9 783737 603409 · 2017. 12. 16. · II.10 Herakles (Hercules furens) S. 152-187 II.11 Die...

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Band 3 Kölner Beiträge zu Geschichte und Ethik der Medizin Ferdinand Peter Moog Euripides und die Heilkunde

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  • Band 3

    Kölner Beiträge zu

    Geschichte und Ethik der Medizin

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    Ferdinand Peter Moog

    Euripides und die Heilkunde9 783737 603409

    ISBN 978-3-7376-0340-9ISBN 978-3-7376-0340-9

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  • Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar ISBN: 978-3-7376-0340-9 (print) ISBN: 978-3-7376-0341-6 (e-book) DOI: http://dx.medra.org/10.19211/KUP9783737603416 URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0002-403414 © 2017, kassel university press GmbH, Kassel www.upress.uni-kassel.de Umschlaggestaltung: Jörg Batschi Grafik Design, Kassel

  • 3

    VICTORIAE, GEORGIO ET MANIBUS PARENTUM

  • 4

    EURIPIDES UND DIE HEILKUNDE

    INHALT

    Danksagung S. 6-7

    I. Einführung und Stand der Forschung S. 8-20

    II. Belege des Vorkommens medizinischer Motive in den Tragödien des Euripides und der

    Instrumentalisierung medizinisch-psychologischer Aspekte für das tragische

    Bühnenspiel

    II.1 Kyklops S. 21-25

    II.2 Alkestis S. 26-38

    II.3 Medeia S. 39-73

    II.4 Die Herakliden S. 74-78

    II.5 Hippolytos S. 79-108

    II.6 Andromache S. 109-119

    II.7 Hekabe S. 120-128

    II.8 Die Hiketiden (Supplices) S. 129-134

    II.9 Elektra S. 135-151

    II.10 Herakles (Hercules furens) S. 152-187

    II.11 Die Troerinnen (Troades) S. 188-194

    II.12 Iphigenie auf Tauris (Iphigenia in Tauris) S. 195-209

    II.13 Ion S. 210-225

    II.14 Helena S. 226-228

    II.15 Die Phoenissen S. 229-238

    II.16 Orestes S. 239-277

    II.17 Die Bacchen (Mänaden) S. 278-318

    II.18 Iphigenie in Aulis (Iphigenia Aulidensis) S. 319-324

    II.19 Rhesos S. 325-338

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    III. Die tragische Dichtung des Euripides vor dem Hintergrund von attischem

    Dramenschaffen und hippokratischer Heilkunst

    III.1 Die hippokratische Medizin zur Zeit der griechischen Klassik – Praxis

    und Literatur S. 339-344

    III.2 Die Medizin im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts S. 345-355

    III.3 Interferenzen von Medizin und Dichtung im klassischen Athen S. 356-359

    III.4 Euripides - ein poeta doctus im klassischen Athen

    a. Seine Persönlichkeit S. 360-363

    b. Sein Wissen als konstituierende Komponente seines dramatischen

    Schaffens am Beispiel der Heilkunst S. 364-373

    IV. Zum Nachleben der euripideischen Dichtung in der medizinischen Fachliteratur -

    Fragmente des Dichters und ausgewählte Testimonien von der Antike bis zur

    Neuzeit S. 374-413

    V. Conclusio S. 414-420

    VI. English Summary S. 421-423

    VII. Literatur S. 424-464

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    Danksagung

    Eingangs möchte der Verfasser denjenigen danken, die ihm auf sehr verschiedene Weise die

    Erstellung der vorliegenden Studie ermöglicht haben. Sie wurde unter dem Titel „Hippokrates und

    Euripides - Interferenzen von dramatischer Dichtung und medizinischem Schrifttum“ 2005 in der

    damaligen Fassung von der Hohen Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln als

    Habilitationsschrift zur Erlangung der Venia legendi im Fache „Geschichte der Medizin“

    angenommen.

    An erster Stelle gilt mein Dank meinem verehrten akademischen Lehrer Herrn Universitätsprofessor

    Dr. phil. Clemens Zintzen, der es mir ermöglicht hat, parallel zu meinem medizinischen Studium an

    der Universität zu Köln eine fundierte Ausbildung in Klassischer Philologie zu erhalten. Er hat im

    Rahmen seiner Vorlesung „Euripides“ und zweier Seminare zur Iphigenie in Aulis und zur Medeia

    Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mein Interesse an den Tragödien des Euripides

    und speziell den Interaktionen mit der zeitgenössischen Heilkunst geweckt. In der Folgezeit hat er

    meine diesbezüglichen Gedanken und Forschungen stets mit großem fachlichen Interesse und

    liebenswürdiger Anregung begleitet. Auch in schwierigen Phasen hat er mir nie seinen Zuspruch

    versagt und Wege der Lösung aufgewiesen. Insbesondere danke ich ihm für den Hinweis auf die

    Kalkhof-Rose-Stiftung der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz, die die

    entscheidende Phase der Abfassung mit einem großzügigen Stipendium dankenswerterweise

    finanziert hat. Er hat mir auch wertvolle Korrekturvorschläge zukommen lassen.

    Herr Universitätsprofessor Dr. med. Dr. phil. Klaus Bergdolt, hat mir im Institut für Geschichte und

    Ethik der Medizin freundliche Aufnahme und vielfältige Forschungsmöglichkeiten gewährt und die

    Mühe auf sich genommen, das Habilitationsverfahren als Betreuer an der Medizinischen Fakultät der

    Universität zu Köln zu begleiten.

    Als Gutachter stellte sich Herr Universitätsprofessor Dr. med. Dr. phil. Dr. h.c. Gundolf Keil, der die

    interdisziplinäre Ausrichtung der Studie sehr begrüßte, gerne zur Verfügung.

    Dankbar bin ich dem Institut für Geschichte und Ethik der Uniklinik Köln und insbesondere seinem

    kommissarischen Leiter Herrn Professor Dr. med Axel Karenberg, der die Drucklegung jüngst

    finanziell freundlich unterstützt hat.

    S. E. Dr. phil. Georg Graf von Gries hat die Mühe auf sich genommen, die Studie sorgfältig

    durchzuarbeiten und zu kommentieren. Er hat mir zahlreiche Verbesserungsvorschläge unterbreitet

    und mich von etlichen Fehlern bewahrt.

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    Herr Diplom-Chemiker Dr. rer. nat. Reinhard Prinzen hat mir immer wieder als kundiger Kenner der

    Informatik zur Seite gestanden und bei Problemen mit Hardware und Software findige Lösungen

    aufgezeigt.

    Schließlich gilt mein Dank meiner Familie, meiner leider im Jahre 2011 verstorbenen Mutter

    Katharina, die durch unermüdliches Korrekturlesen sehr viel zum Gelingen der Habilitation

    beigetragen hat, meiner Frau Victoria und meinem Sohn Georg. Sie haben mir die heimische

    Atmosphäre gewährt, die zum Erstellen einer derartigen Studie vonnöten ist. Ganz besonders haben

    sie es mit Gleichmut und Humor getragen, daß der Verfasser mit seinen Gedanken häufig weit weg

    in der Welt der Antike weilte. Ihnen sei diese Studie daher gewidmet.

  • 8

    I. Einführung und Stand der Forschung

    Medizin und Dichtung sind im Verständnis vieler Zeitgenossen zwei Dinge, die sich beinahe

    diametral gegenüberstehen. Auf der einen Seite ist die auf den modernen Naturwissenschaften

    fußende, evidenzbasierte und professionalisierte Heilkunde, auf der anderen steht die Dichtkunst, die

    verbreitet nur mehr als Steckenpferd intellektueller Kreise und allenfalls unterhaltsam gilt.

    Dichterzitate machen sich zwar immer noch gut auf dem Vorsatzblatt auch von Fachpublikationen,1

    doch auf den folgenden Seiten sucht man den beschworenen Geist nicht selten vergebens. Dies gilt

    auch für die Medizin, wo man bisweilen plakative Worte von Dichterärzten wie etwa Friedrich von

    Schiller oder Anton Pawlowitsch Tschechow vorfindet, zugleich aber den Eindruck gewinnt, daß

    dem Verfasser die Autoren und noch mehr ihre Werke nur mehr vom Hörensagen geläufig sind. Hier

    spiegelt sich ein kultureller Wandel des 20. Jahrhunderts wider, der von manchen als Faunenschnitt

    angesehen wird. Das verfügbare Wissen und damit auch das Wissen, das dem einzelnen abverlangt

    wird, nimmt in der sogenannten Informationsgesellschaft so exponentiell zu, daß die Beschränkung

    auf sich immer mehr spezialisierende Fachgebiete beinahe erzwungen wird. Folglich müssen

    anderweitig Abstriche gemacht werden, und dies geschieht dort, wo ein unmittelbarer Nutzen nicht

    sofort evident ist.

    Dabei dürften die Beziehungen zwischen der Dichtkunst und der Medizin bis zu den Anfängen der

    Menschwerdung und damit zum Beginn der Medizin an sich zurückgehen.2 Wenn man nämlich als

    urtümlichste Form der Heilkunst die magische bzw. theurgische annehmen möchte, so steht außer

    Frage, daß den Gebeten, Gesängen, Zaubersprüchen und Beschwörungsformeln, mit denen

    heilspendende, höhere Mächte angerufen wurden, eine Form eigen war, die sich von der Sprache des

    täglichen Lebens unterschied. Dies ist aber ein Beginn der Dichtkunst, wenn Worte nicht mehr

    einfach so dahingesagt, sondern in besonderer Auswahl, Folge und Formulierung gefügt werden, so

    daß ein neues Ganzes entsteht, das sich über die Alltagssprache erhebt und den sachlichen Gehalt der

    bloßen Aussage weit hinter sich läßt. So gingen im Grunde bis in die Gegenwart Dichtkunst und

    Heilkunst meist Seite an Seite durch die Jahrhunderte. Nicht zuletzt ist die Untersuchung des

    Verhältnisses von Medizin und Dichtkunst auch das hohe Lied von der Bedeutung, Kraft und

    Zaubermacht des Wortes. Die Sprache ist auch in der heutigen stark technisch-naturwissenschaftlich

    ausgerichteten Medizin das wichtigste Instrument des Arztes und etwa im Bereich der Psychiatrie,

    1 Euripideszitate finden sich in derartiger Verwendung etwa bei Mugler (1964) und Quecke (1972). 2 Vgl. den folgenden Gedankengang ausführlicher dargestellt als Einführung eines Gesamtüberblick über die

    Interaktionen von Medizin und Dichtung im Altertum bei Moog (2004h).

  • 9

    erst recht aber der Psychotherapie, das wesentliche Therapeutikum.3 Sie ermöglicht die

    Kontaktaufnahme zwischen Arzt und Patient und das gegenseitige Verstehen und Verstandenwerden

    als wichtigste Voraussetzung für das „therapeutische Bündnis“. Den Griechen galten Menschen,

    denen die , jene Dichter- bzw. Sehergabe im Sinne einer über das Normale hinausgehenden

    Gottbegnadung oder Verzückung zu eigen war, als hervorgehobene, beinahe heilige Personen.4 Sie

    hatten Beziehungen zu überirdischen Mächten und daher die Fähigkeit, zu schauen und zu blenden,

    aufzutun und zu verhüllen, zu segnen und zu verfluchen, zu befreien und zu bannen, zu heilen und zu

    verwunden. Daß damit eine ganz ursprüngliche und tiefgehende Beziehung gerade zu Krankheit und

    Heilung gegeben war, liegt auf der Hand. Ähnliches läßt sich bei zahlreichen Völkern und Kulturen

    beobachten.5 Erst in der Zeit der zunehmend naturwissenschaftlich und technisch beherrschten

    Medizin der letzten hundert Jahre hat sich dies gewandelt. Doch auch im Zeitalter der

    hochspezialisierten Medizin, der vielfach säkularisierten Welt und des „mündigen“ Patienten hat

    gerade die Dichtkunst ihre unbestreitbaren Stärken. Aus zahlreichen entsprechenden

    Verlautbarungen seien beispielhaft drei besonders prägnante angeführt.

    Erwin Strittmatter sah zwischen Wissenschaft und Dichtung keinen Unterschied: „In jedem wahren

    Wissenschaftler ist ein Dichter verborgen, und in jedem wahren Dichter ein Wissenschaftler, und

    wirkliche Wissenschaftler wissen, daß ihre Hypothesen poetische Vorstellungen sind, und wirklichen

    Dichtern ist bewußt, daß ihre Vorahnungen unausgesprochene Hypothesen sind.“6 William

    Sommerset Maugham7 hob den Wert autoptischer medizinisch-psychologischer Kenntnisse für den

    Literaten hervor: „Ich kenne keine bessere Schulung für den Schriftsteller, als einige Jahre den Beruf

    eines Arztes auszuüben.“8 Das wohl schönste Kompliment der Heilkunst an die Dichtkunst stammt

    von dem Medizinhistoriker Heinrich Schipperges: „Vielleicht sind es die Dichter und Denker, die in

    großen Umrissen, aber auch in der vollen Dichtigkeit am ehesten noch eine Sinngestalt vom

    Kranksein zu entwerfen in der Lage sind.“9

    3 Vgl. hierzu grundsätzlich Moog (2003c), Sp. 379f. 4 Letztlich gar eine Apotheose der Seher, Dichter und Ärzte postuliert der gelehrte Selbstdarsteller Empedokles von

    Akragas im Fragment Diels / Kranz 31 B 146. Vgl. auch Finckenstein (1864), S. 9. Inwieweit Empedokles damit auf seine eigene Person abheben wollte, sei dahingestellt. Vgl. zu seiner bizarren Persönlichkeit ausführlich Moog (2004j).

    5 So beobachtet Meid (1974), besonders S. 30, die hohe Wertschätzung der Dichter im alten Irland, die in der gesellschaftlichen Schichtung mit Ärzten, Rechtsgelehrten und manchen Kunsthandwerkern zur Klasse der „begabten Leute“ zählten. Dies beruhte auf keltischen Traditionen.

    6 Zit. n. Radunskaja (1986), S. 179f. 7 Er hatte in Heidelberg und London Medizin studiert und dürfte daher aus eigener Erfahrung sprechen. 8 Zit. n. Schaller (2000). 9 Schipperges (1988), S. 139.

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    Eine besondere, für das Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts prägende Form der Dichtung stellt

    die Tragödie dar, die zusammen mit der Komödie und dem Dithyrambos (Chorlyrik) eine poetische

    Trias bildete. Diesen drei Ausdrucksformen dichterischen Schaffens galt das Augenmerk der ganzen

    Polis. Sie stellten keine Privatangelegenheit und kein Vergnügen gepflegter Zirkel dar, sondern ihre

    Aufführungen waren im Jahresablauf des öffentlichen Lebens verankerte Festlichkeiten.10 Vor allem

    fanden die Aufführungen im kultischen Rahmen statt, so daß in heute nicht immer leicht

    nachvollziehbarer Weise Gottesdienst und Theaterbesuch, Glaube und Erleben, sicher auch

    Vergnügen, hierbei untrennbar miteinander verknüpft waren. Dies ist vor allem für das Verständnis

    der Tragödie wichtig, deren Wesen dem Aufführungsanlaß Rechnung tragen mußte und auf subtile

    Weise auf den Zuschauer - die Werke waren primär nicht als Lesedramen gedacht! - Einfluß nahm

    (Weiteres s. u.).

    Die Interaktionen von Medizin und attischer Tragödie wurden schon verschiedentlich ansatzweise

    untersucht. Dabei erwies sich immer wieder - wie auch bei manchen klassisch- philologischen

    Studien - der der annähernd überlappenden Lebens- und Schaffenszeiten der drei großen

    attischen Tragiker Aischlyos, Sophokles und Euripides als ebenso faszinierend wie problematisch.

    Oft wurde ein gewählter Forschungsansatz bei Aischylos verifiziert, auf Sophokles übertragen, und

    Euripides wurde nur noch kursorisch oder gar nicht mehr berücksichtigt.11 Dies mag vor allem daran

    liegen, daß er der jüngste in dieser Trias von Ausnahmetragikern war und daher meist zuletzt an die

    Reihe kam. Dabei ist vom Werk dieses (Aristoteles, De arte poetica 13 bzw. 1453 a

    29f.) mehr erhalten, als von allen anderen Tragikern zusammen. Zudem mag hinzukommen, daß

    Euripides wie kaum ein anderer Dichter umstritten ist: Die Einschätzung seines Werkes wie seiner

    Person unterlag zu verschiedenen Zeiten erheblichen Wandlungen. Zu Lebzeiten stand er, auch was

    die Siege im tragischen Wettstreit angeht, oft im Schatten des Sophokles, während seinen Werken

    postum ungewöhnlich viele Wiederaufführungen zuteil wurden. In der Römerzeit genoß er großes

    Ansehen: Der Rhetoriker Quintilian empfahl seine dramatischen Streitgespräche als sehr instruktiv

    für angehende Anwälte. Die Spätantike schätzte ihn offensichtlich weit mehr als Aischylos und

    Sophokles, was sich im Erhaltungszustand seines Œuvre widerspiegelt. Seine Werke wurden weit

    10 Vgl. zur Einführung in das athenische Festwesen Parke / Hornbostel (1987). 11 Symptomatisch etwa bei Morris (1991) - in deutscher Sprache als Morris (1994) -, der bei seiner Erörterung des

    Schmerzes im Bereich der Tragödie Sophokles eifrig beforscht, Aischylos und vor allem Euripides aber fast völlig ausgeblendet hat (Vgl. Morris (1994), S. 262 u. 344). Man beachte des weiteren Zierl (1994), der eine kritische Evaluation der Angaben des Aristoteles zur Tragödie in der Ars poetica sehr sorgfältig an erhaltenen Tragödien, aber nur bei Aischlyos und Sophokles, vornimmt. Kornexl (1970) hat gleichfalls bei seinen Studien zur körperlichen Gesundheit im alten Hellas bei der Berücksichtigung der Tragödie Aischylos und Sophokles sorgfältig angeführt, Euripides aber völlig ausgeklammert.

  • 11

    umfangreicher tradiert. Vor allem im 19. Jahrhundert sah man Euripides freilich als „säkularisiert“ im

    Vergleich zu dem altehrwürdigen Aischylos oder dem „frommen“ Sophokles. Der Ruf eines

    Zersetzers, ja Gotteslästerers haftet ihm dann bei vielen bis heute an, wobei sich zeigt, daß diese

    Verleumdung bereits mit der widerwärtigen Hetze seines Zeitgenossen Aristophanes beginnt. Man

    gewinnt den Eindruck, daß die grundsätzliche Haltung zu Euripides einer Art Gretchenfrage

    gleichkommt: Entweder man verehrt ihn oder man haßt ihn beinahe. Zumindest ist die Polarisierung

    in der gelehrten Welt hinsichtlich des Euripides in ihrer Schärfe mit den Meinungen bezüglich des

    Aischylos oder Sophokles nicht vergleichbar. Diese Werturteile aber beeinflussen naturgemäß auch

    den Gang der Forschung und das Interesse derjenigen, die sich mit der attischen Tragödie befassen.

    Die bisherigen Untersuchungen zum Verhältnis des Euripides zur Medizin kommen im wesentlichen

    aus drei Richtungen. Da sind zunächst Klassische Philologen wie Harold W. Miller und N. E.

    Collinge, die vor allem lexikalische Parallelen zwischen dem Vokabular des Dramatikers und Werken

    des Corpus Hippocraticum anmerken. Ihre Arbeiten haben aber weniger für den Gegenstand ihrer

    Untersuchungen, den sie nur symptomatisch angerissen haben, sensibilisiert als man hätte erwarten

    wollen. In Einzelfällen werden auch klinische Anmerkungen, die den Wissensstand gebildeter Laien

    widerspiegeln, beigesteuert. Hier sei neben Arbeiten von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff etwa

    auf den Bacchen-Kommentar von E. R. Dodds oder den auch medizinhistorisch streckenweise

    bemerkenswerten Medeia-Kommentar von Denys L. Page verwiesen.

    Hin und wieder haben sich Ärzte, vor allem nervenärztlich tätige Kollegen wie etwa der Kölner

    Neurologe Jobst Rudolf, zu Wort gemeldet und besonders auf der Grundlage ihrer klinischen

    Erfahrung zu Charakteren wie dem Orest, dem rasenden Herakles oder Medeia Anmerkungen zur

    dramatischen Schilderung gemacht. Abgesehen vom grundsätzlichen Problem des retrospektiven

    Diagnostizierens konnte hierbei manch wertvoller Hinweis gegeben werden. Immer wieder wurde

    dabei angemerkt, daß Euripides bisweilen beachtliche klinische Einzelheiten in seine Dramen

    eingearbeitet hat. Schwieriger zu beurteilen sind dagegen einige Studien aus dem psychologisch-

    psychoanalytischen Umfeld,12 die, gleichfalls auf sicherlich breiter klinischer Kenntnis ihrer Verfasser

    beruhend, versuchen, mit den ganz spezifischen Methoden ihres Fachgebietes an die Texte des

    Dichters heranzutreten. Hier wären beispielsweise Arbeiten von Bezdechi, Devereux, Ekstein,

    McConaghy, Medlicott oder Perry zu nennen. Bei einigen dieser Arbeiten ist die Textgrundlage, auf

    der operiert wird, unklar, bei anderen gar ersichtlich, daß nicht einmal der Originaltext eingesehen

    wurde und man sich mit Übersetzungen beholfen hat, was wissenschaftlich unbefriedigend ist. Das

    12 Den Primat der psychoanalytischen Deutungen unter den Interpretationen griechischer Tragödien von medizinischer

    und psychologischer Seite merkt auch Sommerville (1999), S. 69 kritisch an und hat nicht zuletzt deshalb von der Warte der evolutionären Psychologie aus eine Untersuchung der Medeia des Euripides vorgenommen.

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    Gespür für das Wesen der Tragödie und das Einfühlungsvermögen in das tragische Spiel ist nicht

    immer ausgeprägt. Vor allem aber ist die Grundvoraussetzung höchst problematisch. Weder

    Euripides noch die von ihm geschaffenen Bühnenfiguren sind leidende Klienten eines

    Psychoanalytikers, die frei assoziierend auf der Couch ihres Therapeuten ruhen. Vielmehr handelt es

    sich bei den Texten um kunstvoll und bewußt unter den spezifischen Vorgaben des Versmaßes, des

    Mythos und - etwa bei Chorliedern oder Arien - der Musik gefügte Texte, erstellt für den Vortrag im

    Rahmen von religiösen Festlichkeiten. Diese grundsätzliche Verschiedenheit der Aussagen wurde

    aber oft so sehr hintangestellt, daß die entsprechenden Ergebnisse, mögen sie im Einzelfall auch ein

    frappierendes Schlaglicht auf einen Vers des Dichters werfen, mit Vorsicht aufzunehmen sind.

    Schließlich wären an dritter Stelle medizinhistorische Forscher wie etwa Walter Artelt, Nikolaus

    Mani, Jacques Jouanna, Peter Cordes und andere zu nennen, die meist in Übersichtsdarstellungen

    oder größeren Aufsätzen für ihre jeweilige Fragestellung aufschlußreiche Textstellen bei Euripides

    berücksichtigt haben. Diese Analysen sind hinsichtlich der Einzelergebnisse durchweg sehr

    aufschlußreich, doch wäre es unangebracht, hier jeweils eine Übersicht über das Gesamtwerk des

    Euripides und die Vielschichtigkeit seiner Aussagen zu fordern.

    Im Jahre 2000 ist die italienische Philologin Alessia Guardasole mit einer bemerkenswerten Studie

    zum Verhältnis von Tragödie und Medizin hervorgetreten. Sie hat zahlreiche Querverbindungen

    zwischen ärztlichen Schriften, vor allem des Corpus Hippocraticum, und den drei großen Tragikern

    aufgewiesen, besonders unter dem lexikalischen Aspekt des Textvergleiches. Klinische Aspekte

    haben sie dagegen nicht sehr beschäftigt. Vor allem aber wurde die Bedeutung der medizinischen

    Hintergründe und Kenntnisse für das jeweilige Drama an sich fast völlig außer acht gelassen. Wie

    medizinische Vorstellungen etwa leitmotivartig in den Dramen verwendet werden, vor allem wie

    Euripides sie in der Konzeption des Ablaufes des jeweiligen Bühnenspiels oft klinisch präzise

    instrumentalisiert und variiert, war nicht Guardasoles primäre Fragestellung.

    Jennifer Clarke Kosack hat mit ihrer 2004 als Buch erschienenen Disseration die Hoffnung erweckt,

    Interferenzen zwischen Euripides und Hippokrates aufzuzeigen. Allerdings ist dies nur ansatzweise

    gelungen. Sehr treffend beobachtet sie, daß Tragödie und Medizin sich mit schreckenerregenden

    Bildern von Krankheit, Leid und Tod auseinandersetzen müssen. Sie stellt dann typische Heilkundige

    im alten Hellas, unter denen Ärzte, welche die Verfasserin befremdlicherweise als weitgehend hilflos

    bei der Patientenversorgung ansieht (S. 2), nur eine Teilgruppe darstellten, sowie Heilungs- und

    Überwindungstrategien, wie sie das Corpus Hippocraticum bietet, vor. Später wird vornehmlich auf

    die Tragödien eingegangen, die schon öfter medizinhistorisch interpretiert worden sind. Dabei

    unternimmt Kosak den Versuch, die Tragödien in ihrem Ablauf mit Kasuistiken des Corpus