§ 5: Wundererzählungen (II) Beginn von §...
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Ausfall der letzten Vorlesung, insgesamt etwas
schneller, aber m. E. kommen wir ganz gut durch,
vielleicht haben wir das schon beim übernächsten Mal
wieder ungefähr eingeholt.
§ 5: Was sind Wundererzählungen (II)?
3. Semiotische Vertiefung, Aktantenmodell (Egger), Narratives
Schema (Kahl): Suche nach Heilung, Rettung, Befreiung – bzw.
Begehren dieser Sachverhalte
4. Der religionsgeschichtliche Hintergrund der
Dämonenaustreibungsstories – die Selbstentzogenheit der
Menschen, gemessen an der jüdischen Tradition von Dtn
30,15ff
5. Die Wundererzählung als mu/qoj im Sinne der antiken Rhetorik
§ 6: Die markinische Variante der Heilung der Frau mit
Blutfluss (Mk 5,25ff)
1. Ein Beispiel für die Dichte der Klangfiguren
2. Übersetzung, Gliederung
Zuvor aber eine Erinnerung an die letzte Vorlesung.
Die Wundererzählungen im NT sind formal Teil einer
antiken Gattung, die möglicherweise erst im Hellenismus
entstanden ist (Art des Leidens; Heilender Eingriff;
Feststellung des Heilungserfolges).
Auf den ersten Blick scheint Jesus von Nazaret ähnlich zu
agieren wie der antike Heilgott Asklepios. Insofern besteht
auch eine inhaltliche Übereinstimmung. Diesem Punkt
werden wir im dritten Teil der Erörterung von § 5 heute
nachgehen.
Der syntaktische Kode der Wundererzählungen ist von Gerd
Theißen 1974 erfasst worden, es gibt drei oder vier
Gliederungseinheiten (Einleitung, Exposition; Mitte; Schluss).
Diesen sind 33 Motiveme als mögliche Erzählzüge zugeordnet.
Das Profil jeder einzelnen Geschichte wird durch Auswahl und
Kombination solcher Motiveme aus diesem Motivrahmen oder
-paradigma erreicht. Prinzipiell ist dabei eine historische
Bezugnahme auf tatsächliche Ereignisse nicht ausgeschlossen,
aber tendenziell zeigt sich, dass solche Storys auch poetisch-
rhetorisch erfunden werden können.
15.05.2010 www.martinpoettner.de 8
Theißen zufolge ergeben sich sechs „Themen“ von
Wunderzählungen, womit er themenzentriert Untergattungen zu
bilden versucht:
1. Exorzismus (Dämonenaustreibung, etwa die Legionstory
Mk 5,1ff parr.)
2. Therapien (womit Heilungen gemeint sind, z. B.
Blindenheilungen, die Heilung der Blutflüssigen.)
3. Epiphanien (z. B. der Seewandel)
4. Rettungswunder (etwa die Sturmstillung)
5. Geschenkwunder (Speisung der Tausende)
6. Normwunder (womit er meint, das durch eine Wunderhandlung
bestimmte Normen beglaubigt werden; z. B. Mk 2,1ff)
15.05.2010 www.martinpoettner.de 9
Bultmanns alte Unterscheidung (1957, 241ff) bleibt aber
immer noch in der Diskussion:
1. körperliche, somatische Krankheit: „Heilungswunder“
2. psychische Krankheit: „Dämonenaustreibungen“
3. außermenschliche Vorgänge: „Naturwunder“
Allerdings erscheinen mir jedenfalls Theißens „Epiphanien“
ernsthaft sachhaltig zu sein.
Meine Bemerkungen zum vermuteten magischen Aspekt bei
Wunderhandlungen Jesu und von Eleazar fanden nach der
Vorlesung, engagierten, interessanten und produktiven
Widerspruch.
So sei das Spucken in die Augen in Mk 8 eher nicht als
„unhygienisch“ zu bezeichnen, da dem Speichel lange Zeit
eine desinfizierende Wirkung zugeschrieben worden sei.
Zudem lasse sich das Herausziehen eines Dämonen
mithilfe eines Rings, in den eine bestimmte Wurzel
eingeschlossen war, gut mit unserer Wendung
vergleichen, etwas müsse jemandem aus der Nase
herausgezogen werden.
15.05.2010 www.martinpoettner.de 11
Dass diese Redewendung hier möglicherweise schon auftaucht,
scheint plausibel. Allerdings wird doch typisch auf die Kraft und
merkwürdige unsichtbare Körperlichkeit des Dämonen
angespielt, da die Demonstration eben ein physisches Ereignis,
das Umstoßen eines Bechers bzw. Beckens erzählt.
Die mögliche desinfizierende Wirkung von Speichel wird
prinzipiell heute nicht bestritten, zugleich wird aber stets
darauf aufmerksam gemacht, dass im Speichel etwa
Staphylokokken enthalten sein können, was dann zu einer
Infektion bei einem anderen Menschen führen kann.
Die inhaltssemantische Fragestellung beschreibt bzw.
erforscht die erzählerische Dynamik in
Wundererzählungen im NT. Auch dies lässt sich wieder
über die zentrale Stellung des Prädikates im Satz und der
Kombinationen von Prädikaten im Text erfassen.
Wir sehen uns zunächst die Werbung von www.helden-der-
liebe.de an, um die Dynamik, die auch in Wundererzählungen
auftaucht, etwas genauer zu erspüren.
Das Paar wirkt in seiner
Unterwäsche relativ
entspannt, der moderne
mittelalte, leicht ergraute
Mann mit Dreitagesbart ist
nicht nur ihr zugewandt,
sondern blickt uns zufrieden
und etwas listig an. Die
jüngere, vital wirkende Frau
küsst den Mann mit
geschlossenen Augen sanft
und umfasst seinen Kopf.
Im Sinne von Theißens
Modell zeigt die Werbung
die Demonstration der
Heilung. In Zufriedenheit
und Zugewandtheit zeigt
sich, dass ein Problem,
welches bestand, gelöst
wurde. Problem erkannt –
Problem gebannt, so heißt
es als Gnome bzw.
Sinnspruch volkstümlich.
Das Problem sind die
Erektionsstörungen des
Mannes, welche ein
Beziehungsproblem des
Paares darstellen können.
Möglicherweise spricht die
Werbung der Intention nach
nicht nur Männer, sondern
auch verständisvolle Frauen
an. Mithin: Bei
Erektionsstörungen kann
einem geholfen werden,
wie der kleinere Begleittext
unten zeigt.
Natürlich spricht die
Werbung zuerst Männer an,
der Mann teilt authentisch
aufgrund eigener Erfahrung
uns Männern mit, Ihnen
kann bei diesem Problem
geholfen werden, es gibt
jemanden, der Ihnen helfen
kann: der Arzt.
Der Arzt kennt Hilfsmittel, z.
B. Medikamente. Bei sehr
vielen Erektionsstörungen
im Alter des Mannes auf
dem Werbungsbild hilft
aber auch eine
Psychotherapie.
Es gibt also ein Problem, dass in
diesem Fall insbesondere der
Mann lösen möchte. Dies
begehrt er zu tun. Dazu braucht
er jemanden, der ihm hilft. Dem
steht das Problem gegenüber,
vielleicht auch seine Angst, um
was es sich genau handelt, auch
seine Beziehungsangst. Er findet
aber den hilfreichen,
verständnisvollen Arzt – und wie
das Demonstrationsbild der
Werbung zeigt, ihm wurde
geholfen.
Der Mann begehrt nach diesem Modell als Subjekt das
Objekt, nämlich die Heilung seines Problems , des
Widersachers, eben der Erektionsstörung, möglicherweise
auch seiner Ängste. Der Spender ist der Arzt, der
möglicherweise mit einem Medikament hilft. Der
Empfänger ist der glückliche Mann im Bett, der uns aus der
Werbeaufnahme ansieht.
Egger 1987, 125.
Die gewöhnlichen Wundererzählungen lassen sich
inhaltssemantisch genau nach diesem Modell analysieren,
ihre erzählerische Dynamik wird durch das Modell ziemlich
genau erfasst. Dass die entsprechende Dynamik wirklich
besteht, sieht man markant etwa am Motivem des Hilferufs
oder aber auch am Auftreten von Stellvertretern. In der
Werbung könnte z. B. die Frau als Stellvertreterin agieren, sie
ermutigt den Mann zum Arzt zu gehen oder geht gar mit ihm
hin, jedenfalls zeigt sie sich verständnisvoll, wie in einem Spot
betont wird.
Entscheidend ist: Die Aktion geht von der Person aus, die von
ihrer Krankheit, vom Dämonen usf. befreit werden will. Und es
wird schließlich erzählt, wie dem Begehren der betroffenen
Person entsprochen wird. Dies alles wird durch eine
Kombination von Prädikaten ausgedrückt, nach denen das
Aktantenmodell fragt.
Greimas hat das zu einem sogenannten „narrativen Schema“
weiterentwickelt, welches Werner Kahl, New Testament Miracle
Stories in their Religious-Historical Setting. A
Religionsgeschichtliche Comparison from a Structural
Perspective, 1994 (FRLANT 163), angewendet hat.
Dabei wird grundlegend das Modell von Theißen bestätigt,
aber es bekommt eine dynamischere Gestalt, man weiß jetzt
genauer, welche erzählerische Transformation
inhaltssemantisch eigentlich erzählt werden soll, wenn die
Motiveme syntaktisch aus dem Motivemparadigma
angeordnet werden. Diese erzählerische Transformation ist
diejenige einer Erfolgsgeschichte – wie in der Werbung von
www.helden-der-liebe.de .
Ein redundanter erzählerischer Dreischritt erzeugt den Eindruck des Erfolgs bei Wundererzählungen, aber auch in unserer Werbung:
1. Darstellung einer negativen Ausgangslage;
2. Erzählung der Transformation der negativen Ausgangslage;
3. Darstellung der gewendeten negativen Ausgangslage.
Dabei kann durch die öffentliche Resonanz bei Punkt 3 nicht
selten der Eindruck einer Art des Märchens erzeugt werden,
wie: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch
heute!“
Die Werbung ist von den Wundererzählungen im NT darin
unterschieden, dass die männliche Ohnmachtserfahrung
durch ein wissenschaftlich erprobtes Mittel geheilt wird,
welches der Arzt als Spender verschreibt. Eben dies
unterstellen die Wundererzählungen nicht, sondern sie
betonen gelegentlich wie in Mk 5,25ff, dass die Ärzte versagt
haben, aber Jesus kann darüber hinaus Hilfe anbieten.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede müssen wir noch etwas
genauer beobachten, jedenfalls wünsche ich mir, dass Sie die
Werbung von www.helden-der-liebe.de während der
Vorlesung in Erinnerung behalten.
Der nächste Schritt geht auf die religiöse Pointe der
Wundererzählungen am Sonderproblem der
„Dämonenaustreibungen“ bzw. „Exorzismen“ ein.
Das Problem der Selbstentzogenheit des Subjekts, das für
diese Stories explizit grundlegend ist, ist übrigens mit
Abstrichen auch in der Werbung von www.helden-der-
liebe.de zu erkennen.
Der folgende Abschnitt unterstellt, dass das Auftreten von
sehr vielen Dämonenaustreibungen in den synoptischen
Evangelien mit einem religiösen Fundamentalproblem des
Judentums zu tun hat. Zwar ist der Dämonenglaube auch in
der griechischen und römischen Religion nicht
ausgeschlossen, im Judentum wird er aber – ausweislich
seiner Heiligen Schriften – eher in die Wüste verbannt. In
der gewöhnlichen Kultur spielt er allenfalls eine Nebenrolle.
Man muss also erklären, warum insbesondere im frühen
Christentum so viele Dämonenstories auftreten. Ich beginne
mit einem Hinweis auf einen zentralen Text des
Mainstream-Judentums:
Siehe, ich habe dir heute vorgelegt Leben und Glück, Tod und
Unglück. Wenn du auf das Gesetz des Herrn, deines Gottes
hörst, das ich dir heute gebe, indem du den Herrn, deinen Gott,
liebst und in seinen Wegen wandelst und seine Gebote, Satzungen
und Rechte hältst, so wirst du am Leben bleiben und dich
mehren, und der Herr, dein Gott, wird dich segnen in dem Lande,
wohin du ziehst, es zu besetzen. Wenn sich aber dein Herz
abwendet und du nicht hören willst, sondern dich verführen lässt,
andere Götter anzubeten und ihnen zu dienen, so künde ich heute
an, dass ihr zugrunde gehen und nicht lange leben werdet in dem
Lande, in das du über den Jordan ziehst es zu besetzen. Ich rufe
heute Himmel und Erde vor euch zu Zeugen an: Leben und Tod
habe ich euch vorgelegt, Segen und Fluch; so erwähle nun das
Leben, auf dass du am Leben bleibst, indem du den Herrn,
deinen Gott liebst, auf sein Wort hörst und dich fest an ihn hältst.
(Deuteronomium [5. Mose] 30,15ff)
Mit dem „Gesetz“ sind die verschiedenen staatlichen,
religiösen und sittlichen Lebensregeln gemeint, die vor allem
in den fünf Büchern Mose zusammenfasst sind. Das „Gesetz“
ist mithin eines der zentralen Bilder des Judentums. An dieses
Bild ist das Mosebild vor allem als Gesetzgeber geknüpft. In
Deuteronomium 30,15ff ist die grundlegende existenzielle
Bedeutung des „Gesetzes“ für die Israeliten ausgedrückt:
Beides zusammen: die göttlich eingeräumte Handlungsmacht
(„Tut es, weil ihr es könnt!“) und die Reflexionskraft („Ihr habt
es gehört und könnt es verstehen!“) machen die Israeliten zu
freien Menschen, die selbst zwischen Segen und Fluch, zwischen
Unglück und Glück, zwischen Leben und Tod wählen können. An
diese Grundüberzeugung von der überlegten Freiheit des
Willens, die sich existenzbestimmend auswirkt, knüpfen bis auf
den heutigen Tag die meisten jüdischen Orientierungen an.
Nun ergaben sich in der Geschichte des Judentums immer
wieder geschichtliche Situationen, in denen sich die Frage
stellte, ob eine bestimmte Niederlage politisch-kriegerischer Art
etwa, auch die prinzipielle ohnmächtige Abhängigkeit von den
Weltmächten seit den Persern, nur eine Folge der Abwendung
des Herzens vom Gott Israels hin zu anderen Göttern darstellte
oder darstellen könnte. Diese Frage stellte sich auch im Blick auf
das individuelle Schicksal von Leiden und Tod.
In den Heiligen Schriften der Juden reflektieren diese
Problematik vor allem das Hiobbuch und das Buch
Kohelet bzw. der Prediger Salomo. Hinzu tritt aber
auch das apokalyptische Danielbuch, in dem der
Geschichtsprozess als Abfolge verschiedener
Weltreiche dargestellt wird, die schließlich in einem
menschlichen Reich enden, welches zugleich das
endgültige Reich Gottes ist. Während Hiob und Kohelet
das Leiden des Gerechten recht skeptisch
kommentieren, versteht Daniel die Weltgeschichte als
göttlich bestimmten Prozess, der das Leiden, aber auch
das endliche Heil Israels umfasst.
Es gab im Judentum einen starken weisheitlich und
apokalyptisch inspirierten Dualismus, wie er einer
unvoreingenommenen Lektüre der Weisheit Salomos aus dem
1. Jahrhundert v. d. Z. entgegentritt. Er ist breit in vielen
Schriften vertreten, die in Qumran gefunden worden sind. In
einer auch dort auf Hebräisch entdeckten Schrift, dem 1.
Henochbuch (6-21), werden die Konsequenzen gezogen. Der
göttliche Bereich, die göttliche Lichtwelt, der himmlische
Bereich sind zumindest indirekt am Entstehen des
Verhängnisses Israels beteiligt.
Im Anschluss an und in Fortschreibung von 1. Mose 6,1-4,
der Erzählung, dass Söhne Gottes sich die Töchter der
Menschen zu Frauen nahmen, wird das Entstehen des Bösen
als Verhängnis dargestellt: ein Unfall in der göttlichen
Lichtwelt. Die Engel begehren menschliche Frauen und
zeugen mit ihnen Giganten, also Riesen. Diese Riesen erleben
eine Metamorphose und werden zu Dämonen. Die Dämonen
wiederum sind für üble Zustände und Leiden verantwortlich.
Sie bemächtigen sich der Menschen. Die Menschen sind
„besessen“, sie sind sich selbst entzogen.
Man darf diese Engel-Menschenstory nicht naiv – also grob
gegenständlich – lesen. In der oft bizarren apokalyptischen
Bilderwelt des 1.Henochbuchs wird eine unheimliche Botschaft
innerhalb der jüdischen Schriftreligion dargestellt. Die Auffassung
des 5. Buches Mose ist unzutreffend. Die göttlich eingeräumte
Reflexionskraft und Handlungsmacht versagt im konkreten
geschichtlichen Leben. Der Mensch ist sich stärker selbst entzogen
als es im Hauptstrom des Judentums angenommen wird. Das
Verhängnis der geschichtlichen Erfahrung, das konkrete Leiden,
der Unterschied zwischen göttlichen Verheißungen und
geschichtlicher Erfahrung ist durch einen Unfall in der göttlichen
Lichtwelt, der himmlischen Welt selbst zustande gekommen. Gott
selbst verhinderte nicht, dass die himmlischen Lichtwesen die
ungeheuren Kinder zeugten und damit die Besessenheit der
Menschen zustande brachten.
Das frühe Christentum knüpft an diese dualistischen
Konzeptionen im Judentum an. Es muss dann zu einer
anderen Erlösungskonzeption kommen, als dies in 5. Mose 30
der Fall ist. Man kann nicht mehr zwischen Segen und Fluch
aufgrund der göttlich eingeräumten Reflexionskraft und
Handlungsmacht wählen. Der freie Wille hat sich aus dieser
Perspektive ja als optimistische Chimäre gezeigt. Aus den
negativen Erfahrungen der Geschichte rettet nicht das
Befolgen und dynamische Fortschreiben bzw.
erfahrungsbezogene Anpassen des Gesetzes bzw. der
Schriften.
Innerhalb des Judentums und im Christentum kann diese
Selbstentzogenheit besonders deutlich und prominent
durch die Dämonenstorys kenntlich gemacht werden. In
Judentum, sofern diese am Rande auftauchen, und
Christentum handelt es sich um eine Wirkungsgeschichte
des 1. Henochbuches, weil dort die Genese der Dämonen
und der menschlichen Selbstentzogenheit aufgrund eines
Unfalls in der göttlichen Lichtwelt poetisch-fiktional
dargestellt wird.
Damit bezeichnen jedenfalls in christlichen Texten die
Dämonenaustreibungen semantisch eine Form der
Selbstentzogenheit, die nur von einer anderen Macht, der
göttlichen Macht gelöst werden kann. Allerdings gilt dies wohl
auch für „Therapien“ im Sinne von Theißen, sodass auch
Krankheit in einem engeren physischen Sinn als
Selbstentzogenheit verstanden wird, was auch für unsere
Erfahrung noch nachvollziehbar erscheint. Und dies zeigt sich
wohl auch an unserer Werbung von www.helden-der-liebe.de .
An den Dämonenaustreibungen bzw. Exorzismen wird
besonders deutlich, dass in den Wundererzählungen die
Transformation von einer Selbstentzogenheit hin zu einer
schöpfungsgemäßen Selbstwerdung geht. Dies wird im
Modus einer Erfolgsgeschichte dargestellt.
1. Darstellung einer negativen Ausgangslage; beschädigtes Selbstverhältnis durch Dämon oder Krankheit.
2. Erzählung der Transformation der negativen Ausgangslage; Heilung oder Austreibung.
3. Darstellung der gewendeten negativen Ausgangslage;Demonstration des Wunders; Ausbreitung des Rufs usf.
Auch bei Autoren, die der rhetorischen Fragestellung sehr
aufgeschlossen gegenüberstehen, lässt sich in dieser Frage
ein zentrales Hemmnis feststellen:
Ursprünglich bildeten die Progymnasmata ein Hilfsmittel des
Rhetorikstudiums; sie wurden dann aber in den leichteren
Partien von den Grammatiklehrern übernommen. Die
Progymnasmata führten in die Beherrschung der
Kleingattungen wie Fabel (Mythos), Geschichte, Chrie,
Sprichwörter ein, die das Material einer wirkungsvollen Rede
bildeten. … Während sich das Neue Testament gegenüber
den Fabeln und Göttermythen ablehnend verhielt …, machte
es von der Chrie und den Sprichwörtern (Gnome)
umfangreichen Gebrauch. (Dormeyer 1993, 34)
Dormeyer bezieht sich zur Begründung auf Texte im NT, die
zu den Herausgebertexten der Präkanonischen Edition bzw.
der Kanonischen Ausgabe gehören (1Tim 1,4; 2Tim 4,4; Tit
1,14; 2Pet 1,16), die sich von jüdischen und griechischen
mu/qoi abgrenzen. Sie versuchen, die Edition aus LXX und
normativen christlichen Texten im Sinne von AT und NT
deutlich von solchen „Mythen“ und „Fabeln“ zu
unterscheiden, die mehr oder weniger erfunden seien,
während dies bei den eigenen Texten nicht der Fall sei. Der
zeitliche Rahmen ist hier wohl das letzte Drittel oder Viertel
des zweiten Jahrhunderts d. Z. als die christliche Edition im
Buchhandel erschien.
Dormeyer übersieht dabei m. E., dass es sich bei den
genannten Texten um einen antiken rhetorischen Topos
handelt, nach dem die „Mythen“ stets die Mythen der
Anderen seien, man selbst aber nicht „mythisch“ spreche
(vor allem: Marcel Detienne, Mythologie ohne Illusion, in:
C. Levi-Strauss u. a. [Hgg.], Mythos ohne Illusion, 1984 [es
1220]). Erkennt man den rhetorischen Topos, sollte man
ihn nicht für bare Münze nehmen. Jedenfalls nicht in dem
Sinn, dass Wundererzählungen in gemeinantiker
Perspektive keine mu/qoi seien. Es ist halt ein anderer Gott
oder Heroe als Asklepios oder Herkules, der in den
christlichen Wundererzählungen handelt. Und dass muss
man explizieren.
M. E. empfiehlt es sich daher, ganz ruhig zu sehen, dass
die Wundererzählungen, darunter gerade auch
diejenigen, die Theißen als „Epiphanien“ “ bezeichnet hat,
weiter die Auferstehungserzählungen antik nichts
anderes als mu/qoi sind.
Wir konnten auch sehen, dass selbst unsere Werbung von
www.helden-der-liebe.de strukturelle Ähnlichkeiten
aufweist. Inhaltssemantisch sind damit noch keine
vollständigen Übereinstimmungen behauptet, sondern
hier ist genaue Interpretation nötig.
Ich halte fest:
1. Die Wundererzählungen sind im Sinne der antiken Rhetorik
mu/qoi.
2. Zu ihrer Erzeugung kann man aus einem 33 Motiveme
umfassenden Motivemrahmen bzw. Motivemparadigma
auswählen.
3. Die Erzeugung, aber auch die Interpretation der
Wundererzählungen wird relativ klar geregelt, wenn man
fragt, wer was in diesen Erzählungen begehrt, warum dies der
Fall ist – und wie das Begehren durch was erfüllt wird: Hier
geht es um die semantische Regel des „Aktantenmodells“
bzw. des „narrativen Schemas“.
Heute führe ich nur kurz eine anfängliche Analyse der
Klangfiguren an Mk 5,25f durch, um manches zu
plausibilisieren, was ich gelegentlich über die
neutestamentlichen Texte behauptet habe.
Weiter übersetze ich den Text Mk 5,24-34 und gliedere
ihn in Einleitung/Exposition, Mitte und Schluss.
15.05.2010 51www.alltagundphilosophie.com
Mar 5:25 kai. gunh. ou=sa evn r`u,sei ai[matoj dw,deka e;th
26 kai. polla. paqou/sa u`po. pollw/n ivatrw/n
kai. dapanh,sasa ta. parV auvth/j pa,nta
kai. mhde.n wvfelhqei/sa
avlla. ma/llon eivj to. cei/ron
evlqou/sa ...
Mar 5:25 kai gyne ousa en rusei haimatos dodeka ete
26 kai polla pathousa hypo pollon iatron
kai dapenesasa ta par’ autes panta
kai meden opheletheisa
alla mallon eis to cheiron
elthousa ...
Gorgianische
Klangfiguren
15.05.2010 52www.alltagundphilosophie.com
So klingen nahezu alle Texte des NT und AT in der
Präkanonischen Edition. Wortwiederholung, Reime,
Alliteration, Polyptoton, Antithese, Chiasmus usf. prägen
nahezu alle Texte. (Z. B.: H. F. Plett, Textwissenschaft, 1979)
Aus der Medienperspektive betrachtet verweist diese
rhetorische Gestaltung darauf, dass die Präkanonische Edition
einer semiliteralen Kultur angehört, Mündlichkeit und
Schriftlichkeit sind nicht scharf voneinander getrennt. Da nicht
sehr viele Menschen lesen konnten, wurden die Texte
vorgelesen. Dies zeigt sich an der rhetorischen Gestaltung.
15.05.2010 53www.alltagundphilosophie.com
Mar 5:25 kai. gunh. ou=sa evn r`u,sei ai[matoj dw,deka e;th
26 kai. polla. paqou/sa u`po. pollw/n ivatrw/n
kai. dapanh,sasa ta. parV auvth/j pa,nta
kai. mhde.n wvfelhqei/sa
avlla. ma/llon eivj to. cei/ron
evlqou/sa ...
Mar 5:25 kai gyne ousa en rusei haimatos dodeka ete
26 kai polla pathousa hypo pollon iatron
kai dapenesasa ta par’ autes panta
kai meden opheletheisa
alla mallon eis to cheiron
elthousa ...
Gorgianische
Klangfiguren
2 Die Blutflüssige nach dem Markusevangelium (Übersetzung und
Gliederung)
15.05.2010 www.alltagundphilosophie.com 54
15.05.2010 www.alltagundphilosophie.com 55
Nur ein Ausschnitt der
kunstvoll verschachtelten
Erzählung vom Aufwecken
der Tochter des Jairus und
der Heilung der
Blutflüssigen wird
besprochen.
Insel Reichenau im
Bodensee, Stiftskirche
St.Georg in Oberzell
(9./10.Jahrhundert)
56
24 Da ging Jesus mit Jairus.
Und es folgte ihm viel Volk nach.
25 Und sie umdrängten ihn.
Und es war eine Frau, die litt 12 Jahre am Blutfluss.
26 Und sie hatte viel durchgemacht mit vielen Ärzten und ihren gesamten
Lebensunterhalt aufgewendet.
Doch es hatte ihr nichts geholfen, sondern es war sogar schlimmer geworden.
27 Als sie von Jesus gehört hatte, kam sie unter dem Volk von hinten heran und
rührte sein Kleid an.
28 Denn sie sagte sich:
„Wenn ich auch nur sein Kleid anrühre, werde ich gesund werden!“
29 Und sofort versiegte die Quelle ihres Blutes — und sie spürte es am eigenen
Körper, dass sie von ihrer Plage geheilt war.
30 Und sofort spürte Jesus an sich selbst, dass eine Kraft von ihm ausgegangen
war. Daher wandte er sich dem Volk zu und sagte:
„Wer hat meine Kleider angerührt?“
31 Und seine Schüler sagten zu ihm:
„Du siehst, wie das Volk dich umdrängt und fragst: ‘Wer hat meine Kleider
angerührt’?“
32 Und er sah sich um, um diejenige zu sehen, die das getan hatte.
33 Die Frau aber kam mit Furcht und Zittern, weil sie wusste, was mit ihr
geschehen war, warf sich vor ihm nieder und sagte die ganze Wahrheit.
34 Er aber sagte zu ihr:
„Meine Tochter, dein Vertrauen hat dich geheilt! Gehe hin in Frieden und sei von
deiner Plage gesund!“
Mk 5,24-34
(24)Da ging Jesus mit Jairus.
Und es folgte ihm viel Volk nach.
Und sie umdrängten ihn.
Und es war eine Frau, die litt 12 Jahre am Blutfluss.
Und sie hatte viel durchgemacht mit vielen Ärzten und ihren gesamten
Lebensunterhalt aufgewendet.
Doch es hatte ihr nichts geholfen, sondern es war sogar schlimmer geworden.
(27)Als sie von Jesus gehört hatte, kam sie unter dem Volk von hinten heran und
rührte sein Kleid an. Denn sie sagte sich:
„Wenn ich auch nur sein Kleid anrühre, werde ich gesund werden!“
Und sofort versiegte die Quelle ihres Blutes — und sie spürte es am eigenen Körper,
dass sie von ihrer Plage geheilt war.
Und sofort spürte Jesus an sich selbst, dass eine Kraft von ihm ausgegangen war.
Daher wandte er sich dem Volk zu und sagte:
„Wer hat meine Kleider angerührt?“
Und seine Schüler sagten zu ihm:
„Du siehst, wie das Volk dich umdrängt und fragst: ‘Wer hat meine Kleider
angerührt’?“
Einleitung/Exposition (24-
26)
Mitte (27-31)
(32) Und er sah sich um, um diejenige zu sehen, die das getan hatte.
Die Frau aber kam mit Furcht und Zittern, weil sie wusste, was mit ihr geschehen
war, warf sich vor ihm nieder und sagte die ganze Wahrheit.
Er aber sagte zu ihr:
„Meine Tochter, dein Vertrauen hat dich geheilt! Gehe hin in Frieden und sei von
deiner Plage gesund!“
Schluss (32-34)
Fragebogen zur Vorlesung
Konnten Sie der Vorlesung folgen?JaNein
Schätzen Sie, wie viel Sie von der Vorlesung verstanden zu haben glauben:
gar nichtswenigeinigessehr viel so gut wie alles
Was war für Sie das Wichtigste in der Vorlesung?
Was fanden Sie schlecht?
Welche Verbesserungswünsche haben Sie?
Fassen Sie die Hauptpunkte der Vorlesung in höchstens drei Sätzen zusammen!
Was möchten Sie noch besser und ausführlicher erläutert haben?
Hat Ihnen in der Sitzung etwas gefehlt, was Sie beim Thema wichtig finden?
Fehlt im Fragebogen eine wichtige Frage?
Bitte geben Sie den ausgefüllten Fragebogen am Ende der Vorlesung bei mir ab – oder senden Sie ihn mir per E-Mail oder Fax zu!