesetztenLaute geübt. Sie werden rezitiert, wie ein Gebet oder mantra, dieindische Form der Lautmeditation. Aber sogar in der alltäglichenRede, so wollen es die Prinzipien von kototama, sind diese Kräftewirksam.

Das System ist natürlich sehr alt und ist zu einer nahezuunüberblickbaren Komplexität entwickelt worden. Außerdemgibt es unterschiedliche Lehrrichtungen, aber die grundliegendenPrinzipien sind die selben. Kototama bezieht seine Kosmologieaus den japanischen religiösen Urkunden des achten Jahrhun-derts, Kojiki und Nihongi. Die langen Namen der Götter undderen Abenteuer sind in der Perspektive kototamas Schlüssel

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Onisaburo Deguchi, Omotokyo.

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dafür, wie die Welt entstanden ist und welche Gesetze darin herr-schen - sowohl für Menschen als auch für Götter.

Ähnliche mystische philosophische Systeme gibt es auch inanderen Religionen, wie im Buddhismus und Hinduismus, oderin der Kabbala des Judentums. Sogar die Anthroposophen legenden unterschiedlichen Lauten und Buchstaben einen gewissenWert bei. Im Christentum schimmern ähnliche Gedanken durch,zum Beispiel in den ersten Zeilen des Johannes Evangeliums: "ImAnfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott wardas Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sinddurch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht,was gemacht ist."

Möglicherweise kommen die Gedankengänge in Kototamavom tantrischen sphota-vada, das im 9.Jahrhundert von dembuddhistischen Priester Kukai in Japan eingeführt wurde. Er bil-dete die buddhistische Bewegung Shingon, Wort der Wahrheit,das es immer noch gibt. Das Wort shingon ist das selbe wie imindischen Sanskrit mantra, heilige Wörter, die dem Menschendurch ihr Aussprechen Klarheit bringen und ihn zu einem höhe-ren Zustand führen. Das bekannteste Mantra ist OM, das Uni-verselle, geschrieben mit einem Symbol, das die Buchstaben A, U,M enthält. Meditiert man mit dem Mantra OM, dann soll derLaut vom unteren Teil des Bauchs hoch in den Kopf steigen,wenn er von O nach M gleitet. Eine klassische hinduistischePhrase ist Om mani padme hum: "Om, das Juwel, hat sich in derWelt offenbart." Diese Betrachtungsweise liegt kototama sehrnahe.

Eine gewisse Renaissance in den ersten Jahrzehnten des20.Jahrhunderts brachte kototama in einige religiöse Sekten, wieOmotokyo. Einige dieser Bewegungen - jedoch nicht Omotokyo,welches eine bemerkenswert tolerante und offene Weltanschau-ung pflegte - sah diese Kosmologie als einen Ausdruck für dieOberhoheit der japanischen Sprache an. Als der Kaiser am Endedes zweiten Weltkrieges vor den amerikanischen Streitkräftenkapitulierte und erklärte, nur ein Mensch zu sein, kein Gott - daführte die japanische Enttäuschung und Scham dazu, dass derShintoismus an Boden verlor. Damit auch kototama.

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Sogar unter Japanern gibt es heute äußerst wenig Aikido-lehrer, die sich mit kototama auskennen, oder der Lehre auch nurdas geringste Interesse entgegenbringen. Es scheint so zu sein,dass nicht einmal der letzte doshu, Kisshomaru Ueshiba, Ober-haupt des Aikido nach osenseis Tod bis zu seinem eigenen Able-ben 1999, diesem jegliche besondere Bedeutung beimessen woll-te. Dasselbe scheint für den jetzigen doshu Moriteru Ueshiba zugelten. Doch Toshikazu Ichimura zum Beispiel, der zwischen1966 und 1986 als schwedischer Hauptinstruktor wirkte, studier-te kototama hingegeben und unterrichtete darin, bis er sich ineiner japanischen christlichen Bewegung engagierte. Dasselbe tatMasahilo Nakazono, der in den sechziger Jahren in Frankreichwirkte und am Anfang der 70er Jahre in die USA zog, wo er koto-tama und Naturmedizin praktizierte, aber bald völlig mit Aikidoaufhörte.

Obwohl kototama weit davon entfernt ist, eine sichtbareRolle im Aikido oder einer anderen Budoart zu spielen, findetman es da dennoch, sozusagen hinter den Kulissen. Viele Kiaisscheinen an die Prinzipien des kototama geknüpft zu sein, ebensoein guter Teil der Kosmologie, die von Aikido und anderen Budo-

HHHHHOOOOO

TTTTTAAAAA IIIII

SSSSSEEEEE

KKKKKUUUUU

MMMMMWEWEWEWEWE

RRRRRWWWWWAAAAA WIWIWIWIWI

YYYYYWWWWWOOOOO

NNNNNKototama, die den Lauten innewohnende Ordnung.

Aikido – die friedliche Kampfkunst 163

arten ausgedrückt wird. Wir wollen deshalb noch ein Auge aufdiese verzwickte Lehre werfen.

In der japanischen religiösen Urkunde Kijiki, Die Chronikder frühen Dinge, vom 8.Jahrhundert, wird berichtet, wie dieSonnengöttin Amaterasu einst aus Entzürnung über die Grau-samkeiten der Welt weglief und sich in einer Grotte verbarg. DieWelt lag in Dunkelheit und die übrigen Götter wussten nicht,wie sie das Licht in sie zurückbringen könnten. Sie versammeltensich am Eingang der Grotte und baten darum, dass Amaterasusich der Welt erbarmen und zurückkehren solle, aber diese ließsich nicht erweichen. Da kamen sie auf die Idee, sie mit einemSpiegel zu locken, und Amaterasu wurde so neugierig auf ihr eige-nes Spiegelbild, dass sie schließlich aus der Grotte kam, um sichselbst zu betrachten. Das Licht war in die Welt zurückgekommen.Diese Sage ist wohl die zentrale der religiösen Legenden in Japan,das sich ja Reich der Sonne nennt. Und es liegt große Symbolik inder Begegnung der Göttin mit ihrem Spiegelbild, die das Lichtwiedergebiert.

Kototama sieht das Weltall wie zwei Seiten: das was ist unddessen Ausdruck, Objekt und Subjekt. Das, was ist, hat keineBegrenzungen, aber ebensowenig hat es Substanz, bevor es be-merkbar wird, bevor es sich spiegelt und seiner selbst gewahrwird. So gibt es zum Beispiel den Menschen durch das, was er tut,den Abdruck, den er von sich hinterlässt. Jeder Mensch stiftetBekanntschaft mit sich selbst dadurch, dass er seiner Handlung-en, seines Körpers, seiner Gedanken und Gefühle gewahr wird.Es ist unser Bewusstsein, das unser Wesen augenfällig, das unssozusagen wirklich macht.

Kototama erklärt die Entstehung des ganzen Weltalls mitdiesen Begriffen. Zuerst war nur Chaos, die große Dunkelheit,die es gab, die aber nicht vernommen, nicht erlebt werden konn-te. Als das Licht plötzlich angezündet wurde, wurde im selbenAugenblick dessen Spiegelung geboren - die Wahrnehmung desLichts. Was wäre das für ein Licht, wenn kein Auge es sehenwürde?

Kototama beschreibt diesen Prozess mit Lauten, wobei dasursprüngliche dunkle Chaos U ist, welches dem Gott des Shinto-

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ismus Ameno-Minaka-Nusi entspricht. Der Betrachter ist derLaut A, der Gott Takami-Musubi, und das Betrachtete ist derLaut WA, der Gott Kami-Musubi. Wenn die betrachtende KraftA geboren wurde, muss diese von zwei zusätzlichen Kräftengefolgt werden: Die Erinnerung an das Betrachtete, die der LautO ist, und der Schlusssatz, das Urteil über das Betrachtete, derLaut E. Auf der Seite des Betrachteten - von WA - wird gleich-zeitig WO und WE geboren.

Von diesen vieren in der der dritten Generation der Schöp-fung kommen acht Kräfte, zwei aus jedem; sie sind die Konso-nanten kototamas: N,Y, R, M, K, S, T, H (kototama betrachtet Yals einen Konsonanten, und spricht ihn wie das deutsche J aus).Schließlich gibt es eine Lebenskraft, die all das durchdringt, einÄther ohne Grenze, der alle anderen Kräfte umschließt und sie zueiner Ganzheit werden lässt. Diese aktive Substanzseite ist derLaut I, der Gott Izanagi, und seine passive Objektseite ist derLaut WI, der Gott Izanami. Diese zwei Götter waren ein Zwil-lingspaar, männlich und weiblich, die in höchstem Grad an derSchaffung der Welt beteiligt waren - sie fuhren im Meer herumund brachten auf diese Weise den Schlamm an die Oberfläche,den die Legende als Japans Ursprung ansieht. In der inzestuösenBeziehung dieser zwei soll auch das kaiserliche Geschlecht seinenAnfang genommen haben.

Ausgehend von diesem Prinzip der Entstehung werden dieLaute in ein System geordnet, da die reinen Vokale Müttergenannt werden, die Konsonanten Väter, und die Kombinationenvon diesen sind die Kinder. Ein Schema von diesen zeigt insge-samt fünfzig unterschiedliche grundliegende, einsilbige Wörter -fünf Vokale, deren fünf Spiegelungen, sowie die vierzig Kombina-tionen mit Konsonanten. Wenn alle fünfzig Laute in einem ein-zigen vereint werden, wird das WN, was für das All steht.

Laute, die in diesem System nicht vorkommen - zum Bei-spiel die Vokale ä, ö und ü, sowie ein guter Teil Konsonanten -werden in kototama als unreine Laute angesehen, von Menschenerfunden. Solche Laute sind an und für sich nicht verwerflich,aber sie tragen nicht den spirituellen Inhalt von kototama in sich.Unter den außengebliebenen Konsonanten gibt es zum Beispiel

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L, aber die japanische Sprache unterscheidet nicht L von R, wel-ches vorkommt. D, G und Z fehlen, aber deren stimmlose Ent-sprechungen T, K und S sind vorhanden. Dagegen fehlen sowohldas stimmhafte B als auch dessen stimmlose Entsprechung P,obwohl sie - sparsam - in der japanischen Sprache vorkommen.Vielleicht gibt es irgendwo eine phonetische Erklärung dafür.

Nakazono und sein Nestor Koji Ogassawara meinen, dass diePrinzipien von kototama vor den Menschen verborgen wurden,als diese einst in Takamahara lebten, einer Art Lustgarten Eden,auf dass sie kämpfen sollten, um die Welt zu erforschen unddurch diese vertiefende Betrachtung diese ganz zu machen, fürsich selbst zu beweisen. In über viertausend Jahren haben wir aufdiese Weise unsere Welt erforscht und dargelegt, aber bald ist esZeit, dass wir auf die grundlegenden Beweise für die Wirklichkeitvon kototama stoßen und da in ein drittes Zeitalter eintreten.Nakazono hat durch das Studium von Takeuti Kobunken, einemshintoistischen Klassiker, herausgefunden, dass das im Jahr 2011geschieht. Wir sollen da eine wissenschaftliche Bekräftigung derThesen dieser Religion gefunden haben und in einer friedlichenWelt Ruhe finden, die sowohl ganz ist als auch sich selbst in ih-rer Ganzheit betrachtet.

Der Gedanke, dass Laute, oder richtiger gesagt Vibrationen,mit den Gesetzen und Kräften des Universums verknüpft sind,muss nicht so weit hergeholt sein. Diejenigen, die heutzutagekototama ausüben, deuten gerne auf die Landgewinnungen derPhysik, die in die selbe Richtung tendieren. Licht ist Wellenbe-wegung, Laut auch - wenn auch bedeutend langsamer. Die Ato-

N Y R M K S T H

I NI YI RI MI KI SI TI HI WIE NE YE RE ME KE SE TE HE WEA NA YA RA MA KA SA TA HA WAO NO YO RO MO KO SO TO HO WOU NU YU RU MU KU SU TU HU WU

Kototama, 50 grundlegende Wörter.

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me bestehen aus Partikelbewegungen und der ganze Kosmos wirdvon verschiedenen Arten von Strahlung durchdrungen. Kurzgesagt wird alles in unserem Kosmos von periodischer Bewegunggekennzeichnet - Vibrationen, wenn man so will.

Die Frage ist, ob es etwas, das sich nicht bewegt, überhauptgeben kann. Wir sprechen von dem absoluten Nullpunkt, minus273,16 Grad Celsius, als der Kälte, da die Bewegung der Atomevöllig aufhört. Sie wurde noch nirgendwo gemessen. Nichts aufder Welt scheint völlig ruhig sein zu wollen.

In kototama wird dieses Prinzip der Beweglichkeit durchTheorien über die unterschiedliche Bedeutung von Vibrationenund Lauten ergänzt. Das ist natürlich eng an die Sprache gekop-pelt und an die Gefühle und Assoziationen, die unterschiedlicheLaute auslösen, wenn wir sie in unseren Mund nehmen. Obwohldas Ganze auf der japanischen Sprache und Aussprache basiert, istes nicht allzuschwer, den Gedankengang und die Erfahrungen zuerahnen, die dahinter stehen. Die fünf Vokale beschreiben Stadienin der menschlichen Entwicklung, die im Fortschreiten der gan-zen Zivilisation wiederkehren.

Zuerst kommt das U, ausgesprochen wie in zum Beispiel"hungrig". Das ist das grundlegende Niveau, welches das reineÜberleben und die Fortpflanzung berührt. Nur streng materielleDinge üben eine Verlockung aus. Produktion und Vermögen.

O, ausgesprochen wie in "Organisation" ist der konstruktiveAbschnitt, Ingenieurskunst und Entwicklung. Hier wird erfun-den und aufgebaut, der Ehrgeiz regiert, und das Dasein wird orga-nisiert. Die Wissenschaft steht im Zentrum.

A, ausgesprochen wie in "Artist", ist das reflektierende Sta-dium, da das Dasein begründet und geschildert wird, da die Sehn-sucht nach Sinn und Schönheit groß wird. Kunst und Religiongehören hierher, wie auch das Gefühlsleben.

E, ausgesprochen wie in "Ethik", ist eben das ethischeNiveau. Hier vermag man die Eigenschaften und Ziele der vor-hergehenden Stadien klar zu betrachten und einzusehen, sowieKlarheit über recht und unrecht, gut und schlecht zu gewinnen.Die moralischen Prinzipien und die Aufgabe des Menschen imLeben stehen im Vordergrund.

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I, wie in "Ziel", ist die Lebenskraft selbst, die alles um-schließt. Erst wenn man dieses Niveau erreicht hat, fallen alleStücke an ihren Platz und man kann seine Einsichten realisieren,sie eins mit seinem Leben werden lassen. Das Kopfzerbrechen derfrüheren Ebenen verliert seine Bedeutung, alles ist klar und derMensch ist sozusagen vollendet und gleichzeitig wie neugeboren.Dieses höchste Stadium ist in sich nichts Neues, es haucht denErfahrungen aller vorhergehender Stadien lediglich Leben ein,setzt sie in ihren richtigen Zusammenhang.

Mehrere gewöhnliche Kiais lassen sich wie Richtungen aufdieser Entwicklungsleiter beschreiben. UI, das Ichimura anwand-te, beschreibt die Länge der ganzen Leiter vom Grund bis zurSpitze, wie ein Stimulantium, um sich nach oben zu bewegen undzu zeigen, dass der Bewegung an nichts fehlt. EI sind nur die zweiobersten Sprossen, in denen die ethische Dimension unterstrich-en und dann zu wirklichem Leben geweckt wird - da drückt derkiai ein moralisches Recht zu Handlung aus und einen Wunsch,dass diese für das Gute wirken soll, Leben geben soll anstatt es zustehlen. Kiai, die in die entgegengesetzte Richtung die Leiterabwärts wandern, sind nicht ebenso gewöhnlich, insbesonderenicht unter Japanern, und müssen laut kototama als unglücklichbetrachtet werden. Wer gern IA ausruft, offenbart damit, dass ermit seiner Technik das Leben zu einer Kunst begrenzen will, dasheißt, dass er mit narzissitscher Entzückung sein Vermögen vor-führt.

Die Konsonanten, die sogenannten Vaterlaute, sind nicht soleicht zu erklären. Sie kommen paarweise aus O, WO, E, WE, dawiederum die reinen Vokale für das subjektiv Aktive und derenGegensätze für das objektiv Passive stehen, was auch für die Kon-sonanten gilt. Die ersten vier, N, Y, R, M gehören zu der passivenSeite und haben weich ausgestreckte Töne. Die vier, die zur akti-ven Seite gehören, K, S, T, H sind kurz und hart im Ton, außerdem S, das jedoch vielleicht mit seiner Schärfe trotzdem dieserGruppe in seinem Ton am nächsten liegt. Die Konsonanten ha-ben Eigenschaften, die an sich Richtungen sind, und deshalbbedeutungslos, bevor sie etwas tragen - das heißt mit Vokalenkombiniert werden.

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N wird angezogen und Y entfernt sich, R wirbelt und M roti-ert, K berührt und S durchdringt, T verbreitet und H entwickelt.Die ersten vier sind vom passiven Typ, die letzten vom aktiven.

Wenn so Konsonanten und Vokale ihre Kinder bilden,bekommen diese eine spezielle Bedeutung, darauf beruhend, auswelchen Lauten sie Kombinationen darstellen. Diese Bedeutun-gen sind oft abstrakt und schwerbegreiflich, wenn sie von Verkün-dern kototamas präsentiert werden. Obwohl die Kinderlaute dieallerkonkretesten Ausdrücke für diese Prinzipien sein sollen, wer-den die Erklärungen vage, so als ob sie unmöglich dechiffriertwerden könnten. Man könnte wohl mit den Atomen vergleichen,die umso unbegreiflicher für die Wissenschaft zu werden scheinenje weiter man in sie vordringt, in je kleinere Bestandteile es glücktsie aufzuteilen.

Wir werden es trotzdem mit einem den Schweden naheste-henden Beispiel versuchen.

Wenn wir lachen, kann der Laut oft beschrieben werden wieder Konsonant H in Kombination mit einem Vokal. Das klingtungefähr so - und wir schreiben es so, eine Tatsache, der vonkototama eine große symbolische Bedeutung zuerkannt wird. Hbeinhaltet immer entwickeln, wie die Blume wenn sie ausschlägtoder auch das Feuer, wenn es sich verzehrt. Das Lachen wellt ausdem Inneren hervor, und es gehört natürlich zu dem Agierenden,zu dem, welcher betrachtet. Die Wahl des Vokals enthüllt weiter-hin den Charakter des Lachens, dessen Geist.

HI ist da das glückliche Gelächter, das in Entzückungschwelgt, darüber, dass es einen gibt und dass man dieses Lustigeerleben kann, was es auch ist. Das Lachen ist wie ein Rausch, einKitzeln.

HE ist das siegesgewisse Gelächter dessen, der weiß, dass errecht hat, der seine Pläne ins Schloss schnappen sieht oder derandere erniedrigt. Das Lachen hat nicht so viel mit Freude zu tun,sondern mit Analyse und Schlussfolgerung. Leider klingt es oftüberlegen oder ausgesprochen hämisch.

HA ist das schallende Gelächter, wo das Gefühl der Freudewirklich herausgelassen wird. Hier ist gerade das Gefühl das Zen-trale, sich zu amüsieren und das zu zeigen. Ein solches Lachen

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muss laut sein und lang klingen. Wenn die Silbe nur einmal aus-gesprochen wird, drückt sie Stolz, Triumph aus.

HO ist das Lachen des schwedischen Weihnachtskobolds,ganz klar. Der dicke Alte, der mit Geschenken kommt und umdie Welt fährt, um ein wenig materielle Freude zu verbreiten. Dasist das Lachen derer, die von irgendwo kommen und auf demWeg woandershin sind, die sich erlauben können, ein wenig aufdem Weg zu lachen aber ihre Fahrt dennoch nicht abbrechen.

HU ist das tiefe Gelächter aus dem dunklen Inneren desMenschen. Es folgt meist nach einer grusligen Geschichte odereiner anderen Sache, vor der man sich fürchten kann. Das Gefühlist obskur, es könnte fast genauso gut ein Weinen oder ein unzu-friedenes Grunzen sein. Der Laut ist schwer zu deuten und damitbeunruhigend, weit entfernt von Munterkeit.

Gewiss ist das Voranstehende kaum mehr als Onomato-poetik aus Comicheften, und soll nicht ernster genommen wer-den. Gleichzeitig ist es bemerkenswert, wenn schon die vonComicsprache ist, wie es eben dieser gelingt, menschlichen Aus-druck und Gefühl in einzelnen Symbolen hervorzubringen - undwie nahe diese an kototama herankommen. Das wirklich glück-liche Kichern wird ja in Comics mit TI-HI umschrieben, welcheszufällig genau das Wortpaar ist, das aus O gebildet wird. Das gibteinem zu denken.

Nun, wenn wir zum Kiai der Budokünste zurückkehren, sokann man mit kototama konstatieren, dass unterschiedlicheBudoarten klug daran tun, den Kiai danach auszuwählen, was siezustandebringen wollen. Wenn man in Karatedo tameshiwareüben will, das Zerschlagen von Gegenständen, ist eine Kombina-tion von S für das Durchdringen und O für die Technik, das Kon-struktive und Destruktive, am geeignetsten. Interessanterweisehaben Karate-Ausübende auch die Gewohnheit, einander miteinem Wort, das wie OS klingt, zu grüßen und damit auf ihreLehrer zu antworten - d.h. seine Technik anwenden, um durch-zudringen. Der Karateka, der dem, welchen er trifft, lieber Lebenschenken will, sollte SI als Kiai anwenden - durchdringen, umLeben zu geben, wie die Spritze mit Medizin für den krankenPatienten.

170 Aikido – die friedliche Kampfkunst

In Aikido sollten vielleicht die Konsonanten R und M, wir-beln und rotieren, die naheliegendsten sein, und der Vokal A, derauch der Anfangsbuchstabe dieser Budokunst ist. Da wird es wieein Tanz. Wünscht man ein Aikido, das sich an das friedlichePrinzip hält und wie ein Erzieher sein will, muss der Vokal selbst-verständlich E sein. Vielleicht KE, um auf den Partner zuzugehenund ihn zu berichtigen, dann TE, um die Kräfte zu verbreitenund den Kampf zunichte zu machen - das entspricht den Sch-ritten irimi und tenkan.

Man kann es natürlich nicht lassen, mit kototama das Wortaikido analysieren zu versuchen. Die ersten zwei Vokale beschrei-ben die Bewegung von Kunst und Gefühl zum Leben selbst - eineKunst, die Leben geben soll, das ist unleugbar osenseis Wunsch.Ki ist die Kraft, etwas, das das Leben selbst berührt und es damitständig stimuliert. Do wird in kototama TO, Wissen und Kön-nen verbreiten. Eine Erklärung des ganzen Begriffes wird da unge-fähr: Wissen darüber verbreiten, wie man das Leben selbst stimu-liert, um die Kunst grenzenlos lebendig zu machen.

Man kann sich vorstellen, dass es möglich ist, solchem Stu-

Kototamas kosmologisches Gyroskop, entnommen aus "Gyroskopdes Lebens", ein Heft übersetzt von Nakazono, herausgegeben vomschwedischen Aikikai Anfang der 70er Jahre. Zeichnung: Autor.

Aikido – die friedliche Kampfkunst 171

dium eine Lebenszeit zu widmen, und dass dieses, auf solche Wei-se ausgedrückt, einen Wert weit über den Trainingsraum hinaushaben kann. Sonst könnten nicht Jahr um Jahr, Jahrzehnt umJahrzehnt, Menschen vom Aikido angezogen werden. Die meis-ten, die so lange trainieren, haben keine Antwort darauf, warumes so geworden ist und was sie dort gehalten hast - vielleicht kannkototama das formulieren, vielleicht nicht. Ich habe jedochgemerkt, dass sowohl dessen Prinzipien als auch seine Übungendas Training inspirieren und diesem neue, frische Blickwinkelgeben, sogar (oder besonders) für die, welche die längste Zeit mitAikido hinter sich haben.