1 Jens-Peter Bonde DIE EU VERFASSUNG VERTRAG ÜBER EINE VERFASSUNG FÜR EUROPA E.
40 Jahre Israel - Staat ohne Verfassung? · PDF file1288 Israel 40 Jahre Israel - Staat ohne...
Transcript of 40 Jahre Israel - Staat ohne Verfassung? · PDF file1288 Israel 40 Jahre Israel - Staat ohne...
1288Israel
40 Jahre Israel - Staat ohne Verfassung?
Horst Dreier, Würzburg
Das Spannungsverhältnis zwischen religiöser und weltlicher Ausgestaltung des Staatswesens prägt Israel seit 40 Jahren. Bereits dieStaatsgründung war ein prekärer Kompromiß zwischen nationalen Zionisten und reli
giösen Kräften, die dem Projekt eines Judenstaates skeptisch gegenüberstanden. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daßIsrael auch heute noch keine kodifizierte
Verfassung besitzt: es fehlt am erforderlichen gesellschaftlichen Grundkonsens.
Als am Nachmittag des 14. Mai 1948 David Ben Gurion die Gründungsurkundedes Staates Israel verlas, schien Theodor
Herzls ganz der Nationalstaatsidee verpflichtete programmatisch-ideologischeVision eines jüdischen Musterstaates IWirklichkeit geworden.2 Nach der Balfour-Deklaration vom 2. November 1917J,
derzufolge Großbritannien "mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina"betrachtete, nach der langen Phase einerbritischen Völkerbundmandatsherrschaft
mit keineswegs stringenter politischer Linie, schließlich nach der bedeutenden UNResolution vom 29. November 1949, die
die Teilung Palästinas in einen arabischenund einen jüdischen Staat bei gleichzeitigem Zusammenschluß beider zu einerWirtschaftsunion und der Internationali
sierungjerusalems vorsah, hatten die poli-
1211988 UNIVERSITAS
tischen Zionisten in "Eretz Israel" einen.
Staat für das jüdische Volk geschaffen" i Sl
Damit war der vor dem Hintergrund von·teils illegaler jüdischer Masseneinwanderung und Landbesiedelung stattfindende·Prozeß einer allmählichen "prästaatlichen"
Machtergreifung 5 durch jüdische Reprä·· lssentativkörperschaften Oewish Agency, SI
Vaad Leumi) abgeschlossen.Von Beginn an sah sich dieser neue Staat
nicht nur mit schweren außenpolitischenBelastungen besonders in Gestalt einerkriegerischen Auseinandersetzung mit den
Dr. Horst Dreier, geb.
1954; Studium der
Rechts- und Sozialwis
senschaften; Promotion
zum Dr. jur. 1985;
Ak<1,km. Rat am Lehr
stuhl für Rechtsphilo
sophie. Staats- und
Vt'rw"ltungsrecht der
Univcrsit:it Würzburg.
Veröffentlichungen:
Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratie
theorie bei Hans-Kelsen, Baden-Baden 1986;
Parbmentarisehe Souveränität und technische
Entwicklung, Berlin 1986 (Mitherausgeber);
Aufsätze zur Rechtsphilosophie sowie zum
Staats- und Verwaltungsrecht.
Dr. Horst Dreier, Institut für Rechtsphilosophie,Stdat,- und Verwaltungsrecht, Universität WÜ1'2
burg. Domerschulstraße 16, 8700 Würzburg
, H. Dreier ,1289
arabischen Nachbarstaaten und einer per:inanent drohenden Invasion konfrontiert
(diesder Grund dafür, daß sich das Landseitseinen Gründungstagen permanent imAusnahmezustand befindet 6), - auch aninnenpolitischem Konfliktstoff fehlte esnie.Das im Kern bislang nicht aufgelöste,an Bedeutung sogar eher zunehmendeSpannungsverhältnis zwischen religiöseroder weltlicher Fundierung, Legitimationund Ausgestaltung des Staatswesens hatIsrael nachhaltig und entscheidend ge~prägt/
Die folgenden Ausführungen widmensich der Verfassung des Staates Israelund fragen somit nach der rechtlichenGrundordnung dieses politischen Gemein-wesens.
Israel -
~taat ohne Verfassungsurkunde
per StaatsrechtIer gebraucht den BegriffWerfassung" nicht deskriptiv, sondernnormativ. Er erfaßt damit nicht in ersterLiniedie reale Struktur und den tatsächli
chen Zustand eines Staates, sondern den
Kanon grundlegender Rechtssätze überrganisation und Funktionsweise der
, taatsgewalt sowie über die seit Ende des18.Jahrhunderts zumeist in Gestalt eines
rundrechtskataloges zusammengefaßteechtsstellung des Individuums.8 Wenn
nun diese fundamentalen Aussagen überdas politische Gemeinwesen, die soge
nnte ,;Verfassungim materiellen Sinn", ineinemgeschlossenen, in der Regel besondersfeierlich verkündeten Dokument ko
difiziertworden sind, so liegt eine Verfassungsurkunde vor. Das große, noch immerstrahlende Vorbild liefert - neben denamerikanischen Vorläufern - die französi
scheRevolutionsverfassung von 1791, mitder die moderne kontinentaleuropäischeVerfassungsepoche beginnt. Auch das
Grundgesetz für die BundesrepublikDeutschland stellt eine derartige, nicht nurgeschriebene, sondern eben kodifizierteVerfassung dar, die zudem - wie ebenfallsallgemein üblich - mit Geltungsvorrangund Direktionskraft gegenüber allen anderen staatlichen Rechtsakten sowie mit er
höhter Bestandsgarantie kraft erschwerterAbänderbarkeit ausgestattet ist.9
Eine solche Verfassungsurkunde besitztIsrael nicht. Angesichts der in den letztenJahrzehnten weltweit zu verzeichnendenKonstitutionalisierungstendenz 10 ist diesein erstaunlicher und erklärungsbedürftiger Sachverhalt. Das gilt um so mehr, alsnicht nur die UN-Resolution vom 29. No
vember 1949, sondern auch die vom provisorischen Regierungsausschuß (••Rat der37") am 14. Mai 1948 verkündete Unabhängigkeitserklärung eine Verfassung fürden Staat Israel ausdrücklich vorgesehenhatte. Die Proklamation 11 fixierte sogareinen bestimmten Termin: Spätestens biszum 1. Oktober 1948 sollte eine Verfas
sung verabschiedet sein.12
Natürlich konnte wegen des sofort nachder Unabhängigkeitserklärung ausbrechenden Krieges mit der arabischen Ligadieser Termin nicht eingehalten werden.Doch kam es auch später nicht zur Verabschiedung einer Verfassung. Im folgendensind zunächst die Gründe hierfür zu analysieren; danach gilt das Augenmerk derFrage, welche grundlegenden Rechtsvorschriften das staatliche Leben in Israel
regeln. Der Blick auf einen jüngst vorgelegten Verfassungsentwurf schließt dieSkizze ab.
Selbsttransformation
Wenden wir uns der Frage zu, warumIsrael keine kodifizierte Verfassung besitzt,so ist die bloße Ereignisgeschichte rasch erzählt. tl Bereits die provisorische Staatsver-
UNIVERSITAS 12/1988
1290---------------~i H. Dreier
Führende jüdische Pers()nlichkcitcn trafen sich am 14. Mai 1948 im St:Hltmuscum von Tel Aviv zur Proklamation des neuen
unabhängigen jüdischen Staates Israel. Links: David Ben Gurion, der neue israelische Ministerprisident. (Foto: dpa)
sammlung war in die Beratung über die
Ausarbeitung einer Verfassung eingetre
ten: ein von ihram 8.Juli 1948 eingesetzter
Verfassungsausschuß legte den Entwurf
von Dr. Leo Kohn zugrunde. Doch blieben
die Erörterungen hier ohne Ergebnis. Be
zeichnenderweise gelang es bereits in diesem Stadium nicht, die erst noch zu eta
blierende Verfassunggebende Versamm
lung bindend auf die Verabschiedung einer
Verfassung und nachfolgende Selbstauflö
sung zu verpflichten. Die am 25. Januar
1949 gewählte 120köpfige Verfassungge
bende Versammlung verabschiedete nun
zwar zwei Tage nach ihrem Zusammen
tritt das "Transition Law" (Übergangs ge
setz) 14, das auch als "small constitution"
bezeichnet wurde J\ wegen seiner wenigen
12/19~H UNIVERSITAS
rudimentären Regeln über Parlament, Re
gierung und den Staatspräsidenten aber
bestenfalls als ,Yerfassungsskelett" 1. titu
liert und keineswegs als Erfüllung des Ver
fassungsauftrages angesehen werden kann.Bemerkenswert ist indes, daß Art. 1 des
Übergangsgesetzes im Wege der Selbst
transformation die Verfassunggebende
Versammlung als "Erste Knesset" bezeich
nete und so den Übergang von der Konsti
tuallte zu einer normalen Gesetzgebungs
körperschaft bereits andeutete. Die weite
re Wende vollzog sich in dem im April 1949
eingesetzten Ausschuß für Verfassungs
und Rechtsangelegenheiten. Hier verla
gerte sich die Auseinandersetzung nichtunerwartet von der Diskussion bestimm
ter Verfassungsentwürfe zunehmend auf
I Israel I1291
die prinzipielle Frage, ob überhaupt eineformelle, geschlossene Verfassungsurkunde verabschiedet werden sollte. Mit dem
1.Februar 1950 zog die Knesset die Debatte über den Gegenstand wieder an sich.Deutlich wurde nun vor allem, daß auch
,Ministerpräsident Ben Gurion zu den Geg-nern einer Verfassungsurkunde zählte. Am13.Juni 1950 nahm die Versammlung auf'Vorschlag des Abgeordneten Y. Hararieinen aufschiebenden Kompromißbe-schluß folgenden Inhalts an: ~
"Die Erste Knesset beauftragt den Ausschuß fürVerfassungs- und Rechtsangelegenheiten mitder Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfes.Die Verfassung soll aus einzelnen Abschnittenbestehen, von denen jeder für sich allein einselbständiges Grundgesetz bildet. Die Ab
,schnitte sollen der Knesset nach Maßgabe des'Abschlusses der Arbeiten des Ausschusses unterbreitet werden und sich in ihrer Gesamtheit
,zur Verfassung des Staates zusammenschlie'ßen."17
'Mit dieser bewußt unpräzise formulierten.Harari-Resolution" war das Projekt derAusarbeitung einer geschlossenen Verfassungsurkunde zwar nicht endgültig undeindeutig aufgegeben, aber doch in das Belieben der Knesset gestellt und so auf unbestimmte Zeit verschoben. Mit der nunoffenbar favorisierten Idee einer "constitu
tion by evolution" 18 in Form sukzessivzu verabschiedender Teil-Grundgesetze 19
war aber vor allem eine bedeutende Status
erhöhung des israelischen Parlaments verbunden: Denn im Klartext führt die Erklä
rung zu dem Ergebnis, daß seit 1950 jedeKnesset auch und zugleich eine potentielleVerfassunggebende Versammlung ist unddas Parlament auf diese Weise die "verfas
sunggebende Gewalt in unaufhörlicherSukzession innehat" 20. Ein staatsrecht
liches Unikat: Jedes israelische Parlamentverfügt aufgrund seiner Doppelidentität die es vom souveränen britischen Parla-
ment unterscheidet - über das Mandat,eine Verfassung für Israel zu verabschieden.
Warum ist dies bislang nicht geschehen?Bei der Beantwortung dieser Frage lassensich drei Aspekte unterscheiden, die in denDebatten nicht immer so deutlich artiku
liert worden sind: nämlich machtpolitische, in der besonderen politisch-geographischen Lage des Landes wurzelnde undreligiöse.
Staatsrechtliche Allmacht desParlaments
Der machtpolitische Aspekt kreist um dieFrage der möglichen Kompetenzbeschränkungen des Parlaments. Etabliert man imStufenbau der Rechtsordnung eine Verfassung mit Geltungsvorrang und derogierender Kraft gegenüber entgegenstehendemeinfachen Gesetzrecht, so kollidiert dieses Prinzip mit der Vorstellung einer"Parlamentssouveränität" , wie sie in der
englischen Rechtstradition verwurzelt ist 21
und in Israel offenbar gewisse Resonanzgefunden hat. Das britische Parlamentkann ja einem berühmten Wort de Lolmeszufolge alles, außer aus einem Mann eineFrau und aus einer Frau einen Mannmachen. Solcherart umschriebene Omni
potenz verträgt sich jedoch nicht mit demVorrang der Verfassung, der unausweichlich zum Nachrang des Gesetzgebersführt. 22
Das israelische Parlament aber bleibt
staatsrechtlich allmächtig. So erklärt sich,daß die Mehrheitsfraktionen vor einer
Selbstbeschneidung ihrer Befugnisse zurückschreckten und stattdessen die Knes
set gewissermaßen zu einer Verfassunggebenden Versammlung in Permanenz mitallgemeinen legislativen Kompetenzen erhoben.13 Hinzu tritt die prekäre Sicherheitslage des Staates: Da eine starre Verfas-
UNIVERSITAS 12/1988
1292-------- , H. Dreier,
sung naturgemäß immer zur Bindungund Beschränkung der Staatsgewaltführt, sahen und sehen die zudem stets
auf flexible Koalitionsbildungen angewiesenen Partei- und Staatsführer in ihr
nur einen Hemmschuh für die Dynamik des politischen Lebens im allgemeinen sowie die unerläßliche Effektivität
und Durchschlagskraft staatlichen Handelns in Zeiten der Bedrohung im besonderen. Dieser Gesichtspunkt leitet bereitsüber zur besonderen Lage Israels mitder zu beachtenden typischen Wechselwirkung von außen- und innenpolitischenFaktoren.
Poli ti sch -geogra phischeBesonderheiten
Der Staat Israel weist eine solche Fülle von
Besonderheiten auf, daß man fragen muß,ob das kontinentaleuropäisch-westatlantisehe Verfassungsmodell24 mit seinen unausgesprochenen, aber unverzichtbarenImplikationen sich hier so einfach übertragen läßt. Denn die großen Verfassungen des ausgehenden 18.Jahrhunderts undihre bedeutenden Nachfolger setzten jaeine entwickelte Staatlichkeit und gewissenationale Geschlossenheit, Staatsvolk,Staatsgebiet und Staatsgewalt ebenso voraus wie einen bestimmten Entwicklungsstand der sozialen und politischen Verhältnisse, die zu einer neuen rechtlich-institu
tionellen Form drängten. Wie anders istdies bei einem Land, das sich selbst als eine
Heimkehrstätte für ein in der ganzen Weltverstreutes Volk versteht, als "Schöpfungdes ganzen jüdischen Volkes" 25, aber dochauf Dauer ein unvollkommener National
staat bleiben wird; wie anders bei einemLand, das jedem Juden in der Welt ein bedingungsloses Recht auf Einwanderung 26
und den damit automatisch verbunde
nen Erwerb der Staatsangehörigkeit garan-
1211988 UNIVERSITAS
tiert 17, weil es sich als Staat aller Juden, als"Staat des jüdischen Volkes" begreift undauf diese Weise religiöses Bekenntnis undVolkszugehörigkeit verknüpft; wie andersbei einem Land schließlich, das sein Territorium im Verhältnis zu den exakten Ge
bietsfestlegungen des UN-Teilungsplaneszwar von Anbeginn ausgeweitet, aber biszum heutigen Tage nicht exakt fixiert, denStatus der besetzten Gebiete darüber hin
aus nicht eindeutig definiert hat.2R Produkteiner dem 19.Jahrhundert entstammendenNationalstaatsidee und der Tatkraft der
agrarsozialistisch orientierten Pioniergeneration, beladen mit der zweitausendjährigen Geschichte eines Volkes im Exil, konfrontiert mit einem arabischen Bevölke
rungsteil, dessen Integration aus ethnischen, religiösen und politischen Gründenzunehmend unwahrscheinlicher wird - so
sprengt Israel heute alle überkommenenMuster neuzeitlicher Territorialstaatlichkeit.
Angesichts dieser Besonderheiten entbehrt es nicht der Logik, wenn der bedeutsame, staatliche Einheit bekundende Akt
der Verfassunggebung an eine Konsolidierung der äußeren und inneren Lage desStaates geknüpft wird, wenn man es ablehnt, Verfassungsdokumente westeuropäischer Provenienz gleichsam nur zu kopieren und die Notwendigkeit der Klärungdes Selbstverständnisses des (seit 1948 zusätzlich gravierenden demographischenUmschichtungen unterworfenen) israelischen Volkes und der Identität des neugegründeten Staates betont.29
Eben dies markiert den wahren Kern des
israelischen Verfassungsproblems : die Frage nach der Identität des Landes. DieseFrage aber zielt unweigerlich auf das Religionsproblem, genauer: auf das Verhältniszwischen Staat und Religion, noch genauer: auf den fehlenden Konsens überdieses Verhältnis.
.Wennwir eineVerfassungfür Israelausarbeitenwollen,so können wir nur zu uns selbstzurückkehren. (... ) Israels Verfassung hat TausendevonJahren bestanden,und wir brauchen keinenErsatz.Wenndie Zeit für eineaufder Thora beruhendeVerfassungnicht reifist, so laßt uns lieber gar keine Verfassungmachen.")0
Während so eine Bevölkerungsgruppe dieThora als verbindliche Grundordnung desGemeinschaftslebens betrachtet und die
strikte Einhaltung ihrer Regeln als Voraussetzung für einen allein vom Messias zuschaffenden Staat ansieht, sträubt sich dieweltlich orientierte Mehrheit des Landes
gegen eine weitgehende religiöse Überformung der für alle geltenden Rechtsgesetze
Recht und Religion - die Thora alsVerfassungskodex ?
Die daraus resultierende religiöse Prägungdes öffentlichen Lebens schlägt sich auchim Rechtswesen nieder. So hat man die ausosmanischer Zeit überkommene und auch
von den Briten nicht angetastete Zuweisung aller Personenstandsangelegenheitenan die religiösen Gerichte der jeweiligenGlaubensgemeinschaft Guden, Muslims,Christen und Drusen) prinzipiell beibehalten.31 Die damit zusammenhängendenvielfältigen Probleme (zum Beispiel gemischt-konfessionelle Eheschließungenoder fehlende Scheidungsmöglichkeitenfür Katholiken) können hier nur angedeutet werden. Es mag der Hinweis genügen,daß besonders die jüdischen Rabbinatsgerichte nicht nur volle Jurisdiktion über diegesamte (religiöse wie nichtreligiöse) jüdische Bevölkerung innehaben, sondernauch ungeachtet der prinzipiellen Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit der Halacha (der verbindlichen Auslegung derüberlieferten religionsgesetzlichen Bestimmungen) überkommene Rechtstraditionen pflegen, die in vielen Punkten zu den
1293Israel _, _
- und verzichtet dann lieber ganz auf eineVerfassungskodifika tion.
Nun liegt die Besonderheit Israels gerade in seiner religiös vermittelten Genese.Die Religion hat das jüdische Volk in derDiaspora zusammengehalten, sie war dasalles umschlingende Band, der gemeinsame, identitätsstiftende Bezugspunkt.Ohne die Exklusivität vermittelnde jüdische Religion gäbe es vermutlich kein sichals solches begreifendes jüdisches Volkmehr. Dieser in den ersten Sätzen der Un
abhängigkeitserklärung plakativ formulierte historische Zusammenhang läßt sichnicht leugnen, er fordert nach wie vor Beachtung.
Nationalstaat
oder jüdische Heimstatt?
Damit ist der dritte und wichtigste Punktbezeichnet: das Spannungsfeld zwischenreligiösen und weltlichen Kreisen, der Gegensatz zwischen der politisch-zionistischen Bewegung und den Vertretern derjüdischen Orthodoxie, der Streit um dieAusgestaltung Israels zu einem eher theokratischen oder einem eher säkularen
Staat. Diesen strukturellen Konflikt ha~teman in der kritischen Phase nach 1948
durch die Verabschiedung einer Verfassung nicht noch vertiefen und zuspitzenwollen.
So ist und bleibt etwa für die ausgeprägtantizionistischen Ultraorthodoxen die
Gründung des Staates Israel ohnehin eineitel-vermessener Eingriff von Menschenhand in den göttlichen Heils- und Erlösungsplan. Eine rein politisch-weltlicheVerfassung kommt aber auch für die gemäßigteren religiösen Kreise nicht in Betracht. Vielmehr soll die Thora die Grund
lage für das jüdische Gemeinschaftslebenbilden. Im Rahmen der Verfassungsdiskussion von 1950 erklärte ein Sprecher der religiösen Parteien:
UNIVERSITAS 12/1~88
1294--------------~i H. Dreier imodernen Lebensformen und Anschauun
gen in schroffem Gegensatz stehen. DieAlternative einer Zivilehe stellt der Staat
nicht zur Verfügung. Jeder heiratswilligeJude, auch der nichtgläubige, kann sich nurvon einem orthodoxen Rabbiner trauen
lassen - konservatives und Reformjudentum spielen in Israel keine nennenswerteRolle.
Gerade bei den nicht selten auftretenden
Kompetenzkonflikten zwischen staatlicher Gerichtsbarkeit und dem gespaltenenOberrabbinat (mit einem sephardischenund einem aschkenasischen Juden an derSpitze), aber auch bei spektakulären Sabbat-Aktionen streitbarer orthodoxer
Gruppen stellt sich die prinzipielle Frage,wie weit die Vorschriften des jüdischenGlaubens das heutige öffentliche LebenIsraels bestimmen sollen. Denn ohneZweifel haben sich in diesem Produkt des
Zionismus die religiösen und geistigen Traditionen des jüdischen Volkes nicht nurneuen Ausdruck verschafft 32; mehr noch
und darüber hinausgehend stellen sich aufdieser neuen, historisch einmaligen Plattform Berechtigung wie Notwendigkeit derin der Diaspora-Vergangenheit gewachsenen Lebensformen in einem anderen Lichtdar. Zusehends verblassen die im Exil
unter den spezifischen Bedingungen einerMinoritätskultur gepflegten Glaubenstraditionen, erscheinen sie insbesondere den
im Lande geborenen jungen Israelis alsAnachronismen.
Gibt es einen Mittelweg?
Zu weiten Teilen ist Israel zu einer moder
nen, weltlich-pluralistischen Gesellschaftgeworden. Den Anteil mehr oder minderstrenggläubiger Juden schätzt man (aufdemoskopischer und daher schwankenderGrundlage) auf 2S bis 30 % H. ZU denUltraorthodoxen zählen sogar nur 5 % der
12/19SS UNIVERSITAS
Bevölkerung - doch handelt es sich wegenihres militanten Aktivismus und des über
Parteien wie Agudat Israel 34 vermitteltenpolitischen Einflusses um eine höchstwirksame und erfolgreiche Gruppe.
Wie weit, das bleibt der Kernpunkt,sollen deren maximalistische Forderungenerfüllt werden? In welchem Umfang mußIsrael ein jüdischer Staat bleiben, um seinenationale Identität zu wahren? Kann sich
ein jüdischer Israeli in erster Linie als Gliedeines Staatsvolkes, als Angehöriger einerNation und weniger einer Religionsgemeinschaft fühlen? Tritt neben den religiösen Judenbegriff ein nationaler 35 - odertritt er gar an seine Stelle? Ist Israel, wennes sich zum Typus der westlichen, auf demPrinzip staatsbürgerlicher Egalität beruhenden Demokratien zählt, nicht un
weigerlich gezwungen, Religion zur Privatsache abzustufen? Kann man es ande
rerseits überhaupt zu denken wagen, daßsich das Land zum säkularen Verfassungsstaat mit völliger Religionsfreiheit wandelt? Gibt es einen Mittelweg zwischendem universalistischen Konzept freiheitlicher Demokratien und dem Partikularis
mus der religiösen Eiferer?Die Liste solcher und ähnlicher Fragen
ließe sich beliebig verlängern. Ihr Inhaltbildet das Zentrum andauernder innenpolitischer Auseinandersetzungen. Auf siegibt es allem Anschein nach zur Zeit wedereindeutige noch einheitliche Antworten.
Fehlen einer Verfassung als Existenzbedingung?
Eine Verfassung für den Staat Israel indeskönnte all diese Probleme, die in ihrer "Intensität und Schärfe keine Parallelen mehr
in den heutigen westlichen Demokratien" ,(,finden, nicht unentschieden in derSchwebe lassen, sie müßte Antwort geben,müßte sich zu einem bestimmten Staats-
1295, Israel , _
bild bekennen, müßte Auskunft gebenüber Identität und Selbstverständnis desStaates.
Angesichts der unaufgelösten Basiskonflikte aber würde eine Verfassung das Landnicht intensiver zusammenfügen, sonderneseher auf eine Zerreißprobe mit ungewissem Ausgang stellen. Die Verfassung würde all jene existentiellen Fragen aufwerfen,deren bisherige Nichtbeantwortung vielleicht überhaupt erst die relative Stabilitätdes Landes ermöglicht hat. Der Versu~h,mit einer Verfassung das staatliche Erscheinungsbild gleichsam zu komplettieren, könnte einen offenen Kulturkampfmit der solchen Konfrontationen eigenenTendenz zur Radikalisierung der Differenzen heraufbeschwören.
Das Fehlen einer kodifizierten Verfas
sung erscheint nach alledem im FalleIsraels nicht als Defizit, sondern eher alseine Existenzbedingung dieses ungewöhnlichen Staates.
Es zeigt sich hier ein allgemeines Phänomen: Jede Verfassung, die mehr sein willals ein unverbindliches Stück Papier, setzteinen bestimmten Grundkonsens über die
fundamentalen Prinzipien, Strukturen undZiele des zu verfassenden Staates voraus J7.
Nur darauf aufbauend kann sie als ver
bindliche Rahmenordnung und Form derfriedensstiftenden Rationalisierung des politischen Prozesses wirken, als Integra-
, tionsfaktor, als "Anregung und Schranke"im Sinne Rudolf Smends.
Die Bedeutung der "Basic Laws"
Obwohl Israel also nach wie vor keine Ver
fassungsurkunde besitzt, gibt es doch bestimmte geschriebene Grundregeln für diestaatliche Organisation. Die Rede ist vonden als "Basic Laws" etikettierten Legislativakten, die mit dem deutschen Wort"Grundgesetze" mißverständlich und un-
zutreffend übersetzt wären. Es handelt
sich hier um jene in der Harari-Resolutionvon 1950 erwähnten, selbständigen Abschnitte einer sukzessiv zu komplettierenden Gesamtverfassung. Doch wohlgemerkt: Trotz ihrer Kennzeichnung kommtden "Basic Laws" kein höherer Rang gegenüber den einfachen Gesetzen odersonst besondere Dignität zu. Sie alle können - von gleich zu erwähnenden geringfügigen Ausnahmen abgesehen - mit einfacher Mehrheit der Knesset jederzeit geändert oder abgeschafft werden. Es fragtsich natürlich, welche Bedeutung der Titulierung "Basic Laws" angesichts ihrer offensichtlichen Unerheblichkeit überhauptzukommt: Zumal Änderungsgesetze zuden Basic Laws nur zum Teil selbst wieder
um als solche bezeichnet, teils aber auchohne diese Hervorhebung verabschiedetworden sind; auch wurden nicht alle BasicLaws, wie vorgesehen, vom Ausschuß fürVerfassungs- und Rechtsangelegenheiteneingebracht. J8 Zusätzliche, in der Rechtswissenschaft nicht annähernd geklärteProbleme (genauer Status der Basic Laws,ihr Verhältnis zur künftigen Verfassung,ihre Abänderbarkeit, etwaige Bindungswirkung für spätere Parlamente, übergesetzlicher Rang der schließlich aus BasicLaws zusammengesetzten Gesamtverfassung etc.), wie sie aus der Doppelidentitätder Knesset als zugleich verfassung- undgesetzgebender Körperschaft, dem Fehleneiner eigenständigen verfassunggebendenVersammlung und dem dadurch problematischen Verhältnis zwischen der Eigenart grundlegender Verfassungsregeln undder laufenden Gesetzproduktion resultieren, sind besonders instruktiv und detailliert von Claude Klein analysiert worden. J9
Es zeigt sich, daß es keinen rechtskonstruktiven Sinn ergibt, in sukzessiver Folgeeinzelne Gesetzeswerke als "Basic Laws"
zu etikettieren, ohne sie zugleich mit er-
UNIVERSITAS 12/1988
1296i H. Dreier,
höhter Bestandsgarantie und Geltungsvorrang gegenüber einfachen Gesetzen auszustatten und so der Vorstellung einer eigenen ,;Yerfassungsrechtsstufe" Rechnung zutragen. Es führt zu unauflösbaren Identitätsproblemen, wenn man die Verfassunggebung derjenigen Körperschaft anvertraut, die durch die Verfassung gebundenwerden soll. Das israelische Beispiel erweist, daß es nicht möglich ist, zugleichdas in sich konzise System der englischenParlamentssouvednität praktizieren undsich in die kontinentaleuropäisch-amerikanische Verfassungstradition stellen zuwollen.
Angesichts dieser Situation hat derOberste Gerichtshof Israels in seiner
Funktion als "High Court of Justice" natürlich kaum die Möglichkeit, als QuasiVerfassungsgericht und damit als Kontrollorgan des Parlaments zu agieren. Eine Einbruchsstelle aber hat die Knesset selbst geschaffen, und diese wurde mittlerweile
auch genutzt. Bestimmte, wenngleich nur
Das israelische Parlament, die Knesset, in Jcrusalem.
12/19SS UNIVERSITAS
wenige Artikel der Basic Laws nämlichsind mit besonderen Sicherungen in derWeise versehen worden, daß ihre Änderung einer qualifizierten Mehrheit bedarf.Solche "entrenched clauses" finden sich '
zum Beispiel in Art. 4, 44 und 45 des BasicLaw über die Knesset (KnG) und in Art. 42des Basic Law über die Regierung. In demberühmten und vielzitierten Fall Bergman'J aus dem Jahre 1969 hat der HighCourt of Justice zum ersten Mal ein vomParlament beschlossenes Gesetz für nich
tig erklärt, weil es im Widerspruch zueinem Basic Law stand. Die Entscheidungberuhte allein darauf, daß das für nichtigerklärte Gesetz nach Auffassung des Gerichts inhaltlich gegen den in Art. 4 KnGgenannten Grundsatz der gleichen Wahlverstieß, ohne mit der in diesem Artikel
ausdrücklich vorgesehenen absolutenMehrheit der Abgeordneten verabschiedetworden zu sein. Im Grunde ging es alsonicht um eine Beschränkung der Legislativmacht als solcher, sondern um die Frage
(Foto: dp')
1297, Israel _, _
nach der erforderlichen qualifiziertenMehrheit, vor allem um die Bindung derKnesset an selbstgesetzte Erschwerungenfür Rechtsänderungen und die Kontrollkompetenz des Gerichts. Aber immerhinund bedeutend genug: Hier hat das Gericht für sich überhaupt das in späterenEntscheidungen (trotz auffälliger Vermeidung prinzipieller Aussagen über die Justiziabilität von Parlamentsgesetzen) bekräftigteRecht reklamiert und die KompetenzinAnspruch genommen, Gesetze auf ihreGültigkeit hin zu überprüfen. Es hat die
.Idee absoluter Parlamentssouveränität
endgültig verabschiedet, indem es dieMöglichkeit und Wirksamkeit der Bindung späterer Körperschaften durch Entscheidungen ihrer Vorgänger bejaht.
Die rechtliche Grundordnung derStaatsorganisation
Israel hat sich bislang acht als solche bezeichnete Basic Laws gegeben. Sie betreffen die Knesset (1958), die Bodengüter(1960), den Staatspräsidenten (1964), dieRegierung (1968), die Staatswirtschaft';(1975), die Armee (1976), Jerusalem alsHauptstadt Israels (1980) und die Gerichtsbarkeit (1984). Die Gesetzeswerkedecken einen guten Teil des Bereiches
:ab, der den organisatorischen Abschnitt.von Verfassungsurkunden auszumachenpflegt. Inhaltlich umschreiben sie annähernd den Typus einer parlamentari.schenDemokratie westlicher Prägung, wie'ihnauch das Grundgesetz für die Bundesepublik Deutschland repräsentiert.. Als legislatives Organ fungiert die Knes
et, ein Einkammerparlament mit 120 Ab-; eordneten, vierjähriger Wahlperiode und
eitgehend unbeschränktem Selbstauflöungsrecht ". Die Besonderheit, daß die
:Knesset sowohl Gesetzgebungskörperschaft als auch gewissermaßen permanent
tagende Konstituante ist, steigert die Bedeutung dieses ganz von den Parteien dominierten, direktdemokratisch legitimierten Organs noch. Das Parlament kontrolliert die von ihrem Vertrauen abhängige,kollegial organisierte Regierung. Ähnlichwie beim deutschen Bundespräsidentenfallen dem auf fünf Jahre gewählten Staats
präsidenten überwiegend zeremoniellrepräsentative Aufgaben zu. Die weltlicheRechtsprechung ist als unabhängige Instanzausgestaltet.
Eine Besonderheit stellt der Staatskon
trolleur dar, dem allerdings kein Basic Lawgewidmet ist. Es handelt sich hierbei umeinen von der Regierung unabhängigen,nur der Knesset verantwortlichen Beauf
tragten mit umfassenden Kontroll- undÜberprüfungsrechten aller staatlichen undkommunalen Behörden, in dessen Amt dietypischen Aufgaben eines Ombudsmannesmit denen von Rechnungshöfen kombiniert sind. Der vom Staatspräsidenten auffünf Jahre ernannte, tatsächlich aber voneinem Ausschuß der Knesset definitiv bestimmte Staatskontrolleur kann seine Er
mittlungen sogar in justizförmiger Weiseausgestalten; doch stehen ihm keine administrativen Kompetenzen zu. Seine demParlament erstatteten Berichte finden in
der Öffentlichkeit regelmäßig großesInteresse .
Grundrechte werden nicht
ausdrücklich geschützt
Ein Basic Law über Menschen- und Bür
gerrechte gibt es bislang nicht. Mehrmalsvorgelegte Gesetzentwürfe haben bislangin der Knesset keine Mehrheit gefunden.Versuche, aus der Unabhängigkeitserklärung einen Kanon von Freiheits- undGleichheitsrechten herauszulesen, warenvon Beginn an zum Scheitern verurteilt.Denn dort hieß es: "Der Staat Israel ...
UNIVERSITAS 12/1988
1298----- , H. Dreier ,
wird völlige gesellschaftliche und politische Gleichberechtigung allen seinen Bürgern gewährleisten ohne Unterschied desGlaubens, der Rasse und des Geschlechts.Er wird die Freiheit des Glaubens, des Gewissens, der Sprache, der Erziehung undder Kultur verbürgen." Man erkennt: Hiersind Leitlinien für eine künftige Verfassungenthalten, vielleicht auch Staatszielbestim
mungen und Rechtsauslegungsdirektiven,aber keine subjektiven Rechte des Individuums.
Gleichwohl ist vom sachlichen Gehalt
her die Idee grundlegender Freiheitsverbürgungen durchaus lebendig und wirksam. Als wesentlicher Motor der Entwick
lung hat sich hierbei die Rechtsprechungdes High Court of Justice erwiesen, derdiese Rolle auch durchaus selbstbewußtfür sich reklamiert. In einem Urteil aus
dem Jahre 1971 führt das Gericht aus:
"In unserem Staat, wo keine Verfassung aus
drücklich die Grundrechte der Bürger schützt,ist dieses Gericht in seiner Funktion als Hohes
Gericht für die Gerechtigkeit berufen, diese
Rechte zu wahren und dem Bürger die bean
tragte Hilfe zu gewähren, wenn eine seinerGrundfreiheiten durch einen Akt der Behörden
verletzt ist." .2
Die wichtigste Quelle für die Grundrechtsentwicklung in Israel bildet derzeitalso die Judikatur des Obersten Gerichtshofes. " Ansatzpunkte für· die Anerkennung von Grundrechten findet das Gerichtvor allem in allgemeinen Rechtsgrundsätzen, im Common Law, im Rechtsstaatsgedanken sowie im Demokratieprinzip. DieMeinungs- und Pressefreiheit ist ja, um nurein Beispiel zu nennen, für eine demokratische Staatsordnung geradezu konstitutiv. Noch immer aber steht die Ablei
tung grundrechtsähnlicher Verbürgungendurch die Rechtsprechung unter dem Vorbehalt einer dem nicht zuwiderlaufenden
Rechtsetzung der Knesset.
12!19SS UNIVERSITAS
Ein Verfassungsentwurf für Israel
Bald schon könnte sich dies entscheidend
ändern. Denn aus Anlaß des vierzigjährigen Staatsjubiläums haben Rechtswissenschaftler unter dem Vorsitz von Professor
Uriel Reichmann (Universität Tel Aviv)einen kompletten Verfassungsentwurf ausgearbeitet.44 Dieser schreibt nicht nur bereits Erreichtes fest oder gewisse Trendsfort, sondern setzt in manchem völlig neuan. Auffällig ist zunächst der breitgefächerte Grundrechtskatalog, der Menschenwürde, Gleichheit, Freizügigkeit, Schutzvor willkürlicher Verhaftung und der Privatsphäre, faires Verfahren vor Gericht,Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit, Freiheit der Kunst, der Wissenschaftund der Forschung garantiert. Hervorstechend ist daneben die Stärkung plebiszitärcäsaristischer Elemente durch die vorgesehene Direktwahl des Ministerpräsidenten(bei gleichzeitiger Schwächung der zurZeit außergewöhnlich starken Position dereinzelnen Minister); zudem soll das Landin 60 Wahlkreise eingeteilt und das Wahlrecht um Elemente der Personenwahl an
gereichert werden. Zumindest die beidenletztgenannten Änderungen sind der Behebung offensichtlicher Defizite des politischen Systems zu dienen bestimmt: der institutionellen Schwäche des Ministerpräsidenten (was von Ben Gurion und GoldaMeir durch Charisma und Sachauto6tiit
überspielt werden konnte) sowie dem fehlenden Einfluß der Wähler auf die personelle Zusammensetzung des Parlamentsaufgrund des strikt proportionalen Verhältniswahlrechts mit starrem Listen
system, wobei das gesamte Staatsgebieteinen Wahlkreis bildet. Beinahe von selbst
versteht sich, daß der Entwurf die Verfas
sung mit übergesetzlichem Rang ausstattetund ihre Änderung erschwerten Voraussetzungen unterliegt: Gesetze, die im
i Israel i1299
Widerspruch zur Verfassung stehen, sindnichtig;Änderungen bedürfen einer Mehrheit von zwei Dritteln der Knesset. Und
natürlich wird ein Verfassungsgericht installiert.
Grenzen einer Verfassung
Dieser in sich konsequente Versuch derEtablierung eines demokratischen Verfassungsstaates verdient ohne jeden Zweifeleineintensive Diskussion. Angesichts d~rskizzierten politischen und gesellschaftlichenHintergründe müssen seine Realisierungschancen aber wohl eher skeptisch beurteilt werden. Zudem drängt sich bei.erster Durchsicht der Eindruck auf, daßeine Reihe zentraler Probleme (wie etwadasder Staatsangehörigkeit) auf die Ebene'derGesetzgebung verschoben, andere nurformelhaft-terminologisch angefaßt werden. Unerwähnt bleibt der prekäre Statusderarabischen Bevölkerung in den besetztenGebieten. Daß die Frage nach einer Bewältigung dieses Konfliktherdes (Koexistenzordnung, Minoritätenstatus, Bi-Nationalität oder Deportation?) ein Kardinalproblem Israels darstellt, das die innerjüdischen Auseinandersetzungen zugleichüberschattet und zuspitzt, bedarf nicht erstseit den jüngsten Ereignissen (Palästinenseraufstand im Dezember 1987) keinerweiteren Erläuterung.
Das mutmaßliche Scheitern des Ent
wurfes ist allein deshalb zu bedauern, weileineReihe evidenter Gründe für eine Ver
fassungsprechen: die Sicherung der Menschenrechte, aber auch der verringerte,Einfluß von Tagesmajoritäten sowie ganzallgemein der durch die ,Yersteifung derpolitischen Dynamik" H bewirkte legitimierende wie limitierende, dem Staat,Maß und Form" verleihende Effekt verfassungsrechtlicher Stabilisierung, Rationalisierung und Entlastung des politischen
Prozesses 46, der auch der Freiheit des einzelnen dienlich ist.
Indes hat auch der moderne Verfas
sungsstaat seine hier nur knapp und unvollständig anzudeutenden Strukturprobleme. Diese manifestieren sich zum Bei
spiel darin, daß er, wiewohl auf den demokratischen Prämissen der Freiheit und
Gleichheit beruhend, scheinbar paradoxerweise die Staatsbürgergesellschaft anbestimmte sachliche Grundentscheidun
gen bindet, die von einer anderen Generation getroffen worden sind. Offenkundigwird so das souveräne Volk der Gegenwartdem Verfassunggeber der Vergangenheitunterworfen 47 - eine Mehrheit von gestern herrscht über die Mehrheit von heu
te. Hinzu kommt, daß nur die Institutionalisierung einer effektiven Verfassungsgerichtsbarkeit den Normen der VerfassungWirksamkeit zu verleihen vermag. Wenndie authentische und für alle Staatsgewalten verbindliche Auslegung der Verfassungnun einem selbstbewußten, diese Kompetenzen extensiv ausschöpfenden Gerichtobliegt, kann es im Wege "negativer Gesetzgebung" zu einer unter demokratischen Gesichtspunkten bedenklichen Juridifizierung des Politischen bis hin zur Blokkade des pluralen Prozesses freier Willensbildung kommen. Wegweisende gesellschaftspolitische Grundentscheidungenkönnen so, wie die Geschichte des Supreme Court in den USA lehrt, zeitweiligunter die Kuratel einer noblesse des robes
geraten. Der ebenfalls der amerikanischenVerfassungsgeschichte entlehnbare Hinweis, daß das Verfassungsgericht auch undgerade als Motor des Fortschritts fungiertund (ohne Änderung des Verfassungstextes !) den Abbau der Rassendiskriminierung entscheidend vorangetrieben hat,ändert an dem prinzipiellen Befund nichts,sondern demonstriert nur seine unter
schiedlichen politischen Effekte. In der
UNIVERSITAS 12/1988
1300, H. Dreier
Generationenfrage und der funktionalenBegrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit liegen also die strukturellen Problemedes Verfassungsstaates - und nicht, wieLord Diplock meint", darin, daß Kodifikationen automatisch zur Verengung derMenschenrechte beitrügen, weil man nurnoch auf den Buchstaben und nicht mehr
auf ihren Sinngehalt achten würde.Im Falle Israels kommt hinzu, daß das
Land unter den zur Zeit obwaltenden Umständen kaum zu einem Akt der Verfas
sunggebung fähig scheint, ein solcher zudem kontraproduktive Effekte zeitigenund der staatlichen Integration abträglichsein könnte. Für Israel wie für jeden anderen Staat gilt schließlich: Keine Verfassungkann allein als rechtstechnisches Konstrukt zentrale Bestands- und Realisie
rungsvoraussetzungen freiheitlicher Gesellschaften gleichsam aus sich selbst heraus schaffen. Die Freiheitlichkeit und Sta
bilität eines politischen Gemeinwesenshängt am Ende weniger von der Existenzeiner feierlich verkündeten Urkunde ab als
vom politischen Bewußtsein der Staatsbürger, ihren demokratischen Tugenden,ihrem Freiheitswillen, ihrem bürgerschaftlichen Engagement, ihrer Toleranz undnicht zuletzt: ihrer Friedensbereitschaft.
Überarbeitete und mit Anmerkungen versehene Fassung eines Vortrags, den der Verfasser im Wintersemester 1987/88 bei einem vom .Collegium Iudaicum' der B,'yerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg veranstalteten Israel-Symposium hielt.
1 Her~/, Ib.: Der Judenstaat, 1896; jetzt auch abgedruckt in: ders.: .Wenn ihr wollt, ist es kein Mär
chen", hrsgg. v. J. Schoeps, 2. Auf!. 1985, S. 195 ff.2 Zur Gründung des Staates Israel und der Vorgeschichte vgl. Weiß, G.: Die Entstehung des StaatesIsrael, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches
Recht und Völkerrecht, Bd. XIII (1950/51), S. 146 ff.,
786 H.; Klinghoffer, H.: Die Entstehung des StaatesIsrael, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts GöR),N. F. Bd. 10 (1961), S. 439 ff.; Freudenheim, Y.: DieStaatsordnung Israels, 1963, S. 3 ff.; Röhring, H.-H.:
12/1988 UNIVERSITAS
Die Entstehungsgeschichte des Staates Israel, in:Israel - Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, hrsgg. v.K. Sontheimer, 1968, S. 10 ff. - 3 Dazu ausführlich
EIstrm, D. R.: Israel. The Making of a Nation, 1963,S. 16 ff. - • Ausführliche geschichtliche Gesamtdarstellung: Sachar, H. M.: A History of Israel. From theRise of Zionism to Dur Time, 1977. - 5 Klinghoffer, H. .JöR N. F. Bd. 10 (1961), S. 448 ff. - 6Die provisorische Staatsversammlung hatte noch am Tageder Verkündung der •.Lawand Administration Ordinance" (Neugliederungsgesetz vom 19. Mai 1948)vonder in Art. 9 vorgesehenen Möglichkeit zur Erklärungdes Staatsnotstandes Gebrauch gemacht, und dieseauf drei Monate befristete Maßnahme ist seitdem stets
verlängert worden. - 7 Badi, J: Religion und Staat inIsrael, 1961, S. 27 ff.; Eisenstadt, S. N.: Die israelische
Gesellschaft, 1973, S. 308 ff.; zu typischen Fällen vgl.Falk, Z. W: Religion und Staat in Israel, in: Verfassung und Recht in Übersee, 5. Jg. (1972), S. 423 ff.,und Englard, J.: Die Stellung des jüdischen Rabbinatsim Rahmen des Staates Israel, in: Menschenrechte,Föderalismus, Demokratie. Festschrift zum 70. Ge
burtstag von Werner Kägi, 1979, S. 101 ff. (105 ff.).• Dazu Loewenstein, K.: Verfassungslehre, 1959,S. 127 ff.; Scheuner, U.: Verfassung (1963), in: den.:Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 171ff.; Badura,
R: Art. Verfassung, in: Evangelisches Staatslexikon,3. Au!1. 1987,Sp. 3737 ff.; Hofmann, H.: Zur Idee desStaats grundgesetzes, in: ders.: Recht - Politik - Ver
fassung, 1986, S. 261 ff. - 9 Statt aller: Bryde, 8.-0.:Verfassungsentwicklung, 1982, S. 27 ff., 42 ff.;Stern, K.: Das Staatsrecht der BundesrepublikDeutschland, Bd. I, 2. Auf!. 1984, S. 69 ff., 103 ff.
IOZum Beispiel Kanada 1982. Dazu McWhinney, E.:The Canada Act and the Constitution Act, 1982, in:
JöR N. E Bd. 32 (1983), S. 625 ff.; ferner Bothe, M.:La
protection des droits fondamentaux au Canada, in:JöR N. E Bd. 35 (1986), S. 267 ff. _11 Dazu im einzel
nen: Klinghoffer, H. :JöR N. F. Bd. 10 (1961), S. 456ff.- 12 Das ist ungeachtet der erstaunlich kurzen Fristsetzung jedenfalls dem englischen Text zufolge tIß
deutig (wie alle anderen Dokumente zitiert nach: La
hav, RlBlaustein, R M.: Israel, in: A. P.Blaustein/G.H.Flanz (eds.): Constitutions of the Countries of theWorld. Bd. VIII, New York 1987). Anders für die offizielle hebräische Fassung Klinghoffer, H.: JöR N. F.Bd. 10 (1961), S. 458: die Frist beziehe sich auf die
Wahl der Verfassunggebenden Versammlung. 13 Vgl. zum folgenden Rackman, E.: Israel's EmergingConstitution 1948 - 51, 1955; Kraines, 0.: Government and Politics in Israel, 1961, S. 24 ff.; Freuden
heim. Y. (Anm. 2), S. 10 ff.; Klinghoffer, H. JöRN. F. ßd. 10 (1961), S. 477 ff. - 14 Das Gesetz datiertvom 16. Februar 1949. - 15 Kraines, O. (Anm. 13),S. 31; l.ikho'1)ski, E. S.:Israel's Parliament, 1971,S.17.
1301, Israel ~I-----------------
- 16 Loewenstein, K.: Über Wesen, Technik und
Grenzen der Verfassungsänderung, 1961, S. 30,Fn. 44. - 17 Text bei Freudenheim, Y. (Anm. 2), S. 38;etwas andere Übersetzung bei Klinghoffer, H.: JöRN. F. Bd. 10 (1961), S. 481. - 18 Kraines, O. (Anm. 13),
S. 27. Vgl. auch Zemach, Y.S. : Political Questions inthe Court, 1976, S. 23 ff. - 19 Zu diesen sogenannten.Basic Laws" siehe in diesem Beitrag ab S. 1295. 20 Klinghoffer, H.: JöR N. F. Bd. 10 (1961), S. 460. 21 Dazu Dreier, H.: Der Ort der Souveränität, in:
ders.lHofmann,J. (Hrsg.): Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung, 1986, S. 11 ff.(24 ff.). - Die Parallelen mit Israel beleuchtet Likhovski, E. S. (Anm. 15), S. 73 ff., 191 ff. - 22 Wahl, R.:
Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981),S. 485 ff. (487). - 23 Vgl. neudenheim, Y. (Anm. 2),S.39 f.; Klein, c.: A New Era in Israel's Constitutio
nal Law, in: Israel Law Review 6 (1971), S. 376 ff.(382); Shamgar, M.: On the Written Constitution, in:Israel Law Review 9 (1974), S. 467 ff. (471); Bin
Nun, A.: Einführung in das Recht des Staates Israel,1983, S. 29. - 24 Siehe Stern, K.: Grundideen
europäisch -amerikanischer Verfassungsstaa tl ichkeit,1984;Steinberger, H.: 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung, 1987. - 2S SO Art. 1 des Gesetzes überdie Zionistische Weltorganisation und die JüdischeVertretung vom 24. November 1952. - 26 Law of Return (Heimkehrgesetz) vom 5. Juli 1950; dazu ausführlich Klinghoffer, H.: Verfassungsrechtliche Probleme Israels, in: JöR N. F. Bd. 24 (1975), S. 501 ff.(534 ff.). - 27 Gera-GTÜnbaum, j.lZwergbaum, A.:Das Staatsangehörigkeitsrecht von Israel, 2. Auf!.1974, S. 19 ff. - 28 Im einzelnen Klinghoffer, H.: JöRN. F. Bd. 24 (1975), S. 504 H. - 29 Diese besonders inder Debatte 1949 vorgetragenen Argumente sind dargestellt bei Rackman, E. (Anm. 13), S. 112H. und neudenheim, Y. (Anm. 2), S. 34 H.; zur Identitätsproblematik Eisenstadt, S. N. (Anm. 7), S. 369 H.; Fein, L.].:Politics in Israel, 1967, S. 63ff., 156 ff. - 30 Zitiert nach
Sontheimer, K.: Israel - ein Staat wie jeder andere?,
in: Israel - Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, hrsgg.von dems., 1968, S. 281 H. (305). - 31 Grundlegendzur Stellung der Religionsgemeinschaften Rubinstein, A.: Law and Religion in Israel, in: Israel Law
Review 2 (1967), S. 380 H.; siehe auch Bin-Nun, A.
(Anm. 23), S. 18 ff. - 32 Vgl. Rendtoiff, R.: Die religiösen und geistigen Wurzeln des Zionismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49/1976, S. 3 H. - JJ Wolf/sohn, M.: Israel. Politik - Gesellschaft - Wirtschaft,2. Auf!. 1987, S. 107 f., 207. - 34 Ausführlich zur
bunten Parteienlandschaft Wolffsohn, M.: Politik inIsrael, 1983. - 3S Instruktiv die verzwickte Diskus
sion um die Frage: ,:Who is a Jew" ? - Vgl. hierzu dengleichnamigen Aufsatz von Akzin, B. in: Israel LawReview 5 (1970), S. 259 ff.; ferner Klinghoffer, H. JöRN. F. Bd. 24 (1975), S. 523 H.; Rendtorff, R.: Ist Israel
ein theokratischer Staat?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 10/1979, S. 30 ff. (35 H.). - 36 Englard,].(Anm. 7), S. 102. - 37 Ausführlicher Dreier, H.: Staat
liche Legitimität, Grundgesetz und neue soziale Bewegungen, in: Demokratie und Wirtschaft, hrsgg. v.J. Marko/ A. Stolz, 1987, S. 139 H. (152 H.). - 38 Likhovski, E. S. (Anm. 15), S. 19. - 39 Klein, C. (Anm.23), S. 376 H.; siehe auch Likhovski, E. S. (Anm. 15),S. 216 H. - 40 Dazu und zu den Folgefällen außerKlein, C. (Anm. 23) und Zemach, Y.S. (Anm. 18),S. 58 ff. vor allem Klinghoffer, H.: Verfassungsrechtliche Fragen in der Rechtsprechung Israels, in: JöRN. F. Bd. 36 (1987), S. 219 H. (227 ff., 242 H.). - 41 Imeinzelnen Klinghoffer, H.: JöR N. F. Bd. 14 (1965),S. 431 H. - 42 Zitat nach Bin-Nun, A. (Anm. 23), S. 46.
- 43 Vgl. Hausner, G.: The Rights of the Individual inCourt, in: Israel Law Review 9 (1974), S. 477 H.;Shapira, A.: The Status of Fundamental IndividualRights in the Absence of a Written Constitution, ebd.,S. 497 H; Zemach, Y.S. (Anm. 18) S. 30 ff. - 44 A Constitution for the State of Israel, Tel-Aviv o. J. (hektographiert). - 4S Loewenstein, K. (Anm. 16), S. 9. 46Hesse, K.: Grundzüge des Verfassungsrechts derBundesrepublik Deutschland, 14. Auf!. 1984, Rn.16ff. - 47 Zu diesem Problem Preuß, U. K.: PolitischeVerantwortung und Bürgerloyalität, 1984, S. 11 H.;Hofmann, H. (Anm. 8), S. 294 f.; Graf Kielmansegg, P.: Das Verfassungsparadox, in: Politik, Philosophie, Praxis. Festschrift für Wilhelm Hennis zum 65.Geburtstag, 1988, S. 397 ff. - 48 Lord Diplock: On theUnwritten Constitution, in: Israel Law Review 9
(1974), S. 463 H.
UNIVERSITAS 12/1988