Dossier.online - Friedrich Achleitner und die manuskripte

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117 dossieronline.at #04/2020 Lisa Erlenbusch Friedrich Achleitner und die manuskripte Vom konkret-poetischen ‚Bankenschreck‘ zum späten, doch souveränen Heimkehrer ins literarische Feld Der Oberösterreicher Friedrich Achleitner (1930−2019) zeichnete sich ganz besonders durch ein offen geführtes Doppelleben aus: Er war nicht nur Doyen der österreichischen Architekturkritik, sondern auch Literat und Mitglied der Wiener Gruppe. Innerhalb dieser nahm er gewissermaßen eine Sonderstellung ein: Nach seinem Architekturstudium (1950–1953) war er als freischaffender Architekt tätig, ab 1955 bestand enger Kontakt zur Wiener Gruppe, bis er die Architektur 1958 vorerst ganz aufgab, um freier Schriſtsteller zu werden, weil er, wie er selbst sagte, „als Architekt nicht mehr weitermachen“ 1 wollte. Just in dieser Zeit wurden in Graz die Vorkehrungen dafür getroffen, die die Stadt zur Hauptstadt der Literatur machen sollten – untrennbar damit verbunden ist freilich die Literaturzeitschriſt manuskripte, die von Anbeginn unter der Ägide von Alfred Kolleritsch (1931−2020) stand und für viele Autorinnen und Autoren eine erste Veröffentlichungsmöglichkeit darstellte – und es bis heute tut. Wie nun Friedrich Achleitner und die manuskripte miteinander verbunden sind, untersucht vorliegender Beitrag. 2 Wien – manuskripte – Graz Die Landeshauptstadt war damals gemeinhin als Provinznest abgestempelt, folglich mutet Alfred Kolleritschs Traum, „Graz soll nicht in der Steiermark 1 Erich Klein: friedrich achleitner: siebzig. Gespräch. In: wespennest 118 (2000), S. 16-22, hier S. 19. 2 An dieser Stelle sei Harald Miesbacher für seine fortwährende Unterstützung und Übermittlung der Brief- funde im manuskripte-Archiv sehr herzlich gedankt. DOI: 10.25364/16.04:2020.1.7

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Lisa Erlenbusch

Friedrich Achleitner und die manuskripte

Vom konkret-poetischen ‚Bankenschreck‘ zum späten, doch souveränen Heimkehrer ins literarische Feld

Der Oberösterreicher Friedrich Achleitner (1930−2019) zeichnete sich ganz besonders durch ein offen geführtes Doppelleben aus: Er war nicht nur Doyen der österreichischen Architekturkritik, sondern auch Literat und Mitglied der Wiener Gruppe. Innerhalb dieser nahm er gewissermaßen eine Sonderstellung ein: Nach seinem Architekturstudium (1950–1953) war er als freischaffender Architekt tätig, ab 1955 bestand enger Kontakt zur Wiener Gruppe, bis er die Architektur 1958 vorerst ganz aufgab, um freier Schriftsteller zu werden, weil er, wie er selbst sagte, „als Architekt nicht mehr weitermachen“1 wollte. Just in dieser Zeit wurden in Graz die Vorkehrungen dafür getroffen, die die Stadt zur Hauptstadt der Literatur machen sollten – untrennbar damit verbunden ist freilich die Literaturzeitschrift manuskripte, die von Anbeginn unter der Ägide von Alfred Kolleritsch (1931−2020) stand und für viele Autorinnen und Autoren eine erste Veröffentlichungsmöglichkeit darstellte – und es bis heute tut. Wie nun Friedrich Achleitner und die manuskripte miteinander verbunden sind, untersucht vorliegender Beitrag.2

Wien – manuskripte – Graz

Die Landeshauptstadt war damals gemeinhin als Provinznest abgestempelt, folglich mutet Alfred Kolleritschs Traum, „Graz soll nicht in der Steiermark

1 Erich Klein: friedrich achleitner: siebzig. Gespräch. In: wespennest 118 (2000), S. 16-22, hier S. 19.

2 An dieser Stelle sei Harald Miesbacher für seine fortwährende Unterstützung und Übermittlung der Brief-funde im manuskripte-Archiv sehr herzlich gedankt.

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liegen, sondern auch in Europa“3, kühn an. Angesichts der Tatsache, dass insbesondere in der Steiermark jene Schriftsteller, die sich für das national-sozialistische Regime engagiert hatten (beispielsweise Bruno Brehm oder Josef Papesch), nicht nur unbehelligt weiterpublizierten, sondern auch noch mit wichtigen Preisen geehrt wurden, war Graz dafür ein denkbar schlechter Ausgangspunkt, wollte man „sich parteipolitisch, ideologisch und konfes-sionell nicht gebunden fühlen und wissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen verschiedener Provenienz offen sein“4. Kolleritsch erkannte früh, dass man hier in den 1950er Jahren den Anschluss an die internationale Kunst- und Literaturszene verpasst hatte, das kulturpolitische Klima war nach dem Zweiten Weltkrieg – vor allem in den fünfziger und frühen sechziger Jahren – selbst für österreichische Verhältnisse besonders reaktionär.5 Für Kunst und Kultur gab es kaum Subventionen – Wien war nicht nur in den Bereichen Wirtschaft und Politik führend, sondern auch in künstlerischen und intellektuellen Belangen.

Die kulturelle Abgeschnittenheit der steirischen Landeshauptstadt vom Prozeß künstlerischer Auseinandersetzungen, die auch auf die ungünstige geographische Lage und die Auswirkungen der Zonengrenze in der Besat-zungszeit zurückzuführen war, korrelierte mit einem geistigen Klima, das durch provinzielle Selbstzufriedenheit, Desinteresse an Außenkontakten und der Bevorzugung des ‚Bodenständigen‘ gekennzeichnet war.6

Provinzialismus ist also zu Recht das Schlagwort, wenn es um die Situation in Graz in dieser Zeit geht,7 die Öffentlichkeit stand Künstlerinnen und Künst-lern wie auch Autorinnen und Autoren der jungen Generation zutiefst

3 Alfred Kolleritsch: Marginalie. In: manuskripte 3 (1963), H. 7 [o. S.].

4 Wendelin Schmidt-Dengler: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990. Salz-burg, Wien: Residenz 1995, S. 194f.

5 Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: Eine Avantgarde aus Graz. Klagenfurt: Carinthia 1979. (= Klagenfurter Universitätsreden.) S. 6-8. Schmidt-Dengler spricht in diesem Kontext gar von einer „Kulturmafia“ (S. 8).

6 Elisabeth Wiesmayr: Die Zeitschrift „manuskripte“ 1960‒1970. Königstein/Ts.: Anton Hain 1980, S. 1.

7 Vgl. dazu auch Hugh Rorrison: The ‚Grazer Gruppe‘, Peter Handke and Wolfgang Bauer. In: Modern Aus-trian Writing. Literature and Society after 1945. Hrsg. von Alan Best, Hans Wolfschütz. London: Oswald Wolff; Totowa/New Jersey: Barnes & Noble 1980, S. 252-266, hier S. 252.

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misstrauisch gegenüber und Kolleritsch beklagte, dass Graz von Wien aus zur Provinz gemacht wurde.8 Aus diesem Blickwinkel mutet es vielleicht umso überraschender an, dass Graz mittlerweile als „heimliche Literaturhauptstadt“9 Österreichs firmiert, was nicht zuletzt als (Mit-)Verdienst der manuskripte anzusehen ist.

Die manuskripte verkörperten in den sechziger Jahren die Anknüpfungs-punkte einer jungen AutorInnengeneration, die das Forum Stadtpark als Treff-punkt und Bühne für ihre ersten Auftritte und Lesungen in der Öffentlichkeit nutzte. Der Verein Forum Stadtpark, dessen institutionelle Leitung Kolleritsch immerhin von 1969 bis 1995 innehatte,10 entstand, „weil sich seine Mitglieder einem Widerstand gegenüber sahen und diesen überwanden […].“11 Die manuskripte, zunächst als Hauszeitung des Forum Stadtpark gedacht, wurden

„in den 60er und 70er Jahren als Umschlagplatz für neueste Tendenzen in der Literatur gehandelt.“12 Die Autorinnen und Autoren, die in den manuskripten publizierten, suchten auf ihre spezifische Art und Weise eine Auseinanderset-zung mit der Gesellschaft, wenngleich alle ihre „schriftstellerische Tätigkeit in Opposition zur Gesellschaft gesehen“13 haben. Diese neue Generation strebte eine „Abgrenzung gegen konservative Ideologien, gegen Provinzialismus und Traditionalismus und deren gelegentliche Berührung mit deutschnationalem und nationalsozialistischem Gedankengut“14 an.

8 Vgl. Alfred Kolleritsch, zit. n. Manfred Mixner: Ausbruch aus der Provinz. Zur Entstehung des Grazer „Forums Stadtpark“ und der Zeitschrift „manuskripte“. In: Wie die Grazer auszogen, die Literatur zu erobern. Texte, Porträts, Analysen und Dokumente junger österreichischer Autoren. Hrsg. von Peter Laemmle, Jörg Drews. München: edition text + kritik 1975, S. 12−28, hier S. 16.

9 Wolfgang Straub: Grazer Gruppen. Setzungen und Zuschreibungen durch 50 Jahre. In: Dossier Graz 2000+. Neues aus der Hauptstadt der Literatur. Hrsg. von Gerhard Fuchs, Stefan Maurer, Christian Neuhuber. Erstellt am 16.01.2020. (= dossieronline.at. 3.) S. 5-20, hier S. 5. Aufgerufen am 04.06.2020.

10 Vgl. Wiesmayr: Die Zeitschrift „manuskripte“ 1960–1970 (wie Anm. 6), S. 28 und Christine Rigler: literatur. In: forum stadtpark – die grazer avantgarde von 1960 bis heute. Hrsg. von C. R. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2002, S. 97-116, hier S. 99-105.

11 Mixner: Ausbruch aus der Provinz (wie Anm. 8), S. 15.

12 Rigler: literatur (wie Anm. 10), S. 99.

13 Hans Christian Kosler: Wo sind sie geblieben? Über das allmähliche Verschwinden der Avantgarde im allgemeinen und der „Grazer“ im besonderen. In: Trans-Garde. Die Literatur der „Grazer Gruppe“. Forum Stadtpark und „manuskripte“. Hrsg. von Kurt Bartsch, Gerhard Melzer. Graz/Wien: Droschl 1990, S. 92-107, hier S. 97.

14 Wiesmayr: Die Zeitschrift „manuskripte“ 1960–1970 (wie Anm. 6), S. 30.

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Kolleritsch war besonders darum bemüht, die österreichische avantgardis-tische Literatur, also Texte der Wiener Gruppe (Friedrich Achleitner, H. C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener) sowie solche von Ernst Jandl oder Friederike Mayröcker, abzudrucken. Der Kontakt zur Wiener Gruppe bestand schon vor der Gründung des Forum Stadtpark. Die Grazer Sezession – 1923 von Wilhelm Thöny, Fritz Silberbauer und Alfred Wickenburg gegründet – lud im Dezember 1959 Friedrich Achleitner, Gerhard Rühm und Arnulf Rainer für eine gemeinsame Aufführung nach Graz. Rainer stellte seine Malereien aus und Achleitner und Rühm lasen dazu. Gerade die Lesung von Rühm hatte einen nachhaltigen Eindruck bei Alfred Kolleritsch hinterlassen, der das Dreiergespann auch beherbergte.15 Ein Verriss in der Kleinen Zeitung hingegen nannte Rühm und Achleitner „entartete Artmann-Zwillinge“, deren „eigene Art (also ihre Ab-Art) zu mundartlichem Gestammel oder zu Unart und Unrat“16 führe. Dies verdeutlicht das kulturelle Umfeld im Graz dieser Zeit auf drastische Weise.

Der Kontakt zu Kolleritsch führte nach der Institutionalisierung des Forum Stadtpark zur vermehrten Zusammenarbeit, und Beiträge von Achleitner, Art-mann, Bayer und Rühm erschienen im zweiten Heft der manuskripte (1961).17

15 Franz Weinzettl: Daten zu Alfred Kolleritschs Leben und Werk. In: Alfred Kolleritsch. Hrsg. von Kurt Bartsch, Gerhard Melzer. Graz: Droschl 1991. (= Dossier. 1.) S. 165-180, hier S. 165; Werner Jauk: wissen-schaft. In: forum stadtpark (wie Anm. 10), S. 138-145, hier S. 139; Wiesmayr: Die Zeitschrift „manuskripte“ 1960‒1970 (wie Anm. 6), S. 5. In den im Frühjahr dieses Jahres vom Franz-Nabl-Institut der Universität Graz angekauften Notizbüchern von Alfred Kolleritsch ist lediglich ein Verweis auf Achleitner zu finden: Er listet ihn, neben vielen anderen bekannten AutorInnen, unter „Namen für Max-Buch“. (Vgl. Notizbuch ‚36‘ in den Beständen des Archivs am Franz-Nabl-Institut.) Damit ist der von ihm und Klaus Hoffer 2003 herausgegebene Sammelband Graz von aussen gemeint, der anlässlich des Kulturhauptstadtjahres erschienen ist und sozusagen eine Ergänzung zu dem von Max Droschl 1985 herausgegebenen Band Graz von innen. Eine Anthologie dar-stellt. Achleitner beschreibt in seinem Beitrag die hiesige Literatur- und Architekturszene und stellt dabei fest,

„dass es den Grazer nicht gibt“, sondern nur Steirer und Kärntner. (Vgl. Friedrich Achleitner: Graz ohne Grazer. In: Graz von aussen. Hrsg. von Alfred Kolleritsch, Klaus Hoffer. Graz/Wien: Droschl 2003, S. 26-28, hier S. 28.)

16 Beide direkten Zitate: Th. H.: Ent-„Artmänner“ in der Sezession. In: Kleine Zeitung (Graz) vom 18.12.1959, S. 9. Leider ist es bisher nicht gelungen, die Initialen aufzulösen, eine Anfrage bei der Kleinen Zeitung blieb unbeantwortet. Achleitner bezieht sich in seinem Text im Band Graz von aussen sogar explizit darauf: „Lesungen als ‚entartmänner‘, Kulturkampfstimmung, der Saal als feindliches Territorium.“ (Vgl. Ach-leitner: Graz ohne Grazer, wie Anm. 15, S. 26.)

17 Friedrich Achleitner stand nicht nur über die Literatur in Kontakt mit dem Forum Stadtpark: Er prägte ebenso den Begriff der ‚Grazer Schule‘, auf Basis dessen Ernst Giselbrecht und Eilfried Huth 1984 die Aus-stellung „Architektur-Investitionen: Grazer ‚Schule‘. 13 Standpunkte“ organisierten. (Vgl. Christine Rigler: architektur. In: forum stadtpark, wie Anm. 10, S. 45-64, hier S. 55f.) Die sog. Grazer Schule reicht „von Günther Domenig und Eilfried Huth bis zu Karla Kowalski und Michael Szyszkowitz.“ (Friedrich Achleit-ner: Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert. Ein Führer in drei Bänden. Bd. 2. Kärnten, Steiermark, Burgenland. Salzburg/Wien: Residenz 1983, S. 342.) Siehe dazu außerdem: Friedrich Achleitner: Gibt es eine

„Grazer Schule“? In: F. A.: Region, ein Konstrukt? Regionalismus, eine Pleite? Basel/Boston/Berlin: Birkhäuser

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Anhaltendes Aufsehen erregte die Publikation von Oswald Wieners die ver-besserung von mitteleuropa in den Heften 13 (1965) bis 25 (1969). Die breite Ablehnung dieser Art von Literatur zwang Kolleritsch, so Wendelin Schmidt-Dengler, „zu einer apologetischen Haltung, die immer in die Attacke über-ging“18. Die strikte Ablehnung einer ausformulierten Programmatik brachte Kolleritsch oft den Vorwurf der Konzept- und Theorielosigkeit ein, dabei waren es gerade die avantgardistisch anmutenden Texte, die als wirksames Mittel in der Auseinandersetzung mit dem Grazer Provinzialismus erprobt waren.19 Alfred Kolleritsch publizierte vermehrt Konkrete Poesie, da er um ihr Konfrontationspotential wusste und dieses gezielt nutzte, um einen Traditions-bruch herbeizuführen. Das Resultat war, dass auch die Grazer Autorinnen und Autoren heute der Avantgarde zugerechnet werden.20 Die Verbindung der Grazer Avantgarde der 1960er zur Wiener Avantgarde der 1950er und

-60er Jahre ist offenkundig, nicht umsonst spricht Schmidt-Dengler davon, dass die Grazer Literatur mit Kompetenz das Erbe der Wiener Avantgarde verwaltete.21 Also lässt sich für die 1960er durchaus behaupten: „Graz seemed, having outdistanced Vienna, bent on gingering up the entire German-spea-king literary scene.“22 Die AutorInnen der manuskripte waren Kurt Bartsch zufolge eng mit der historischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts verbunden – so würden sie direkt über Texte von Dadaisten wie Raoul Haus-mann, indirekt über die Wiener Gruppe und generell „mit einem deutlichen Differenzbewußtsein und mit der Öffnung für experimentelle Literatur und Konkrete Poesie in den eigenen literarischen Versuchen“23 daran anschließen. Die Avantgarde in Wien zeichnete sich nach Ernst Fischer und Georg Jäger durch das Außer-Kraft-Setzen der Selbstverständlichkeit der herrschenden

1997, S. 79-99. Was bleibt von der „Grazer Schule“? Architektur-Utopien seit den 1960ern revisited. Hrsg. von Anselm Wagner, Antje Senarclens de Grancy. Berlin: Jovis 2012. (= architektur + analyse. 1.)

18 Schmidt-Dengler: Eine Avantgarde aus Graz (wie Anm. 5), S. 9.

19 Vgl. Gerhard Melzer: Die Verlegenheitsgruppe. Zur Geschichte der „Grazer“ Literatur. In: Trans-Garde (wie Anm. 13), S. 22-30, hier S. 26.

20 Vgl. Schmidt-Dengler: Eine Avantgarde aus Graz (wie Anm. 5), S. 14.

21 Vgl. Schmidt-Dengler: Bruchlinien (wie Anm. 4), S. 195.

22 Rorrison: The ‚Grazer Gruppe‘, Peter Handke and Wolfgang Bauer (wie Anm. 7), S. 252.

23 Kurt Bartsch: Das Forum Stadtpark Graz und seine Zeitschrift „manuskripte“ in den 1960er Jahren: Eine Avantgarde? In: Trans-Garde (wie Anm. 13), S. 9-21, hier S. 12.

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Lese-, Schrift- und Buchkultur, durch das Nutzen von öffentlichen Veran-staltungen und damit verbundenen Interaktionen sowie durch Irritation und Radikalität aus.24 Dazu gehört u. a. auch das Ablehnen der orthographischen Konventionen, was gleichsam eine Abkehr von dem in den 50er Jahren vor-herrschenden Lebensstil, der nach der unsteten Kriegszeit auf Sicherheit, Berechenbarkeit, Ordnung und Restauration ausgerichtet war, symbolisiert. Dies reiht sich nahtlos in die weiteren Charakteristika der Avantgarde ein, zu denen Rudolf Neuhäuser neben anderen das Ablehnen des etablierten lite-rarischen Kanons, den Protest gegen vorherrschende Wertvorstellungen, die Ästhetisierung außerliterarischer Elemente und die Formierung von Gruppen zählt.25 Auch Peter Bürger verweist in seiner Theorie der Avantgarde (1974) vor allem darauf, dass die Avantgarde keinen Stil entwickelt, sondern mit dem Prinzip des Schocks, der Verfremdung, Provokation und Subversion arbeitet.26

Ein halbes Jahrhundert, eine Handvoll Texte – Achleitners Beiträge für die manuskripte

Dies trifft zweifelsohne auch auf die (frühen) Texte Friedrich Achleitners zu. Diese sind oftmals nicht eindeutig einer bestimmten Gattung zuzuordnen, Irritation, Experiment, Brechung, Reduzierung und Montage der sprachlichen Normen stehen am Programm. Durch die Verwendung von Sprache als ‚Mate-rial‘, ihre Zerlegung in einzelne Elemente und nicht mehr zusammengehörige Teile, wird in avantgardistischen Texten ein vorsprachlicher, beinah bedeu-tungsfreier Zustand erzeugt, womit Interpretationsversuche der Lesenden so vieldeutig sind, dass sie oftmals ins Leere zu gehen scheinen.27 Die Texte

24 Vgl. Ernst Fischer, Georg Jäger: Von der Wiener Gruppe zum Wiener Aktionismus – Problemfelder zur Erforschung der Wiener Avantgarde zwischen 1950 und 1970. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880–1980). Eine Dokumentation ihrer literarhistorischen Ent-wicklung. Hrsg. von Herbert Zeman. Bd. 1. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1989, S. 617-683, hier S. 683.

25 Vgl. Rudolf Neuhäuser: „Avantgarde“ und „Avantgardismus“. Zur Problematik von Epochenschwellen und Epochenstrukturen. In: Europäische Avantgarde. Hrsg. von Peter V. Zima, Johann Strutz. Frankfurt a. M. [u. a.]: Peter Lang 1987, S. 21-32, hier S. 23.

26 Vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Göttingen: Wallstein 2017, S. 136.

27 Vgl. Gerhard Fuchs: Avantgardismus in den fünfziger Jahren: die Wiener Gruppe. In: „Abgelegte Zeit“? Öster-reichische Literatur der fünfziger Jahre. Beiträge zum 9. Polnisch-Österreichischen Germanistenkolloquium Łódź 1990. Hrsg. von Hubert Lengauer. Wien: Zirkular 1992. (= Zirkular Sondernummer. 28.) S. 165-181, hier S. 173f.

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präsentieren sich als Kunstwerk, als Artefakt, als Montage. Nicht zufällig bezeichnet Bürger Letztere als die grundlegendste Verfahrensweise avant-gardistischer Kunst, bei der ein aus ‚Realitätsfragmenten‘ zusammengesetztes Werk entsteht, das den „Schein von Totalität“28 durchbricht. Gebrauchstexte wie Wörterbücher, Zeitungen oder Sprachfibeln werden als Grundlage ver-wendet, alltagsnahe Sprachformen werden zum Spielball der AutorInnen, die nicht mehr als schöpferische Genies, sondern als ProfessionistInnen des Profanen tätig sind. Diese maschinell hergestellt anmutenden Adaptionen eines Ausgangstextes sorgen für einen artifiziellen Effekt, der wiederum alt-hergebrachte Konnotations- und Interpretationsmuster stört und der Bildung von Neologismen und Assoziationssprüngen Vorschub leistet.29 Auch der Achleitner’sche Sprach- und Schreibstil dieser Jahre ist von pragmatischer und syntaktischer Reduktion, der Montage von Sprache als Material geprägt, das heißt, in seinen Texten werden ebenso Textbausteine aus Wörterbüchern, Lehrbüchern o. Ä. herangezogen, drastisch gekürzt und zu Sätzen montiert, die den Duktus einer Aufzählung haben, außerdem werden Attribute und Nomina miteinander verkettet; die Verwendung des Dialekts aufgrund der ihm inhärenten Ambiguität, Klanglichkeit, Rhythmik und fehlenden schrift-lichen Regulation zeugt weiters von einem innovativen Charakter.30 Die Ver-tauschung von Signifikat und Signifikant, die Verdichtung phonetisch und graphisch ähnlicher bzw. identer sowie polysemer und homonymer Wörter, die Verwendung der Wortwiederholung zur Erschwerung des Verstehens sind wesentliche Merkmale, ebenso wie das Gleichsetzen von Klang und

28 Bürger: Theorie der Avantgarde (wie Anm. 26), S. 95.

29 Vgl. Fuchs: Avantgardismus in den fünfziger Jahren (wie Anm. 27), S. 174.

30 Siehe dazu Iris Kraßnitzer: Welt aus Sprache. Sprachreflexion in Friedrich Achleitners Kurzprosa. Wien, Univ., Dipl.-Arb. 2011, S. 31-34; Klaus Zeyringer: Österreichische Literatur 1945–1998. Überblicke, Einschnit-te, Wegmarken. Innsbruck: Haymon 1999, S. 331f.; Fischer, Jäger: Von der Wiener Gruppe zum Wiener Aktio-nismus (wie Anm. 24), S. 629. Hier muss hervorgehoben werden, dass Achleitner im Gegensatz zu Artmann und Rühm nicht vom Wiener, sondern vom Innviertler Dialekt Gebrauch machte, der „eine trocken struktu-rierte Sprache [ist], in erster Linie mit einer Arbeitswelt verbunden, im persönlichen Umgang aber suggestiv, weder sich in blumigen noch logischen Sätzen artikulierend, eher behauptend, sich rhythmisch wiederholend, überredend, ja bedrängend statt argumentierend“, und „eine vielfalt von gestaltungsmöglichkeiten“ aufweist. (Friedrich Achleitner: iwahaubbd. Wien: Zsolnay 2011, S. 204; Friedrich Achleitner, H. C. Artmann, Gerhard Rühm: hosn rosn baa. Wien: Frick 1959, S. 141.) Der Dialekt spielt in Achleitners Œuvre eine wesentliche Rolle, dieser Aspekt seines Schaffens muss hier jedoch unterbelichtet bleiben, da er keinen Dialekt-Beitrag in den manuskripten veröffentlicht hat.

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Bedeutung.31 Reinhard Priessnitz hebt hervor, dass „der konstruktive aspekt als charakteristikum für viele seiner texte offenkundig“32 ist. Insgesamt hat Achleitner zwar nur drei Mal in den manuskripten publiziert33 – 1961, 1964 und 2013 –, doch gerade sein erster Beitrag für die Zeitschrift hatte weitrei-chende Konsequenzen.

1961 – Ein über(k)lebter Eklat

Während im ersten Heft der manuskripte lediglich Texte lokaler Autorinnen und Autoren aus dem persönlichen Umfeld der beiden Herausgeber Alois Hergouth und Alfred Kolleritsch, wie Otto Eggenreich, Ingomar Hartner, Gerhard Höller, Franz Schwarz oder Herbert Zinkl, veröffentlicht wurden,34 kamen in Heft 2 Texte der Wiener Gruppe (mit Ausnahme von Oswald Wie-ner) und von Andreas Okopenko zum Abdruck, die in der Bundeshauptstadt wenig Aussicht auf Publikation hatten. Die zweite Nummer wurde von Kol-leritsch allein herausgegeben und sollte für die weiteren Geschicke und die Ausrichtung der Zeitschrift wegweisend sein.

Kolleritsch ging es einerseits darum, Kontakte nach ‚außen‘ zu etablieren, andererseits wollte er die aktuellen Strömungen der Gegenwartsliteratur er-gründen. Neben den Texten von Okopenko und der Wiener Gruppe be-inhaltete das zweite Heft einen einleitenden Essay von Georg Jánoska wie auch Gedichte von El-Khadem Saad, einem Ägypter, der in Graz Germanistik studierte – seine Lyrik sprach Kolleritsch wegen ihrer formalen Nähe zu Texten

31 Vgl. dazu Kraßnitzer: Welt aus Sprache (wie Anm. 30), S. 51-82; Reinhard Priessnitz: Friedrich Achleitner. In: R. P.: literatur, gesellschaft etc. aufsätze. Bd. 3/2. Hrsg. von Ferdinand Schmatz. Graz/Wien: Droschl 1993. (= edition neue texte.) S. 14-17; Roland Innerhofer: Stimm-Bruch: Akustische Inszenierungen der Wiener Gruppe. In: verschiedene sätze treten auf. Die Wiener Gruppe in Aktion. Hrsg. von Thomas Eder, Juliane Vogel: Wien: Zsolnay 2008. (= Profile. 8.) S. 99-118, hier S. 99-105; Kurt Adel: Die Literatur Österreichs an der Jahrtausendwende. 2., überarb. u. erg. Aufl. Frankfurt a. M.: Peter Lang 2003, S. 26f.

32 Priessnitz: Friedrich Achleitner (wie Anm. 31), S. 14.

33 Darüber hinaus hat er unter anderem an folgenden Veranstaltungen im Forum Stadtpark teilgenommen: 13.11.1965: Autorenlesung; 07.12.1972: Lesung (‚Literatur im Keller 2‘); 27.1.1978: Wienfilm 1896–1976 (UA 1977; R: Ernst Schmidt jun.; mit Beiträgen von Achleitner, Artmann, Chaplin, Dollfuß, Valie Export, Freud, Göring, Hitler, Jandl, Mayröcker, Mühl, Rainer, Schuschnigg, Weibel u. a.;) 18.12.1991: Lesung. (Vgl. Christine Rigler: veranstaltungen. In: forum stadtpark, wie Anm. 10, S. 171-303, hier S. 234, 238, 205, 253.)

34 Nach Wiesmayr umfassten die Texte die Bandbreite „von konventioneller Naturlyrik über surrealistisch beeinflußte Metaphorik zu an Trakl erinnernde [sic] Chiffren in Gedichten existentialistischer Prägung.“ (Wiesmayr: Die Zeitschrift „manuskripte“ 1960–1970, wie Anm. 6, S. 5.)

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Friedrich Achleitners Beitrag im Heft 2 der manuskripte (1961)

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der Konkreten Poesie an –, und von Conny Hannes Meyer, einem Wiener Regisseur. Das Heft hat all jene provozieren, die sich idyllische Lyrik von dieser Ausgabe versprochen hatten, obwohl keinerlei politische, aktivistische Texte publiziert worden waren, sondern eben Konkrete Poesie, wodurch wie so häufig ein rein künstlerisches Erzeugnis zum Zankapfel avancierte.35

Zur Finanzierung des Hefts hatte sich der Steirische Raiffeisenverband bereiterklärt, der Papier, Matrizen und eine Abziehmaschine zur Verfügung stellte. Die Subvention sollte allerdings ein singuläres Unterfangen bleiben, nach Lektüre des Heftes ordnete der Geschäftsleiter der Raiffeisenbank an, die Nennung des Geldgebers auf der letzten Seite zu überkleben.36 Am Heft 2, das sich im Redaktionsarchiv der manuskripte in der Sackstraße in Graz be-findet, ist noch deutlich der rechteckige Abdruck einer (wieder entfernten) Überklebung erkennbar.37 Alfred Kolleritsch meinte in Retrospektive dazu:

Die zweite Nummer der „manuskripte“ wurde von einer steirischen Spar-kasse finanziert. Sie gab das Papier, die Matrizen und ließ die Zeitschrift hektographieren. Dankbar wurde der edlen Spender gedacht und ihre Groß-zügigkeit auf der letzten Seite des Heftes erwähnt. Als aber der Direktor der Sparkasse die Gedichte und Texte las, schlug er Krach, und die Herausgeber mußten unter einem Klebestreifen die Widmung verschwinden lassen. Die Zensur hatte eingesetzt, die Fronten zeichneten sich ab.38

Stein des Anstoßes waren unter anderem die Texte Achleitners.39 Dieser hatte rot bereits 1956 verfasst, tau ein Jahr später. Nach der Erstpublikation in den manuskripten erschienen die beiden Gedichte u. a. im weithin bekannten Wie-

35 Vgl. Mixner: Ausbruch aus der Provinz (wie Anm. 8), S. 17.

36 Vgl. Wiesmayr: Die Zeitschrift „manuskripte“ 1960–1970 (wie Anm. 6), S. 6.

37 Besten Dank an Andreas Unterweger, der mir diese Ausgabe des Heftes gezeigt hat.

38 Alfred Kolleritsch, zit. n. Mixner: Ausbruch aus der Provinz (wie Anm. 8), S. 17. Kursivsetzung im Original.

39 Vgl. dazu Wiesmayr: Die Zeitschrift „manuskripte“ 1960–1970 (wie Anm. 6), S. 5f.; Rigler: literatur (wie Anm. 10), S. 99f.; Mixner: Ausbruch aus der Provinz (wie Anm. 8), S. 17. Faktisch belegen lässt sich die These, dass Achleitners Texte (der alleinige) Grund für den Entzug der Förderung waren, allerdings nicht, da sich hierfür keine Quellen oder Belege finden ließen.

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ner-Gruppe-Band von Gerhard Rühm40 (1967) sowie in prosa, konstellationen, montagen. dialektgedichte, studien (1970)41, einem Sammelband nahezu aller bis dahin verfassten Texte Achleitners.

Die Missbilligung der beiden Gedichte basierte ausschließlich auf deren moderner Form, nicht auf deren potentieller politischer Brisanz. Dennoch hielt Kolleritsch fest, „daß konkrete Gedichte in Österreich ein politischer Akt seien“42, denn

[d]ie soziologische Struktur Österreichs bedingt, daß ästhetische Phäno-mene scharfe Reaktionen hervorrufen, vielleicht deshalb, weil der öster-reichische Überbau selbst etwas mit ästhetischen Phänomenen zu tun hat (deshalb die Anfälligkeit für faschistische Weltanschauungen).43

Die Konkrete Poesie hat sich aus der bildenden Kunst heraus entwickelt, sie bedient sich mathematischer Verfahrensweisen und erstellt sogenannte Kons-tellationen aus Wörtern. Semantische wie auch grammatische Normen werden ausgehebelt, Wörter, Onomatopöien und einzelne Konsonanten oder Vokale neu und verfremdet kombiniert, wodurch erneut die Form mehr Gewichtung als der Inhalt erhält.44 Nicht zu vernachlässigen ist der hohe Stellenwert der Sensualität der Sprache, ihre akustische und visuelle Wirkung kommt stärker zum Tragen als ihre semantische Komponente.

40 Die Wiener Gruppe. Hrsg. von Gerhard Rühm. 2. Aufl. Reinbek b. H.: Rowohlt 1985. rot ist mit vier weite-ren Texten unter der Überschrift „4 konstellationen“ zusammengefasst (vgl. S. 39).

41 Friedrich Achleitner: prosa, konstellationen, montagen. dialektgedichte, studien. Reinbek b. H.: Rowohlt 1970. rot und tau sind auch hier unter der Überschrift „konstellationen“ angeführt (vgl. S. 48 und 50).

42 Alfred Kolleritsch: Vorwort. In: manuskripte 1960–1980. Eine Auswahl. Hrsg. von A. K., Sissi Tax. Basel: Stroemfeld/Frankfurt a. M.: Roter Stern 1980, S. 7-10, hier S. 9f.

43 Ebd.

44 Vgl. dazu Eugen Gomringer: vom vers zur konstellation, konkrete dichtung, vom gedicht zum gedicht-buch, definitionen zur visuellen poesie. In: konkrete poesie: deutschsprachige autoren. anthologie. Hrsg. von E. G. Stuttgart: Reclam 2001. (= Universal-Bibliothek. 9350 [2].) S. 155-166, hier S. 157; Harald Hartung: Experimentelle Literatur und konkrete Poesie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975, S. 39; Clemens K. Stepina: Zum Paradigma der Repräsentationskrise in der Experimentellen Literatur: Ein Methodendiskurs zur negativen Form Konkreter Poesie in der „Wiener Gruppe“. In: New German Review. A Journal of Germanic Studies 13 (1997/1998), S. 67-97, hier S. 69; Michael Backes: Experimentelle Semiotik in Literaturavantgarden. Über die Wiener Gruppe mit Bezug auf die Konkrete Poesie. München: Wilhelm Fink 2001. (= Das Problem-potential der Nachkriegsavantgarden – Grenzgänge in Literatur, Kunst und Medien. 1.) S. 103-132.

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Ganz streng genommen sind rot und tau allerdings nicht der Konkreten Po-esie bzw. ihrer Unterkategorie der visuellen Poesie zuzuordnen, sondern es handelt sich um Konstellationen, wobei die Gattungsgrenzen immer wieder verschwimmen. Konstellationen streben an, „durch, sei es jetzt hinzusetzung einer anderen einheit oder durch anordnung ersterer auf der seitenfläche selbst, optimal aus dieser kollision das neu entwickelte zusammentreffen zu demons-trieren.“45 Hierbei spielen insbesondere Elemente aus der Rhythmik, Semantik und Visualität oder auch eine Kombination daraus eine entscheidende Rolle. Kennzeichnend ist weiters, dass sie mit einzelnen Wörtern und isolierten Be-griffen arbeiten.46 Durch deren Aneinanderreihung entstehen Interferenzen, die aufgrund ihrer Form Assoziationen und neue Bedeutungsfelder eröffnen. Diese bilden in weiterer Folge kleine Geschichten oder Anekdoten, womit Konstellationen multidimensionale Sprach- und Imaginationskonstrukte in der Verkürzung verdichtet darstellen. Gerade Achleitners Texte wirken auch trotz eines sehr hohen Grades an konstruktivistischer Bearbeitung noch leicht und zwanglos:

Es scheint tatsächlich die Freiheit von ökonomischer Verwertungsnot-wendigkeit zu sein, die dem „poetischen act“ seine Spontaneität lässt und der Reduktion jene Zeit, die notwendig ist, um das Komplexe aus der Dis-kursivität zu lösen und den je einmaligen ästhetischen Erkenntnisakt auf den Augenblick zu konzentrieren, der dann eine konkrete Gestalt findet.47

Rhythmik und Phonetik rücken in Achleitners Texten besonders in den Fokus, Repetitionen kurbeln gewissermaßen die Imagination an und be-fördern die Assoziationsbildung, die abermals neue Konnexe herstellt, das Spiel mit der Semantik ist offenkundig. Wird beispielsweise ein einzelnes Wort separiert, drängen sich den Lesenden förmlich dessen verschiedene

45 Priessnitz: Friedrich Achleitner (wie Anm. 31), S. 15.

46 Siehe dazu auch Robert Leucht: Die Übersetzung als fortgeführtes Sprachexperiment. Ansätze zu einer anderen Metasprache für das Übersetzen (Friedrich Achleitner, Ernst Jandl, Georges Perec, Walter Abish). In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7 (2016), S. 11-31, hier S. 12.

47 Manfred Mixner, Christoph Schmitt-Maaß: Friedrich Achleitner. In: nachschlage.NET/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. URL: http://nachschlage.NET/document/16000000001 Aufgerufen am: 02.06.2020.

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Bedeutungsmöglichkeiten auf und die Suche nach Kontext beginnt,48 so ins-besondere bei rot. Ein in der Sekundärliteratur vorgeschlagener Interpreta-tionsansatz ist, dass damit die erklecklichen Varianten der Farbe Rot aufgezeigt würden.49 Darüber hinaus kann die Assoziation mit dem überkommenen Ausspruch „Heute roth, morgen todt“ hervorgerufen werden – die dem Me-mento-mori-Gedanken gemäße Paarung Leben/Tod wird substituiert durch die affirmative Dualität Leben/Leben.50 Eine Anspielung auf die österreichische Flagge mit impliziter Kritik am ‚Rot-weiß-rot-Patriotismus‘ lässt sich ebenso herauslesen wie ein Bezug zur politischen Farbenlehre. Vielleicht hat sich der Geschäftsleiter der eher ‚schwarzen‘ Raiffeisenbank über die insistierende Nen-nung des Wortes rot echauffiert, dessen parteipolitischem Pendant der Text – in diesem Sinne weitergedacht – einerseits die Vorrangstellung zuzubilligen und andererseits durch den feedbackschleifenartig dysfunktionalen sprach-lichen Substitutionsvorgang eine Alternativlosigkeit zu attestieren scheint, die gerade angesichts der damaligen realpolitischen Verhältnisse im Land einiges Provokationspotential bergen musste. So ließ die denkbar knappe Nationalratswahl im Jahr 1959 (0,6 % Vorsprung für die SPÖ) parteiintern Krisenstimmung aufkommen. Die ÖVP erhielt zwar weniger Stimmen als die SPÖ, jedoch ein Mandat mehr und stellte mit Julius Raab letztlich den Kanzler. Die SPÖ nutzte für diesen Wahlkampf erstmals das Sujet der ‚Nationalfarben‘, das auch in weiteren Wahlkämpfen zum Einsatz kam.51

Ähnlich ambig wie rot ist auch tau. Das Bedeutungsspektrum erweitert sich durch Hinzufügen eines bzw. zweier Buchstaben (-b bzw. -be), die völ-lig andere Sinnhorizonte offenbaren.52 Dies führt neuerlich die Willkür der

48 Vgl. Christina Weiss: „Zu empfehlen ist ein gelenkiges Ohr ...“ In: Radio-Kultur und Hör-Kunst. Zwi-schen Avantgarde und Popularkunst 1923–2001. Hrsg. von Andreas Stuhlmann. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 260-267, hier S. 264.

49 Vgl. Hermann Korte: Deutschsprachige Lyrik seit 1945. 2., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler 2004, S. 77.

50 Die Herabwürdigung des Lebens gegenüber dem Elysium, die besonders im Barock gepflegt wurde, wird in der Avantgarde dezidiert abgelehnt. Diese ist explizit welt- und lebensbejahend, wenngleich parallel dazu Sorge vor Überhandnahme der Technisierung und vor Gesellschaftsordnungen, die die Rechte und den Handlungsspielraum des Individuums beschneiden, zum Ausdruck gebracht wird. (Vgl. Bürger: Theorie der Avantgarde, wie Anm. 26, S. 95.)

51 Dieter Anton Binder: Zur Funktion des Dollfuß-Bildes in der sozialdemokratischen Propaganda. In: Christliche Demokratie 10 (1993), S. 47-57.

52 Für eine ausführlichere Interpretation dieser Konstellation vgl. Verena Maria Weigl: „na wos ge / ge wos

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Bedeutungszuschreibung einzelner Wörter vor Augen. Ein möglicher Inter-pretationsansatz ist z. B. die Kommunikation eines Stummen oder Stotterers mit einer Tauben, die wellenförmige Anordnung des Textes evoziert zudem Assoziationen mit fallenden Regentropfen. Achleitner spielt mit Alliteration und Wiederholung des Wortstamms, was für Rekurrenz sorgt. Bewusst werden paronomastische Relationen hergestellt und vielfältige Polysemien bedient (tau: Seil, Morgentau; taub: stumpf, gehörlos; taube: Vogel, Gehörlose usw.).

Beide Konstellationen weisen einen sehr geringen unmittelbaren Infor-mationswert auf, der Fokus des Autors und der Lesenden ist primär auf die formelle Gestaltung gerichtet – auf Reihen, die nicht abgeschlossen wirken und somit auch eine schier unendliche Bedeutungs- und Interpretationsfülle suggerieren. Sowohl das Syntagma als auch das je einzelne Paradigma gilt es zu interpretieren; diese bilden gleichzeitig ein dialektisches Gefüge, das mittels hermeneutischen Zirkels beim Lesen entschlüsselt werden will.53

1964 – Des Literaten a. D., Architekturkritikers in spe gute suppe wird aufgewärmt

Achleitners (rein) poetisches Schaffen fand 1961 vorerst ein Ende und er ver-fasste zunächst für die Abendzeitung, ab 1962 für Die Presse wöchentliche Architekturkritiken.54 Neben diversen Lehraufträgen und einer Professur an der Universität für angewandte Kunst in Wien arbeitete er seit 1965 an seinem wegweisenden sogenannten Architekturführer, der von 1980–2010 in ins-gesamt fünf Einzelbänden (I: Oberösterreich, Salzburg, Tirol, Vorarlberg; II: Kärnten, Steiermark, Burgenland; III: Wien in drei Bänden) erschienen ist.55

na“. Die Konkrete Dichtung und Dialektdichtung der Wiener Gruppe aus sprachwissenschaftlicher Sicht. Wien, Univ., Dipl.-Arb. 2010, S. 37-40.

53 Siehe dazu auch Bürger: Theorie der Avantgarde (wie Anm. 26), S. 103.

54 Peter Weibel: die wiener gruppe / the vienna group. a moment of modernity 1954–1960 / the visual works and the actions. friedrich achleitner, h. c. artmann, konrad bayer, gerhard rühm, oswald wiener. katalog zur österreichischen ausstellung im rahmen der biennale von venedig 1997. Wien/New York: Springer 1997, S. 712.

55 Vgl. dazu Friedrich Achleitner: Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert: Ein Führer in drei [ab Bd. III/1: in vier] Bänden. Hrsg. vom Museum moderner Kunst Wien. Bd. I–III. Salzburg: Residenz 1980–2010. Von der Fertigstellung des Niederösterreich-Bandes musste Achleitner aufgrund der Fülle des Materials und seines fortgeschrittenen Alters bereits zu Lebzeiten abrücken.

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Im zehnten Heft der manuskripte (1964) ist, neben Ilse Aichinger, H. C. Art-mann, Konrad Bayer, Heimito von Doderer, Gunter Falk, Ernst Jandl, Raoul Hausmann, Andreas Okopenko, Gerhard Rühm und vielen weiteren hoch-karätigen Proponenten des damaligen Literaturbetriebs, Achleitner dennoch wieder vertreten: mit dem Beitrag die gute suppe. Alfred Kolleritsch betont in der Marginalie dieser Nummer, dass sie „der neuen österreichischen Li-teratur vorbehalten“56 sei, die seinem Verständnis nach dezidiert Texte von AutorInnen unterschiedlicher Generationen einschloss. Wichtig war ihm die strikte Abgrenzung von Heimattümelei und Österreichertum: „Wesentlicher als austriazensische Selbstbespiegelung ist der Ausdruck der Gemeinsamkeit mit anderen, der Abbau des österreichischen Mißtrauens ist wichtiger als die Reserve gegenüber jedweder Modernität […].“57 So ist auch diese Ausgabe der manuskripte als ein Zeitzeugnis in der Auseinandersetzung zwischen den reaktionären, faschistoiden Kräften und den mehrheitlich jungen, avantgardis-tischen VorkämpferInnen für eine (welt-)offene, zeitgemäße Literatur zu sehen.

Verfasst hat Achleitner den Prosatext die gute suppe bereits im Juni 1958,58 als Materialgrundlage diente ihm dafür das Deutschlehrbuch für Amerikaner- Innen German Through Pictures.59 Für Oswald Wiener handelt es sich bei der guten suppe gar um „eines der stärksten werke der wiener gruppe überhaupt.“60 Auch Klaus Kastberger hält den Text, neben Achleitners quadratroman, für besonders prägnant,61 weil von der Lektüre – nicht zuletzt durch die Wahl des Quellenmaterials – auch all jene profitieren können, die nicht perfekt Deutsch

56 A[lfred] K[olleritsch]: Marginalie. In: manuskripte 4 (1964), H. 10, S. 1.

57 Ebd.

58 die gute suppe erschien in: Achleitner: prosa, konstellationen, montagen. dialektgedichte, studien (wie Anm. 41), S. 193-204 (unter „prosa“) und Rühm: Die Wiener Gruppe (wie Anm. 40), S. 62-65.

59 German Through Pictures. 6. Aufl. Hrsg. von Ivor Armstrong Richards [u. a.]. New York: Pocket Books 1956.

60 Oswald Wiener: das ‚literarische cabaret‘ der wiener gruppe. In: Die Wiener Gruppe (wie Anm. 40), S. 401-418, hier S. 407.

61 Vgl. Klaus Kastberger: Friedrich Achleitner. In: Stichwörter zur oberösterreichischen Literatur- geschichte. Hrsg. von Petra-Maria Dallinger [u. a.]. Linz: StifterHaus 2015. URL: https://stifterhaus.at/index.php?id=167&no_cache=1&tx_news_pi1%5Bnews%5D=2233&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=5101d1f4ff8a9b25b693b1081107e75f Aufgerufen am: 17.06.2020.

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sprechen, da durch die spezifische Sprachverwendung ein völlig neuer Be-deutungshorizont bereitsteht.62

Konkrete Poesie und experimentelle Prosa werden oft zusammengefasst, ihnen ist gemein, dass sie die aktuelle Lebenswelt thematisieren, dabei allerdings kei-ne Semantik herstellen, sondern diese durch Bearbeitung und Abänderung der grundlegenden Sprachformen unserer Kommunikation kritisch hinterfragen.63 Das Verwerten beliebigen vorgefundenen Sprachmaterials durch den Autor be-wirkt bei der guten suppe eine doppelte Verfremdung, die wiederum den ‚Gegen-stand‘ Sprache ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Die exakte Beschreibung im Text wirkt bizarr, die Satzfolge bestimmt die Handlung und nicht die Handlung die Abfolge der Sätze, was abermals für einen Verfremdungseffekt sorgt, durch den dem Wortsinn nachspürende Lesende keine Entsprechung in ihren durch Sprache gesteuerten Handlungen auf dem Feld des kommunikativen Austauschs mehr finden.64 Die Beschreibung eines basalen Kochvorgangs zeigt durch den Gebrauch der Deutschfibel die Simplizität von Vokabular und Syntax nicht nur im Bereich des Spracherwerbs, sondern der Sprache generell. Der Text führt nach Oswald Wiener vor Augen, wie lächerlich eine Beschreibung im Angesicht eines Ereignisses, einer Handlung ist.65 Wenn es um die Darstellung bzw. Beschreibung der Wirklichkeit geht, ist Sprache ein völlig inadäquates Mittel – die Schilderung wird nicht von ‚frau kreil‘, die in der Küche die Suppe zubereitet, vorgegeben, sondern vom Vorrat an Sprache, an Gedanken und (musterartigen) Sätzen. „Wie in der Sprachlehre sind diesen Mustern parallel gefügte Beispiele zugeordnet, sie schließen sich an den Inhalt des vorhergehenden Satzes an und erzeugen eine Beschreibungs-Ordnung“66, die ihre Unzulänglichkeit nicht verbergen kann.

62 Vgl. Klaus Kastberger: Vorbereitungen für eine Einrichtung. Für Friedrich Achleitner zum 80igsten [sic] Geburtstag. In: Der Hammer 47 (2001), S. 2-5, hier S. 3.

63 Vgl. hierzu beispielsweise: Hartung: Experimentelle Literatur und konkrete Poesie (wie Anm. 44), insb. S. 39-83; Klaus Hohmann: 2. Kapitel: Der historische Hintergrund und die Innovationen der experimentellen Literatur. In: Experimentelle Prosa. Eine neue Literatur des Sprachexperiments. Texte und Einführung für den Deutschunterricht. Hrsg. von K. H. Paderborn: Schöningh 1974, S. 72-87.

64 Vgl. Klaus Hohmann: e) Friedrich Achleitner. In: Experimentelle Prosa (wie Anm. 63), S. 122f.

65 Vgl. Wiener: das ‚literarische cabaret‘ der wiener gruppe (wie Anm. 60), S. 408.

66 Alfred Doppler: Die literarischen Verfahrensweisen der „Wiener Gruppe“. In: Thematisierung der Sprache in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Beiträge eines polnisch-österreichischen Germanisten-symposiums. Hrsg. von Michael Klein, Sigurd Paul Scheichl. Innsbruck: AMŒ 1982. (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe. 7.) S. 113-134, hier S. 125.

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9herr kreil hat ein stück mageren käse zwischen seinen verbundenen fingern. er wirft das stück mageren käse in den breiten mund. jetzt hat er das stück mageren käse zwischen den echten zähnen. der magere käse ist nicht weich. herrn kreils echte zähne gehen nicht durch. frau kreil warf inzwischen die jungen kartoffeln, die weiße milch und die anderen notwendigen dinge in den violetten topf. die lustige flamme ist sehr klein. dieses finstere gebäude ist sehr groß. jedoch dieses finstere gebäude ist auch sehr klein.67

Die Sprache im Text wirkt zunächst unverdächtig, ja harmlos – Ereignisse, die angekündigt werden, treffen ein, es wird eine Ordnung in der ‚realen‘ Welt sugge-riert, die auch sprachlich abgebildet werden kann. Die präzise Ausgestaltung des zehnteiligen Texts manifestiert sich bei genauerer Betrachtung als brüchig und fraglich – das Vokabular ist denn doch zu begrenzt oder einfach nicht ausreichend (es werden z. B. ausschließlich die Verben sein, haben, werfen, nehmen, machen, liegen, kommen, hängen, schreien und gehen verwendet). Auffällig ist zunächst die artifiziell anmutende Beiordnung von Attributen zu den Nomina. Die kleinen Tranchen einzelner Sätze in Erzählform sind Sprachspiele, deren Gestaltung zwar den Konventionen der Grammatik folgt, nicht jedoch denen der Pragmatik. Sie sind weder absurd noch symbolisch-surreal – der Text verfügt gerade noch über so viel Realitätsbezug, dass durch das Arrangement der Sätze Sprachwitz entsteht. Auch hier verdeutlicht Achleitner geistreich, wie beliebig die Benennung von Din-gen, Handlungen oder Emotionen ist, wodurch sich die tautologische Organisation der Sprache freilegt, die der Autor im letzten Satz pointiert: „die gute suppe ist gut.“68 Die Beschreibung schrammt an der Wirklichkeit vorbei und kann diese nicht fassen, was illustriert, wie gering die performative Funktion der Sprache im Grunde ist.69 Für Thomas Eder kann man „Sprachtheorie und zugleich deren Aushebelung, ergänzt um ästhetisches Vergnügen“70, nicht besser ausdrücken.

67 Friedrich Achleitner: die gute suppe. In: manuskripte 4 (1964), H. 10, S. 10.

68 Achleitner: prosa, konstellationen, montagen. dialektgedichte, studien (wie Anm. 41), S. 204.

69 Vgl. Fischer, Jäger: Von der Wiener Gruppe zum Wiener Aktionismus (wie Anm. 24), S. 642f.; vgl. Mix-ner, Schmitt-Maaß: Friedrich Achleitner (wie Anm. 47).

70 Thomas Eder: Friedrich Achleitners „gute suppe“. In: Hintergrund 46/47 (2010), S. 45-52, hier S. 51. Eder untersucht in seinem Beitrag, wie die gute suppe mit Ogdens und Richards’ Basic English zusammenhängt.

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(2000 und) 2013 – Ein verdrängter Termin und eine Rückkehr en miniature

Am 24. Jänner 2000 fragte Kolleritsch bei Achleitner per Brief an, ob dieser anlässlich des 40. Jubiläums der Zeitschrift, für das Heft 150, das im Okto-ber 2000 erscheinen sollte, einen Beitrag beisteuern wolle. Er verwies auch auf Heft Nummer 2 und sicherte ihm zu, es würde ihm „eine große Freude machen, wenn Du einen Beitrag liefertest“71. Als Redaktionsschluss nannte Kolleritsch Mitte September – Achleitner antwortete ihm erst am 7. Oktober und entschuldigte sich, den Termin übersehen zu haben. Bezeichnend für sein Hin- und Hergerissen-Sein zwischen den beiden Metiers Architektur und Literatur ist folgende Erklärung an Kolleritsch: „Vielleicht kannst Du daraus auf mein ambivalentes Verhältnis zur Literatur schließen, das zeitweise nicht einmal ambivalent, sondern schlicht nicht vorhanden ist.“72 Erst 2003 wandte sich Achleitner wieder vermehrt der Literatur zu und veröffentlichte im Schnitt alle zwei Jahre Kurzprosa und Lyrik,73 von 2006 bis 2009 erschienen wöchentlich Prosaminiaturen im Standard, die 2009 unter dem Titel der sprin-gende punkt auch in Buchform bei Zsolnay herauskamen. Nach Kastberger zeichnen sich Achleitners Prosatexte dadurch aus, dass es ihm gelingt, selbst Altbekanntes und Vertrautes aus der Distanz zu beobachten, den Lesenden begegnen immer wieder „selbstergründende Strukturen, die oft absurder scheinen, als sie logischerweise sind“74, was auch daran liegt, dass die Texte eine humoristische Note aufweisen.75 Im Zuge seiner wieder aufflammenden

71 Brief vom 24.01.2000 von Alfred Kolleritsch an Friedrich Achleitner, Ordner Briefe A-L/2000 im manu-skripte-Redaktionsarchiv in der Sackstraße 17, 8010 Graz.

72 Brief vom 07.10.2000 von Friedrich Achleitner an Alfred Kolleritsch, Ordner Briefe A-L/2000 im manu-skripte-Redaktionsarchiv in der Sackstraße 17, 8010 Graz.

73 einschlafgeschichten (2003), wiener linien (2004), und oder oder und (2006), der springende punkt (2009), wortgesindel (2015) sowie der Band iwahaubbd (2011), eine Sammlung seiner Dialektlyrik, alle erschienen bei Zsolnay, Wien. Zu iwahaubbd siehe unter anderem: Christian Neuhuber: iwahaubbd. dialektgedichte. In: Stichwörter zur oberösterreichischen Literaturgeschichte. Hrsg. von Petra-Maria Dallinger [u. a.]. Linz: Stifter-Haus 2017. URL: https://stifterhaus.at/index.php?id=167&no_cache=1&tx_news_pi1%5Bnews%5D=2414&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=88a546558f288236d9172d6b371825db Aufgerufen am: 25.06.2020. Mit den Bänden einschlafgeschichten, wiener linien, und oder oder und sowie der springende punkt hat sich Iris Kraßnitzer eingehend in ihrer Diplomarbeit beschäftigt. (Vgl. Kraßnit-zer: Welt aus Sprache, wie Anm. 30.)

74 Kastberger: Vorbereitungen für eine Einrichtung (wie Anm. 62), S. 4.

75 Rühm lobt z. B. den trockenen Humor Achleitners. (Vgl. Hohmann: Friedrich Achleitner, wie Anm. 63, S. 123.)

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intensiveren Beschäftigung mit Literatur beteiligte sich Achleitner schließlich im Jahr 2013 zur 200. Ausgabe der manuskripte mit einem Beitrag.

Dieses Heft feierte das 52-jährige Bestehen der Zeitschrift und ihre unzähligen BeiträgerInnen: „Sie lieferten das Abbild dessen, was sie mit der Sprache wagten, dem Verborgenen entgegen zu warten, mit der Brechstange des Wortes nichts unbefragt sein zu lassen.“76 Diese Ausgabe und ihre vielen Beiträge erweckten hehre Vorstellungen beim Herausgeber: „Vielleicht sind sie einmal ein Denkmal in Graz, eine Anthologie der Poesie.“77 Achleitner bat ihn im Begleitschreiben,

„eine Auswahl zu treffen. Ich erwarte nicht, dass du alle ‚Miniaturen‘ abdruckst.“78 Ob Kolleritsch alle Miniaturen gedruckt hat oder nicht, lässt sich heute nicht mehr feststellen, da eingesandte und nicht verwendete Texte üblicherweise an die AutorInnen zurückgesandt oder entsorgt wurden.

Die in den manuskripten unter dem Arbeitstitel wörtlich veröffentlichten Prosaminiaturen zeigefinger (finger), diebsgesindel, hannibal, … sonst ein net-ter kerl, möchtegern, husten und lanzen erschienen 2015 mit vielen anderen weiteren im Band wortgesindel bei Zsolnay. Der Sammlung ist ein Zitat Fritz Mauthners vorangestellt, das gleichsam als Motto für deren Lektüre gedeutet werden kann: „Sprache ist ein Werkzeug, / mit dem sich die Wirklichkeit / nicht fassen läßt.“79 Ein Abgleich der vorab publizierten Miniaturen mit dem veröffentlichten wortgesindel zeigt, dass Achleitner die Texte überarbeitet hat. Bei der in den manuskripten abgedruckten Kurzprosa Achleitners handelt es sich um frühe Arbeitsstufen, wie auch manche Satz- und Setzfehler offen-baren. In einigen Miniaturen wurden nur einzelne Satzzeichen oder Wör-ter geändert, so wurde beispielsweise aus „kleinbürgerlichen scheißer“80 in

hannibal „sumperer“81, andere Texte wurden umfassender redigiert. Jener mit

76 A[lfred] K[olleritsch]: Marginalie. In: manuskripte 53 (2013), H. 200, S. 5.

77 Ebd.

78 Brief vom 02.05.2013 von Friedrich Achleitner an Alfred Kolleritsch, Ordner Briefe 2013 im manu-skripte-Redaktionsarchiv in der Sackstraße 17, 8010 Graz. Er versuchte 2013 zuerst, die Texte per E-Mail an Kolleritsch zu schicken, was ihm jedoch nicht gelang, welshalb er sie schließlich postalisch übermittelte.

79 Friedrich Achleitner: wortgesindel. Wien: Zsolnay 2015 [o. S.].

80 Friedrich Achleitner: aus: wörtlich (Arbeitstitel). hannibal. In: manuskripte 53 (2013), H. 200, S. 26-28, hier S. 26.

81 Friedrich Achleitner: hannibal. In: Achleitner: wortgesindel (wie Anm. 79), S. 37.

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den markantesten Überarbeitungen (sogar des Titels) ist folgender:

zeigefinger

ein zeigefinger trifft einen munder-finger. der zeigefinger zeigt, wie er es gelernt hat, auf den munderfinger, im besitze zweier zeigefinger schaut auf den zeigefinger, aber es fällt ihm nicht im traum ein, mit dem zeigefinger auf den zeigefinger zu zeigen. wo kämen wir denn hin, sagte er zu sich, wenn jeder munderfinger auf einen allein-stehenden zeigefinger zeigen würde, wo kämen wir denn hin? in diesem moment taucht ein gundelfinger auf, zeigt mit dem zeigefinger auf den munderfinger und sagt zum zeigefin-ger, schau den munderfinger an, der traut sich nicht einmal mit dem zei-gefinger auf einen zeigefinger zu zei-gen. da sagte der munderfinger klein-laut, können wir unsere geschichte noch einmal beginnen, mir kommen schon alle finger durcheinander …82

finger

ein zeigefinger trifft zufällig einen munderfinger. nicht in munderfing, denn das wäre kein zufall. in wien oder berlin ist das was anderes. da muss man auf jeden munderfinger zei-gen, weil sonst niemand weiß, dass er ein munderfinger ist. der zeigefinger zeigt also, wie er es als zeigefinger ge-lernt hat, auf den munderfinger. der munderfinger, im besitze zweier zeige-finger, schaut erbost auf den zeigefin-ger, aber es fiele ihm nicht im traum ein, mit seinen munderfingern auf einen zeigefinger zu zeigen. wo kämen wir denn hin, sagte er für alle hörbar zu sich, wenn jeder munderfinger auf ei-nen zeigefinger zeigen würde. oder gar auf einen munderzeigefinger. wo kä-men wir denn hin? das muss man auch in wien oder berlin verstehen, wo oh-nehin schon lange nicht mehr mit dem zeigefinger gezeigt wird. auch nicht auf einen munderfinger, wo die doch gar nicht wissen, wo munderfing liegt. im-merhin haben es die munderfinger zu einem munderfing gebracht. ein zeige-fing gibt es auf der ganzen welt nicht.83

82 Friedrich Achleitner: aus: wörtlich (Arbeitstitel). zeigefinger. In: manuskripte 53 (2013), H. 200, S. 26-28, hier S. 26.

83 Friedrich Achleitner: finger. In: Achleitner: wortgesindel (wie Anm. 79), S. 31. Kursivsetzung im Original.

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Nicht nur die Länge des Textes hat sich geändert, auch der Inhalt: In der ur-sprünglichen Version steht das Wortspiel um die Ortsnamen Munderfing (eine Gemeinde in Oberösterreich mit etwas mehr als 3.000 EinwohnerIn-nen) und Gundelfingen (Name dreier Gemeinden bzw. Städte in Bayern und Baden-Württemberg) im Fokus, während die spätere Version das Spiel mit dem anthropomorphisierten Zeigefinger stärker betont. Der Munderfinger, der in der Erstfassung noch kleinlaut zurückbleibt, erfährt in der Überarbei-tung eine Rehabilitierung und gewinnt an Schlagfertigkeit. Die Erzählung unterwandert intentional die den Lesenden inhärenten Muster der Wahr-nehmung und Interpretation. Der Text beinhaltet zahlreiche phantastische und parabolische Elemente, wodurch er gleichsam zum Sinnbild wird, indem die kurze Erzählung mittels Komik, Wortwitz und Ambivalenz gebrochen wird. Das Ende ist pointiert und sorgt für einen abschließenden reflexiven Moment bei den Lesenden.

Mit Charles Baudelaire hat sich die Sichtweise eines/einer Flanierenden als Wahrnehmungsmodell in der Kurzprosa etabliert, das den Alltag und dessen (scheinbare) Randerscheinungen in den Fokus rückt und damit das Spezifische der Welt aufzuzeigen vermag.84 Dadurch, dass der Text und seine Auslegung unsicher und unscharf sind, eröffnen sich in der Rezeption je nach Situation unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten, lediglich die Annahme, dass der Text eine Erzählung enthält, dürfte dabei ein Gemeinsames darstellen. Die RezipientInnen sind aktiv gefordert, denn gerade sehr knappe und inhaltlich sowie strukturell verkürzte Text erfordern umso stärker das Einbringen des Welt- und Textwissens der Lesenden.85

Achleitner nahm die Sprache nicht nur wörtlich, sondern auch bildlich – Typographie und Satz seiner Texte sind immer Teil ihrer Bedeutung. Das Unvermögen sprachlicher Schilderungen, die Wirklichkeit zu erfassen, be-schäftigte Achleitner seit seiner Zeit in der Wiener Gruppe und wird auch in diesen jüngeren Texten augenfällig. Wozu Sprache aber gut ist, ist als

84 Vgl. Dirk Göttsche: Prosaskizzen als Denkbilder. Zum Zusammenspiel der Schreibweisen in der Kleinen Prosa der Gegenwart. In: Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Hrsg. von Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel, Dirk Göttsche. Tübingen: Niemeyer 2007, S. 285-302, hier S. 287.

85 Vgl. Rüdiger Zymner: Subversion des Erzählens in kleinen Erzähltexten der Gegenwartsliteratur. In: Kleine Prosa (wie Anm. 84), S. 341-351, hier S. 343.

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Konstruktionsmittel, mit dem der Autor konsequent die Erwartungshaltung seines Publikums unterläuft. Nichts und niemand ist gefeit vor ironischer Ergründung und Brechung.86 Die Absurdität der Texte, die Originalität der Sprache, die der Trivialität des Alltags gegenübersteht,87 verbunden mit einem hohen Maß an Selbstreflexivität, zahlreichen Paradoxa und skurrilen, aber doch tiefgreifenden Überlegungen,88 zeichnen die Texte auch für ihre Re-zensenten aus: „Wortetüden voll funkelnden Witzes und abseitiger Logik sind das Ergebnis, wenn der Autor sich konsequent auf seine Assoziationen zu einem Wort verlässt und sie erschöpfend ausreizt, wobei Kalauer gern in Kauf genommen werden […].“89

Für Achleitners Prosaminiaturen lässt sich also konstatieren, dass einerseits die Reflexion des Schreibprozesses und der Sprache, die zuweilen als Akteurin in Erscheinung tritt, andererseits ebenso das Auftreten von Abstrakta, Lauten oder Satzzeichen als literarische Figur, das Wörtlich-Nehmen bestimmter fester Wendungen und Phrasen, Sätze, die die Handlung vorantreiben und bestimmen, Sprachspiel, Ironie und Wortwitz, die die RezipientInnen aktiv in die Textgenese einbinden, von Bedeutung sind.

jedenfalls möchte ich gern, ohne gesichtsverlust, aus dieser möchtegerngeschichte aussteigen

Wie Achleitner in möchtegern90 möchte auch ich nun gern zu einem Ende finden. Die Texte, die er in den manuskripten veröffentlicht hat, bieten einen sehr kleinen, dafür profunden Einblick in sein literarisches Œuvre: Konkrete

86 Vgl. Mixner, Schmitt-Maaß: Friedrich Achleitner (wie Anm. 47).

87 Vgl. Wolfgang Huber-Lang: Hingehorcht und aufgespießt: Friedrich Achleitners „wortgesindel“. In: Salz-burger Nachrichten vom 27.03.2019. URL: https://www.sn.at/kultur/literatur/hingehorcht-und-aufgespiesst-friedrich-achleitners-wortgesindel-67890391 Aufgerufen am 02.06.2020.

88 Vgl. Klaus Zeyringer: 85. Geburtstag. Friedrich Achleitner: Sprachspieler, Wortkünstler. In: Der Standard vom 15.05.2015. URL: https://www.derstandard.at/story/2000015851751/friedrich-achleitner-sprachspieler-wortkuenstler Aufgerufen am 01.06.2020.

89 Willi Huntemann: Die Taube von Sloterdijk. Friedrich Achleitner hält in der Prosasammlung „wort-gesindel“ das Erbe der Wiener Gruppe am Leben. URL: https://literaturkritik.de/id/20660 Aufgerufen am 01.06.2020.

90 Friedrich Achleitner: aus: wörtlich (Arbeitstitel). möchtegern. In: manuskripte 53 (2013), H. 200, S. 26-28, hier S. 28.

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Poesie, Konstellation, Montage und (Kurz-)Prosa – einzig seine archetypi-schen Dialektgedichte, wie beispielsweise die obdaennsa, fehlen. Achleitner hat zwar nur selten in den manuskripten publiziert, was unter anderem an seiner zwischenzeitlichen Abkehr von der Literatur liegt, allerdings war ge-rade seinem ersten Beitrag für die Zeitschrift ein nicht zu unterschätzender Knalleffekt beschieden. Sprachkritik als Gesellschaftskritik fungiert als Leit-motiv in Achleitners Werk – es geht um die konsequente Hinterfragung von Wirklichkeit und Sprache sowie von deren Zusammenhängen. Das Ablehnen grammatischer Konventionen, die bewusste Provokation wie auch der Schock als Stilmittel drücken sich formal in Montagen, Konstellationen, Konkreter Poesie und experimenteller Prosa aus. All diese in der Avantgarde gern ein-gesetzten Mittel harmonierten hervorragend mit Kolleritschs Ideen für (s)eine Literaturzeitschrift. Mit dessen nunmehrigem Ableben hat der österreichische Kulturbetrieb binnen Jahresfrist zwei streitbare Größen verloren, die sich auf je eigene Art und Weise bleibende Denkmäler zu setzen wussten – die manuskripte sind eines, das sie miteinander verbindet.

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