2 - Hans-Jürgen Gawoll - Nietzsche Und Der Geist Spinozas

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Hans-J¸rgen Gawoll NIETZSCHE UND DER GEIST SPINOZAS: DIE EXISTENTIELLE UMWANDLUNG EINER AFFIRMATIVEN ONTOLOGIE Nietzsches Beziehung zu dem Gehalt dessen, was sich mit dem Namen ,Spi- noza‘ verbinden läßt, haftet bis in den Tod hinein etwas Irreales und Geister- haftes, ja sogar Gespenstisches an. So sieht sich Peter Gast am Grab Nietzsches dazu genötigt, mahnend die Erinnerung an Spinoza zu beschwören, damit dem einen die Behandlung durch eine unmittelbare Nachwelt erspart bleibt, die den anderen als einen ,toten Hund‘ (Lessing) aus der Gemeinschaft der Philosophen auszuschließen versuchte: „Du (sc. Nietzsche) warst einer der edelsten, der lau- tersten Menschen, die je über diese Erde gegangen sind. Und obschon dies Feind wie Freund weiss, so halte ich es doch nicht für überflüssig, dies Zeugniss laut an Deiner Gruft abzulegen. Denn wir kennen die Welt, wir kennen das Schicksal Spinoza’s.“ 1 Hinter einem solchen Gestus der Heiligsprechung verbirgt sich nicht bloß die Strategie, die Radikalität eines Denkens durch den Hinweis auf die morali- sche Integrität seines Urhebers zu mildern und diskursfähig zu erhalten, wofür man ebenfalls die Legende vom untadeligen Lebenswandel Spinozas herangezo- gen hat. Darüber hinaus scheint dieses Vorgehen, eine posthume Stigmatisierung von Nietzsche abzuwehren, die Spinoza widerfahren ist, wegen des vergleich- baren Versuchs beider Philosophen notwendig, herrschend gewordene Begriff- schemata zu durchbrechen. Wenn Peter Gast also unbewußt eine geistige Ver- wandtschaft zwischen Spinoza und Nietzsche nahelegt, dann gibt ihm letzterer selbst Recht, der auf einer Postkarte vom 30. Juli 1881 an seinen Freund und ehemaligen Basler Kollegen Franz Overbeck ausdrücklich bekennt: „Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht: daß mich je t zt nach ihm verlangte, war eine ,Instinkt- handlung‘.“ (KSB 6, Nr. 135) Aufgrund eigenen Zeugnisses besaß Nietzsche demzufolge vor dem Sommer 1881, in dem er sich den Band von Kuno Fischer 1 Bekenntnis Peter Gast’s am Grab Nietzsche’s. Zitiert nach: Janz, Carl Paul: Friedrich Nietzsche. Biographie. Bd 3: Die Jahre des Siechtums. Dokumente. Register. München, Wien 1981. S. 357.

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  • Hans-Jrgen Gawoll

    NIETZSCHE UND DER GEIST SPINOZAS:DIE EXISTENTIELLE UMWANDLUNGEINER AFFIRMATIVEN ONTOLOGIE

    Nietzsches Beziehung zu dem Gehalt dessen, was sich mit dem Namen ,Spi-noza verbinden lt, haftet bis in den Tod hinein etwas Irreales und Geister-haftes, ja sogar Gespenstisches an. So sieht sich Peter Gast am Grab Nietzschesdazu gentigt, mahnend die Erinnerung an Spinoza zu beschwren, damit demeinen die Behandlung durch eine unmittelbare Nachwelt erspart bleibt, die denanderen als einen ,toten Hund (Lessing) aus der Gemeinschaft der Philosophenauszuschlieen versuchte: Du (sc. Nietzsche) warst einer der edelsten, der lau-tersten Menschen, die je ber diese Erde gegangen sind. Und obschon diesFeind wie Freund weiss, so halte ich es doch nicht fr berflssig, dies Zeugnisslaut an Deiner Gruft abzulegen. Denn wir kennen die Welt, wir kennen dasSchicksal Spinozas.1

    Hinter einem solchen Gestus der Heiligsprechung verbirgt sich nicht blodie Strategie, die Radikalitt eines Denkens durch den Hinweis auf die morali-sche Integritt seines Urhebers zu mildern und diskursfhig zu erhalten, wofrman ebenfalls die Legende vom untadeligen Lebenswandel Spinozas herangezo-gen hat. Darber hinaus scheint dieses Vorgehen, eine posthume Stigmatisierungvon Nietzsche abzuwehren, die Spinoza widerfahren ist, wegen des vergleich-baren Versuchs beider Philosophen notwendig, herrschend gewordene Begriff-schemata zu durchbrechen. Wenn Peter Gast also unbewut eine geistige Ver-wandtschaft zwischen Spinoza und Nietzsche nahelegt, dann gibt ihm letztererselbst Recht, der auf einer Postkarte vom 30. Juli 1881 an seinen Freund undehemaligen Basler Kollegen Franz Overbeck ausdrcklich bekennt: Ich bin ganzerstaunt, ganz entzckt! Ich habe einen Vorg ng er und was fr einen! Ichkannte Spinoza fast nicht: da mich jetzt nach ihm verlangte, war eine ,Instinkt-handlung. (KSB 6, Nr. 135) Aufgrund eigenen Zeugnisses besa Nietzschedemzufolge vor dem Sommer 1881, in dem er sich den Band von Kuno Fischer

    1 Bekenntnis Peter Gasts am Grab Nietzsches. Zitiert nach: Janz, Carl Paul: Friedrich Nietzsche.Biographie. Bd 3: Die Jahre des Siechtums. Dokumente. Register. Mnchen, Wien 1981. S. 357.

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    ber Spinoza am 8. Juli von Overbeck zur Lektre bestellte2, keine ausreichendinhaltlichen Kenntnisse zu dessen Philosophie. Aus diesem biographischen Zu-gestndnis darf man jedoch nicht schlieen, da vor dem gerade erwhntenZeitpunkt alle Erwhnungen Spinozas sachlich irrelevant oder ohne Wert fr dasleitende Anliegen Nietzsches sind.3 Obwohl sprlich genug, geben sie Aufschludarber, wie Nietzsche einen Blickwinkel gewinnt, von dem aus er seine Hin-wendung zu Spinoza als eine ,Instinkthandlung begreifen konnte. Da Nietzscheein Autodidakt in bezug auf die Philosophiegeschichte war, die ihm weitest-gehend andere Autoren oder Kompendien vermittelt haben, ist zunchst nachden Einflssen und Umstnden zu fragen, aus denen sich sein Bild vom Geniusdes spinozianischen Denkens zusammensetzte.

    I. Auf dem Weg zu Spinoza: Die meditatio vitae eines freien Geistes

    Erste Konturen einer geistigen Gestalt Spinozas zeichnen sich bei Nietzscheam Ende seiner kunstphilosophischen Periode ab, die eine Erneuerung der Kul-tur aus der durch die Tragdie offenbarten, dionysischen Alleinheitserfahrungpropagierte, bei dem sich das aus dem Urschmerz geborene Sein der Welt selbstnoch im Untergang bejaht. Sofern Nietzsche die vom Kunstwerk metaphysischermglichte Intuition des Dionysischen zum absoluten Mastab erhebt, relati-viert sie jeden Versuch einer streng rational vorgehenden Welterklrung. Unterder Voraussetzung eines unmittelbar zugnglichen, tragisch-affirmativen Seinsvermag Nietzsche in einer Notiz, die er wahrscheinlich gegen Ende 1872 nieder-geschrieben hat, die starre mathematische Formel (wie bei Spinoza) lediglichals ein sthetisches Ausdrucksmittel (Nachla 1872/73, KSA 7, 19[47]) anzu-erkennen. Wenn Nietzsche damit den mos geometricus gleichsam auf die artisti-sche Erzeugung einer Dichtung aus Begriffen reduziert, reflektiert er ein Diktumaus Goethes Dichtung und Wahrheit, wonach die mathematische Methode Spi-nozas blo das Widerspiel seiner poetischen Sinnes- und Darstellungsweise4

    bildete.

    2 Vgl. die Postkarte an Franz Overbeck vom 8. Juli 1881 in KSB 6, S. 100 f.3 Zu dieser Auffassung vgl. Ohms, Jan: Zu Nietzsches Spinoza-Deutung. In: Philosophie der

    Toleranz. Festschrift zum 65. Geburtstag von Konstantin Radakovic. berreicht von Mitarbei-tern und Schlern. Graz 1959. S. 62. Die These, da Nietzsches Urteile ber Spinoza vor demSommer 1881 auch fr Nietzsches Philosophieren weitgehend entwertet (ebd.) sind, konnteOhms nur vertreten, weil er keine entwicklungsgeschichtliche Forschung betrieb. In dieser Hin-sicht ist die Arbeit von Wurzer, William S.: Nietzsche und Spinoza. Meisenheim am Glan 1975wegweisend, deren Verdienste jedoch - abgesehen von bloen Erwhnungen - bislang keinezureichende sachliche Wrdigung erfahren hat.

    4 Goethe, Johann Wolfgang: Hamburger Ausgabe in 14 Bnden. Mnchen 1982. Bd 10. S. 35.Obwohl Wurzer die entsprechenden Stellen aus Goethes Dichtung und Wahrheit anfhrt, vermag

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    Mit Goethe gesteht Nietzsche zwar der wissenschaftlichen BehandlungsartSpinozas die Bildungsfunktion einer sthetischen Formgebung des Lebens zu,die eine von Leidenschaften getriebene Existenz beruhigt und stabilisiert. Aberin zwei Notizen aus dem Sommer 1875 erscheinen ihm die inhaltlichen Analysender Ethica zu radikal, um eine prinzipielle Erneuerung der Kultur zu gestatten.An Spinozas Moraltheorie kritisiert Nietzsche den Egozentrismus, der die Ent-scheidung ber Gut und Bse vom Wollen jedes Einzelnen abhngig macht.Einer derartig decouvrierenden Beschreibung zieht Nietzsche, der hier selbstnoch einer traditionellen Auffassung ethischer Normativitt verhaftet ist, diepraktische Vernunft Kants vor, welche die Rcksichten von Mensch zu Menschins Auge fat. (Nachla 1875, KSA 8, 9[1], S. 142)

    Dieses durchaus gngige Verstndnis von Spinoza, das ihn in das Reich einesimmoralischen Egoismus verbannt, ndert sich erst zu einem Zeitpunkt, als sichNietzsche gegen metaphysische Denkgewohnheiten zu wenden beginnt. SeitMenschliches, Allzumenschliches thematisiert er nun noumenale Seinstrukturen in derWeise, da er am Leitfaden naturwissenschaftlicher Methoden und historischenBeobachtens ihre Grundlagen aufzudecken versucht. Eine Chemie der Begriffeund Empfindungen, die die Komplexitt vorhandener Wahrheiten auf elemen-tare Bestandteile zurckfhren soll, verbindet Nietzsche mit einem historischenPhilosophieren, in dem man Fragen ber Herkunft und Anfnge (MA I 1)stellt. Mit einem solchen programmatischen Vorhaben reiht sich Nietzsche indie antiplatonische Tendenz des 19. Jahrhunderts ein, die angebliche Konstanzvon Artbegriffen dadurch zu erklren, da man sie aus ihrem Entstehen ableitet.In diesem Zusammenhang erhlt das Werk seines damaligen Freundes Paul Reeber den Ursprung der moralischen Empfindungen fr Nietzsche eine richtungswei-sende Bedeutung, zumal er dessen Vorrede zustimmend zitiert: Der moralischeMensch [] steht der intelligiblen (metaphysischen) Welt nicht nher, als derphysische Mensch.5

    Eine Rezension der Jenaer Literaturzeitung vom 13. Oktober 1877 vergleichtRee, der die Ideen von Gut und Bse, von Willensfreiheit, Eitelkeit und Glck-seligkeit psychologisch bearbeitet hat, mit einem neuen Spinoza in seiner Art.6

    Nietzsche, der diese Besprechung kannte7, begegnete so im 200. Todesjahr Spi-nozas einem seiner Wiedergnger. Obwohl nicht anzunehmen ist, da Nietzsche

    er sie nicht mit der im Text zitierten Notiz von Nietzsche in Verbindung zu bringen. So ber-sieht er leider den entscheidenden Beleg seiner These, da Goethe fr Nietzsche eine einfh-rende Bekanntschaft ermglichte. Vgl. Wurzer: Nietzsche und Spinoza, a. a. O., S. 15 f.

    5 Ree, Paul: Der Ursprung der moralischen Empfindung. Chemnitz 1877. S. VIII, zitiert beiNietzsche in: MA I 37.

    6 Schultz, Fritz: Rezension zu: Paul Ree: Der Ursprung der moralischen Empfindung. In: JenaerLiteraturzeitung 47 (1877). S. 628.

    7 Vgl. dazu die Postkarte Nietzsches vom 25. November 1875 an den Verleger Ernst Schmeltzer,bei dem auch das Buch von Ree erschienen war, in: KSB 5, S. 468.

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    von nun an ausfhrlich die spinozianische Philosophie rezipierte, machte ihnRee jedoch mit dem kritischen Geist Spinozas vertraut, durch den eine natrlicheErklrung blo tradierter Denkgewohnheiten mglich wurde. Der zum khn-sten und kltesten Denker (MA I 37) stilisierte Ree gab Nietzsche Gelegenheit,sich verstrkt dem Streben nach rationaler Erkenntnis zu verschreiben, fr dasSpinoza zum groen Vorbild avancierte.

    Auf welche Weise Nietzsche sich jetzt einer spinozistisch khl analysierendenVernunft zuwendet, belegt der Aphorismus 157 aus dem ersten Teil von Menschli-ches, Allzumenschliches, der zwischen dem knstlerischen und dem wissenden Ge-nius unterscheidet. Whrend knstlerische Naturen, die z. B. Wagner verkrpert,an ihrem Ehrgeiz und Neid leiden, sieht der wissende Genius von seiner Lebens-geschichte ab, indem er sich durch die Konzentration auf Erkenntnis diszipli-niert: Der wissende Genius, wie Kepler und Spinoza, ist fr gewhnlich nichtso begehrlich und macht von seinen wirklich grsseren Leiden und Entbehrun-gen kein solches Aufheben. (MA I 157) Zwar stehen fr Nietzsche auch hinterder Suche nach reiner Erkenntnis, psychologisch betrachtet, Krisen, Katastro-phen und Todesstunden, aber ein klar denkender Geist zeichnet sich eben da-durch aus, da er zu sich selbst auf eine reflexive Distanz zu gehen vermag:

    Von Genius wre am ehesten bei solchen Menschen zu reden, wo der Geist, wiebei Plato, Spinoza und Goethe, an den Charakter und das Temperament nur loseangeknpft erscheint, als ein beflgeltes Wesen, das sich von jenen leicht trennenund sich dann weit ber sie erheben kann. (M 497)

    Ein wissender Genius lt sich daher nicht von den affektiven Elementenseiner Natur determinieren, sondern er erreicht die objektive Hhe eines vonInteressen ungetrbten Blicks auf die Gegenstnde der Erkenntnis. Am BeispielSpinozas steigert sich die gnoseologische Affektbeherrschung sogar bei Nietz-sche zum reinsten Weisen (MA I 475), den man dem wegen ihrer Kultur-leistungen zu Unrecht verfolgten jdischen Volk verdankt, dessen aufklrerischeUnabhngigkeit Europa vor einer vollstndigen Orientalisierung durch das Chri-stentum (!) bewahrte.

    Will man dieses Krzel fr Spinoza besser verstehen, dann mu man dieTatsache bercksichtigen, da sich Nietzsche bereits im Oktober 1876 den 67.Lehrsatz des IV. Buches der Ethica notiert hat, wie er ihn bei Kuno Fischerfinden konnte: Homo liber de nulla re minus quam de morte et eius sapientianon mortis sed vitae meditatio est.8 Vor dem Hintergrund dieses Exzerptesmeint Nietzsches Superlativ nicht, da Spinoza einen Weisen im berliefertenSinn ethischer Religisitt reprsentiert. Statt dessen deutet er eine betrachtendeWeisheit des individuellen Lebens an, das es immanent zu begreifen gilt. Diesen

    8 Siehe KSA 8, 19[68]), zitiert bei Fischer, Kuno: Geschichte der neuern Philosophie. Bd. 1. Dasclassische Zeitalter der dogmatischen Philosophie. Mannheim 1854. S. 534 Anm.

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    spinozianischen Impuls integriert Nietzsche schon frhzeitig seiner Idee einerhistorischen Philosophie, die im genetischen Rckblick auf die eigene Vergan-genheit darber belehrt, wohin alle sptere Menschheit nicht wieder gehenkann oder darf. (MA I 292) Wer auf die geschichtlichen und natrlichen Bedin-gungen seiner Herkunft reflektiert, wird dann laut Nietzsche zu einem freienGeist, was allem Anschein nach eine Modifikation des homo liber ist. Der freieGeist stellt das die positiven Wissenschaften leitende Ethos dar, demgem einekritische Selbstbesinnung den Menschen aus der Abhngigkeit von seinem Her-kommen herauslst, so da die eigene Existenz den experimentellen Wert einesWerkzeugs und Mittels zur Erkenntnis besitzt. Im Wissen darum, da historischnichts mehr wahr und letztverbindlich ist, hlt er alle noch ausstehenden Mg-lichkeiten der Kultur vorlufig fr erlaubt. Ohne einem blinden Aktionismusdas Wort zu reden, unterscheidet sich der freie Geist Nietzsches durch dasVertrauen auf eine prinzipiell offene Zukunft von der abgeschlossenen Teleo-logie des Glcks, die man der Ethica zufolge vermittels einer bestndigen Ver-vollkommnung des Vernunftgebrauchs erreicht. Trotz dieser Verschiedenheit,die eine zeitbedingte Konsequenz des Historismus ist, erstrebt Nietzsche mitSpinoza die Weisheit einer abgeklrten Gelassenheit und geistigen Freude, vonder jede intellektuelle Einsicht in das Leben begleitet wird:

    Kommt das Alter, so merkst du erst recht, wie du der Stimme der Natur Gehrgegeben, jener Natur, welche die ganze Welt durch Lust beherrscht: das selbe Leben,welches seine Spitze im Alter hat, hat auch seine Spitze in der Weisheit, in jenemmilden Sonnenglanz einer bestndigen geistigen Freudigkeit; beiden, dem Alter undder Weisheit, begegnest du auf Einem Bergrcken des Lebens, so wollte es die Natur.Dann ist es Zeit und kein Anlass zum Zrnen, dass der Nebel des Todes naht. DemLichte zu - deine letzte Bewegung; ein Jauchzen der Erkenntniss - dein letzter Laut.(MA I 292)

    Wenn man die uerungen Nietzsches zu Spinoza bis zum Jahr 1880 rekapi-tuliert, dann gewinnen folgende Zusammenhnge an Plausibilitt: Zwar konntesich Nietzsche bei Schopenhauer, Eugen Dhring und African Spir ber Spinozainformieren,9 aber er erstellte sich ein fr ihn brauchbares (Vor)Bild des Amster-damer Philosophen aus Versatzstcken, die er bei Goethe und Kuno Fischervorfand. Gegenber der gelufigen Auffassung eines konsequenten Rationalistenstreicht Nietzsche bei Spinoza zunehmend die Zge eines existentiellen Vitalis-mus heraus, auf dessen kritische Implikation die Arbeit Paul Rees und ihre Re-

    9 Vgl. dazu Wurzer: Nietzsche und Spinoza, a. a. O., S. 13 ff. zu Schopenhauer und Lange, S. 38 f.zu African Spir, dessen Werk: Spir, African: Denken und Wirklichkeit. Versuch der Erneuerungder kritischen Philosophie. Leipzig 1873, Nietzsche im Mrz 1873 und 1874 von der BaslerBibliothek ausgeliehen hat. Spir, der sich um eine sachlich-objektive Darstellung von SpinozasEthica bemht, lokalisiert sie als Denktypus zwischen einem eleatischen Akosmismus und einemreinen Atheismus. Vgl. dazu: Spir: Denken und Wirklichkeit. 2. Aufl. Leipzig 1876, S. 361 f.

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    zension hinwies. In der rationalen Weisheit einer meditatio vitae erkannte Nietz-sche einen Vorlufer der eigenen Aufklrung, durch eine historische Vernunft-analyse die Potentialitt des Lebens freizusetzen. Er sah in Spinoza einen Gei-stesverwandten, der mit den berlieferten Formen der Metaphysik zu brechenversuchte, um einen neuen Anfang setzen zu knnen. Unter der bereits vonGoethe ausgerichteten Perspektive bedeutet Spinozismus fr Nietzsche fort-schreitend einen kritischen Denktypus, der es ermglichte, psychische Erlebnisseim Dienst einer zur Autonomie befreiten Gestaltung der Kultur zu objektivieren.Von Anfang an geht es Nietzsche daher nicht um ein philosophiegeschichtlichadquates Verstndnis Spinozas, sondern er gehrt fr ihn zu einer Reihe vonAutoren, die danach befragt werden, was sie im Hinblick auf eine rationaleDurchdringung der eigenen Existenz leisten:

    Vier Paare waren es, welche sich mir, dem Opfernden nicht versagten: Epikur undMontaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer. Mitdiesen muss ich mich auseinandersetzen, wenn ich lange allein gewandert bin, vonihnen will ich mir Recht und Unrecht geben lassen, ihnen will ich zuhren, wenn siesich dabei selber untereinander Recht und Unrecht geben. Was ich auch nur sage,beschliesse, fr mich und andere ausdenke: auf jene Acht hefte ich die Augen undsehe die ihrigen auf mich geheftet. (VM 408)

    An diesen geistigen Paaren der Geschichte fasziniert Nietzsche vor allem ihre,ewige Lebendigkeit, die sie gerade nach ihrem Tod als denkerische Energieweiterwirken lt. Sofern er hier seine Auseinandersetzung mit Autoren derVergangenheit zu einer philosophischen Hadesfahrt verklrt, scheint Nietzschevon Kuno Fischer beeinflut, der in seinem Spinoza-Buch die Systeme der Phi-losophie darin mit Kunstwerken vergleicht, da sie einen bestimmten Geistoffenbaren und darum als lebendige Charaktere betrachtet werden wollen.10

    II. Der exoterische Spinoza: asketische Verstrickungen

    Um seine Kenntnisse von Spinoza zu erweitern und sich dessen philosophiaperennis zu vergegenwrtigen, greift Nietzsche instinktiv im Sommer 1881 einzweites Mal auf Kuno Fischer zurck. Vom Standpunkt eines freien Geistes auserhlt er bei Spinoza jene Besttigung, die er sich von einem Gesprch in derUnterwelt der Philosophen erhoffte, wie die oben bereits zitierte Postkarte be-legt, auf der Nietzsche folgendermaen fortfhrt:

    10 Fischer: Geschichte der neuern Philosophie. Erster Band, a. a. O., S. 538. Zusammen mit derlateinischen Fassung des homo-liber-Zitats (vgl. Anm. 8) gibt Fischers Auffassung der Philoso-phiegeschichte einen entscheidenden Hinweis darauf, da Nietzsche dessen Spinoza-Darstellungbereits vor dem Sommer 1881, wenigstens kursorisch, gelesen hat, was bislang in der Forschungnicht beachtet wurde.

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    Nicht nur, da seine Gesamttendenz gleich der meinen ist - die Erkenntni zummcht igs ten Affekt zu machen - in fnf Hauptpunkten seiner Lehre finde ichmich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Din-gen am nchsten: er leugnet die Willensfreiheit -; die Zwecke -; die sittliche Welt-ordnung -; das Unegoistische -; das Bse -; wenn freilich auch die Verschieden-heiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Cultur,der Wissenschaft. (KSB 6, Nr. 135)

    Obwohl Nietzsche summarisch Spinoza eine philosophiehistorische Gerech-tigkeit widerfahren zu lassen scheint, kndigt sich aber kaum merklich die Sto-richtung einer Kritik an. Nietzsche unterstreicht nmlich nur solche inhaltlichenAspekte, die einen emanzipativen, freigeistigen Wert besitzen und den eigenenPositionen von Menschliches, Allzumenschliches sowie der Morgenrthe entsprechen.Damit verengt er seine Beurteilung Spinozas auf eine vorbereitende Kraft derDesillusionierung, whrend die Ethica eher die Funktion einer medicina mentisimpliziert, die ein geglcktes Leben nach den Mastben der Vernunft erlaubt.11

    Aufgrund dieses Unterschiedes wird es verstndlich, warum Nietzsche den ihmdurch Kuno Fischer nahegebrachten Spinoza, den er in nachgelassenen Auf-zeichnungen weiterhin zu seinen intellektuellen Vorfahren zhlt12, ffentlich ei-ner scharfen Polemik unterzieht. Nietzsches gleichsam exoterische Abrechnungmit Spinoza in den publizierten Werken richtet sich gegen die Denkweise einesmethodischen Rationalismus, dessen lebenspraktische Voraussetzungen und vi-tale Konsequenzen aufgedeckt werden sollen.

    Ein erster sachlicher Einwand betrifft Spinozas Auffassung von Erkenntnis,die eine leidenschaftslos objektivierende Vernunft aus sich allein zustande bringt:

    Non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere! sagt Spinoza, so schlicht underhaben, wie es seine Art ist. Indessen: was ist diess intelligere im letzten GrundeAnderes, als die Form, in der uns eben jene Drei auf Einmal frhlbar werden? EinResultat aus den verschiedenen und sich widerstrebenden Trieben des Verlachen-,Beklagen-, Verwnschen-wollens? Bevor ein Erkennen mglich ist, muss jeder dieserTriebe erst seine einseitige Ansicht ber das Ding oder Vorkommniss vorgebrachthaben; (FW 333)

    Eine spinozistische Hypostasierung des bewuten Denkens, die Nietzschemit einem Zitat aus dem Vorwort zum Tractatus politicus untersttzt13, verkennt

    11 Diesen Unterschied zwischen Nietzsche und Spinoza hebt hervor: Yovel, Yirmiyahu: Spinoza.Das Abenteuer der Immanenz. Aus dem Englischen bersetzt von Brigitte Flicker. Gttingen1994, S. 386.

    12 Vgl. dazu KSA 9, 12[52] und 15[17].13 Aus welcher Quelle Nietzsches Kenntnis der lateinischen Fassung des Zitates aus dem Tracta-

    tus Politicus stammt, konnte von mir bislang nicht nachgewiesen werden. Dieses Zitat stammtnicht aus Nietzsches sonstiger Quelle zu Spinoza, dem Buch Kuno Fischers, das lediglich diedeutsche bersetzung enthlt (vgl. Fischer: Geschichte der neuern Philosophie. Bd. 1, a. a. O.,S. 277). Hier wre sogar danach zu fragen, ob die Bezugnahme auf den Tractatus Politicus nichteinen Hinweis darauf gibt, da Nietzsche zumindest ein Werk Spinozas direkt zu Rate gezogenhat. Auf jeden Fall wirkte der spinozianische Titel auf Nietzsche seit dem Herbst 1887 so

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    die Tatsache, da jede vernnftige Erkenntnis aus Triebkmpfen hervorgeht.Nach Nietzsche tritt die Erkenntnis erst am Ende eines Prozesses zutage, indem triebgeleitete Interessen und affektive Perspektiven einen Ausgleich gefun-den haben. Weit von der vershnlichen Auffassung eines Spinoza entfernt, dadas Erkennen ein letzthin gttliches, ewiges und ruhendes Objekt der Betrach-tung vorfindet, verluft es laut Nietzsche in einem unbewuten Geschehen, dasnachtrglich als Vernunft erscheint, die mit festen Gren rechnet.

    Ebenso wie das theoretische Ideal einer reinen und ungetrbten Erkenntnisden Blick auf die realen Triebkrfte verstellt, bezweifelt Nietzsche die praktischeLeistungsfhigkeit der Vernunft, einen Glcksentwurf zu konzipieren, der unab-hngig von den jeweils individuellen Lebensbedingungen ist:

    Alle diese Moralen, die sich an die einzelne Person wenden, zum Zwecke ihresGlckes, wie es heisst, - was sind sie Anderes, als Verhaltungs-Vorschlge imVerhltniss zum Grade der Gefhr l ichke i t, in welcher die einzelne Person mit sichselbst lebt; [] auch jenes Nicht-mehr-Lachen und Nicht-mehr-Weinen des Spinoza,seine so naiv befrwortete Zerstrung der Affekte durch Analysis und Vivisektionderselben; ( JGB 198)

    Nun lt sich zwar gegen Nietzsche einwenden, da es Spinoza nicht umeine destruktive berwindung der Affekte geht, die gerade im Hinblick auf dieSteigerung der menschlichen Handlungsfhigkeit fr positiv erachtet werden.14

    Aber Nietzsche ist gar nicht an einer objektiven Wrdigung der historischenEinmaligkeit von Spinozas Affektenlehre interessiert, die erstmalig die krperli-che Existenz des Menschen zu einem zentralen Thema der Philosophie macht.Statt dessen fixiert sich Nietzsche auf das Denkmodell einer glcksversprechen-den und Glck begrndenden Vernunft mit der Absicht, die Umstnde ihrerHerkunft zu decouvrieren.

    Auer der unschuldig-naiven Unmglichkeit des spinozianischen Unterneh-mens, die eigene Lebenspraxis zu universalisieren, bemngelt Nietzsche am mosgeometricus, durch den die Vernunft den Weg zum Glck darstellt, das Fehlenintellektueller Redlichkeit:

    Oder gar jener Hocuspocus von mathematischer Form, mit der Spinoza seine Phi-losophie - die Liebe zu se iner Weisheit zuletzt, das Wort richtig und billig aus-gelegt - wie in Erz panzerte und maskirte, um damit von vornherein den Muth desAngreifenden einzuschchtern, der auf diese unberwindliche Jungfrau und PallasAthene den Blick zu werfen wagen wrde: - wie viel eigne Schchternheit undAngreifbarkeit verrth diese Maskerade eines einsiedlerischen Kranken! ( JGB 5)

    inspirierend nach, da er einem geplanten Buch Wie man der Tugend zur Herrschaft verhilft denUntertitel Ein tractatus politicus gab. Vgl. KSA 12, 10[14]. Die hier zu behandelnde Thematikbeschreibt Nietzsche in dem Entwurf zu einer Vorrede, die er 1888 konzipiert hat: Diesertractatus politicus ist nicht fr Jedermanns Ohren: er handelt von der Pol i t ik der Tugend, vonihren Mitteln und Wegen zur Macht. (KSA 13, 11[54]).

    14 Vgl. dazu Spinoza, Baruch de: Ethica. Kap. III., Def. 3 bzw. Prop. 12.

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    Auch wenn Nietzsche auf den ersten Blick lediglich psychologisch ad hominemSpinozam zu argumentieren scheint, kritisiert er jedoch prinzipiell eine durchdie Methode gedeckte Dogmatisierung einer Wahrheit, die den Weg zur intellek-tuellen Unabhngigkeit versperrt. Mit der rationalen Methode camoufliert Spi-noza eine reaktive Geisteshaltung, wie sie insbesondere das Martyrium um einerberzeugung willen charakterisiert. Wer sich gezwungen sieht, seine Wahrheitzu verteidigen, verliert nach Nietzsche jene feine Neutralitt, die es einem wahr-haft freien Geist erlaubt, Einwnde anzunehmen:

    Diese Ausgestossenen der Gesellschaft, diese Lang-Verfolgten, Schlimm-Gehetzten,- auch die Zwangs-Einsiedler, die Spinozas oder Giordano Brunos - werden zu-letzt immer, und sei es unter der geistigsten Maskerade, und vielleicht ohne dass sieselbst es wissen, zu raffinirten Rachschtigen und Giftmischern (man grabe docheinmal den Grund der Ethik und Theologie Spinozas auf!) - gar nicht zu redenvon der Tlpelei der moralischen Entrstung, welche an einem Philosophen das un-fehlbare Zeichen dafr ist, dass ihm der philosophische Humor davon lief. ( JGB 25)

    Die Aufopferung fr die Wahrheit, sein Leben in der Abgeschiedenheit einermeditativen Existenzweise zu fhren, wehrt nicht nur alle Zweifel an der eigenenberzeugung ab. Sie begnstigt nach Nietzsche darber hinaus die Reflexionsstra-tegie des asketischen Ideals, das sich von der Vitalitt des Leibes zurckzieht. Inder Logik dieses Ideals, das die Genealogie der Moral ausfhrlich analysiert, verschafftman sich dadurch einen Zugang zur Wahrheit, da man whrend des Erkenntnis-prozesses jegliche sinnlichen und affektiven Momente subtrahiert. Diesem asketi-schen Ressentiment der reinen Wahrheit gegen die Sinnlichkeit, das seit Platondas abendlndische Denken bestimmte, ist laut Nietzsche auch Spinoza verfallen.

    Fhlt ihr nicht an solchen Gestalten, wie noch der Spinozas, etwas tief nigmatischesund Unheimliches? Seht ihr das Schauspiel nicht, das sich hier abspielt, das bestndigeBlsser-werden -, die immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung? Ahnt ihr nichtim Hintergrunde irgend eine lange verborgene Blutaussaugerin, welche mit denSinnen ihren Anfang macht und zuletzt Knochen und Geklapper brig behlt, briglsst? - ich meine Kategorien, Formeln, Wor te (denn, man vergebe mir, das wasvon Spinoza br ig bl ieb, amor intellectualis dei, ist ein Geklapper, nichts mehr! wasist amor, was deus, wenn ihnen jeder Tropfen Blut fehlt? ) (FW 372)

    Einerseits betont Nietzsche zu Recht bei Spinoza das Streben nach einersinnesfreien Vernunfterkenntnis des Wahren und Guten, aber andererseits ber-sieht er hier geflissentlich dessen innovative Lehre von Gott als einer immanen-ten Ursache der welthaften Dinge, um die Ethica desto leichter in die Geschichteeiner reaktiven Asketisierung des Denkens einzufgen. Sofern man das mathe-matische Verfahren einer reinen Vernunft beim Wort nimmt und die Erkenntnis-objekte unter dem gyptizismus einer zeitenthobenen Ewigkeit betrachtet, ver-wandelt man sie in leblos mumifizierte Dinge an sich, wie Nietzsche an derRationalisierung des christlichen Gottesbegriffs deutlich macht, die man subspecie Spinozae (AC 17) vollzog.

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    Sofern Spinoza unberechtigterweise an diesem Punkt zu einem paradigmati-schen Schreckgespenst eines kalten Rationalismus herabgesetzt wird, bleiben frNietzsche wesentliche Theoreme der Ethica einem defensiven und reaktivenGeist verhaftet, den geschichtlich das asketische Ideal prgte, in dem bislangallein die Philosophie existieren durfte. Als Beleg fhrt Nietzsche die spinoziani-sche Lehre vom conatus an, die er bezeichnend genug in einem Aphorismusber die Herkunft der Gelehrten zum ersten Mal kritisiert:

    Man nehme es als symptomatisch, wenn einzelne Philosophen, wie zum Beispiel derschwindschtige Spinoza, gerade im sogenannten Selbsterhaltungs-Trieb das Entschei-dende sahen, sehen mussten: - es waren eben Menschen in Nothlagen. (FW 349)

    Zum besseren Verstndnis dieser entlarvend sein sollenden These gilt es zubercksichtigen, da Nietzsche die Lehre vom conatus, demzufolge jedes endli-che Ding danach strebt, in seinem Sein zu beharren, vor dem Hintergrund derEvolutionstheorien des 19. Jahrhunderts rezipierte. Er identifiziert das Imma-nenzprinzip des conatus physiologisch mit dem Trieb zur Selbsterhaltung, dender Darwinismus zum Kampf ums Dasein vulgarisierte. Symptomatisch an derontologischen Auszeichnung der Selbsterhaltung ist dabei nicht blo die Ab-stammung einer solchen Theorie, die entweder individuell von einer Krankheitzum Tode oder sozial von einem kleinbrgerlichen Milieu hervorgebracht wird,in dem die Subsistenzsicherung dominiert. Erst wenn man von der geschmack-losen Invektive gegen Spinoza und der reaktionren Diffamierung der Unter-schicht absieht, lt sich Nietzsches Einwand darlegen. Der binnenweltlicheFundierungscharakter der Selbsterhaltung ist laut Nietzsche ein Symptom dafr,da man die ursprnglich aktiven und schpferischen Krfte des Lebendigenzu bndigen versucht. Mit der Reduktion auf die bloe Selbsterhaltung setzt sichein in die Gefahr der Existenzvernichtung geratenes Leben zur Wehr, indem esasketisch und reaktiv die ihm inhrierenden Mglichkeiten zur Machterweite-rung beschrnkt.

    Prima vista scheint diese Kritik Nietzsches keinesfalls die Lehre eines dyna-mischen conatus zu treffen, sofern er fr Spinoza eine Vermehrung der Wir-kungskrfte der Vernunft intendiert, die sich in der berwindung der Leiden-schaften und in der aktiven Vervollkommnung eines ethisch guten Lebens mitanderen ausdrckt. Wie aus Notizen des Nachlasses hervorgeht, ist Nietzscheder zur Machtsteigerung und hchster freudig-tugendhafter Aktivitt fhrendeCharakter des conatus des Menschen nicht verborgen geblieben, den geradeKuno Fischer in seinem Spinoza-Buch betont.15 Allerdings mu der spinoziani-sche Zusammenhang zwischen Macht und ihrer vernunftgemen Steigerung

    15 Vgl. dazu: Fischer: Die Geschichte der neuern Philosophie. Bd. 1, a. a. O., S. 509 ff. sowieWurzer: Nietzsche und Spinoza, a. a. O., S. 109 ff., wo er die Bezge eines Exzerptes aus demNachla (KSA 12, 7[4]) zu Fischers Spinoza-Buch im einzelnen aufschlsselt.

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    bei Nietzsche in den prrationalen Kontext eines Kampfes leidenschaftlicherTriebe zurckgestellt werden, aus dem dann allererst Wachsthum und Ausbrei-tung (FW 349) resultieren. Was demzufolge Nietzsche am spinozianischenKonzept des conatus vermit, ist eine agonale Qualitt, bedingungslos sein ganzesWollen aufs Spiel zu setzen und gegebenenfalls die Selbsterhaltung zu opfern.16

    Auer diesem genealogischen Nachweis, der den conatus auf eine asketischeLebensfunktion zurckfhrt, vermittels dessen man vitale berschsse restrin-giert, deckt Nietzsche bei Spinoza den Rckfall in eine teleologische Denkweiseauf, die er seinerseits kritisiert hatte. So mahnt Nietzsche zur Vorsicht vorberf lss ig en teleologischen Principien! - wie ein solches der Selbsterhal-tungstrieb ist (man dankt ihn der Inkonsequenz Spinozas -) ( JGB 13). Zwarbestreitet Spinoza eine finale oder gar moralische Organisation des Universums,aber er nimmt weiterhin fr den auf eine Steigerung der Aktivitt angelegtenconatus des Menschen einen letzten Zweck an, der darin besteht, die Aussichtauf Selbstbewahrung zu vergrern. Eine solche Restteleologie, die Nietzschewohl vor Augen hat, wrde jedoch seiner Auffassung nach jeder VernderungEinhalt gebieten und zu einem Stillstand fhren, der die Mglichkeit zur radi-kalen Erneuerung in der Zukunft zunichte machte. Gegenber dem spinoziani-schen conatus will Nietzsche am lebendigen Organismus zeigen, da er allesthut, um nicht sich zu erhalten, sondern um mehr zu werden (Nachla1888, KSA 13, 14[121])17 Damit kehrt Nietzsche erstmalig das Verhltnis vonErhaltung und Erweiterung so radikal um, da die Steigerung einen ontologi-schen Grundcharakter bekommt. Obschon Nietzsche die Selbsterhaltung alsMoment der Lebensverhltnisse anerkennt, bleibt sie jedoch im Unterschied zuSpinoza lediglich eine fundierte Erscheinungsweise eines ursprnglicheren Wil-lens zur Macht: Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft aus lassen -Leben selbst ist Wille zur Macht -: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirek-ten und hufigsten Folg en davon. ( JGB 12) Statt die Seinsweise von Onti-schem restriktiv-asketisch zu beschreiben, werden die unbeschrnkten uerun-gen des Willens zur Macht zum alleinigen Deutungsprinzip der Welt. Gemseines agonalen Charakters setzt der Monismus der Machtwillen hierbei eineVielzahl seinsmig gleicher Machtquanta voraus, an deren Widerstndigkeit erKraft auslt, um sich rckbezglich selbst zu berwinden und zuknftig eineextensivere Gestalt anzunehmen.18

    16 Gnter Abel greift zu kurz, wenn er den spinozistischen Ursprung von Nietzsches Machtbegriffauf das Moment der Steigerung festlegt, ohne den Aspekt des Kampfes zu bercksichtigen.Vgl. Abel, Gnter: Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr. Berlin, NewYork 1984. S. 51.

    17 Diese Transformation der intransitiven Selbsterhaltung, die fr den Anfang des neuzeitlichenDenkens konstitutiv war, betont Abel, Gnter: Nietzsche contra ,Selbsterhaltung. Steigerungder Macht und ewige Wiederkehr. In: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), S. 367-384, S. 398 f.

    18 Vgl. dazu die immer noch wegweisende Interpretation von Wolfgang Mller-Lauter, der gegenden metaphysischen Monismus eines Willen zur Macht, wie er z. B. von Martin Heidegger be-

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    III. Der esoterische Spinoza: die verhinderte Bejahung

    In seinen verffentlichten Werken leitet Nietzsche also das Interesse an einerDemaskierung Spinozas, bei dem er den Geist eines asketischen Idealismus auf-sprt. Spinoza symbolisiert die Philosophie eines Menschentypus, der von dereigenen Existenz niedergedrckt wird und sich daher nur reaktiv gegenberanderem besttigen kann. Was Nietzsche am Beispiel des spinozianischen Ratio-nalismus grundstzlich aussetzt, ist eine unschpferische und unknstlerischeArt der Lebensbetrachtung, die kein souvernes Verhltnis zum eigenen Denkenund Sein erlaubt.

    In einem vernderten Licht wird allerdings Nietzsches Bezugnahme auf Spi-noza erscheinen, wenn man die Nachlanotizen aus den 80-er Jahren betrachtet.Sie enthalten einen esoterischen Dialog mit Spinoza, den jene berhmte Post-karte gleichsam resmierend heraufbeschwrt: In summa: meine Einsamkeit,die mir, wie auf ganz hohen Bergen, oft, oft Athemnoth machte und das Bluthervorstrmen lie, ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit. - Wunderlich! (KSB6, Nr. 135) Zwar beinhaltet der Nachla weiterhin diffamierende Pauschalisie-rungen Spinozas als Reprsentanten einer Ressentimentmoral von Unterdrck-ten19, aber gleichzeitig tritt die sachliche Auseinandersetzung mit dem Pantheis-mus der Ethica zunehmend in den Vordergrund. Metaphorisch gesprochen, ge-langt Nietzsche durch sie in einen ther, der seine geistige Gesundheit krftigteund ihm die Luft verschaffte, das abendlndische Denken umzuwerten.

    Diese esoterische nderung der Einstellung zu Spinoza legt die Vermutungnahe, da sie auf eine Koinzidenz in der intellektuellen Biographie Nietzscheszurckgeht. So sind die positiven Lehren vom Willen zur Macht, von der ewigenWiederkunft des Gleichen und der amor fati smtlich kurz nach dem Zeitpunktzum ersten Mal konzipiert worden, als Nietzsche seinem Freund Overbeck aufeiner Postkarte Bericht ber die Konfrontation mit dem Geist Spinozas erstattet.(KSB 6, Nr. 135)20 Obwohl die therische Zweisamkeit keinen unmittelbarenNiederschlag findet, deutet sie eine Notiz des Jahres 1884 im Rckblick auf Alsosprach Zarathustra, welches Werk die Wiederkunftslehre zum positiven Mittel-punkt hat:

    Da so etwas wie Spinozas amor dei wieder er lebt werden konnte, ist se in groesEreigni. Gegen Teichmllers Hohn darber, da es schon da war! Welch Glck,

    hauptet wurde, bei Nietzsche die antimetaphysische Pluralitt von Machtquanta berzeugendherausgearbeitet hat. Vgl. Mller-Lauter, Wolfgang: Nietzsche. Seine Philosophie der Gegen-stze und die Gegenstze seiner Philosophie. Berlin, New York 1971. S. 30.

    19 Vgl. dazu KSA 10, 8[17]: der Sinn fr Wirklichkeit bei Mchtigen (bei Unterdrckten als Rache,Rechtfertigung - Spinoza). sowie KSA 13, 18[16].

    20 Auf diesen biographischen Zusammenhang hat nachdrcklich hingewiesen Snel, Robert: Hethermetisch Universum. Nietzsches verhouding tot Spinoza en de moderne ontologie. Meedelin-gen vanwege het Spinozahuis 60. Delft 1989. S. 3 f.

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    da die kostbarsten Dinge zum zweiten Male da sind! - Alle Philosophen! Es sindMenschen, die etwas Auerordent l iches erlebt haben (Nachla 1884, KSA 11,26[416])21

    Die Wiederkunftslehre, zu dessen Intuition er Anfang August 188122, alsonur wenige Tage nach der Lektre des Werkes von Kuno Fischer gefhrt wurde,stellt laut Nietzsches Aussage einen Versuch dar, den spinozianischen Gedankender amor dei erneut zu aktualisieren.

    Whrend fr Nietzsche die Geschichte der abendlndischen Metaphysik da-durch gekennzeichnet ist, da sie logisch die wahre Welt eines Immerwhrendenetabliert, kraft deren man implizit die empirische Wirklichkeit der Sinne und diemenschlichen Leidenschaften verneint, soll die Annahme einer ewigen Wieder-kunft die transzendente Verdoppelung des Seins unterbinden. Ihr gem be-deuten die sinnfllig werdenden Dinge nicht lnger das von der Zeit aufgezehrteNichtige, das die metaphysische Zweiweltenlehre einer bergeordneten Wahrheitontologisch disqualifiziert. Statt das blo Vergngliche zu sein, werden die fak-tisch wirklichen Dinge in der Weise remundanisiert und aufgewertet, da sieden Status einer wiederkehrenden Prsenz von Vergehendem erhalten. Sie ge-hren einer zyklischen Unendlichkeit an, in der jede scheinbar kontingente Exi-stenz eine nachfolgende Reihe bestimmt, die zu ihrem determinierenden Aus-gangspunkt zurckluft. Am besten liee sich die Zirkularitt der Wiederkehrlaut Nietzsche als eine unver nnft ig e Nothwendigke i t (Nachla 1881,KSA 9, 11[225])23 erzhlen, wenn man darunter versteht, da sie keinen Fort-schritt zu einer sthetischen, moralischen oder metaphysischen Vervollkomm-nung realisiert. Abgesehen von dem Problem, ob sie Nietzsche zu einer kosmo-logischen Theorie ausarbeiten wollte, bedeutet die ewige Wiederkehr hauptsch-lich eine ontologische Fabel, die der neuen, antiplatonischen Welterfahrung Aus-druck verleiht, ohne mit einem transzendenten Sinn und Trost auskommen zumssen.24

    Eine derartig von allem Vernunftzweck gereinigte und letztinstanzlich freieWeltimmanenz der Dinge hat fr Nietzsche in der neueren Geistesgeschichteerstmalig der spinozianische Pantheismus antizipiert, der ebenfalls zu e inemGlauben an die ewig e Wiederkunft zwingt. (Nachla 1886/87, KSA12, 5[71], S. 213) Seine pantheistische Variante, bei der Spinoza unter Verzicht

    21 Auf welches Buch von Gustav Teichmller, der bis 1877 Professor der Philosophie in Baselwar, Nietzsche sich hier bezieht, konnte von mir nicht nachgewiesen werden.

    22 Vgl. dazu das von Nietzsche auf Anfang August datierte Fragment in: KSA 9, 11[141] sowieEH, KSA 6, S. 335.

    23 Sofern die ewige Wiederkehr jede Zweckmigkeit ausschliet, lt sie sich nach Nietzsche ineinem spinozistischen Geist als entmenschlichtes chaos sive natura beschreiben. Vgl. dazuKSA 9, 11[197].

    24 Diese Interpretation vertritt berzeugend Yovel: Spinoza, a. a. O., S. 408.

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    auf eine kosmologische Teleologie die Notwendigkeit von Endlichem deduziert,stellt fr Nietzsche eine sachliche Herausforderung dar, die er danach befragt, wieweit sie die Forderung einer unbedingten Affirmation des Vergnglichen erfllt:

    Spinoza gewann eine solche bejahende Stellung, insofern jeder Moment eine log i -sche Nothwendigkeit hat: und er triumphirte mit seinem logischen Grundinstinkteber eine solche Weltbeschaffenheit. (ibid., S. 214)

    Eine Aufschlsselung dieser gedrngten Beurteilung vom historischen RangSpinozas, die Anerkennung und Kritik bergangslos miteinander vermischt, wirdjene doppelsinnige Provokation offensichtlich werden lassen, die fr Nietzscheder Geist der spinozianischen Philosophie enthlt. Einerseits erkennt Nietzschebei Spinoza die singulre Besonderheit an, die weltverneinende Reflexionsstruk-tur des metaphysischen Dualismus durch eine transzendenzlose Ontologie zuberwinden. Indem sich die eine Substanz vermge der Attribute in den Modiimmanent darstellt, besitzen sie eine unaufhebbare Notwendigkeit ihrer Exi-stenz. Da man, wie es Nietzsches Interpretation impliziert, zudem voraussetzenmu, da die Natur der spinozianischen Substanz ihrer Quantitt nach immergleich bleibt, geht der Wechsel von Entstehen und Untergang der modalen na-tura naturata zyklisch mit sich zusammen, wodurch sie in ihrem endlichen Seins-wert affirmiert wird.

    Andererseits macht Nietzsche auf eine quivokation in Spinozas Begriff derNotwendigkeit aufmerksam, die eine absolute Form der Bejahung nicht zult.Zwar sind die Modi notwendige und daher zu bejahende uerungen der Sub-stanz, die jedoch ihrerseits von einer hherwertigen Notwendigkeit ist. Im Ge-gensatz zu den endlichen Dingen, deren modale Notwendigkeit nur durch dieSubstanz begriffen werden kann, bedarf sie selbst keines anderen, das ihr Seinerklrte. Fr Spinoza kommt der Substanz die absolute, innere Notwendigkeiteiner causa sui zu, von der die Modi blo uerliche Affektionen sind. Ebensowie sich die Notwendigkeit der Substanz ber die der Modi erhebt, erhlt dieBejahung der Substanz den Vorrang vor der Bejahung der Modi: Spinozas logi-scher Grundinstinkt, seine Metaphysik qua ordine geometrico, versagt sich trotzder Absicht einer rein immanenten Betrachtung in letzter Konsequenz der un-eingeschrnkten Bejahung der Welt. Diese ambivalente Beurteilung Spinozasfat ein Gedicht Nietzsches aus dem Jahr 1884 zusammen, das die Logik desEsoterischen nicht zur Verffentlichung kommen lie:

    Dem Eins in Allem liebend zugewandt,Ein amor dei, selig, aus Verstand -Die Schuhe aus! Welch dreimal heilig Land! - -Doch unter dieser Liebe fraunheimlich glimmender Rachebrand:- am Judengott fra Judenha! -- Einsiedler, hab ich dich erkannt? (Nachla 1884, KSA 11, 28[49])

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    Hinter Spinozas monistischem Denken, das in den welthaften Dingen dieImmanenz eines ersten und vorgngigen Prinzips bejaht, verbirgt sich fr Nietz-sche eine ressentimentgetragene Reaktion auf die jdische Vorstellungsweise, diedie transzendente Weltschpfung eines Gottes und die Kreatrlichkeit des Men-schen behauptet.25 Da Spinoza dieses, seinem Ursprung nach jdische Denk-muster nicht aus einer freigewordenen Souvernitt ablehnte, blieb er ihm wei-terhin verhaftet:

    Das ist immer noch die alte religise Denk- und Wunschweise, eine Art Sehnsuchtzu glauben, da irgendwor in doch die Welt dem alten geliebten, unendlichen, un-begrenzt-schpferischen Gotte gleich sei - da irgendworin doch der alte Gottnoch lebe, - jene Sehnsucht Spinozas, die sich in dem Worte deus sive natura(er empfand sogar natura sive deus -) ausdrckt. (Nachla 1885, KSA 11, 36[15])

    Auch wenn die Vergttlichung der Natur einer werdenden Welt, was ins-besondere die praktischen Hinsichten betrifft, ihre moralfreie Unschuld wieder-gegeben hat26, ersetzt Spinoza den religisen Schpfungsgedanken funktions-quivalent durch eine regelhafte Ordnung der Dinge, wonach sich die Modi alsGrnde gegenseitig determinieren. Mit der Annahme, da der aus der gttlichennatura naturans hervorgehende Kausalzusammenhang ewig und unabnderlichsei, gert Spinoza darber hinaus in den Bannkreis der Negativitt metaphysi-schen Denkens. Sofern es Spinoza um die Erkenntnis von Seinsverhltnissengeht, die unabhngig von der menschlichen Vernunft a priori vorhanden sind,reaktiviert er die platonische Sehnsucht nach einer wahren Welt, die paradig-matisch am Anfang der abendlndischen Metaphysik gestanden hat: Die wahreWelt erreichbar fr den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, - er lebt inihr, er i s t s ie. (GD, Wie die wahre Welt endlich zur Fabel wurde) Zwar gibtdieses Zitat aus der Gtzen-Dmmerung eine Charakterisierung Platons, aber ihrliegt philologisch eine Vorstufe zugrunde, die die ,Geschichte des lngsten Irr-tums anachronistisch mit Spinoza beginnen lt.27 Seinem esoterischen Ver-

    25 Zu einer solchen Interpretation konnte Nietzsche durch Eugen Dhring angeregt werden, des-sen Kritische Geschichte der Philosophie von ihren Anfngen bis zur Gegenwart sich in seiner Bibliothekbefand. Vgl. die 3. teilweise umgearbeitete Auflage. Leipzig 1878, S. 312.

    26 Vgl. dazu GM II, KSA 5, S. 320. Hier erwhnt Nietzsche ausdrcklich Kuno Fischers Buchber Spinoza, das er sich im Frhjahr 1887 aus der Bibliothek in Chur auslieh und offensichtlichein drittes Mal zu Rate zog. Vgl. die Exzerpte aus Kuno Fischer in: KSA 12, 7[4].

    27 Die Herausgeber der KSA weisen daraufhin, da die Fortfhrung des zitierten Textes: (ltesteForm der Idee, relativ klug, simpel, berzeugend, Umschreibung des Satzes ,ich, Plato, bindie Wahrheit ) entwickelt wurde aus: vernnftig simpel, thatschlich, sub specie SpinozaeUmschreibung des Satzes ich, Spinoza. - Da Nietzsche diese Substitution vornehmenkonnte, geht auf Gustav Teichmller zurck, dessen Studien zur Geschichte der Begriffe, Berlin 1874,er zur Zeit der Abfassung der Gtzen-Dmmerung 1887 gelesen hat. Hier sieht Teichmller inPlatons Philosophie einen Pantheismus vorgeprgt, der zwar eine jenseitige Welt leugnet unddennoch nicht atheistisch, also mit dem Christentum vereinbar ist (vgl. ebd. S. 280 ff.). Darberhinaus zhlt Teichmller in seinem systematischen Hauptwerk Die wahre und die scheinbare Welt.Neubegrndung der Metaphysik, Breslau 1882, das Nietzsche ebenfalls bekannt war, Spinoza zu

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    stndnis nach umschreibt der Name Spinozas fr Nietzsche auch die auf Platonzurckgehende Bestimmung der Philosophie, durch eine Parusie des Gttlichenund Ewigen im Erkennen glckselig zu werden. Daher teilt Spinozas freudigeHingabe des amor dei intellectualis mit der platonischen Ausrichtung auf einideales Sein eine Verachtung des Wechselnden und Vergehenden, das bei ihmvor der Macht einer quasi gttlichen Substanz keinen wahrhaften Bestand hat.

    Wenn Nietzsche an Spinoza auer dem pseudo-religisen Glauben an einemechanische Kausalitt zugleich die Fixierung auf ein zeitloses Ansichsein derVernunft kritisiert, streicht er radikal den ontologischen Wert des Krzestenund Vergnglichsten heraus, das als das verfhrerische Goldaufblitzen amBauch der Schlange vita - (Nachla 1887, KSA 12, 9[26]) erscheint. In Um-kehrung Spinozas, der das Sein der Welt als einen ewigen und substantiellenStrukturzusammenhang begreift, denkt Nietzsche gleichsam von den Modi her.Obwohl fr Nietzsche - analog zu Spinoza - die endlichen Dinge keine iso-lierte Substanzialitt besitzen, ist jedoch deren Eigenwert dermaen gro, daihre vergehende Singularitt den wiederkehrenden Bestand der Welt im ganzenausmacht. So wertet Nietzsche die Metaphysik des Platonismus durch eine neueSehnsucht nach dem Endlichen (Nachla 1884, KSA 11, 26[287]) um, dasgem der Wiederkunftslehre in einer Totalitt steht, bei der jedes Moment dasGanze und die permanente Iteration seiner selbst bedingt. Den spinozianischenMonismus, der die Seinshaftigkeit der Modi von der Affirmation der einen,absoluten Substanz abhngig machte, verwandelt Nietzsche in einen Pankosmis-mus: Kosmos kai pan knnte in Anlehnung an Lessings Diktum die berzeugungvon Nietzsche lauten, fr den die berlieferten Begriffe nicht mehr gltig sind.Entsprechend ist das von Spinoza noch in ein logisches Jenseits gesetzte, wahreSein bei Nietzsche die Faktizitt der Welt, die es, sofern man unter Einschluder bisher verachteten Aspekte des Lebens immanent alles aus allem begreift,zu bejahen gilt.

    Fhrt man an diesem Punkt die exoterische und esoterische ThematisierungSpinozas zusammen, dann fllt auf, da Nietzsche aus der amor dei intellectualis,auf die er sich positiv kapriziert, die beiden Bestandteile Gott und geistigherausgestrichen hat. An ihre Stelle setzt er das fatum, das nun seinerseits Spi-noza ausdrcklich ablehnt, weil es entweder eine vernunftlose Herrschaft odereine geheimnisvolle Vorherbestimmung prsupponiert, die fr den rationaldurchsichtig gemachten Begriff der all-einen Substanz ein Skandalon darstellenwrde.28 Diese Substitution, die die Bedeutsamkeit der mit Spinoza gemachten

    dem Philosophietypus des Platonismus (vgl. ebd. S. 145). Aufgrund von Teichmllers Interpre-tation ist es also historisch korrekt und nur konsequent, wenn Nietzsche die Philosophie eineran sich vorhandenen Wahrheit, fr die auch Spinoza einsteht, mit Platon beginnen lt.

    28 Spinoza, Baruch de: Ethica, Kap. I. Prop. 33. Anm. 2.

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    Erfahrung esoterisch verschweigt, verrt nichtsdestoweniger, wie Nietzsche denGedanken einer rationalen Gottesliebe umwandelt und weiterentwickelt. WeilNietzsche keinen Rckzug auf eine pantheistische Ordnung erlaubt, die gemder Funktion berlebter Religionen eine kosmische Geborgenheit des Menschengarantiert, denkt er unter fatum nach einem genitivus objectivus die lustvoll-verherrlichende Ansicht einer strikt immanenten Welt, die man ohne idealistischmetaphysische Ausflchte zu betrachten hat:

    So wie meine innerste Natur es mich lehrt, ist alles Nothwendige, aus der Hhegesehn und im Sinne einer g rossen konomie, auch das Ntzliche an sich, - mansoll es [] l ieben Amor fat i. (NW, Epilog 1).

    Die Liebe zu einem vernunftblinden Schicksal geht jedoch zugleich ber dieEinsicht in die tragische Faktizitt der Welt hinaus, die alle Dinge ,ohne Sinnund Verstand vergehen und wiederkehren lt. Indem man nicht lnger miteinem jeder Teleologie widersprechenden Weltlauf hadert, emanzipiert sich derMensch von der subjektiv empfundenen Ohnmacht, einem unbezwingbarenGeschick unterworfen zu sein. Gem eines genitivus subjectivus der Liebe zusich ist der konkrete Inhalt des amor fati das jeweilige Individuum, das die ihneigentmliche Schicksalshaftigkeit erfhrt:

    Der Einzelne ist ein Stck fatum, von Vorne und von Hinten, ein Gesetz mehr, eineNothwendigkeit mehr fr Alles, was kommt und sein wird. Zu ihm sagen nderedich heisst verlangen, dass Alles sich ndert, sogar rckwrts noch (GD, Moralals Widernatur 6)

    Mit diesem Gedanken eines ego-fatum gelangt man nach Nietzsche zu einerauthentischen Existenz, das zu werden, was man notwendigerweise ist. Schlie-lich erreicht die bernahme des Selbstseins die Liebe zu einem geistigen undsinnlichen Vollendungsgefhl, das aus dem Bewutsein heraus, in die wieder-kehrende Faktizitt der Welt eingebunden und ihr zugewandt zu sein, die Be-jahung unter Verzicht auf eine finale Wahrheit intensiviert. Ein solcher vonTranszendenz berhaupt fre ig ewordner Geist steht mit einem freudigen undvertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, dass nur das Einzelneverwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlst und bejaht - er ver ne intn icht mehr (GD, Streifzge eines Unzeitgemssen 49)

    Diese berstrmende Bejahung, fr die es nichts moralisch Verbotenes gibt,setzt die gestaltenden Krfte des Menschen frei. Sie verwandelt die philosophi-sche Liebe zur Weisheit im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Lebenskunst,durch die der Mensch zum autonomen Schpfer seiner Existenz wird, die dassanfte Ideal eines dionysischen bermenschen erfllt, das Nietzsche am BeispielGoethes zeichnet und bei dem die Zge eines politischen Gewaltmenschen aus-gelassen sind:

    Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike, insgleichen Spinoza zuHlfe, vor Allem die praktische Thtigkeit; er umstellte sich mit lauter geschlossenen

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    Horizonten; er lste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nichtverzagt und nahm so viel als mglich auf sich, ber sich, in sich. Was er wollte, daswar Tota l i t t; [] er disciplinirte sich zur Ganzheit, er schuf sich (GD, Streif-zge eines Unzeitgemssen 49)

    Ebenso wie Spinoza von Goethe dazu gebraucht wurde, um eine ihm gemeLebensform zu finden, stellt er fr Nietzsche einen historischen Schlssel frdie eigenen Intentionen dar. Da er Spinoza wahrscheinlich realiter niemals imOriginal gelesen hat, konnte er ihn weder adquat verstehen noch produktivmiverstehen, wobei man immer von der theologischen Annahme eines kano-nischen Urtextes ausgeht, dessen intentio recta man verfehlt. In diesem Sinnweicht Nietzsche berhaupt nicht vom Denken Spinozas ab, sondern aus dem,was er darber hauptschlich durch die Vermittlung von Kuno Fischer wute,verstndigte er sich ber das zentrale Anliegen seiner Philosophie. Obwohl Spi-noza exoterisch blogestellt von einem asketischen Idealismus und esoterischbetrachtet von der tradierten Metaphysik einer wahren Welt abhngig blieb, ister fr Nietzsche zugleich der erste Denker des Abendlandes, der die Philosophieaus der Verneinung der Welt sowie des Lebens zu befreien versuchte. Whrendbei Platon der Zweck des Philosophierens die Vorbereitung auf den Tod ist, umin den Besitz einer idealen Wahrheit zu gelangen, sieht Nietzsche durch das, waser ber Spinoza zur Kenntnis nimmt, einen ihm verwandten Geist am Werke,der diese Ausrichtung des Denkens mit einer affirmativen Ontologie umzukeh-ren strebt. Im Angesicht eines passiven Nihilismus, fr den Gott und Welt nichtsmehr bedeuten, besinnt sich Nietzsche auf den innovativen Geist der spinozia-nischen Philosophie. Von ihr empfing Nietzsche die existentiellen Impulse zueiner meditatio vitae, die er weiterfhrt, radikalisiert und berbieten will:

    Es macht mich glcklich, zu sehen, dass die Menschen den Gedanken an den Toddurchaus nicht denken wollen! Ich mchte gern Etwas dazu thun, ihnen den Gedan-ken an das Leben noch hundertmal denkenswer ther zu machen. (FW 278)