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2 Kernsymptome, Stärken und Subtypen der ADHS Die Kernsymptome der ADHS sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivi- tät und Impulsivität – alle möglichen zu diagnostizierenden ADHS- Subtypen beziehen sich auf diese Kernsymptome. Dabei wurde mehrfach empirisch nachgewiesen, dass die Unaufmerksamkeit ab- zugrenzen ist von der Hyperaktivität-Impulsivität (Nigg et al. 2002). Das bedeutet, dass Unaufmerksamkeit ein singuläres Konstrukt dar- zustellen scheint, während Hyperaktivität und Impulsivität fast im- mer gekoppelt, d. h. gemeinsam, auftreten. Dies spiegelt sich auch in den aktuellen Annahmen zu den Subtypen der ADHS wieder. Die drei Kernsymptome der ADHS, die unterschiedlichen Möglichkeiten ADHS zu diagnostizieren sowie die Subtypen der ADHS werden in diesem Kapitel behandelt. 2.1 Kernsymptome 2.1.1 Unaufmerksamkeit Die Unaufmerksamkeit zeigt sich in vielen Bereichen: zu Hause, in der Schule und im Umgang mit Gleichaltrigen. Kinder mit ADHS sind also häufig unkonzentriert und haben somit Schwierigkeiten beim Spiel oder beim Folgen des Unterrichtsgeschehens. Sie machen oft Flüchtigkeitsfehler und können Anweisungen und Instruktionen nur schlecht folgen. Eine weitere Auffälligkeit im Zusammenhang mit der Unaufmerk- samkeit ist die Vergesslichkeit von Kindern mit ADHS: verlorene Turnbeutel, vergessene Schirme und verschwundene Federmäppchen gehören zum Alltag dieser Kinder. Zudem lassen sich Kinder mit ADHS oft durch äußere Reize ab- lenken: Wenn es gerade das Ziel bzw. die Aufgabe ist, sich auf die morgige Klausur vorzubereiten, und der beste Freund an der Tür klin- gelt, gelingt es Kindern mit ADHS nur schwer, diesen Reiz (in diesem Beispiel der Freund) zu unterdrücken und sich weiter auf die Aufgabe zu konzentrieren ( Kapitel 8 zu Selbstregulation). Flüchtigkeitsfehler Vergesslichkeit Ablenkbarkeit Gawrilow, Lehrbuch ADHS © 2012 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

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Page 1: 2 Kernsymptome, Stärken und Subtypen der ADHS · PDF file2 Kernsymptome, Stärken und Subtypen der ADHS Die Kernsymptome der ADHS sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivi-tät und Impulsivität

2 Kernsymptome, Stärken und Subtypen der ADHS

Die Kernsymptome der ADHS sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivi-tät  und  Impulsivität – alle möglichen  zu  diagnostizierenden ADHS-Subtypen  beziehen  sich  auf  diese  Kernsymptome.  Dabei  wurde mehrfach  empirisch  nachgewiesen,  dass  die Unaufmerksamkeit  ab-zugrenzen ist von der Hyperaktivität-Impulsivität (Nigg et al. 2002). Das bedeutet, dass Unaufmerksamkeit ein singuläres Konstrukt dar-zustellen  scheint, während Hyperaktivität  und  Impulsivität  fast  im-mer  gekoppelt,  d. h.  gemeinsam,  auftreten.  Dies  spiegelt  sich  auch in den aktuellen Annahmen zu den Subtypen der ADHS wieder. Die drei Kernsymptome der ADHS, die unterschiedlichen Möglichkeiten ADHS zu diagnostizieren sowie die Subtypen der ADHS werden in diesem Kapitel behandelt.

2.1 Kernsymptome

2.1.1 Unaufmerksamkeit

Die Unaufmerksamkeit zeigt sich  in vielen Bereichen: zu Hause,  in der Schule und im Umgang mit Gleichaltrigen. Kinder mit ADHS sind also  häufig  unkonzentriert  und  haben  somit  Schwierigkeiten  beim Spiel oder beim Folgen des Unterrichtsgeschehens.Sie machen oft Flüchtigkeitsfehler und können Anweisungen und 

Instruktionen nur schlecht folgen.Eine weitere Auffälligkeit im Zusammenhang mit der Unaufmerk-

samkeit  ist  die  Vergesslichkeit  von  Kindern  mit ADHS:  verlorene Turnbeutel, vergessene Schirme und verschwundene Federmäppchen gehören zum Alltag dieser Kinder.Zudem lassen sich Kinder mit ADHS oft durch äußere Reize ab-

lenken: Wenn es gerade das Ziel bzw. die Aufgabe  ist,  sich auf die morgige Klausur vorzubereiten, und der beste Freund an der Tür klin-gelt, gelingt es Kindern mit ADHS nur schwer, diesen Reiz (in diesem Beispiel der Freund) zu unterdrücken und sich weiter auf die Aufgabe zu konzentrieren ( Kapitel 8 zu Selbstregulation).

Flüchtigkeitsfehler

Vergesslichkeit

Ablenkbarkeit

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2.1.2 Hyperaktivität

Die motorische Überaktivität  ist wohl das  am  leichtesten  zu  erken-nende Merkmal  der  Kinder  mit ADHS:  Übermäßiges  Zappeln  mit Händen und Füßen, Herumrutschen auf dem Stuhl, Herumlaufen und Klettern gehören dazu.Insgesamt  ist  es  so, dass Kinder mit ADHS sich nicht  ruhig ver-

halten können, wenn es von ihnen verlangt wird. Beispielsweise im Unterricht oder beim Anstehen in einer Schlange. Die Kinder wirken somit häufig wie „getrieben“.

2.1.3 Impulsivität

Kinder mit ADHS platzen häufig mit Antworten oder Fragen heraus, wenn dies gerade unangemessen ist. Sie können nur schwer abwarten, bis sie an der Reihe sind und unterbrechen andere häufiger als Kinder ohne ADHS.

2.2 Stärken und Ressourcen der Kinder mit ADHS

In einer eigenen nicht-publizierten Befragung von Eltern und Lehrern konnten wir folgende Stärken der Kinder mit ADHS feststellen:

zz Ausgeprägter Gerechtigkeitssinn,zz Kreativität,zz Harmoniebedürfnis,zz Nicht-nachtragend-Sein .

Dies  deckt  sich  mit  Einschätzungen  von  Lauth  und  Naumann (2009) – als positive Seiten der Kinder mit ADHS listen diese Auto-ren auf:

zz Spontaneität,zz Sinn für Situationskomik,zz Ideenreichtum und Kreativität,zz körperliche Fitness und Spaß an Bewegung,zz Gespür für soziale Fairness,zz kratzbürstiger Charme .

Zappeln

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Kernsymptome, Stärken und Subtypen der ADHS 23

2.3 Diagnosesysteme und Subtypen

Eine ADHS-Diagnose kann entweder nach dem DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Diagnostisches und Statisti-sches Handbuch Psychischer Störungen) oder der ICD (International Statistical  Classification  of  Diseases  and  Related Health  Problems, Internationale  statistische  Klassifikation  der  Krankheiten  und  ver-wandter  Gesundheitsprobleme)  vorgenommen  werden.  In  Deutsch-land werden Diagnosen nach der ICD erstellt – in wissenschaftlichen Arbeiten werden allerdings häufig DSM-Diagnosen verwendet.Das DSM ist ein Klassifikationssystem psychischer Störungen der 

American Psychiatric Association. Die erste Auflage erschien im Jahr 1952 – mittlerweile gibt es auch entsprechende Publikationen in an-deren Sprachen weltweit. Die aktuelle deutsche Version aus dem Jahr 2003 heißt DSM-IV TR (Text Revision).Die  ICD  ist  das  wichtigste,  weltweit  anerkannte  Klassifikations-

system für Diagnosen und wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben. Die aktuelle deutsche Ausgabe aus dem Jahr 2010 lautet ICD-10-GM (German Modification).

Tab. 2.1: Geschichte der ADHS-Diagnosen nach DSM und ICD

DSM­Diagnosen ICD­Diagnosen

1980 DSM-III Attention Deficit Disorder

1965 ICD-8 Hyperkinetisches Syndrom der Kindheit

1987 DSM-III-R Attention Deficit Hyper-activity Disorder

1975 ICD-9 Hyperkinetisches Syndrom des Kindesalters mit Entwicklungs-rückstand / mit Störung des Sozialverhaltens

1994 DSM-IV Attention Deficit Hyper-activity Disorder

1991 ICD-10 Hyperkinetische Störung

2.3.1 ADHS-Subtypen nach dem DSM

Laut DSM können drei Subtypen der ADHS unterschieden werden: Kinder mit einer ADHS vorwiegend unaufmerksamen Subtyps, Kin-der mit ADHS vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Subtyps und Kinder mit ADHS des Mischtyps. Im DSM werden die Subtypen also anhand der Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivi-

DSM

ICD

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tät unterteilt (Abb. 2.1). Ein wichtiges Diagnosekriterium für alle Sub-typen ist der frühe Beginn der Störung (vor dem 7. Lebensjahr).

ADHS des vorwiegend unaufmerksamen SubtypsDieser Subtyp wurde mit Veröffentlichung des DSM-IV  (American Psychiatric Association 1994) eingeführt. Kinder mit ADHS des vor-wiegend  unaufmerksamen  Subtyps  werden  oft  als  „Träumerinnen“ oder „Träumer“ bezeichnet. Eltern und Lehrer berichten häufig, dass die Kinder zu Hause oder im Unterricht abwesend und mit den Ge-danken ganz woanders zu sein scheinen, wichtige Informationen nicht wahrnehmen und im Vergleich zu anderen Kindern wesentlich lang-samer sind.Es gibt Hinweise darauf, dass dieser Subtyp in klinischen Stichpro-

ben weniger häufig und in nicht klinischen Stichproben häufiger ist als die anderen Subtypen der ADHS. Vermutlich hängt dies damit zusam-men,  dass  die Kinder mit ADHS  des  vorwiegend  unaufmerksamen Subtyps weniger auffallen als Kinder, die zusätzliche Merkmale von Hyperaktivität und Impulsivität aufweisen. Aus diesem Grund ist eine gezielte Diagnostik dieses Subtyps von großer Bedeutung ( Kapi-tel 11). ADHS dieses Subtyps tritt häufiger bei Mädchen als bei Jun-gen auf ( Kapitel 6).Ein weiterer wichtiger Unterschied zu den anderen beiden Subty-

pen der ADHS sind die komorbiden Störungen ( Kapitel 3). Kinder 

Abb. 2.1: ADHS-Subtypen nach dem

DSM

Unaufmerk-samkeit

Hyperaktivität /Impulsivität

ADHSMischtypus

Unaufmerk-samkeit

Hyperaktivität /Impulsivität

ADHSvorwiegendhyperaktiv /

impulsiv

ADHSvorwiegend

unaufmerksam

Diagnosen nach DSM-IV-TR

Träumer

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Kernsymptome, Stärken und Subtypen der ADHS 25

mit ADHS des vorwiegend unaufmerksamen Subtyps zeigen weniger externalisierende (z. B. aggressive) komorbide Symptome, leiden je-doch häufiger an Lernstörungen wie zum Beispiel Lese-Rechtschreib-störungen.

�Tom,�10�Jahre,�ADHS�des�vorwiegend�unaufmerksamen�SubtypsTom ist ein ruhiger und friedlicher Junge. Als Kleinkind war er zwar häufig quengelig und schnell gereizt, aber trotzdem war mit ihm im-mer gut auszukommen. Im Kindergarten ist er recht gut mit den ande-ren Kindern zurechtgekommen, auch wenn er meistens allein gespielt hat und bei den Tobespielen der Jungs nicht mitmachen wollte. In der Grundschule  hatte  er  keine  größeren  Schwierigkeiten – er  fiel  aber auch  nicht  durch  übermäßig  gute  Leistungen  auf.  Meistens  schau-te er verträumt aus dem Fenster und so wunderte es  seine Lehrerin auch nicht, dass er oft wichtige Informationen und Instruktionen ver-passte. Seine Vergesslichkeit war ein weiteres Problem: Ständig ließ Tom wichtige Dinge zu Hause liegen oder vergaß seinen Turnbeutel, seinen  Schirm  etc.  in  der  Schule. Nun  steht  der Übergang  von  der Grundschule in eine weiterführende Schule an und es treten die ersten größeren Probleme auf: Toms Klassenlehrerin hält ihn prinzipiell für geeignet, ein Gymnasium zu besuchen; viele seiner weiteren Lehrer haben jedoch Bedenken, ob er den Gymnasialstoff bewältigen kann: Aus ihrer Sicht scheint Tom kognitiv nicht in der Lage dafür zu sein. Die Eltern sind ratlos und wenden sich an einen Schulpsychologen, der eine Gymnasialeignung aufgrund eines Intelligenztests sowie eine ADHS feststellt.

ADHS des vorwiegend hyperaktiv-impulsiven SubtypsAuch dieser Subtyp wurde 1994 im DSM-IV eingeführt, da in empi-rischen  Studien  festgestellt wurde,  dass  ein  kleiner  Prozentsatz  der Kinder mit ADHS lediglich Hyperaktivitäts- und Impulsivitätssymp-tome aufweist, aber keine Zeichen der Unaufmerksamkeit zeigt. Die-ser Subtyp wird häufiger im jüngeren Alter festgestellt (Kindergarten, Grundschule), weshalb angenommen wurde, dass ADHS des vorwie-gend hyperaktiv-impulsiven Subtyps ein Vorläufer des ADHS-Misch-typs ist. Hierzu ist aber weitere Forschung unbedingt notwendig.In eigenen Untersuchungen konnten wir  in Übereinstimmung mit 

obiger Theorie feststellen, dass bei Kindern im Vorschulalter die Sym-ptome  Hyperaktivität  und  Impulsivität  häufiger  sind  (Merkt / Gaw-rilow 2011). Bezüglich komorbider Störungen scheint dieser Subtyp dem ADHS-Mischtypus sehr ähnlich zu sein. Die Kinder zeigen also 

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häufig  externalisierende  Störungen  (z. B.  oppositionelles  Trotzver-halten). Empirisch und klinisch  ist dieser Subtyp  jedoch wesentlich seltener nachzuweisen als die anderen beiden Subtypen (Lahey et al. 2005): ADHS-Mischtypus und ADHS – vorwiegend unaufmerksamer Subtyp werden öfter diagnostiziert als ADHS – vorwiegend hyperak-tiv impulsiver Subtyp.

ADHS-MischtypKinder mit ADHS des Mischtyps sind sowohl unaufmerksam als auch hyperaktiv-impulsiv.  Diese  Kinder  haben  sowohl  zu  Hause,  in  der Schule als auch in sozialen Beziehungen enorme Schwierigkeiten: Sie scheinen nicht zuzuhören, können sich nicht länger auf eine Aufgabe oder Interaktion konzentrieren, zappeln herum und stören bzw. ärgern damit ihre Eltern und Klassenkameraden.

2.3.2 ADHS-Subtypen nach der ICD

Laut  der  ICD  können  folgende  Subtypen  der ADHS  diagnostiziert werden: einfache Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung, hy-perkinetische Störung des Sozialverhaltens und Aufmerksamkeitsstö-rungen ohne Hyperaktivität. Wichtig ist in der ICD der frühe Beginn der Störung, d. h. vor dem 6. Lebensjahr. In der ICD wird auf die ak-tuell unbefriedigende Situation der Untergliederung der ADHS hinge-wiesen – als wesentliche Gliederungsmerkmale werden das Vorhan-densein bzw. Nicht-Vorhandensein von Aggressivität, Delinquenz und dissozialem Verhalten herangezogen (Abb 2.2).

Einfache Aufmerksamkeits- und HyperaktivitätsstörungDieser  Subtyp  soll  diagnostiziert  werden, wenn Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität-Impulsivität vorliegen. Jedoch dürfen keine Sym-ptome der Störung des Sozialverhaltens erkennbar sein: Beispielswei-se  dürfen  die Kinder  kein  dissoziales,  aggressives  oder  aufsässiges Verhalten an den Tag legen.

Hyperkinetische Störung des SozialverhaltensKinder,  die  eine Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens  auf-weisen,  sind unaufmerksam, hyperaktiv und  impulsiv sowie gleich-zeitig aggressiv. Sie zeigen also neben den  typischen ADHS-Symp-tomen auch Symptome einer Störung des Sozialverhaltens und damit ein andauerndes und wiederkehrendes Muster dissozialen, aggressi-ven und aufmüpfigen Verhaltens.

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Aufmerksamkeitsstörungen ohne HyperaktivitätKinder, die nur unaufmerksam, aber nicht hyperaktiv-impulsiv sind, können in der aktuellen ICD wie folgt diagnostiziert werden: Verhal-tens-  und  emotionale  Störung mit  Beginn  in Kindheit  und  Jugend. Auch hier zeigt sich, dass in der ICD (anders als im DSM) die ADHS nach dem Vorhandensein einer Störung des Sozialverhaltens und nicht entlang  der  Kernsymptome  Unaufmerksamkeit,  Hyperaktivität  und Impulsivität gegliedert wird.

ADHS�und�EmotionserkennungDie  Fähigkeit,  Emotionen  in  der  Stimme  und  im Gesichtsaus-druck  anderer Menschen  zu  erkennen,  ist  eine  Schlüsselfähig-keit im Bereich sozialer Interaktion. Aus diesem Grund wird das Erkennen von Emotionen bei psychiatrisch erkrankten Patienten seit langem erforscht. Es wurde beispielsweise beobachtet, dass autistische Kinder Probleme haben,  in der Stimme und im Ge-

Diagnosen nach ICD-10-GM

Unaufmerk-samkeit

Hyperaktivität Impulsivität

Einfache Aufmerksamkeits- &Hyperaktivitätsstörung

Unaufmerk-samkeit

Hyper-aktivität

Impul-sivität

Hyperkinetische Störung desSozialverhaltens

Störung desSozialverhaltens

Unaufmerk-samkeit

Aufmerksamkeitsstörung ohneHyperaktivität Abb. 2.2: ADHS-

Subtypen nach der ICD

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sichtsausdruck  anderer  Menschen  Emotionen  zu  erkennen.  In sozialen Situationen (d. h. in der direkten Interaktion mit anderen Menschen) zeigen autistische Kinder ebenfalls diese Schwierig-keiten.Untersuchungen zu den Grundemotionen (Angst, Ekel, Freude, Trauer, Wut und Überraschung) konnten ähnliche Defizite in der Emotionserkennung  bei  Kindern,  Jugendlichen  und  Erwachse-nen mit ADHS feststellen. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Kinder,  Jugendliche  und Erwachsene mit ADHS negative Emotionen  überinterpretieren, was  dazu  führt,  dass ADHS-Be-troffene vermeintliche und  tatsächliche Wut häufiger bei  ihrem Interaktionspartner erkennen (Cadesky et al. 2000). In den meis-ten vorhandenen Untersuchungen wird dieses Problem in Zusam-menhang mit defizitären exekutiven Funktionen und defizitärer Selbstregulation  gebracht: Vermutlich wird  dieses  Problem der Emotionserkennung durch eine mangelhafte Selbstregulation ver-ursacht. Die Probleme bei der Emotionserkennung könnten mög-licherweise auch erklären, warum ADHS-Betroffene Schwierig-keiten in sozialen Interaktionen zeigen. Bislang ist jedoch noch nicht nachgewiesen, ob dieser kausale Zusammenhang existiert.

2.4 Spezifische Kriterien für eine Diagnose der ADHS im Erwachsenenalter

Viele der bisher benannten ADHS-typischen Probleme sind sehr spe-zifisch  für Kinder  und  Jugendliche. ADHS gibt  es  jedoch  auch  bei Erwachsenen  ( Kapitel 10). Eine ADHS bei Erwachsenen hat ein gänzlich anderes Erscheinungsbild als eine ADHS bei Kindern.

zz Aufmerksamkeitsstörung: das Unvermögen, Gesprächen aufmerksam und konzentriert zu folgen, eine erhöhte Ablenkbarkeit (irrelevante Stimuli können nicht gefiltert werden) und Vergesslichkeit (z . B . häufiges Verlieren von Alltagsgegenständen wie Autoschlüssel oder Brieftasche) .zz Motorische Hyperaktivität: innere Unruhe, „Nervosität“ (im Sinne eines

Unvermögens, sich entspannen zu können), Unfähigkeit, sitzende Tätig-keiten durchzuhalten (z . B . am Tisch still zu sitzen, Spielfilme im Fernsehen anzusehen, Zeitung zu lesen), stets „auf dem Sprung“ sein . Bei Inaktivität treten gehäuft dysphorische, depressive Stimmungslagen auf .

Aufmerksamkeitsstörung und motorische Hyperaktivität müssen noch immer vorliegen (somit wird mit diesen Kriterien nur der kombinierte 

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Typ gemäß DSM-IV-TR diagnostiziert),  zusätzlich müssen mindes-tens zwei weitere der folgenden Aspekte erfüllt sein:

zz Affektlabilität: der Wechsel zwischen normaler bzw . niedergeschlagener Stimmung und leichter Erregung (mit einer Dauer von einigen Minuten bis maximal einigen Tagen); die niedergeschlagene Stimmungslage wird von den Betroffenen häufig als Unzufriedenheit oder Langeweile beschrieben .zz Desorganisiertes Verhalten: unzureichend strukturierte, geplante und

organisierte Aktivitäten; diese Desorganisation wird im Zusammenhang mit der Arbeit, der Haushaltsführung oder mit schulischen Aufgaben be-richtet . Aufgaben werden häufig nicht zu Ende gebracht, die Patienten wechseln planlos von einer Aufgabe zur nächsten und lassen ein gewisses „Haftenbleiben“ vermissen . Unsystematische Problemstrategien liegen vor, weiterhin finden sich Schwierigkeiten in der zeitlichen Organisation und die Unfähigkeit, Zeitpläne oder Termine einzuhalten .zz Affektkontrolle: andauernde Reizbarkeit, verminderte Frustrationstole-

ranz und in der Regel kurzfristige Wutausbrüche, die häufig eine nachtei-lige Wirkung auf die Beziehung zu Mitmenschen haben; typisch ist auch eine erhöhte Reizbarkeit im Straßenverkehr .zz Impulsivität: Dazwischenreden, Unterbrechen anderer im Gespräch, Un-

geduld, impulsives Geldausgeben sowie das Unvermögen, Handlungen im Verlauf zu verzögern, ohne dabei Unbehagen zu empfinden .zz Emotionale Überreagibilität: überschießende emotionale Reaktionen

auf alltägliche Stressoren . Die Patienten beschreiben sich selbst als schnell „genervt“ oder gestresst .

Liegen also neben Aufmerksamkeitsstörung und motorischer Hyper-aktivität  (kombinierter ADHS-Typ) noch  zwei  zusätzliche Kriterien vor, kann ADHS im Erwachsenenalter diagnostiziert werden.

Weitere�Informationsquellen

Die Spezifika der ADHS-Symptome sind zitiert nach einer Stellung-nahme  der  Bundesärztekammer  zur  ADHS  im  Erwachsenenalter:  https://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.7.47.3161.3163.3169&all=true, 31.10.2011

Die jeweils aktuell gültige ICD kann man online recherchieren unter: https://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/ls-icdhtml.htm

Der aktuelle Stand und die Entwicklungen bezüglich des DSM kön-nen  unter  dem  folgenden  Link  nachgelesen  werden:  https://www.dsm5.org/Pages/Default.aspx

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Vertiefungsfragen

4.  Welche Kernsymptome kennzeichnet die ADHS und wie können die einzelnen Kernsymptome umschrieben werden?

5.  Welche ADHS-Subtypen werden im aktuellen DSM unterschie-den?

6.  Was  macht  den  nach  DSM  diagnostizierbaren ADHS-vorwie-gend hyperaktiv-impulsiven Subtyp aus?

7.  Welche ADHS-Diagnosen sind nach der ICD möglich?

8.  Welche Symptome kennzeichnen eine ADHS im Erwachsenen-alter  und was  unterscheidet  die Kernsymptome  der ADHS  im Erwachsenenalter von den Kernsymptomen der ADHS im Kin-desalter?

9.  Was sind Stärken bzw. Ressourcen von Kindern mit ADHS?

Gawrilow, Lehrbuch ADHS © 2012 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Literatur:

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