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T. W. ADORNO

MINIMA MORALIAReflexionen aus dem beschdigten Leben

SUHRKAMP VERLAGBERLIN U. FRANKFURT AM MAIN

Ausstattung von Georg A. Mathy

Erstes bis drittes Tausend Copyright 1951 by Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany Druck: Sddeutsche Verlagsanstalt und Druckerei G.m.b.H. Ludwigsburg

FR MAX als Dank und Versprechen

Zueignung

Die traurige "Wissenschaft, aus der ich meinem Freunde einiges darbiete, bezieht sich auf einen Bereich, der fr undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, seit deren Verwandlung in Methode aber der intellektuellen Nichtachtung, der sententisen Willkr und am Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben. Was einmal den Philosophen Leben hie, ist zur Sphre des Privaten und dann blo noch des Konsums geworden, die als Anhang des materiellen Produktionsprozesses, ohne Autonomie und ohne eigene Substanz, mitgeschleift wird. Wer die Wahrheit bers unmittelbare Leben erfahren will, mu dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mchten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen. Redet man unmittelbar vom Unmittelbaren, so verhlt man kaum sich anders als jene Romanschreiber, die ihre Marionetten wie mit billigem Schmuck mit den Imitationen der Leidenschaft von ehedem behngen, und Personen, die nichts mehr sind als Bestandstcke der Maschinerie, handeln lassen, als ob sie berhaupt noch als Sub7

jekte handeln knnten, und als ob von ihrem Handeln etwas abhinge. Der Blick aufs Leben ist bergegangen in die Ideologie, die darber betrgt, da es keines mehr gibt. Aber das Verhltnis von Leben und Produktion, das jenes real herabsetzt zur ephemeren Erscheinung von dieser, ist vollendet widersinnig. Mittel und Zweck werden vertauscht. Noch ist die Ahnung des aberwitzigen quid pro quo aus dem Leben nicht gnzlich ausgemerzt. Das reduzierte und degradierte Wesen strubt sich zh gegen seine Verzauberung in Fassade. Die nderung der Produktionsverhltnisse selber hngt weithin ab von dem, was sich in der Konsumsphre", der bloen Reflexionsform der Produktion und dem Zerrbild wahren Lebens, zutrgt: im Bewutsein und Unbewutsein der Einzelnen. Nur kraft des Gegensatzes zur Produktion, als von der Ordnung doch nicht ganz Erfate, knnen die Menschen eine menschenwrdigere herbeifhren. Wird1 einmal der Schein des Lebens ganz getilgt sein, den die Konsumsphre selbst mit so schlechten Grnden verteidigt, so wird das Unwesen der absoluten Produktion triumphieren. Trotzdem bleibt so viel Falsches bei Betrachtungen, die vom Subjekt ausgehen, wie das Leben Schein ward. Denn weil in der gegenwrtigen Phase8

der geschichtlichen Bewegung deren berwltigende Objektivitt einzig erst in der Auflsung des Subjekts besteht, ohne da ein neues schon aus ihr entsprungen wre, sttzt die individuelle Erfahrung notwendig sich auf das alte Subjekt, das historisch verurteilte, das fr sich noch ist, aber nicht mehr an sich. Es meint seiner Autonomie noch sicher zu sein, aber die Nichtigkeit, die das Konzentrationslager den Subjekten demonstrierte, ereilt bereits die Form von Subjektivitt selber. Der subjektiven Betrachtung, sei sie auch kritisch gegen sich geschrft, haftet ein Sentimentales und Anachronistisches an: etwas von der Klage ber den Weltlauf, die nicht um seiner Gte willen zu verwerfen wre, sondern weil das klagende Subjekt sich in seinem Sosein zu verhrten droht und damit wiederum das Gesetz des Weltlaufs zu erfllen. Die Treue zum eigenen Stand von Bewutsein und Erfahrung ist allemal in Versuchung, zur Treulosigkeit zu miraten, indem sie die Einsicht verleugnet, welche bers Individuum hinausgreift und dessen Substanz selber beim Namen ruft. So hat Hegel, an dessen Methode die der Minima Moralia sich schulte, gegen das bloe Fr sich Sein der Subjektivitt auf all ihren Stufen argumentiert. Die dialektische Theorie, abhold jeglichem Ver9

einzelten, kann denn auch Aphorismen als solche nicht gelten lassen. Im freundlichsten Falle drften sie, nach dem Sprachgebrauch der Vorrede der Phnomenologie des Geistes, toleriert werden als Konversation". Deren Zeit aber ist um- Gleichwohl vergit das Buch nicht sowohl den Totalittsanspruch des Systems, das nicht dulden mchte, da man aus ihm herausspringt, als da es dagegen aufbegehrt. Hegel halt sich dem Subjekt gegenber nicht an die Forderung, die er sonst leidenschaftlich vortrgt: die, in der Sache zu sein und nicht immer darber hinaus", anstatt in den immanenten Inhalt der Sache einzugehen". Verschwindet heute das Subjekt, so nehmen die Aphorismen es schwer, da das Verschwindende selbst als wesentlich zu betrachten" sei. Sie insistieren in Opposition zu Hegels Verfahren und gleichwohl in Konsequenz seines Gedankens auf der Negativitt: Das Leben des Geistes gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas anderem bergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt."10

Die erledigende Gebrde, mit welcher Hegel im Widerspruch zur eigenen Einsicht stets wieder das Individuelle traktiert, rhrt paradox genug her von seiner notwendigen Befangenheit in liberalistischem Denken. Die Vorstellung einer durch ihre Antagonismen hindurch harmonischen Totalitt ntigt ihn dazu, der Individuation, mag immer er sie als treibendes Moment des Prozesses bestimmen, in der Konstruktion des Ganzen einzig minderen Rang zuzuerkennen. Da in der Vorgeschichte die objektive Tendenz ber den Kpfen der Menschen, ja vermge der Vernichtung des Individuellen sich durchsetzt, ohne da bis heute die im Begriff konstruierte Vershnung von Allgemeinem undBesonderem geschichtlich vollbracht wre, verzerrt sich bei ihm: mit berlegener Klte optiert er nochmals fr die Liquidation des Besonderen. Nirgends wird bei ihm der Primat des Ganzen bezweifelt. Je fragwrdiger der bergang von der reflektierenden Vereinzelung zur verherrlichten Totalitt wie in der Geschichte so auch in der Hegelschen Logik bleibt, desto eifriger hngt Philosophie, als Rechtfertigung des Bestehenden, sich an den Triumphwagen der objektiven Tendenz. Die Entfaltung eben des gesellschaftlichen Individuationsprinzips zum Sieg der Fatalitt bietet ihr dazu Anla genug. Indem Hegel11

sich zufrieden zu sein. Die Begriffe des Subjektiven und Objektiven haben sich vllig verkehrt. Objektiv heit die nicht kontroverse Seite der Erscheinung, ihr unbefragt hingenommener Abdruck, die aus klassifizierten Daten gefgte Fassade, also das Subjektive; und subjektiv nennen sie, was jene durchbricht, in die spezifische Erfahrung der Sache eintritt, der geurteilten Convenus darber sich entschlgt und die Beziehung auf den Gegenstand anstelle des Majorittsbeschlusses derer setzt, die ihn nicht einmal anschauen, geschweige denken also das Objektive. Wie windig der formale Einwand subjektiver Relativitt ist, stellt sich auf dessen eigentlichem Felde heraus, dem der sthetischen Urteile. Wer jemals aus der Kraft seines przisen Reagierens im Ernst der Disziplin eines Kunstwerks, dessen immanentem Formgesetz, dem Zwang seiner Gestaltung sich unterwirft, dem zergeht der Vorbehalt des blo Subjektiven seiner Erfahrung wie ein armseliger Schein, und jeder Schritt, den er vermge seiner extrem subjektiven Innervation in die Sache hineinmacht, hat unvergleichlich viel grere objektive Gewalt als die umfassenden und wohlbesttigten Begeriffsbildungen etwa des Stils", deren wissenschaftlicher Anspruch auf Kosten solcher Erfahrung geht. Das ist doppelt wahr in der12

ebensoviel gewonnen, wie es andererseits von der Vergesellschaftung der Gesellschaft geschwcht und ausgehhlt wurde. Im Zeitalter seines Zerfalls trgt die -Erfahrung des Individuums von sich und dem, was ihm widerfhrt, nochmals zu einer Erkenntnis bei, die von ihm blo verdeckt war, solange es als herrschende Kategorie ungebrochen positiv sich auslegte. Angesichts der totalitren Einigkeit, welche die Ausmerzung der Differenz unmittelbar als Sinn ausschreit, mag temporr etwas sogar von der befreienden gesellschaftlichen Kraft in die Sphre des Individuellen sich zusammengezogen haben. In ihr verweilt die kritische Theorie nicht nur mit schlechtem Gewissen. All das soll das Anfechtbare des Versuchs nicht verleugnen. Ich habe das Buch groenteils noch whrend des Krieges geschrieben, unter Bedingungen der Kontemplation. Die Gewalt, die mich vertrieben hatte, verwehrte mir zugleich ihre volle Erkenntnis. Ich gestand mir noch nicht die Mitschuld zu, in deren Bannkreis gert, wer angesichts des Unsglichen, das kollektiv geschah, von Individuellem berhaupt redet. In den drei Teilen wird jeweils ausgegangen vom engsten privaten Bereich, dem des Intellektuellen in der Emigration. Daran schlieen sich Erwgungen13

weiteren gesellschaftlichen und anthropologischen Umfangs: sie betreffen Psychologie, sthetik, Wissenschaft in ihrem Verhltnis zum Subjekt. Die abschlieendenAphorismen jeden Teils fhren auch thematisch auf die Philosophie, ohne je als abgeschlossen und definitiv sich zu behaupten: alle wollen Einsatzstellen markieren oder Modelle abgeben fr kommende Anstrengung des Begriffs. Den unmittelbaren Anla zur Niederschrift bot der fnfzigste Geburtstag Max Horkheimers am 14. Februar 1945. Die Ausfhrung fiel in eine Phase, in der wir, ueren Umstanden Rechnung tragend, die gemeinsame Arbeit unterbrechen muten. Dank und Treue will das Buch bekunden, indem es ctie Unterbrechung nicht anerkennt. Es ist Zeugnis eines dialogue interieur: kein Motiv findet sich darin, das nicht Horkheimer ebenso zugehrte wie dem, der die Zeit zur Formulierung fand, whrend der andere all seine Kraft an den Beitrag zur gesellschaftlichen Praxis wandte, den das Institut fr Sozialforschung zu leisten fr notwendig hielt. Horkheimer organisierte und leitete die weitschichtigen Untersuchungen ber Rassenha, die uns lnger als fnf Jahre beschftigten. Ihr Niederschlag ist die jngst in Amerika verffentlichte Buchreihe Studies in Prejudice".14

Der spezifische Ansatz der Minima Moralia, eben der Versuch, Momente der gemeinsamen Philosophie von subjektiver Erfahrung her darzustellen, bedingt es, da die Stcke nicht durchaus vor der Philosophie bestehen, von der sie doch selber ein Stck sind. Das will das Lose und Unverbindliche der Form, der Verzicht auf expliziten theoretischen Zusammenhang mit ausdrcken. Zugleich mchte solche Askese etwas von dem Unrecht wieder gutmachen, da einer allein an dem weiterarbeitete, was doch nur von beiden vollbracht werden kann, und wovon wir nicht ablassen.

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MINIMA MORALIA Erster Teil 1944

Das Leben lebt nicht Ferdinand Krnbirger

1 Fr Marcel Proust. Der Sohn wohlhabender Eltern, der, gleichgltig ob aus Talent oder Schwche, einen sogenannten intellektuellen Beruf, als Knstler oder Gelehrter, ergreift, hat es unter denen, die den degoutanten Namen des Kollegen tragen, besonders schwer. Nicht blo, da ihm die Unabhngigkeit geneidet wird, da man dem Ernst seiner Absicht mitraut und in ihm einen heimlichen Abgesandten der etablierten Mchte vermutet. Solches Mitrauen zeugt zwar von Ressentiment, wrde aber meist seine Besttigung finden. Jedoch die eigentlichen Widerstnde liegen anderswo. Die Beschftigung mit geistigen Dingen ist mittlerweile selber praktisch", zu einem Geschft mit strenger Arbeitsteilung, mit Branchen und numerus clausus geworden. Der materiell Unabhngige, der sie aus Widerwillen gegen die Schmach des Geldverdienens whlt, wird nicht geneigt sein, das anzuerkennen. Dafr wird er bestraft. Er ist kein Professional", rangiert in der Hierarchie der Konkurrenten als Dilettant, gleichgltig wieviel er sachlich versteht, und mu, wenn er Karriere machen19

will, den stursten Fachmann an entschlossener Borniertheit womglich noch bertrumpfen. Die Suspension der Arbeitsteilung, zu der es ihn treibt, und die in einigen Grenzen seine konomische Lage zu verwirklichen ihn befhigt, gilt als besonders anrchig: sie verrt die Abneigung, den von der Gesellschaft anbefohlenen Betrieb zu sanktionieren, und die auftrumpfende Kompetenz lt solche Idiosynkrasien nicht zu. Die Departementalisierung des Geistes ist ein Mittel, diesen dort abzuschaffen, wo er nicht ex officio, im Auftrag betrieben wird. Es tut seine Dienste um so zuverlssiger, als stets derjenige, der die Arbeitsteilung kndigt wre es auch nur, indem seine Arbeit ihm Lust bereitet , nach deren eigenem Ma Blen sich gibt, die von den Momenten seiner berlegenheit untrennbar sind. So ist fr die Ordnung gesorgt: die einen mssen mitmachen, weil sie sonst nicht leben knnen, und die sonst leben knnten, werden drauen gehalten, weil sie nicht mitmachen wollen. Es ist, als rchte sich die Klasse, von der die unabhngigen Intellektuellen desertiert sind, indem zwangshaft ihre Forderungen dort sich durchsetzen, wo der Deserteur Zuflucht sucht.

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2 Rasenbank. Das Verhltnis zu den Eltern beginnt traurig, schattenhaft sich zu verwandeln. Durch ihre konomische Ohnmacht haben sie ihre Schrecken verloren. Einmal rebellierten -wir gegen ihre Insistenz auf dem Realittsprinzip, die Nchternheit, die stets bereit war, in "Wut gegen den Nicht-Entsagenden umzuschlagen. Heute aber finden wir uns einer angeblich jungen Generation gegenber, die in jeder ihrer Regungen unertrglich viel erwachsener ist, als je die Eltern es waren; die entsagt hat, schon ehe es zum Konflikt berhaupt kam, und daraus ihre Macht zieht, verbissen autoritr und unerschtterlich. Vielleicht hat man zu allen Zeiten die Generation der Eltern als harmlos und entmchtigt erfahren, wenn ihrephy sischeKraf t nachlie, whrend die eigene selber schon von der Jugend bedroht schien: in der antagonistischen Gesellschaft ist auch das Generationsverhltnis eines von Konkurrenz, hinter der die nackte Gewalt steht. Heute aber beginnt es auf einen Zustand zu regredieren, der zwar keinen dipuskomplex kennt, aber den Vatermord. Es gehrt zu den symbolischen Untaten der Nazis, uralte Leute umzubringen. In solchem Klima stellt ein sptes und wissendes Ein21

Verstndnis mit den Eltern sich her, das von Verurteilten untereinander, gestrt nur von der Angst, wir mchten, selber ohnmchtig, einmal nicht fhig sein, so gut fr sie zu sorgen, wie sie fr uns sorgten, als sie etwas besaen. Die Gewalt, die ihnen angetan wird, macht die Gewalt vergessen, die sie bten. Noch ihre Rationalisierungen, die ehemals verhaten Lgen, mit denen sie ihr partikulares Interesse als allgemeines zu rechtfertigen suchten, zeigen die Ahnung der Wahrheit an, den Drang zur Vershnung des Konflikts, den die positive Nachkommenschaft frhlich verleugnet. Noch der verblasene,inkonsequente und sich selbst mitrauende Geist der lteren ist eher ansprechbar als die gewitzigte Stupiditt von Junior. Noch die neurotischen Absonderlichkeiten und Mibildungen der alten Erwachsenen reprsentieren den Charakter, das menschlich Gelungene, verglichen mit der pathischen Gesundheit, dem zur Norm erhobenen Infantilismus. Mit Schrecken mu man einsehen, da man oft frher schon, wenn man den Eltern opponierte, weil sie die Welt vertraten, insgeheim das Sprachrohr der schlechteren Welt gegen die schlechte war. Unpolitische Ausbruchsversuche aus der brgerlichen Familie fhren in deren Verstrickung meist nur um so tiefer hinein, und manchmal will es22

scheinen, als wre die unselige Keimzelle der Gesellschaft, die Familie, zugleich auch die hegende Keimzelle des kompromilosen Willens zur anderen. Mit der Familie zerging, whrend das System fortbesteht, nicht nur die wirksamste Agentur des Brgertums, sondern der Widerstand, der das Individuum zwar unterdrckte, aber auch strkte, wenn nicht gar hervorbrachte. Das Ende der Familie lhmt die Gegenkrfte. Die heraufziehende kollektivistische Ordnung ist der Hohn auf die ohne Klasse: im Brger liquidiert sie zugleich die Utopie, die einmal von der Liebe der Mutter zehrte.. . . . .

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F i s c h i m W a s s e r . Seit der umfassende Verteilungsapparat der hochkonzentrierten Industrie die Sphre der Zirkulation ablst, beginnt diese eine wunderliche Post-Existenz. Whrend den Vermittlerberufen die konomische Basis entschwindet, wird das Privatleben Ungezhlter zu dem von Agenten und Vermittlern, ja der Bereich des Privaten insgesamt wird verschlungen von einer rtselhaften Geschftigkeit, die alle Zge der kommerziellen trgt, ohne da es eigentlich dabei etwas zu23

handeln gibt. Die Verngstigten, vom Arbeitslosen bis zum Prominenten, der sich im nchsten Augenblick den Zorn jener, deren Investition er darstellt, zuziehen kann, glauben nur durch Einfhlung, Beflissenheit, zur Verfgung Stehen, durch Schliche und Tcke der als allgegenwrtig vorgestellten Exekutive sich zu empfehlen, durch Hndlerqualitten, und bald gibt es keine Beziehung mehr, die es nicht auf Beziehungen abgesehen htte, keine Regung, die nicht einer Vorzensur unterstnde, ob man auch nicht vom Genehmen abweicht. Der Begriff der Beziehungen, eine Kategorie von Vermittlung und Zirkulation, ist nie in der eigentlichen Zirkulationssphre am besten gediehen, auf dem Markt, sondern in geschlossenen, monopolartigen Hierarchien. Nun die ganze Gesellschaft hierarchisch wird, saugen die trben Beziehungen auch berall dort sich fest, wo es noch den Schein von Freiheit gab. Die Irrationalitt des Systems kommt kaum weniger als im konomischen Schicksal des Einzelnen in dessen parasitrer Psychologie zum Ausdruck. Frher, als es noch etwas wie die verrufen brgerliche Trennung von Beruf und Privatleben gab, der man fast schon nachtrauern mchte, wurde als unmanierlicher Eindringling mit Mitrauen gemustert, wer in der Privatsphre Zwecke verfolgte. Heute erscheint der als24

arrogant, fremd und nicht zugehrig, der auf Privates sich einlt, ohne da ihm eine Zweckrichtung anzumerken wre. Beinahe ist verdchtig, wer nichts will": man traut ihm nicht zu, da er, ohne durch Gegenforderungen sich zu legitimieren, im Schnappen nach den Bissen einem behilflich sein knnte. Ungezhlte machen aus einem Zustand, welcher aus der Liquidation des Berufs folgt, ihren Beruf. Das sind die netten Leute, die Beliebten, die mit allen gut Freund sind, die Gerechten, die human jede Gemeinheit entschuldigen und unbestechlich jede nicht genormte Regung als sentimental verfemen. Sie sind unentbehrlich durch Kenntnis aller Kanle und Abzugslcher der Macht, erraten ihre geheimsten Urteilssprche und leben von deren behender Kommunikation. Sie finden sich in allen politischen Lagern, auch dort, wo die Ablehnung des Systems fr selbstverstndlich gilt und damit einen laxen und abgefeimten Konformismus eigener Art ausgebildet hat. Oft bestechen sie durch eine gewisse Gutartigkeit, durch mitfhlenden Anteil am Leben der andern: Selbstlosigkeit auf Spekulation. Sie sind klug, witzig, sensibel und reaktionsfhig: sie haben den alten Hndlergeist mit den Errungenschaften der je vorletzten Psychologie aufpoliert. Zu allem sind sie fhig, selbst zur Liebe, doch stets25

Treulos. Sie betrgen nicht aus Trieb, sondern aus Prinzip: noch sich selber werten sie als Profit, den sie keinem anderen gnnen. An den Geist bindet sie Wahlverwandtschaft und Ha: sie sind eine Versuchung fr Nachdenkliche, aber auch deren schlimmste Feinde. Denn sie sind es, die noch die letzten Schlupfwinkel des Widerstands, die Stunden, welche von den Anforderungen der Maschinerie freibleiben, subtil ergreifen und verschandeln. Ihr verspteter Individualismus vergiftet, was vom Individuum etwa noch brig ist.

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L e t z t e K l a r h e i t . Im Zeitungsnachruf fr einen Geschftsmann stand einmal: Die Weite seines Gewissens wetteiferte mit der Gte seines Herzens". Die Entgleisung, die den trauernden Hinterbliebenen in der fr solche Zwecke aufgesparten, gehobenen Sprache widerfuhr, das unfreiwillige Zugestndnis, der gtige Verblichene sei gewissenlos gewesen, expediert den Leichenzug auf dem krzesten Weg ins Land der Wahrheit. Wenn von einem Menschen vorgeschrittenen Alters gerhmt wird, er sei besonders abgeklrt, so ist anzunehmen, da sein26

Leben eine Folge von Schandtaten darstellt. Aufregung hat er sich abgewhnt. Das weite Gewissen installiert sich als Weitherzigkeit, die alles verzeiht, weil sie es gar zu grndlich versteht. Zwischen der eigenen Schuld und der der anderen tritt ein quid pro quo ein, das zugunsten dessen aufgelst wird, der das bessere Teil davontrug. Nach einem so langen Leben wei man schon gar nicht mehr zu unterscheiden, wer wem was angetan hat. In der abstrakten Vorstellung des universalen Unrechts geht jede konkrete Verantwortung unter. Der Schuft wendet sie so, als ob es gerade ihm widerfahren wre: wenn Sie wten, junger Mann, wie das Leben ist. Die aber schon mitten in jenem Leben durch besondere Gte sich auszeichnen, sind meist die, welche einen Vorschuwechsel auf solche Abgeklrtheit ziehen. Wer nicht bse ist, lebt nicht abgeklrt, sondern in einer besonderen, schamhaften Weise verhrtet und unduldsam. Aus Mangel an geeigneten Objekten wei er seiner Liebe kaum anders Ausdruck zu verleihen als im Ha gegen die ungeeigneten, durch den er freilich wiederum dem Verhaten sich angleicht. Der Brger aber ist tolerant. Seine Liebe zu den Leuten, wie sie sind, entspringt dem Ha gegen den richtigen Menschen.

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5 H e r r D o kt o r , d as i s t sc h n vo n E uc h. Es gibt nichts Harmloses mehr. Die kleinenFreuden, die uerungen des Lebens, die von der Verantwortung des Gedankens ausgenommen scheinen, haben nicht nur ein Moment der trotzigen Albernheit, des hartherzigen sich blind Machens sondern treten unmittelbar in den Dienst ihres uersten Gegensatzes. Noch der Baum, der blht, lgt in dem Augenblick, in welchem man sein Blhen ohne den Schatten des Entsetzens wahrnimmt; noch das unschuldige -Wie schn wird zur Ausrede fr die Schmach des Daseins, das anders ist, und es ist keine Schnheit und kein Trost mehr auer in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhlt und im ungemilderten Bewutsein der Negativitt die Mglichkeit des Besseren festhlt. Mitrauen ist geraten gegenber allem Unbefangenen Legeren, gegenber allem sich Gehenlassen, das Nachgiebigkeit gegen die bermacht des Existierenden einschliet. Der bse Hintersinn des Behagens, der frher einmal auf das Prosit der Gemtlichkeit beschrnkt war, hat lngst freundlichere Regungen ergriffen. Das Zufallsgesprach mit dem Mann in der Eisenbahn, dem man, damit es nicht zu einem Streit kommt, auf ein paar Stze28

zustimmt, von denen man wei, da sie schlielich auf den Mord hinauslaufen mssen, ist schon ein Stck Verrat; kein Gedanke ist immun gegen seine Kommunikation, und es gengt bereits, ihn an falscher Stelle und in falschem Einverstndnis zu sagen, um seine Wahrheit zu unterhhlen. Aus jedem Besuch des Kinos komme ich bei aller Wachsamkeit dmmer und schlechter wieder heraus. Umgnglichkeit selber ist Teilhabe am Unrecht, indem sie die erkaltete Welt als eine vorspiegelt, in der man noch miteinander reden kann, und das lose, gesellige Wort trgt bei, das Schweigen zu perpetuieren, indem durch die Konzessionen an den Angeredeten dieser im Redenden nochmals erniedrigt wird. Das bse Prinzip, das in der Leutseligkeit immer schon gesteckt hat, entfaltet sich im egalitren Geist zu seiner ganzen Bestialitt. Herablassung und Sich nicht besser Dnken sind das Gleiche. Durch die Anpassung an die Schwche der Unterdrckten besttigt man in solcher Schwche die Voraussetzung der Herrschaft und entwickelt selber das Ma an Grobheit, Dumpfheit und Gewaltttigkeit, dessen man zur Ausbung der Herrschaft bedarf. Wenn dabei, in der jngsten Phase, der Gestus der Herablassung entfllt und Angleichung allein sichtbar wird, so setzt gerade in solcher vollkommenen Abblen29

dung der Macht das verleugnete Klassenverhltnis um so unvershnlicher sich durch. Fr den Intellektuellen ist unverbrchliche Einsamkeit die einzige Gestalt, in der er Solidaritt etwa noch zu bewhren vermag. Alles Mitmachen, alle Menschlichkeit von Umgang und Teilhabe ist bloe Maske frs stillschweigende Akzeptieren des Unmenschlichen. Einig sein soll man mit dem Leiden der Menschen: der kleinste Schritt zu ihren Freuden hin ist einer zur Verhrtung des Leidens.

6 A n t i t h e s e . Fr den, der nicht mitmacht, besteht die Gefahr, da er sich fr besser hlt als die andern und seine Kritik der Gesellschaft mibraucht als Ideologie fr sein privates Interesse. Whrend er danach tastet, die eigene Existenz zum hinflligen Bilde einer richtigen zu machen, sollte er dieser Hinflligkeit eingedenk bleiben und wissen, wie wenig das Bild das richtige Leben ersetzt. Solchem Eingedenken aber widerstrebt die Schwerkraft des Brgerlichen in ihm selber. Der Distanzierte bleibt so verstrickt wie der Betriebsame; vor diesem hat er nichts voraus als die Einsicht in seine30

Verstricktheit und das Glck der winzigen Freiheit, die im Erkennen als solchem liegt. Die eigene Distanz vom Betrieb ist ein Luxus, den einzig der Betrieb abwirft. Darum trgt gerade jede Regung des sich Entziehens Zge des Negierten. Die Klte, die sie entwickeln mu, ist von der brgerlichen nicht zu unterscheiden. Auch wo es protestiert, versteckt sich im monadologischen Prinzip das herrschende Allgemeine. Die Beobachtung Prousts, da die Photographien der Grovter eines Herzogs und eines Juden aus dem Mittelstand einander so hnlich sehen, da keiner mehr an die soziale Rangordnung denkt, trifft einen weit umfassenderen Sachverhalt: objektiv verschwinden hinter der Einheit der Epoche alle jene Differenzen, die das Glck, ja die moralische Substanz der individuellen Existenz ausmachen. Wir stellen den Verfall der Bildung fest, und doch ist unsere Prosa, gemessen an der Jacob Grimms oder Bachofens, der Kulturindustrie in Wendungen hnlich, von denen wir nichts ahnen. berdies knnen auch wir lngst nicht mehr Latein und Griechisch wie Wolf oder Kirchhoff. Wir deuten auf den bergang der Zivilisation in den Analphabetismus und verlernen es selber, Briefe zu schreiben oder einen Text von Jean Paul zu lesen, wie er zu seiner Zeit mu gelesen worden sein. Es graut uns vor der31

Verrohung des Lebens, aber die Absenz einer jeden objektiv verbindlichen Sitte zwingt uns auf Schritt und Tritt zu Verhaltensweisen, Reden und Berechnungen, die nach dem Ma des Humanen barbarisch und selbst nach dem bedenklichen der guten Gesellschaft taktlos sind. Mit der Auflsung des Liberalismus ist das eigentlich brgerliche Prinzip, das der Konkurrenz, nicht berwunden, sondern aus der Objektivitt des gesellschaftlichen Prozesses in die Beschaffenheit der sich stoenden und drngenden Atome, gleichsam in die Anthropologie bergegangen. Die Unterwerfung des Lebens unter den Produktionsproze zwingt erniedrigend einem jeglichen etwas von der Isolierung und Einsamkeit auf, die wir fr die Sache unserer berlegenen Wahl zu halten versucht sind. Es ist ein so altes Bestandstck der brgerlichen Ideologie, da jeder Einzelne in seinem partikularen Interesse sich besser dnkt als alle anderen, wie da er die anderen als Gemeinschaft aller Kunden fr hher schtzt als sich selber. Seitdem die alte Brgerklasse abgedankt hat, fhrt beides sein Nachleben im Geist der Intellektuellen, die die letzten Feinde der Brger sind und die letzten Brger zugleich. Indem sie berhaupt noch Denken gegenber der nackten Reproduktion des Daseins sich gestatten, verhalten sie sich als Privilegierte;32

indem sie es beim Denken belassen, deklarieren sie die Nichtigkeit ihres Privilegs. Die private Existenz, die sich sehnt, der menschenwrdigen hnlich zu sehen, verrt diese zugleich, indem die hnlichkeit der allgemeinen Verwirklichung entzogen wird, die doch mehr als je zuvor der unabhngigen Besinnung bedarf. Es gibt aus der Verstricktheit keinen Ausweg. Das einzige, was sich verantworten lt, ist, den ideologischen Mibrauch der eigenen Existenz sich zu versagen und im brigen privat so bescheiden, unscheinbar und unprtentis sich zu benehmen, wie es lngst nicht mehr die gute Erziehung, wohl aber die Scham darber gebietet, da einem in der Hlle noch die Luft zum Atmen bleibt.

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They, t h e people. Der Umstand, da Intellektuelle meist mit Intellektuellen zu tun haben, sollte sie nicht dazu verfhren, ihresgleichen fr noch gemeiner zu halten als den Rest der Menschheit. Denn sie erfahren sich gegenseitig durchwegs in der beschmendsten und unwrdigsten Situation von allen, der von konkurrierenden Bittstellern, und kehren sich damit fast zwangshaft untereinan33

der die abscheulichsten Seiten zu. Die andern Menschen, insbesondere die einfachen, deren Vorzge hervorzuheben der Intellektuelle so geneigt ist, begegnen ihm meist in der Rolle dessen, der einem etwas verkaufen will, ohne da er darum frchtet, der Kunde knne ihm je ins Gehege kommen. Der Automechaniker, das Mdchen im Likrladen hat es leicht, von Unverschmtheit frei zu bleiben: zur Freundlichkeit wird es ohnehin von oben angehalten. Wenn umgekehrt Analphabeten zu Intellektuellen kommen, um sich von ihnen Briefe aufsetzen zu lassen, so mgen auch jene leidlich gute Erfahrungen machen. Sobald aber die einfachen Leute um ihren Anteil am Sozialprodukt sich raufen mssen, bertreffen sie an Neid und Gehssigkeit alles, was unter Literaten oder Kapellmeistern beobachtet werden kann. Die Glorifizierung der prchtigen underdogs luft auf die des prchtigen Systems heraus, das sie dazu macht. Berechtigte Schuldgefhle derer, die von der physischen Arbeit ausgenommen sind, sollten nicht zur Ausrede werden fr die ''Idiotie des Landlebens". Die Intellektuellen, die als einzige ber die Intellektuellen schreiben und ihnen ihren schlechten Namen in dem der Echtheit machen, verstrken die Lge. Ein groer Teil des herrschenden Antiintellektualismus und Irrationalismus, bis34

hinauf zu Huxley, wird in Gang gesetzt, indem die Schreibenden den Konkurrenzmechanismus anklagen, ohne ihn zu durchschauen, und ihm so verfallen. In ihrer eigensten Branche haben sie das Bewutsein des tat twam asi sich versperrt. Deshalb laufen sie dann in die indischen Tempel.

8 Wenn dich die bsen Buben locken. Es gibt einen amor intellectualis zum Kchenpersonal, die Versuchung fr theoretisch oder knstlerisch Arbeitende, den geistigen Anspruch an sich selbst zu lockern, unter das Niveau zu gehen, in Sache und Ausdruck allen mglichen Gewohnheiten zu folgen, die man als wach Erkennender verworfen hat. Da keine Kategorie, ja selbst die Bildung nicht mehr dem Intellektuellen vorgegeben ist und tausend Anforderungen der Betriebsamkeit die Konzentration gefhrden, wird die Anstrengung, etwas zu produzieren, was einigermaen stichhlt, so gro, da kaum einer ihrer mehr fhig bleibt. Weiter setzt der Druck der Konformitt, der auf jedem Produzierenden lastet, dessen Forderung an sich selbst herab. Das Zentrum der geistigen Selbstdiszi35

plin als solcher ist in Zersetzung begriffen. Die Tabus, die den geistigen Rang eines Menschen ausmachen, oftmals sedimentierte Erfahrungen und unartikulierte Erkenntnisse, richten sich stets gegen eigene Regungen, die er verdammen lernte, die aber so stark sind, da nur eine fraglose und unbefragte Instanz Ihnen Einhalt gebieten kann. Was frs Triebleben gilt, gilt frs geistige nicht minder: der Maler und Komponist, der diese und jene Farbenzusammenstellung oder Akkordverbindung als kitschig sich untersagt, der Schriftsteller, dem sprachliche Konfigurationen als banal oder pedantisch auf die Nerven gehen, reagiert so heftig gegen sie, weil in ihm selber Schichten sind, die es dorthin lockt. Die Absage ans herrschende Unwesen der Kultur setzt voraus, da man an diesem selber genug teilhat, um es gleichsam in den eigenen Fingern zucken zu fhlen, da man aber zugleich aus dieser Teilhabe Krfte zog, sie zu kndigen. Diese Krfte, die als solche des individuellen Widerstands in Erscheinung treten, sind darum doch keineswegs selber blo individueller Art. Das intellektuelle Gewissen, in dem sie sich zusammenfassen, hat ein gesellschaftliches Moment so gut wie das moralische berich. Es bildet sich an einer Vorstellung von der richtigen Gesellschaft und deren Brgern. Lt einmal diese36

Vorstellung nach und wer knnte noch blind vertrauend ihr sich berlassen , so verliert der intellektuelle Drang nach unten seine Hemmung, und aller Unrat, den die barbarische Kultur im Individuum zurckgelassen hat, Halbbildung, sich Gehenlassen, plumpe Vertraulichkeit, Ungeschliffenheit kommt zum Vorschein. Meist rationalisiert es sich auch noch als Humanitt, als den Willen, anderen Menschen sich verstndlich zu machen, als welterfahrene Verantwortlichkeit. Aber das Opfer der intellektuellen Selbstdisziplin fllt dem, der es auf sich nimmt, viel zu leicht, als da man ihm glauben drfte, da es eines ist. Drastisch wird die Beobachtung an Intellektuellen, deren materielle Lage sich gendert hat: sobald sie sich nur einigermaen einreden knnen, da sie mit Schreiben und nichts anderem Geld verdienen mten, lassen sie bis auf die Nuance genau den gleichen Schund in die "Welt gehen, den sie als "Wohlbestallte einmal aufs heftigste verfemten. Ganz wie Emigranten, die einmal reich waren, in der Fremde oft nach Herzenslust so geizig sind, wie sie es zu Hause schon immer gern gewesen wren, so marschieren die Verarmten im Geiste begeistert in die Hlle, die ihr Himmelreich ist.

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Vor a l l e m e i n s , mein Kind. Die Unmoral der Lge besteht nicht in der Verletzung der sakrosankten Wahrheit. Auf diese sich zu berufen hat am letzten eine Gesellschaft das Recht, die ihre Zwangsmitglieder dazu verhlt, mit der Sprache herauszurcken, um sie dann desto zuverlssiger ereilen zu knnen. Es kommt der universalen Unwahrheit nicht zu, auf der partikularen Wahrheit zu bestehen, die sie doch sogleich in ihr Gegenteil verkehrt. Trotzdem haftet der Lge etwas Widerwrtiges an, dessen Bewutsein einem zwar von der alten Peitsche eingeprgelt ward, aber zugleich etwas ber die Kerkermeister besagt. Der Fehler liegt bei der allzu groen Aufrichtigkeit. Wer lgt, schmt sich, denn an jeder Lge mu er das Unwrdige der Welteinrichtung erfahren, die ihn zum Lgen zwingt, wenn er leben will, und ihm dabei auch noch ''b immer Treu' und Redlichkeit" vorsingt. Solche Scham entzieht den Lgen der subtiler Organisierten die Kraft. Sie machen es schlecht, und damit wird die Lge recht eigentlich erst zur Unmoral am anderen. Sie schtzt ihn als dumm ein und dient der Nichtachtung zum Ausdruck. Unter den abgefeimten Praktikern von heute hat die Lge38

lngst ihre ehrliche Funktion verloren, ber Reales zu tuschen. Keiner glaubt keinem, alle wissen Bescheid. Gelogen wird nur, um dem andern zu verstehen zu geben, da einem nichts an ihm liegt, da man seiner nicht bedarf, da einem gleichgltig ist, was er ber einen denkt. Die Lge, einmal ein liberales Mittel der Kommunikation, ist heute zu einer der Techniken der Unverschmtheit geworden, mit deren Hilfe jeder einzelne die Klte um sich verbreitet, in deren Schutz er gedeihen kann.

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G e t r e n n t - v e r e i n t . Die Ehe, deren schmhliche Parodie fortlebt in einer Zeit, die dem Menschenrecht der Ehe den Boden entzogen hat, dient heute meist dem Trick der Selbsterhaltung: da einer der beiden Verschworenen jeweils die Verantwortung fr alles ble, das er begeht, nach auen dem andern zuschiebt, whrend sie in Wahrheit trb und sumpfig zusammen existieren. Eine anstndige Ehe wre erst eine, in der beide ihr eigenes unabhngiges Leben fr sich haben, ohne die Fusion, die von der konomisch erzwungenen Interessengemeinschaft herrhrt, dafr aber aus39

Freiheit die wechselseitige Verantwortung freinander auf sich nhmen. Die Ehe als Interessengemeinschaft bedeutet unweigerlich die Erniedrigung der Interessenten, und es ist das Perfide der Welteinrichtung, da keiner, wte er auch darum, solcher Erniedrigung sich entziehen kann. Manchmal knnte man daher auf den Gedanken verfallen, da nur solchen, die der Verfolgung von Interessen enthoben sind, also Reichen, die Mglichkeit einer Ehe ohne Schande vorbehalten sei. Aber diese Mglichkeit ist ganz formal, denn jene Privilegierten sind es gerade, denen die Verfolgung des Interesses zur zweiten Natur wurde sonst behaupteten sie nicht das Privileg.

11 Tisch und Bett. Sobald Menschen, auch gutartige, freundliche und gebildete, sich scheiden lassen, pflegt eine Staubwolke aufzusteigen, die alles berzieht und verfrbt, womit sie in Berhrung kommt. Es ist, als htte die Sphre der Intimitt, das unwachsame Vertrauen des gemeinsamen Lebens sich in einen bsen Giftstoff verwandelt, wenn die Beziehungen zerbrochen sind, jn denen sie be40

ruhte. Das Intime zwischen Menschen ist Nachsicht, Duldung, Zuflucht fr Eigenheiten. Wird es hervorgezerrt, so kommt von selber das Moment der Schwche daran zum Vorschein, und bei der Scheidung ist eine solche Wendung nach auen unvermeidlich. Sie bemchtigt sich des Inventars der Vertrautheit. Dinge, die einmal Zeichen liebender Sorge, Bilder von Vershnung gewesen sind, machen sich pltzlich als Werte selbstndig und zeigen ihre bse, kalte und verderbliche Seite. Professoren brechen nach der Trennung in die Wohnung ihrer Frau ein, um Gegenstnde aus dem Schreibtisch zu entwenden, und wohldotierte Damen denunzieren ihre Mnner wegen Steuerhinterziehung. Gewhrt die Ehe eine der letzten Mglichkeiten, humane Zellen im inhumanen Allgemeinen zu bilden, so rcht das Allgemeine sich in ihrem Zerfall, indem es des scheinbar Ausgenommenen sich bemchtigt, den entfremdeten Ordnungen von Recht und Eigentum es unterstellt und die verhhnt, die davor sich sicher whnten. Gerade das Behtete wird zum grausamen Requisit des Preisgegebenseins. Je grozgiger" die Vermhlten ursprnglich zueinander sich verhielten, je weniger sie an Besitz und Verpflichtung dachten, desto abscheulicher wird die Entwrdigung. Denn es ist eben der Bereich des recht41

lieh Undefinierten, in dem Streit, Diffamierung, der endlose Konflikt der Interessen gedeiht. All das Dunkle, auf dessen Grund die Institution der Ehe sich erhebt, die barbarische Verfgung des Mannes ber Eigentum und Arbeit der Frau, die nicht minder barbarische Sexualunterdrckung, die den Mann tendenziell dazu ntigt, fr die sein Leben lang die Verantwortung zu bernehmen, mit der zu schlafen ihm einmal Lust bereitete all das kriecht aus den Kellern und Fundamenten ins Freie, wenn das Haus demoliert wird. Die einmal das gute Allgemeine in der beschrnkenden Zugehrigkeit zueinander erfuhren, werden nun von der Gesellschaft gezwungen, sich fr Schurken zu halten und zu lernen, da sie dem Allgemeinen der unbeschrnkten Gemeinheit drauen gleichen. Das Allgemeine erweist sich bei der Scheidung als das Schandmal des Besonderen, weil das Besondere, die Ehe, das wahre Allgemeine in dieser Gesellschaft nicht zu verwirklichen vermag. 12 I n t e r p a r e s . Im Reich der erotischen Qualitten scheint eine Umwertung sich zu vollziehen. Unterm Liberalismus, bis in unsere Tage hinein,42

pflegten verheiratete Mnner aus guter Gesellschaft, denen ihre behtet erzogene und korrekte Gattin zu wenig zu bieten vermochte, an Knstlerinnen, Bohemiennen, sen Mdeln und Kokotten sich schadlos zu halten. Mit der Rationalisierung der Gesellschaft ist diese Mglichkeit von unreglementiertem Glck entschwunden. Die Kokotten sind ausgestorben, die sen Mdeln hat es in angelschsischen und anderen Lndern technischer Zivilisation eh nicht gegeben, die Knstlerinnen und die um die Massenkultur parasitr angesetzte Bohme aber sind von deren Vernunft so vollkommen durchdrungen, da, wer zu ihrer Anarchie, der freien Verfgung ber den eigenen Tauschwert, verlangend sich flchtete, in Gefahr stnde, mit der Verpflichtung aufzuwachen, sie, wenn nicht als Assistentin engagieren, so wenigstens an einen ihm bekannten Filmgewaltigen oder Skribenten empfehlen zu mssen. Die einzigen, die etwas wie unvernnftige Liebe berhaupt noch sich leisten knnen, sind eben jene Damen, vor denen die Ehegatten einmal davon und zu Maxim gingen. Whrend sie ihren eigenen Mnnern durch deren Schuld noch so langweilig sind wie ihre Mtter, vermgen sie den andern wenigstens das zu gewhren, was sonst von allen ihnen vorenthalten wird. Die lngst frigide Libertine re43

aus der Arbeitsteilung und der Zerlegung des Menschen nach Sektoren des Produktionsprozesses und der Freiheit sich ergab, tritt am Ende selbst noch in den Dienst der Produktion. Der spezialistische , Virtuose'", schrieb ein Dialektiker vor dreiig Jahren, der Verkufer seiner objektivierten und versachlichten geistigen Fhigkeiten ... gerat auch In eine kontemplative Attitde zu dem Funktionieren seiner eigenen, objektivierten und versachlichten Fhigkeiten. Am groteskesten zeigt sich diese Struktur im Journalismus, wo gerade die Subjektivitt selbst, das Wissen, das Temperament, die Ausdrucksfhigkeit zu einem abstrakten, sowohl von der Persnlichkeit des ^Besitzers' wie von dem materiell-konkreten Wesen der behandelten Gegenstnde unabhngigen und eigengesetzlich in Gang gebrachten Mechanismus wird. Die Besinnungslosigkeit' der Journalisten, die Prostitution ihrer Erlebnisse und berzeugungen ist nur als Gipfelpunkt der kapitalistischen Verdinglichung begreifbar." Was hier an den Entartungserscheinungen" des Brgertums festgestellt wird, die es selber noch denunzierte, ist mittlerweile als die gesellschaftliche Norm hervorgetreten, als Charakter der vollwertigen Existenz unterm spten Industrialismus. Lngst handelt es sich nicht mehr um den bloen Verkauf des44

Zugehrigen, feindselig gegen die abgestempelten anderen. Der Anteil des Sozialprodukts, der auf die Fremden entfllt, will nicht ausreichen und treibt sie zur hoffnungslosen zweiten Konkurrenz untereinander inminen der allgemeinen. All das hinterlt Male in jedem Einzelnen. Wer selbst der Schmach der unmittelbaren Gleichschaltung enthoben ist, trgt als sein besonderes Mal eben diese Enthobenheit, eine im Lebensproze der Gesellschaft scheinhafte und irreale Existenz. Die Beziehungen zwischen den Verstoenen sind mehr noch vergiftet als die zwischen den Eingesessenen. Alle Gewichte werden falsch, die Optik verstrt. Das Private drngt ungebhrlich, hektisch, vampyrhaft sich vor, eben weil es eigentlich nicht mehr existiert und krampfhaft sein Leben beweisen will. Das ffentliche wird zur Sache des unausgesprochenen Treueids auf die Plattform. Der Blick nimmt das Manische und zugleich Kalte des Greifens, Verschlingens, Beschlagnehmens an. Nichts hilft als die standhaltende Diagnose seiner selbst und der anderen, der Versuch, durch Bewutsein wenn schon nicht dem Unheil zu entweichen, so ihm doch seine verhngnisvolle Gewalt, die der Blindheit, zu entziehen. uerste Vorsicht ist geraten zumal in der Auswahl des privaten Umgangs, soweit sie einem45

gelassen ist. Hten soll man sich vor allem, Mchtige zu suchen, von denen man etwas zu erwarten hat". Der Blick auf mgliche Vorteile ist der Todfeind der Bildung menschenwrdiger Beziehungen berhaupt; aus solchen kann Solidaritt und Freinandereinstehen folgen, aber nie knnen sie im Gedanken an praktische Zwecke entspringen. Kaum minder gefhrlich sind die Spiegelbilder der Macht, Lakaien, Schmeichler und Schnorrer, die sich dem, der besser dran ist, in einer archaistischen Weise gefllig machen, wie sie nur unter den wirtschaftlich extraterritorialen Verhltnissen der Emigration gedeihen kann. Whrend sie dem Protektor kleine Vorteile bringen, ziehen sie ihn herab, sobald er sie annimmt, wozu ihn doch wiederum seine eigene Unbeholfenheit in der Fremde unablssig verfhrt. Wenn in Europa der esoterische Gestus oft nur ein Vorwand war frs blindeste Eigeninteresse, so scheint der abgetakelte und wenig wasserdichte Begriff der austrit in der Emigration noch das annehmbarste Rettungsboot. Nur den wenigsten freilich steht es in gediegener Ausfhrung zur Verfgung. Den meisten, die es besteigen, droht es den Hungertod an oder den Wahnsinn.

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Le B o u r g e o i s Revenant. Absurd hat in der ersten Hlfte des zwanzigsten Jahrhunderts die obsolete Wirtschaftsform sich stabilisiert und das Grauen vervielfacht, dessen sie bedarf, um sich aufrecht zu erhalten, nun ihre Sinnlosigkeit offen zutage liegt. Davon aber ist auch das Privatleben gezeichnet. Mit der Verfgungsgewalt hat sich zugleich die stickige Ordnung des Privaten, der Partikularismus der Interessen, die lngst berholte Form der Familie, das Eigentumsrecht und seine Reflexion im Charakter nochmals festgesetzt. Aber mit schlechtem Gewissen, dem kaum verhohlenen Bewutsein der Unwahrheit. Was immer am Brgerlichen einmal gut und anstndig war, Unabhngigkeit, Beharrlichkeit, Vorausdenken, Umsicht ist verdorben bis ins Innerste. Denn whrend die brgerlichen Existenzformen verbissen konserviert werden, ist ihre konomische Voraussetzung entfallen. Das Private ist vollends ins Privative bergegangen, das es insgeheim von je war, und ins sture Festhalten am je eigenen Interesse hat sich die Wut eingemischt, da man es eigentlich ja doch nicht mehr wahrzunehmen vermag, da es anders und besser mglich wre. Die Brger haben ihre Naivett47

verloren und sind darber ganz verstockt und bse geworden. Die bewahrende Hand, die immer noch ihr Grtchen hegt und pflegt, als ob es nicht lngst zum lot" geworden wre, aber den unbekannten Eindringling ngstlich fernhlt, ist bereits die, welche dem politischen Flchtling das Asyl verweigert. Als objektiv bedrohte werden die Machthaber und ihr Anhangsubjektiv vollends unmenschlich. So kommt die Klasse zu sich selbst und macht den zerstrenden Willen des Weltlaufs sich zu eigen. Die Brger leben fort wie Unheil drohende Gespenster.

15 Le Nouvel Avare. Es gibt zweierlei Arten von Geiz. Eine ist die archaische, die Leidenschaft, die sich und anderen nichts gnnt, deren physiognomischen Zug Molire verewigt, Freud als analen Charakter erklrt hat. Sie vollendet sich im miser, dem Bettler, der insgeheim ber Millionen verfgt, gleichsam der puritanischen Maske des unerkannten Kalifen aus dem Mrchen. Er ist dem Sammler, dem Manischen, schlielich dem groen Liebenden verwandt wie Gobseck der Esther. Man trifft ihn gerade noch als Kuriositt in den Lokal48

spalten der Tagesbltter. Zeitgem ist der Geizige, dem nichts fr sich und alles fr die andern zu teuer ist. Er denkt in quivalenten, und sein ganzes Privatleben steht unter dem Gesetz, weniger zu geben als man zurckbekommt, aber doch stets genug, da man etwas zurckbekomme. Jeder Freundlichkeit, die sie gewhren, ist die berlegung: ist das auch ntig?", mu man das tun?" anzumerken. Ihr sicherstes Kennzeichen ist die Eile, fr empfangene Aufmerksamkeiten sich zu revanchieren", um nur ja in der Verkettung der Tauschakte, bei denen man auf seine Kosten kommt, keine Lcke entstehen zu lassen. Weil bei ihnen alles rational, mit rechten Dingen zugeht, sind sie, anders als Harpagon und Scrooge, nicht zu berfhren und nicht zu bekehren. Ihre Liebenswrdigkeit ist ein Ma ihrer Unerbittlichkeit. Wenn es gilt, setzen sie unwiderleglich sich ins Recht und das Recht ins Unrecht, whrend der Wahnsinn der schbigen Geizhlse das Vershnliche hatte, da der Tendenz nach das Gold in der Kassette den Dieb schon herbeizog, ja, da erst in Opfer und Verlust ihre Leidenschaft steh stillte wie das erotische Besitzenwollen in der Selbstpreisgabe. Die neuen Geizigen aber betreiben die Askese nicht mehr als Ausschweifung, sondern mit Vorsicht. Sie sind versichert.49

16 Zur Dialektik des Takts. Goethe, der deutlich der drohenden Unmglichkeit aller menschlichen Beziehungen in der heraufkommenden Industriegesellschaft sich bewut war, hat in den Novellen der Wanderjahre versucht, den Takt als die rettende Auskunft zwischen den entfremdeten Menschen darzustellen. Diese Auskunft schien ihm eins mit der Entsagung, mit Verzicht auf ungeschmlerte Nhe, Leidenschaft und ungebrochenes Glck. Das Humane bestand ihm in einer Selbsteinschrnkung, die beschwrend den unausweichlichen Gang der Geschichte zur eigenen Sache machte, die Inhumanitt des Fortschritts, die Verkmmerung des Subjekts. Aber was seitdem geschah, lt die Goethesche Entsagung selber als Erfllung erscheinen. Takt und Humanitt bei ihm das Gleiche sind mittlerweile eben den Weg gegangen, vor dem sie nach seinem Glauben bewahren sollten. Hat doch Takt seine genaue historische Stunde. Es ist die, in welcher das brgerliche Individuum des absolutistischen Zwangs ledig ward. Frei und einsam steht es fr sich selber ein, whrend die vom Absolutismus entwickelten Formen hierarchischer Achtung und Rcksicht, ihres kono50

mischen Grundes und ihrer bedrohlichen Gewalt entuert, gerade noch gegenwrtig genug sind, um das Zusammenleben innerhalb bevorzugter Gruppen ertrglich zu machen. Solcher gleichsam paradoxe Einstand von Absolutismus und Liberalitt lt wie im Wilhelm Meister noch an Beethovens Stellung zu den berlieferten Schemata der Komposition, ja bis in die Logik hinein, an Kants subjektiver Rekonstruktion der objektiv verpflichtenden Ideen sich wahrnehmen. Beethovens regelmige Reprisen nach den dynamischen Durchfhrungen, Kants Deduktion der scholastischen Kategorien aus der Einheit des Bewutseins sind in einem eminenten Sinne taktvoll". Voraussetzung des Takts ist die in sich gebrochene und doch noch gegenwrtige Konvention. Diese ist nun unrettbar verfallen und lebt fort nur noch in der Parodie der Formen, einer willkrlich ausgedachten oder erinnerten Etikette fr Ignoranten, wie ungebetene Ratgeber in Zeitungen sie predigen, whrend das Einverstndnis, das jene Konventionen zu ihrer humanen Stunde tragen mochte, an die blinde Konformitt der Autobesitzer und Radiohrer bergegangen ist. Das Absterben des zeremoniellen Moments scheint zunchst dem Takt zugute zu kommen. Er ist von allem Heteronomen, schlecht Auswendigen emanzipiert,51

und taktvolles Verhalten wre kein anderes als eines, das sich allein nach der spezifischen Beschaffenheit eines jeglichen menschlichen Verhltnisses richtet. Solcher emanzipierte Takt jedoch gert; in Schwierigkeiten wie der Nominalismus allerorten. Takt meinte nicht einfach die Unterordnung unter die zeremoniale Konvention: die gerade haben alle neueren Humanisten unablssig unter Ironie gestellt. Die Leistung des Takts war vielmehr so paradox wie sein geschichtlicher Standort. Sie verlangte die eigentlich unmgliche Vershnung zwischen dem unbesttigten Anspruch der Konvention und dem ungebrdigen des Individuums. Anders als an jener Konvention lie Takt gar nicht sich messen. Sie reprsentierte, wie sehr auch verdnnt, das Allgemeine, das die Substanz des individuellen Anspruchs selber ausmacht. Takt ist eine Differenzbestimmung. Er besteht in wissenden Abweichungen. Indem er jedoch als emanzipierter dem Individuum als absolutem gegenbertritt, ohne ein Allgemeines, wovon er differieren knnte, verfehlt er das Individuum und tut endlich Unrecht ihm an. Die Frage nach dem Befinden, nicht langer von Erziehung geboten und erwartet, wird zum Ausforschen oder zur Verletzung; das Schweigen ber empfindliche Gegenstnde zur leeren Gleichgltigkeit, sobald keine52

Regel mehr angibt, worber zu reden sei und worber nicht. Die Individuen beginnen denn auch, nicht ohne Grund, auf Takt feindselig zu reagieren: eine gewisse Art der Hflichkeit etwa lt sie nicht sowohl als Menschen angesprochen sich fhlen, als da sie in ihnen die Ahnung des unmenschlichen ZuStands erweckt, in welchem sie sich befinden, und der Hfliche luft Gefahr, fr den Unhflichen zu gelten, weil er von der Hflichkeit wie von einem berholten Vorrecht noch Gebrauch macht. Schlielich wird der emanzipierte, rein individuelle Takt zur bloen Lge. Was von ihm im Individuum heute eigentlich getroffen wird, ist, was er angelegentlich verschweigt, die tatschliche und mehr noch die potentielle Macht, die jeder verkrpert. Unter der Forderung, dem Individuum als solchem, ohne alle Prambeln, absolut angemessen gegenber zu treten, liegt die eifernde Kontrolle darber, da jedes Wort stillschweigend sich selber Rechenschaft davon gibt, was der Angeredete in der sich verhrtenden Hierarchie, die alle einbegreift, darstellt und welches seine Chancen sind. Der Nominalismus des Takts verhilft dem Allgemeinsten, der nackten Verfgungsgewalt, zum Triumph noch in den intimsten Konstellationen. Die Abschreibung der Konventionen als berholten, nutzlosen und uerlichen53

Zierats besttigt nur das Alleruerlichste, ein Leben unmittelbarer Beherrschung. Da dennoch der Fortfall selbst dieses Zerrbilds von Takt in der Kameraderie der Anrempelei, als Hohn auf Freiheit, die Existenz noch unertrglicher macht, ist blo ein weiteres Anzeichen dafr, wie unmglich das Zusammenleben der Menschen unter den gegenwrtigen Verhltnissen geworden ist.

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E i g e n t u m s v o r b e h a l t . Die Signatur des Zeitalters ist es, da kein Mensch, ohne alle Ausnahme, sein Leben in einem einigermaen durchsichtigen Sinn, wie er frher in der Abschtzung der Marktverhltnisse gegeben war, mehr selbst bestimmen kann. Im Prinzip sind alle, noch die Mchtigsten Objekte. Sogar der Beruf des Generals bietet keinen zureichenden Schutz mehr. Keine Abmachungen sind in der faschistischen ra bindend genug, um die Hauptquartiere vor Fliegerangriffen zu schtzen, und Kommandanten, die es mit der traditionellen Vorsicht halten, werden von Hitler gehngt und von Chiang Kai-Shek gekpft. Daraus folgt unmittelbar, da jeder, der versucht durchzu54

kommen und das Weiterleben selbst hat etwas Widersinniges wie die Trume, in denen man den Weltuntergang mitmacht und nach dessen Ende aus einem Kellerloch herauskriecht , zugleich so leben sollte, da er in jedem Augenblick fhig ist, sein Leben auszulschen. Das ist als triste Wahrheit aus Zarathustras berschwenglicher Lehre vom freien Tode hervorgetreten. Freiheit hat sich in die reine Negativitt zusammengezogen, und was zur Zeit des Jugendstils in Schnheit sterben hie, hat sich reduziert auf den Wunsch, die unendliche Erniedrigung des Daseins wie die unendliche Qual des Sterbens abzukrzen in einer Welt, in der es lngst Schlimmeres zu frchten gibt als den Tod. Das objektive Ende der Humanitt ist nur ein anderer Ausdruck frs Gleiche. Es besagt, da der Einzelne als Einzelner, wie er das Gattungswesen Mensch reprsentiert, die Autonomie verloren hat, durch die er die Gattung verwirklichen knnte.

18 A s y l f r O b d a c h l o s e . Wie es mit dem Privatleben heute bestellt ist, zeigt sein Schauplatz an. Eigentlich kann man berhaupt nicht mehr55

wohnen. Die traditionellen Wohnungen, in denen wir gro geworden sind, haben etwas Unertrgliches angenommen: jeder Zug des Behagens darin ist mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen Interessengemeinschaft der Familie bezahlt. Die neusachlichen, die tabula rasa gemacht haben, sind von Sachverstndigen fr Banausen angefertigte Etuis, oder Fabriksttten, die sich in die Konsumsphre verirrt haben, ohne alle Beziehung zum Bewohner: noch der Sehnsucht nach unabhngiger Existenz, die es ohnehin nicht mehr gibt, schlagen sie ins Gesicht. Der moderne Mensch wnscht nahe am Boden zu schlafen wie ein Tier, hat mit prophetischem Masochismus ein deutsches Magazin vor Hitler dekretiert und mit dem Bett die Schwelle von "Wachen und Traum abgeschafft. Die bernchtigen sind allezeit verfgbar und widerstandslos zu allem bereit, alert und bewutlos zugleich. Wer sich in echte, aber zusammengekaufte Stilwohnungen flchtet, balsamiert sich bei lebendigem Leibe ein. Will man der Verantwortung frs Wohnen ausweichen, indem man ins Hotel oder ins mblierte Apartement zieht, so macht man gleichsam aus den aufgezwungenen Bedingungen der Emigration die lebenskluge Norm. Am rgsten ergeht es wie berall denen, die nicht zu wah56

len haben. Sie wohnen wenn nicht in Slums so in Bungalows, die morgen schon Laubenhtten, Trailers, Autos oder Camps, Bleiben unter freiem Himmel sein mgen. Das Haus ist vergangen. Die Zerstrungen der europischen Stdte ebenso wie die Arbeits- und Konzentrationslager setzen blo als Exekutoren fort, was die immanente Entwicklung der Technik ber die Huser lngst entschieden hat. Diese taugen nur noch dazu, wie alte Konservenbchsen fortgeworfen zu werden. Die Mglichkeit des "Wohnens wird vernichtet von der der sozialistischen Gesellschaft, die, als versumte, der brgerlichen zum schleichenden Unheil gert. Kein Einzelner vermag etwas dagegen. Schon wenn er sich mit Mbelentwrfen und Innendekoration beschftigt, gert er in die Nhe des kunstgewerblichen Feinsinns vom Schlag der Bibliophilen, wie entschlossen er auch gegen das Kunstgewerbe im engeren Sinne angehen mag. Aus der Entfernung ist der Unterschied von Wiener Werksttte und Bauhaus nicht mehr so erheblich. Mittlerweile haben die Kurven der reinen Zweckform gegen ihre Funktion sich verselbstndigt und gehen ebenso ins Ornament ber wie die kubistischen Grundgestalten. Das beste Verhalten all dem gegenber scheint noch ein unverbindliches, suspendiertes: das Privatleben fh57

ren, solange die Gesellschaftsordnung und die eigenen Bedrfnisse es nicht anders dulden, aber es nicht so belasten, als wre es noch gesellschaftlich substantiell und individuell angemessen. Es gehrt selbst zu meinem Glcke, kein Hausbesitzer zu sein", schrieb Nietzsche bereits in der Frhlichen Wissenschaft. Dem mte man heute hinzufgen: es gehrt zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein. Darin zeigt sich etwas an von dem schwierigen Verhltnis, in dem der Einzelne zu seinem Eigentum sich befindet, solange er berhaupt noch etwas besitzt. Die Kunst bestnde darin, in Evidenz zu halten und auszudrcken, da das Privateigentum einem nicht mehr gehrt, in dem Sinn, da die Flle der Konsumgter potentiell so gro geworden ist, da kein Individuum mehr das Recht hat, an das Prinzip ihrer Beschrnkung sich zu klammern; da man aber dennoch Eigentum haben mu, wenn man nicht in jene Abhngigkeit und Not geraten will, die dem blinden Fortbestand des Besitzverhltnisses zugute kommt. Aber die Thesis dieser Paradoxie fhrt zur Destruktion, einer lieblosen Nichtachtung fr die Dinge, die notwendig auch gegen die Menschen sich kehrt, und die Antithesis ist schon in dem Augenblick, in dem man sie ausspricht, eine Ideologie fr die, welche mit schlech58

tem Gewissen das Ihre behalten wollen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen.

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N i c h t a n k l o p f e n . Die Technisierung macht einstweilen die Gesten przis und roh und damit die Menschen. Sie treibt aus den Gebrden alles Zgern aus, allen Bedacht, alle Gesittung. Sie unterstellt sie den unvershnlichen, gleichsam geschichtslosen Anforderungen der Dinge. So wird etwa verlernt, leise, behutsam und doch fest eine Tr zu schlieen. Die von Autos und Frigidaires mu man zuwerfen, andere haben die Tendenz, von selber einzuschnappen und so die Eintretenden zu der Unmanier anzuhalten, nicht hinter sich zu blicken, nicht das Hausinnere zu wahren, das sie aufnimmt. Man wird dem neuen Menschentypus nicht gerecht ohne das Bewutsein davon, was ihm unablssig, bis in die geheimsten Innervationen hinein, von den Dingen der Umwelt widerfhrt. Was bedeutet es frs Subjekt, da es keine Fensterflgel mehr gibt, die sich ffnen lieen, sondern nur noch grob aufzuschiebende Scheiben, keine sachten Trklinken sondern drehbare Knpfe, keinen Vor59

platz, keine Schwede gegen die Strae, keine Mauer um den Garten? Und welchen Chauffierenden htten nicht schon die Krfte seines Motors in Versuchung gefhrt, das Ungeziefer der Strae, Passanten, Kinder und Radfahrer zuschanden zu fahren? In den Bewegungen, welche die Maschinen von den sie Bedienenden verlangen, liegt schon das Gewaltsame, Zuschlagende, stoweis Unaufhrliche der faschistischen Mihandlungen. Am Absterben der Erfahrung trgt Schuld nicht zum letzten, da die Dinge unterm Gesetz ihrer reinen Zweckmigkeit eine Form annehmen, die den Umgang mit ihnen auf bloe Handhabung beschrankt, ohne einen berschu, sei's an Freiheit des Verhaltens, sei's an Selbstndigkeit desDinges zu dulden, der als Erfahrungskern berlebt, weil er nicht verzehrt wird vom Augenblick der Aktion.

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S t r u w w e l p e t e r . Als Hume gegen seine weltfrcundlichen Landsleute die erkenntnistheoretische Kontemplation, die unter Gentlemen seit je anrchige reine Philosophie" zu verteidigen suchte, gebrauchte er das Argument; Genauigkeit kommt60

immer der Schnheit zugute, und richtiges Denken dem zarten Gefhl". Das war selber pragmatistisch, und doch enthlt es implizit und negativ die ganze Wahrheit ber den Geist der Praxis. Die praktischen Ordnungen des Lebens, die sich geben, als kmen sie den Menschen zugute, lassen in der Profitwirtschaft das Menschliche verkmmern, und je mehr sie sich ausbreiten, um so mehr schneiden sie alles Zarte ab. Denn Zartheit zwischen Menschen ist nichts anderes als das Bewutsein von der Mglichkeit zweckfreier Beziehungen, das noch die Zweckverhafteten trstlich streift; Erbteil alter Privilegien, das den privilegienlosen Stand verspricht. Die Abschaffung des Privilegs durch die brgerliche ratio schafft am Ende auch dies Versprechen ab. Wenn Zeit Geld ist, scheint es moralisch, Zeit zu sparen, vor allem die eigene, und man entschuldigt solche Sparsamkeit mit der Rcksicht auf den andern. Man ist geradezu. Jede Hlle, die sich im Verkehr zwischen die Menschen schiebt, wird als Strung des Funktionierens der Apparatur empfunden, der sie nicht nur objektiv eingegliedert sind, sondern als die sie mit Stolz sich selber betrachten. Da sie, anstatt den Hut zu ziehen, mit dem Hallo der vertrauten Gleichgltigkeit sich begren, da sie anstatt von Briefen sich anrede- und unterschriftslose61

Inter office Communications schicken, sind beliebige Symptome einer Erkrankung des Kontakts. Die Entfremdung erweist sich an den Menschen gerade daran, da die Distanzen fortfallen. Denn nur solange sie sich nicht mit Geben und Nehmen, Diskussion und Vollzug, Verfgung und Funktion immerzu auf den Leib rcken, bleibt Raum genug zwischen ihnen fr das feine Gefdel, das sie miteinander verbindet und in dessen Auswendigkeit das Inwendige erst sich kristallisiert. Reaktionre wie die Anhnger C. G. Jungs haben davon etwas gemerkt. Es gehrt", heit es in einem EranosAufsatz G. R. Heyers, zur besonderen Gewohnheit der von Zivilisation noch nicht vllig Geformten, da ein Thema nicht direkt angegangen, ja nicht einmal bald erwhnt werden darf; das Gesprch mu sich vielmehr wie von allein in Spiralen auf seinen eigentlichen Gegenstand zu bewegen." Statt dessen gilt nun fr die krzeste Verbindung zwischen zwei Personen die Gerade, so als ob sie Punkte waren. Wie man heutzutage Huserwnde aus einem Stck giet, so wird der Kitt zwischen den Menschen ersetzt durch den Druck, der sie zusammenhlt. Was anders ist, wird gar nicht mehr verstanden, sondern erscheint, wenn nicht als Wienerische Spezialitt mit einem Stich ins Oberkellner62

hafte, als kindisches Vertrauen oder unerlaubte Annherung. In Gestalt der paar Stze ber Gesundheit und Befinden der Gattin, die dem Geschftsgesprch beim Lunch vorausgehen, ist noch der Gegensatz zur Ordnung der Zwecke selber von dieser aufgegriffen, ihr eingefgt worden. Das Tabu gegen Fachsimpelei und die Unfhigkeit zueinander zu reden sind in Wahrheit das Gleiche. Weil alles Geschft ist, darf dessen Name nicht genannt werden wie der des Stricks im Hause des Gehenkten. Hinter dem pseudodemokratischen Abbau von Formelwesen, altmodischer Hflichkeit, nutzloser und nicht einmal zu Unrecht als Geschwtz verdchtiger Konversation, hinter der anscheinenden Erhellung und Durchsichtigkeit der menschlichen Beziehungen, die nichts Undefiniertes mehr zult, meldet die nackte Roheit sich an. Das direkte Wort, das ohne Weiterungen, ohne Zgern, ohne Reflexion dem andern die Sache ins Gesicht sagt, hat bereits Form und Klang des Kommandos, das unterm Faschismus von Stummen an Schweigende ergeht. Die Sachlichkeit zwischen den Menschen, die mit dem ideologischen Zierat zwischen ihnen aufrumt, ist selber bereits zur Ideologie geworden dafr, die Menschen als Sachen zu behandeln.

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Umtausch n i c h t g e s t a t t e t . Die Menschen verlernen das Schenken. Der Verletzung des Tauschprinzips haftet etwas Widersinniges und Unglaubwrdiges an; da und dort mustern selbst Kinder mitrauisch den Geber, als wre das Geschenk nur ein Trick, um ihnen Brsten oder Seife zu verkaufen. Dafr bt man charity, verwaltete Wohlttigkeit, die sichtbare Wundstellen der Gesellschaft planmig zuklebt. In ihrem organisierten Betrieb hat die menschliche Regung schon keinen Raum mehr, ja die Spende ist mit Demtigung durch Einteilen, gerechtes Abwgen, kurz durch die Behandlung des Beschenkten als Objekt notwendig verbunden. Noch das private Schenken ist auf eine soziale Funktion heruntergekommen, die man mit widerwilliger Vernunft, unter sorgfltiger Innehaltung des ausgesetzten Budgets, skeptischer Abschtzung des anderen und mit mglichst geringer Anstrengung ausfhrt. Wirkliches Schenken hatte sein Glck in der Imagination des Glcks des Beschenkten. Es heit whlen, Zeit aufwenden, aus seinem Weg gehen, den anderen als Subjekt denken: das Gegenteil von Vergelichkeit. Eben dazu ist kaum einer mehr fhig. Gnstigenfalls schenken64

schenken. Ihnen verkmmern jene unersetzlichen Fhigkeiten, die nicht in der Isolierzelle der reinen Innerlichkeit, sondern nur inFhlung mitder Warme der Dinge gedeihen knnen. Klte ergreift alles, was sie tun, das freundliche Wort, das ungesprochen, die Rcksicht, die ungebt bleibt. Solche Klte schlgt endlich zurck auf jene, von denen sie ausgeht. Alle nicht entstellte Beziehung, ja vielleicht das Vershnende am organischen Leben selber, ist ein Schenken. Wer dazu durch die Logik der Konsequenz unfhig wird, macht sich zum Ding und erfriert.

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K i n d m i t d e m B a d e Unter den Motiven der Kulturkritik ist von Alters her zentral das der Lge: da Kultur eine menschenwrdige Gesellschaft vortuscht, die nicht existiert; da sie die materiellen Bedingungen verdeckt, auf denen alles Menschliche sich erhebt, und da sie mit Trost und Beschwichtigung dazu dient, die schlechte konomische Bestimmtheit des Daseins am Leben zu erhalten. Es ist der Gedanke von der Kultur als Ideologie, wie ihn auf den ersten Blick die brger65

liehe Gewaltlehre und ihr Widerpart, Nietzsche und Marx, miteinander gemeinsam haben. Aber gerade dieser Gedanke, gleich allem Wettern ber die Lge, hat eine verdchtige Neigung, selber zur Ideologie zu werden. Das erweist sich am Privaten. Zwangshaft reicht der Gedanke an Geld und aller Konflikt, den er mit sich fhrt, bis in die zartesten erotischen, die sublimsten geistigen Beziehungen hinein. Mit der Logik der Konsequenz und dem Pathos der "Wahrheit knnte daher die Kulturkritik fordern, da die Verhltnisse durchaus auf ihren materiellen Ursprung reduziert, rcksichtslos und unverhllt nach der Interessenlage zwischen den Beteiligten gestaltet werden mten. Ist doch der Sinn nicht unabhngig von der Genese, und leicht lt an allem, was ber das Materielle sich legt oder es vermittelt, die Spur von Unaufrichtigkeit, Sentimentalitt, ja gerade das verkappte und doppelt giftige Interesse sich finden. Wollte man aber radikal danach handeln, so wrde man mit dem Unwahren auch alles Wahre ausrotten, alles was wie immer ohnmchtig dem Umkreis der universellen Praxis sich zu entheben trachtet, alle schimrische Vorwegnahme des edleren Zustands, und wrde unmittelbar zur Barbarei bergehen, die man als vermittelte der Kultur vorwirft. Bei den brger66

lichen Kulturkritikern nach Nietzsche war dieser Umschlag stets offenbar: begeistert unterschrieben hat ihn Spengler. Aber die Marxisten sind nicht davor gefeit. Einmal vom sozialdemokratischen Glauben an den kulturellen Fortschritt kuriert und der anwachsenden Barbarei gegenbergestellt, sind sie in stndiger Versuchung, der objektiven Tendenz" zuliebe jene zu advozieren und in einem Akt der Desperation das Heil vom Todfeind zu erwarten, der, als Antithese", blind und mysteris das gute Ende soll bereiten helfen. Die Hervorhebung des materiellen Elements gegenber dem Geist als Lge entwickelt ohnehin eine Art bedenklicher Wahlverwandtschaft mit der politischen konomie, deren immanente Kritik man betreibt, vergleichbar dem Einverstndnis zwischen Polizei und Unterwelt. Seitdem mit der Utopie aufgerumt ist und die Einheit von Theorie und Praxis gefordert wird, ist man allzu praktisch geworden. Die Angst vor der Ohnmacht der Theorie liefert den Vorwand, dem allmchtigen Produktionsproze sich zu verschreiben und damit vollends erst die Ohnmacht der Theorie zuzugestehen. Zge des Hmischen sind schon der authentischen Marxischen Sprache nicht fremd, und heute bahnt eine Anhnelung von Geschftsgeist und nchtern beurteilender Kritik von67

vulgrem und anderem Materialismus sich an, in der es zuweilen schwer fllt., Subjekt und Objekt recht auseinander zu halten. Kultur einzig mit Lge zu identifizieren ist am verhngnisvollsten in dem Augenblick, da jene wirklich ganz in diese bergeht und solche Identifikation eifrig herausfordert, um jeden widerstehenden Gedanken zu kompromittieren. Nennt man die materielle Realitt die Welt des Tauschwerts, Kultur aber, was immer dessen Herrschaft zu akzeptieren sich weigert, so ist solche Weigerung zwar scheinhaft, solange das Bestehende besteht. Da jedoch der freie und gerechte Tausch selber die Lge ist, so steht was ihn verleugnet, zugleich auch fr die Wahrheit ein: der Lge der Warenwelt gegenber wird noch die Lge zum Korrektiv, die jene denunziert. Da die Kultur bis heute milang, ist keine Rechtfertigung dafr, ihr Milingen zu befrdern, indem man wie Katherlieschen noch den Vorrat an schnem Weizenmehl ber das ausgelaufene Bier streut. Menschen, die zusammengehren, sollten sich weder ihre materiellen Interessen verschweigen, noch auf sie nivellieren, sondern sie reflektiert in ihr Verhltnis aufnehmen und damit ber sie hinausgehen.

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P l u r a l e tantum. Wenn wirklich, wie eine zeitgenssische Theorie lehrt, die Gesellschaft eine von Rackets ist, dann ist deren treuestes Modell gerade das Gegenteil des Kollektivs, nmlich das Individuum als Monade. An der Verfolgung der absolut partikularen Interessen des je Einzelnen lt sich das Wesen der Kollektive in der falschen Gesellschaft am genauesten studieren, und wenig fehlt, da man die Organisation der auseinander weisenden Triebe unter dem Primat des realittsgerechten Ichs von Anbeginn als eine verinnerlichte Ruberbande mit Fhrer, Gefolgschaft, Zeremonial, Treueid, Treubruch, Interessenkonflikten, Intrigen und allem anderen Zubehr aufzufassen hat. Man mu nur einmal Regungen beobachten, in denen das Individuum energisch gegen die Umwelt sich geltend macht, wie etwa die Wut. Der Wtende erscheint stets als der Bandenfhrer seiner selbst, der seinem Unbewuten den Befehl erteilt, dreizuschlagen, und aus dessen Augen die Genugtuung leuchtet, fr die vielen zu sprechen, die er selber ist. Je mehr einer die Sache seiner Aggression auf sich selbst gestellt hat, um so vollkommener reprsentiert er das unterdrckende Prinzip der Gesellschaft. In69

diesem Sinn mehr vielleicht als in jedem anderen gilt der Satz, das Individuellste sei das Allgemeinste.

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Tough Baby. Einem bestimmten Gestus der Mnnlichkeit, sei's der eigenen sei's der anderer, gebhrt Mitrauen. Er drckt Unabhngigkeit, Sicherheit der Befehlsgewalt, die stillschweigende Verschworenheit aller Mnner miteinander aus. Frher nannte man das ngstlich bewundernd Herrenlaunen, heute ist es demokratisiert und wird von den Filmhelden noch dem letzten Bankangestellten vorgemacht. Archetypisch dafr ist der gut Aussehende, der im Smoking, spt abends, allein in seine Junggesellenwohnung kommt, die indirekte Beleuchtung andreht und sich einen Whisky-Soda mischt: das sorgfltig aufgenommene Zischen des Mineralwassers sagt, was der arrogante Mund verschweigt; da er verachtet, was nicht nach Rauch, Leder und Rasiercreme riecht, zumal die Frauen, und da diese eben darum ihm zufliegen. Das Ideal menschlicher Beziehungen ist ihm der Klub, die Sttte eines auf rcksichtsvoller Rcksichtslosigkeit70

gegrndeten Respekts. Die Freuden solcher Mnner, oder vielmehr ihrer Modelle, denen kaum je ein Lebendiger gleicht, denn die Menschen sind immer noch besser als ihre Kultur, haben allesamt etwas von latenter Gewalttat. Dem Anschein nach droht sie den anderen, deren so einer, in seinem Sessel hingerkelt, lngst nicht mehr bedarf. In Wahrheit ist es vergangene Gewalt gegen sich selber. Wenn alle Lust frhere Unlust in sich aufhebt, dann ist hier die Unlust, als Stolz sie zu ertragen, unvermittelt, unverwandelt, stereotyp zur Lust erhoben: anders als beim Wein, lt jedem Glas Whisky, jedem Zug an der Zigarre der Widerwille noch sich nachfhlen, den es den Organismus gekostet hat, auf so krftige Reize anzusprechen, und das allein wird als die Lust registriert. Die He-Mnner wren also ihrer eigenen Verfassung nach, als was sie die Filmhandlung meist prsentiert, Masochisten. Die Lge steckt in ihrem Sadismus, und als Lgner erst werden sie wahrhaft zu Sadisten, Agenten der Repression. Jene Lge aber ist keine andere, als da verdrngte Homosexualitt als einzig approbierte Gestalt des Heterosexuellen auftritt. In Oxford unterscheidet man zweierlei Arten von Studenten, die tough guys und die Intellektuellen; die letzteren seien durch den Gegensatz fast ohne weiteres den71

Effeminicrten gleich zusetzen. Vieles spricht dafr, da sich die herrschende Schicht auf dem Wege zur Diktatur nach diesen beiden Extremen hin polarisiert. Solche Desintegration ist das Geheimnis der Integration, des Glckes der Einigkeit in der Absenz von Glck. Am Ende sind die tough guys die eigentlich Effeminierten, die der Weichlinge als ihrer Opfer bedrfen, um nicht zuzugestehen, da sie ihnen gleichen. Totalitt und Homosexualitt gehren zusammen. Whrend das Subjekt zugrunde geht, negiert es alles, was nicht seiner eigenen Art ist. Die Gegenstze des starken Mannes und des folgsamen Jnglings verflieen in einer Ordnung, die das mnnliche Prinzip der Herrschaft rein durchsetzt. Indem es alle ohne Ausnahme, auch die vermeintlichen Subjekte, zu seinen Objekten macht, schlgt es in die totale Passivitt, virtuell ins Weibliche um.

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N i c h t g e d a c h t s o l l i h r e r werden. Das Vorleben des Emigranten wird bekanntlich annulliert. Frher war es der Steckbrief, heute ist es die geistige Erfahrung, die fr nicht transferier72

bar und schlechterdings artfremd erklrt wird. Was nicht verdinglicht ist, sich zhlen und messen lt, fllt aus. Nicht genug damit aber erstreckt sich die VerdingHchung selbst auf ihren eigenen Gegensatz, das nicht unmittelbar zu aktualisierende Leben; was immer blo als Gedanke und Erinnerung fortlebt. Dafr haben sie eine eigene Rubrik erfunden. Sie heit Hintergrund" und erscheint als Appendix der Fragebogen, nach Geschlecht, Alter und Beruf. Das geschndete Leben wird auch noch auf dem Triumphauto der vereinigten Statistiker mitgeschleppt, und selbst das Vergangene ist nicht mehr sicher vor der Gegenwart, die es nochmals dem Vergessen weiht, indem sie es erinnert.

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English spoken. In meiner Kindheit bekam ich hufig von alten englischen Damen, zu denen meine Eltern Beziehungen unterhielten, Bcher als Geschenk: reichillustrierte Jugendschriften, auch eine kleine grne Bibel in Saffian. Alle waren in der Sprache der Geberinnen: ob ich ihrer mchtig sei, daran dachte keine von ihnen. Die eigentmliche Verschlossenheit der Bcher, die mit Bildern,73

groen Titeln und Vignetten mich ansprangen, ohne da ich den Text htte entziffern knnen, erfllte mich mit dem Glauben, allgemein handle es bei derartigen Bchern sich niemals um solche, sondern um Reklamen, vielleicht fr Maschinen, wie mein Onkel in seiner Londoner Fabrik sie herstellte. Seitdem ich in angelschsischen Lndern lebe und Englisch verstehe, hat dies Bewutsein sich nicht behoben, sondern gesteigert. Es gibt ein Mdchenlied" von Brahms, auf ein Gedicht von Heyse, darin stehen die Zeilen: O Herzeleid, du Ewigkeit! / Selbander nur ist Seligkeit." In der verbreitetsten amerikanischen Ausgabe wird das so gebracht: O misery, eternity! / But two in one were eestasy." Aus den altertmlich leidenschaftlichen Hauptwrtern des Originals sind Kennworte fr Schlager geworden, welche diesen anpreisen. In ihrem angedrehten Licht erstrahlt der Reklamecharakter der Kultur.

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On p a r l e F r a n c a i s . Wie innig Sexus und Sprache sich verschrnken, lernt, wer in einer fremden Sprache Pornographie liest. Bei der Lektre74

Sades irn Original braucht man kein Dictionnaire. Noch die entlegensten Ausdrcke frs Unanstndige, deren Kenntnis keine Schule, kein Elternhaus, keine literarische Erfahrung vermittelt, versteht man, nachtwandelnd, wie in der Kindheit die abseitigsten uerungen und Beobachtungen des Geschlechtlichen zur rechten Vorstellung zusammenschieen. Es ist, als sprengten die gefangenen Leidenschaften, von jenen Worten beim Namen gerufen, wie den Wall der eigenen Unterdrckung so den der blinden Worte und schlgen gewaltttig, unwiderstehlich in die innerste Zelle des Sinnes, der ihnen selber gleicht.

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Paysage. Der Mangel der amerikanischen Landschaft ist nicht sowohl, wie die romantische Illusion es mchte, die Absenz historischer Erinnerungen, als da in ihr die Hand keine Spur hinterlassen hat. Das bezieht sich nicht blo auf das Fehlen von ckern, die ungerodeten und oft buschwerkhaft niedrigen Wlder, sondern vor allem auf die Straen. Diese sind allemal unvermittelt in die Landschaft gesprengt, und je glatter75

und breiter sie gelungen sind, um so beziehungsloser und gewaltttiger steht ihre schimmernde Bahn gegen die allzu wild verwachsene Umgebung. Sie tragen keinen Ausdruck. "Wie sie keine Geh- und Rderspuren kennen, keine weichen Fuwege an ihrem Rande entlang als bergang zur Vegetation, keine Seitenpfade ins Tal hinunter, so entraten sie des Milden, Snftigenden, Uneckigen von Dingen, an denen Hnde oder deren unmittelbare Werkzeuge das ihre getan haben. Es ist, als wre niemand der Landschaft bers Haar gefahren. Sie ist ungetrstet und trostlos. Dem entspricht die Weise ihrer Wahrnehmung. Denn was das eilende Auge blo im Auto gesehen hat, kann es nicht behalten, und es versinkt so spurlos, wie ihm selber die Spuren abgehen.

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Z w e r g o b s t. Es ist die Hflichkeit Prousts, dem Leser die Beschmung zu ersparen, sich fr gescheiter zu halten als den Autor. Im neunzehnten Jahrhundert haben die Deutschen ihren Traum gemalt, und es ist allemal

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Gemse daraus geworden. Die Franzosen brauchten nur Gemse zu malen, und es war schon ein Traum. In angelschsischen Lndern sehen die Dirnen aus, als ob sie mit der Snde zugleich die Hllenstrafe mitlieferten. Schnheit der amerikanischen Landschaft: da noch dem kleinsten ihrer Segmente, als Ausdruck, die unermeliche Gre des ganzen Landes einbeschrieben ist. In der Erinnerung der Emigration schmeckt jeder deutsche Rehbraten, als wre er vom Freischtz erlegt worden. An der Psychoanalyse ist nichts wahr als ihre bertreibungen. Ob einer glcklich ist, kann er dem Winde anhren. Dieser mahnt den Unglcklichen an die Zerbrechlichkeit seines Hauses und jagt ihn aus leichtem Schlaf und heftigem Traum. Dem Glcklichen singt er das Lied seines Geborgenseins: sein wten77

des Pfeifen meldet, da er keine Macht mehr hat ber ihn. Der lautlose Lrm, der aus unserer Traumerfahrung seit je uns gegenwrtig ist, tnt dem Wachen aus den Schlagzeilen der Zeitungen entgegen. Die mythische Hiobspost erneuert sich mit dem Radio. Wer etwas Wichtiges autoritr mitteilt, meldet Unheil. Englisch heit solemn feierlich und bedrohlich. Die Macht der Gesellschaft hinter dem Redenden wendet von selbst sich gegen die Angeredeten. Das Jngstvergangene stellt allemal sich dar, als wre es durch Katastrophen zerstrt worden. Der Ausdruck des Geschichtlichen an Dingen ist nichts anderes als der vergangener Qual. Bei Hegel war Selbstbewutsein die Wahrheit der Gewiheit seiner selbst, nach den Worten der Phnomenologie das einheimische Reich der Wahrheit". Als sie das schon nicht mehr verstanden, waren die Brger selbstbewut wenigstens im Stolz darber, da sie ein Vermgen hatten. Heute heit self-conscious nur noch die Reflexion aufs Ich als78

des Pfeifen meldet, da er keine Macht mehr hat ber ihn. Der lautlose Lrm, der aus unserer Traumerfahrung seit je uns gegenwrtig ist, tnt dem Wachen aus den Schlagzeilen der Zeitungen entgegen. Die mythische Hiobspost erneuert sich mit dem Radio. Wer etwas Wichtiges autoritr mitteilt, meldet Unheil. Englisch heit solemn feierlich und bedrohlich. Die Macht der Gesellschaft hinter dem Redenden wendet von selbst sich gegen die Angeredeten. Das Jngstvergangene stellt allemal sich dar, als wre es durch Katastrophen zerstrt worden. Der Ausdruck des Geschichtlichen an Dingen ist nichts anderes als der vergangener Qual. Bei Hegel war Selbstbewutsein die Wahrheit der Gewiheit seiner selbst, nach den Worten der Phnomenologie das einheimische Reich der Wahrheit". Als sie das schon nicht mehr verstanden, waren die Brger selbstbewut wenigstens im Stolz darber, da sie ein Vermgen hatten. Heute heit self-conscious nur noch die Reflexion aufs Ich als79

Befangenheit, als Innewerden der Ohnmacht: wissen, da man nichts ist. Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschmtheit, wenn sie Ich sagen. Der Splitter in deinem Auge ist das beste Vergrerungsglas. Noch der armseligste Mensch ist fhig, die Schwchen des bedeutendsten, noch der dmmste, die Denkfehler des klgsten zu erkennen. Erster und einziger Grundsatz der Sexualethik: der Anklger hat immer unrecht. Das Ganze ist das Unwahre.

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Pro domo n o s t r a . Als wahrend des vorigen Krieges, der wie jeder gegenber dem darauffolgenden als friedlich erscheint, den Symphonieorchestern vieler Lnder der bramarbasierende Mund gestopft war, schrieb Strawinsky die Histoire du80

Soldat fr eine sprliche, schockhaft ldierte Kammerbesetzung. Sie wurde seine beste Partitur, das einzig stichhaltige surrealistische Manifest, in dessen konvulsivisch-traumhaftem Zwang der Musik etwas von der negativen Wahrheit aufging. Die Voraussetzung des Stckes war Armut: es demontierte so drastisch die offizielle Kultur, weil mit deren materiellen Gtern auch ihre kulturfeindliche Ostentation ihm versperrt war. Darin liegt ein Hinweis fr die geistige Produktion nach diesem Krieg, der in Europa ein Ma an Zerstrung zurckgelassen hat, von dem selbst die Lcher jener Musik nichts sich trumen lieen. Fortschritt und Barbarei sind heute als Massenkultur so verfilzt, da einzig barbarische Askese gegen diese und den Fortschritt der Mittel das Unbarbarische wieder herzustellen vermchte. Kein Kunstwerk, kein Gedanke hat eine Chance zu berleben, dem nicht die Absage an den falschen Reichtum und die erstklassige Produktion, an Farbenfilm und Fernsehen, an Millionrmagazine und Toscanini innewohnte. Die lteren, nicht auf Massenproduktion berechneten Medien gewinnen neue Aktualitt: die des Unerfaten und der Improvisation. Sie allein konnten der Einheitsfront von Trust und Technik ausweichen. In einer Welt, in der lngst die Bcher nicht mehr aussehen81

wie Bcher, sind es nur noch solche, die keine mehr sind. Stand am Anfang der brgerlichen ra die Erfindung der Druckerpresse, so wre bald deren Widerruf durch Mimeographie fllig, das allein angemessene, das unauffllige Mittel der Verbreitung.

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Katze aus dem Sack. Auch die ehrwrdigste Verhaltensweise des Sozialismus, Solidaritt, ist erkrankt. Sie wollte einmal die Rede von der Brderlichkeit verwirklichen, sie aus der Allgemeinheit herausnehmen, in der sie eine Ideologie war, und dem Partikularen, der Partei vorbehalten, die in der antagonistischen Welt die Allgemeinheit einzig vertreten sollte. Solidarisch waren Gruppen von Menschen, die gemeinsam ihr Leben einsetzten, und denen das eigene, im Angesicht der greifbaren Mglichkeit, nicht das wichtigste war, so da sie, ohne die abstrakte Besessenheit von der Idee, aber auch ohne individuelle Hoffnung, doch bereit waren, freinander sich aufzuopfern. Solches Aufgeben der Selbsterhaltung hatte zur Voraussetzung Erkenntnis und Freiheit des Entschlusses: fehlen diese, so stellt das blinde Partikularinteresse sogleich wieder82

ich her. Mittlerweile aber ist Solidaritt bergegangen ins Vertrauen darauf, da die Partei tausend Augen bat, in die Anlehnung an die lngst zu Uniformtrgern avancierten Arbeiterbataillone als die eigentlich strkeren, ins Mitschwimmen mit dem Strom der Weltgeschichte. Was an Sekuritt dabei zeitweise etwa zu gewinnen ist, wird bezahlt mit permanenter Angst, mit Kuschen, Lavieren und Bauchrednerei: die Krfte, mit denen man die Schwche des Gegners ausfhlen knnte, werden dazu verbraucht, die Regungen der eigenen Fhrer zu antizipieren, vor denen man im innersten mehr zittert als vorm alten Feind, ahnend, da am Ende die Fhrer hben und drben sich auf dem Rcken der von ihnen Integrierten verstndigen werden. Davon ist der Reflex zwischen den Individuen zu spren. Wer, den Stereotypen gem, nach denen die Menschen heute vorweg sich aufteilen, unter die Progressiven gezhlt wird, ohne da er jenen imaginren Revers unterzeichnet htte, der die Rechtglubigen zu verbinden scheint, die sich an einem Unwgbaren von Gestik und Sprache, einer Art rauhbautzig-gehorsamen Resignation wie an einem Losungswort erkennen, der macht immer wieder die gleiche Erfahrung. Rechtglubige, oder auch die ihnen allzu hnlichen Abweichungen, kommen ihm83

entgegen und erwarten Solidaritt von ihm. Sie appellieren ausdrcklich und unausdrcklich ans fortschrittliche Einverstndnis. Im Augenblick aber, wo er von ihnen die kleinsten Beweise der gleichen Solidaritt, oder auch nur Sympathie fr den eigenen Anteil am Sozialprodukt des Leidens erhofft, zeigen sie ihm die kalte Schulter, die von Materialismus und Atheismus im Zeitalter der restaurierten Popen allein briggeblieben ist. Die Organisierten wollen, da der anstndige Intellektuelle sich fr sie exponiere, aber sobald sie nur von weither frchten, sich selber exponieren zu mssen, ist er ihnen der Kapitalist, und die gleiche Anstndigkeit, auf die sie spekulierten, lcherliche Sentimentalitt und Dummheit. Solidaritt ist polarisiert in die desperate Treue derer, fr die es keinen Weg zurck gibt, und in die virtuelle Erpressung an jenen, die mit den Btteln nichts zu schaffen haben mgen, ohne doch der Bande sich auszuliefern.

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D i e W i l d e n s i n d n i c h t b e s s e r e Menschen. Man kann an Negerstudenten der Nationalkonomie, Siamesen in Oxford und allgemein84

an beflissenen Kunsthistorikern und Musikologen kleinbrgerlicher Herkunft die Neigung und Bereitschaft finden, mit der Aneignung des je zu Lernenden, Neuen einen unmigen Respekt vor dem Etablierten, Geltenden, Anerkannten zu verbinden. Unvershnliche Gesinnung ist das Gegenteil von Wildheit, Neophytentum oder nicht-kapitalistischen Rumen". Sie setzt Erfahrung, historisches Gedchtnis, Nervositt des Gedankens und vor allem ein grndliches Ma an berdru voraus. Immer wieder hat sich beobachten lassen, wie solche, die blutjung und nichtsahnend in radikale Gruppen sich einreihten, berliefen, sobald sie einmal der Kraft der Tradition gewahr wurden. Man mu diese in sich selber haben, um sie recht zu hassen. Da fr avantgardistische Bewegungen in der Kunst die Snobs mehr Sinn zeigen als die Proletarier, wirft Licht auch auf die Politik. Sptkommer und Neukommer haben eine bengstigende Affinitt zum Positivismus, von den Carnapverehrern in Indien bis zu den tapferen Verteidigern der deutschen Meister Matthias Grnewald und Heinrich Schtz. Es wre schlechte Psychologie, die annhme, das, wovon man ausgeschlossen ist, erwecke nur Ha und Ressentiment; es erweckt auch eine beschlagnehmende, unduldsame Art von Liebe, und jene, welche85

die repressive Kultur nicht an sich heranlie, werden leicht genug zu deren borniertester Schutztruppe. Noch in dem auftrumpfenden Hochdeutsch des Arbeiters, der als Sozialist etwas lernen", am sogenannten Erbe teilhaben will, klingt das mit, und die Banausie der Bebels besteht nicht sowohl in ihrer Fremdheit zur Kultur als in dem Eifer, mit dem sie sie als Tatsache hinnehmen, mit ihr sich identifizieren und damit freilich ihren Sinn verkehren. Der Sozialismus ist allgemein vor dieser Transformation so wenig sicher wie vorm theoretischen Abgleiten in den Positivismus. Leicht genug kann es geschehen, da im Fernen Osten Marx an die vakante Stelle von Driesch und Rickert gesetzt wird. Manchmal ist zu befrchten, es werde die Einbeziehung der nichtokzidentalen Vlker in die Auseinandersetzung der Industriegesellschaft, an sich lngst an der Zeit, weniger der befreiten zugute kommen als der rationalen Steigerung von Produktion und Verkehr und der bescheidenen Hebung des Lebensstandards. Anstatt von den vorkapitalistischen Vlkern sich Wunder zu erwarten, sollten die reifen vor deren Nchternheit, ihrem faulen Sinn frs Bewhrte und fr die Erfolge des Abendlandes auf der Hut sein.

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Weit vom Schu. Bei den Meldungen ber Luftangriffe fehlen selten die Namen der Firmen, welche die Flugzeuge hergestellt haben: FockeWulff, Heinkel, Lancaster erscheinen dort, wo frher einmal von Krassieren, Ulanen und Husaren die Rede v/ar. Der Mechanismus der Reproduktion des Lebens, seiner Beherrschung und seiner Vernichtung ist unmittelbar der gleiche, und demgem werden Industrie, Staat und Reklame fusioniert. Die alte bertreibung skeptischer Liberaler, der Krieg sei ein Geschft, hat sich erfllt: die Staatsmacht hat selbst den Schein der Unabhngigkeit vom partikularen Profitinteresse aufgegeben und stellt sich wie stets schon real, nun auch ideologisch in dessen Dienst. Jede lobende Erwhnung der Hauptfirma in der Stdtexerstrung hilft ihr den guten Namen machen, um dessentwillen ihr dann die besten Auftrge beim Wiederaufbau zufallen. Wie der Dreiigjhrige, so zerfllt auch dieser Krieg, an dessen Anfang sich