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Somatische Belastungsstörung: eine "Revolution" erfasst die Psychosomatik
Prof. Dr. med. Roland von Känel Chefarzt Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie
Dienstagmittag-Fortbildung Psychosomatik Basel 21. Februar 2017
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel 2
Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Wie es zu diesem Vortrag kam
Primary and Hospital Care 2016;16(10):192-195
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DSM-5 300.82: «Somatic Symptom Disorder» bzw. «Somatische Belastungsstörung»
Kriterien A, B (mind. 1) und C müssen erfüllt sein
A. Somatische(s) Symptom(e):
- belastend oder zu Störungen des Alltagslebens führend
B. Psychologische Kriterien bezogen auf körperliche(s) Symptom(e)
- Übertriebene und anhaltende Gedanken über die Ernsthaftigkeit des Symptoms (kognitiv)
- Anhaltend hohes Angstniveau bezogen auf Gesundheit oder Symptome (emotional)
- Exzessiver Zeit- und Energieaufwand bezüglich der Symptome oder Gesundheitssorgen (Verhalten)
C. Symptombelastung ist persistierend (meist > 6 Monate)
DSM-5, American Psychiatric Association, 2013 (Deutsch: 2015)
Die neue Diagnose Somatische Belastungsstörung macht "Tabula Rasa"
mit bzw. ersetzt die somatoformen Störungen, Hypochondrie und
Schmerzstörungen
Die "Revolution" in der Psychosomatik I:
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SBS: Zusammenfügen und differenzieren zugleich
Dimsdale et al, J Psychosom Res 2013
80%
20%
IAD: Illness Anxiety Disorder (Krankheitsangststörung)
Es spielt dezidiert keine Rolle (mehr), ob somatische Symptome medizinisch
erklärbar sind oder nicht!
Die "Revolution" in der Psychosomatik II:
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Einteilung der SBS nach aktuellem Schweregrad
• Leicht: nur 1 Symptom aus Kriterium B • Mittel: mindestens 2 Symptome aus Kriterium B • Schwer: mindestens 2 Symptome aus Kriterium B plus multiple
somatische Beschwerden (oder ein sehr ausgeprägtes somatisches Symptom)
• Mit überwiegendem Schmerz (vormalig "Schmerzstörung") • Andauernd: schwergradige Symptome, deutliche
Beeinträchtigung, lange Dauer (>6 Monate)
Spezifizierung / Ergänzung
DSM-5, American Psychiatric Association, 2013 (Deutsch: 2015)
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Prävalenz der SBS mit verschiedenen Definitionskriterien
Creed et al, J Psychosom Res 2012 Creed et al, Int J Behav Med 2013
7%
1%
13%
17%
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Interrater Reliabilität: DSM-5 Feldversuch Freedman et al, Am J Psychiatry 2013
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Die Somatische Belastungsstörung bezieht sich auf körperliche Symptome: wie erfassen?
• PHQ-15: Subskala Gesundheitsfragebogen für Patienten.
• Erfasst 15 somatische Symptome
- häufigste körperliche Beschwerden ambulanter Patienten
- wichtigste DSM-IV-Kriterien für die Somatisierungsstörung
- Schmerz, Müdigkeit, Schwindel etc.
• Punktescore (0-30): misst Anzahl und Schweregrad körperlicher Symptome („somatic/bodily distress“)
Mittelgradig ausgeprägte Symptomstärke: Cut-off 10+
Kroenke et al, Psychosom Med 2002; Gräfe et al, Diagnostica 2004
"Erbsen zählen"!
Somatische Symptomskala-8
Gierk et al, J Psychosom Res 2015
Verteilung des Symptom Schweregrads in der Grundversorgung und Gynäkologie (n=6‘000):
Kroenke et al, Psychosom Med 2002
≈ 30% mit klinisch relevantem körperlichen Distress (cut-off 10+)!
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12-Item Skala zur Erfassung der B Kriterien (psychologischen Merkmale)
der Somatischen Belastungsstörung
Somatic Symptom Disorder – B Criteria Scale (SSD-12)
Touissant et al, Psychosom Med, 2016
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Psychologisches Kriterium B: Kognitive Aspekte (exzessive Gedanken bezogen auf Beschwerden)
① Ich denke, dass meine körperlichen Beschwerden Anzeichen einer ernsthaften Erkrankung sind
② Ich bin von der Ernsthaftigkeit meiner körperlichen Beschwerden überzeugt.
③ Andere sagen mir, dass meine körperlichen Beschwerden nicht schlimm sind.
④ Ich denke, dass die Ärzte meine körperlichen Beschwerden nicht ernst nehmen.
Nie, selten, manchmal, oft, sehr oft
2x Innenperspektive, 2x Aussenperspektive Toussaint et al,
Psychosom Med 2016
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Psychologisches Kriterium B: Emotionale Aspekte (exzessive Ängste bezogen auf Beschwerden)
① Ich mache mir grosse Sorgen um meine Gesundheit.
② Meine körperlichen Beschwerden machen mir Angst.
③ Ich mache mir Sorgen, dass meine körperlichen Beschwerden niemals aufhören werden.
④ Ich mache mir Sorgen, auch in Zukunft durch meine körperlichen Beschwerden beeinträchtigt zu bleiben.
Toussaint et al, Psychosom Med 2016
Nie, selten, manchmal, oft, sehr oft
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Psychologisches Kriterium B: Verhaltens-Aspekte (exzessiver Aufwand bezogen auf Beschwerden)
① Meine gesundheitlichen Sorgen behindern mich im Alltag.
② Meine körperlichen Beschwerden beschäftigen mich den grössten Teil des Tages.
③ Die Sorgen um meine Gesundheit rauben mir Energie.
④ Durch meine körperlichen Beschwerden kann ich mich schlecht auf andere Dinge konzentrieren.
Toussaint et al, Psychosom Med 2016
Nie, selten, manchmal, oft, sehr oft
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Prävalenz der SBS und Überlappung der 3 B-Kriterien (ABC) bei n=399 Patienten einer neurologischen Schwindelambulanz Struktureller Schwindel: 64% Funktioneller Schwindel: 36%
• Kriterium A (PHQ-15): 82% • Kriterium B: 77% • Kriterium C: 79% • Somatische
Belastungsstörung: (Kriterien A + B + C)
• SBS doppelt so häufig diagnostiziert wie eine somatoforme Störung
• Jeder 2. Patient mit SBS hat auch eine psych. Komorbidität (SCID-I)
Limburg et al, J Psychosom Res 2016
53%!
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Heftigste Kritik!
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• „…reflects a consistent bias throughout DSM-5 to expand boundaries of psychiatric diagnosis“
• „Millions of patients could be mislabelled.“
• „…the mistake of causally mislabelling physically ill as also mentally disordered.“
• „A false positive diagnosis of SSD harms patients because it may result in any underlying medical causes being missed.“
• „...subjects patients to stigma, inappropriate drugs, and psychotherapy…“
• „Clinicians are best advised to ignore this new category.“
«Ban the use of the new somatic symptom disorder in the DSM-5 before it devastates millions of people»
Frances, BMJ 2013
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WARUM MUSSTE ES SOWEIT KOMMEN?
Diskussionspunkte 1. Dilemmata der bisherigen psychosomatischen
Diagnosen
2. Klinische Erfahrung und wissenschaftliche Erkenntnisse als Grundlagen für die neu geschaffene Diagnose Somatische Belastungsstörung (Somatic Symptom Disorder DSM-5)
3. Chancen dieser «neuen» Diagnose
4. Ausblick: Mögliche Einflüsse auf die Identität der Psychosomatik und das Versorgungssystem
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Warum schafft die Psychosomatik neue
Diagnosen…
…und schafft alte ab?
Das Dilemma psychosomatischer Diagnostik - oder:
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Körperbeschwerden sind häufig und präsentieren sich v.a. in der Grundversorgung und bei somatischen Fachärzten
• In der Allgemeinbevölkerung berichten mindestens 80% der Personen über selbstlimitierende, d.h. nicht krankhafte bzw. „normale“ Körperbeschwerden in der vergangenen Woche.
• Diese können im Zusammenhang stehen mit einem psychischen Faktor (z.B. Kopfschmerzen bei Ärger), einem körperlichen Faktor (z.B. Rückenschmerzen nach langer Autofahrt) oder der Zusammenhang bleibt unklar.
• In der allgemeinmedizinischen Grundversorgung präsentieren 20-40% der Patienten körperliche Beschwerden, für welche sich keine organische Ursache finden lässt.
• Bei Fachärzten sind es 5-50%.
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«Alte» Psychosomatische Störungen ICD-10 • F44 Dissoziative Störungen („Konversion“) • F45 Somatoforme Störungen
F45.0 Somatisierungsstörung F45.1 Undifferenzierte Somatisierungsstörung F45.2 Hypochondrische Störung F45.3 Somatoforme autonome Funktionsstörung F45.4 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung F45.8 Sonstige somatoforme Störungen F45.9 Somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet
• F48.0 Neurasthenie
• F54: psychologische Faktoren und Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten
• Körperliche Symptome bei affektiven Störungen (F3), Angststörungen, Reaktionen auf schwere Belastungen (PTBS) und Anpassungsstörungen (F4)
• Essstörungen, nicht-organische Schlafstörungen (F5)
Fallvignette: «Der chronisch müde Patient» – Herr M., Jg. 1954 Bis zum 40. Lebensjahr «top gesund», begeisterter Tennisspieler auf
beachtlichem Wettkampfniveau. Immer «gesund und seriös» gelebt, sich gut ernährt, regelmässig um 22:00 zu Bett, um 6:00 aufgestanden, kein «Festbruder». Am Morgen «Juchzen», nach Tennis voller Elan zur Arbeit.
Ab 1995 zunehmend nach dem Erwachen wie gerädert, «nur noch zwischen Bett und Arbeit gependelt». Körperlich immer schlechter, zuletzt (2000) nicht mehr fähig, den Aargauerstalden zu Fuss zu bewältigen (Schwitzen, Atemnot, schwere Beine, Ohrensausen), Muskelschmerzen, Konzentrationsstörungen, Kopfgefühl wie «zerschlagene Scheibe».
Vom Hausarzt 2001 ins Schlaflabor geschickt, Diagnose OSAS (AHI = 18; ESS = 11 Punkte). Trotz 18-monatiger Therapie mit CPAP unverändert anhaltende Müdigkeit (AHI = 4; ESS = 0 Punkte). Alle anderen Untersuchungen ohne Ergebnis. Seit Mitte 2002 AUF zu 100%.
Status idem 11/ 2016: 100% IV-Rente, Tagesstruktur, Sport, «Achtsamkeit», keine Medikamente (mehr), stützende Ehefrau, soziale «Abschirmung», ambulanter Termin 2x/J
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«Alte» Psychosomatische Störungen ICD-10 • F44 Dissoziative Störungen („Konversion“) • F45 Somatoforme Störungen
F45.0 Somatisierungsstörung F45.1 Undifferenzierte Somatisierungsstörung F45.2 Hypochondrische Störung F45.3 Somatoforme autonome Funktionsstörung F45.4 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung F45.8 Sonstige somatoforme Störungen F45.9 Somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet
• F48.0 Neurasthenie
• F54: psychologische Faktoren und Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten
• Körperliche Symptome bei affektiven Störungen (F3), Angststörungen, Reaktionen auf schwere Belastungen (PTBS) und Anpassungsstörungen (F4)
• Essstörungen, nicht-organische Schlafstörungen (F5)
→ oder hat Herr M. etwa ein CFS G93.3 ???
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Chronic Fatigue Syndrom (CFS) • Schwere Müdigkeit für mind. 6 Monate, durch Ruhe nicht gebessert,
durch eine körperliche oder psychiatrische Ursache nicht erklärbar
• Vier von acht zusätzlichen Beschwerden müssen gegeben sein (CDC): – Störungen der Merkfähigkeit und der Konzentration – Häufiges “Kratzen im Hals” – Schmerzhafte Lymphknoten am Hals und in den Achseln – Muskelschmerzen – Gelenkschmerzen (ohne Rötung und Schwellung) – Neuartige Kopfschmerzen – Schlaf ist nicht erholsam – Erschöpfungs- und Krankheitsgefühl nach körperlicher und
mentaler Anstrengung (oft mit Verzögerung auftretend, über 24 Stunden anhaltend)
http://www.cdc.gov/cfs/
Fukuda et al, Ann Intern Med 1994
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Prävalenz Chronic Fatigue (> 6 Monate) ohne medizinische oder psychiatrische Ursache
• Populationsstudien: 2% • Grundversorgung: 9%
Prävalenz Chronic Fatigue Syndrom (CFS)
• Populationsstudien, Interview: 0.8% (95% CI: 0.2-1.3)
• Populationsstudien, Selbstbericht: 3.5% (95% CI: 2.4-4.6)
• Grundversorgung: 1.7% (95% CI: 0.4-1.4)
Buchwald et al, Ann Intern Med 1995 Bates et al, Arch intern Med 1993
Johnston et al, Clin Epidemiol 2013 (Meta-Analyse)
Herr M. hat tatsächlich ein CFS! • Erschöpfung und Müdigkeit seit mehr als 6 Monaten • Nach dem Erwachen wie gerädert (nicht erholt) • Muskelschmerzen • Konzentrationsstörungen • Beschwerden nehmen nach Anstrengung zu • “Komisches Kopfgefühl”
• Beeinträchtigung: 100% AUF
• Eine andere somatische od. psychiatrische Ursache für die Erschöpfung findet sich nicht.
• Ursprüngliche Ursache für Erschöpfung (OSAS) wurde offenbar erfolgreich therapiert.
Liebman et al, J Health Psychol 2009: Persistierende Fatigue trotz CPAP bei OSA Patienten.
Ist das spanned?
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„Die Existenz spezifischer funktioneller somatischer Syndrome und Symptome ist ein Artefakt der medizinischen Spezialisierung“
Wessely et al, Lancet 1999
Psychiatry Somatoform pain disorder, Neurasthenia
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Chronische somatische Symptome: Labeling und pathogene-tisches Verständnis: wie hilfreich für ÄrztInnen und PatientInnen?
• Beschreibende Symptome = «wertfrei» - Chronic Fatigue (Syndrom) - Chronische Schmerzsyndrome (z.B. „chronic widespread pain“)
• Funktionelle Symptome und Syndrome = gestörte Körper-/Organfunktion - «Verspannungen» (z.B. Spannungskopfschmerz) - «gereizte» Organe (z.B. Reizdarm)
• Psychiatrische Symptome = Ausdruck einer psychiatrischen Störung - «larvierte» Depression - Somatoforme Störungen («Psychogenie») - verdrängte psychische Konflikte (Konversion)
• Medizinisch erklärbare vs. nicht erklärbare Symptome (medically unexplained physical symptoms, MUPS; per exclusionem)
- keine Organpathologie - kein struktureller Gewebeschaden - kein anerkannter physiologischer Prozess (z.B. Entzündung)
• Einbildung, Aggravation, ….Simulation = etwas für die Juristen
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Was lief „falsch“ mit den somatoformen Störungen / MUPS?
• „Somatoform“ von Patienten nicht akzeptiert und für viele Nicht-Psychiater ein schleierhaftes Konstrukt; letztere ziehen Symptomdiagnosen vor (z.B. atypischer Thoraxschmerz)
• „Depression“ wird mitunter unstatthaft als Substitut für somatoform bzw. «nicht-erklärbare» körperliche Symptome verwendet.
• „Medically unexplained physical symptoms“ perpetuiert Mind-Body-Dualismus, ist Ausschlussdiagnose, schafft Unklarheit, was noch „erklärbar“ ist.
Krankheit, die dadurch definiert ist, dass etwas fehlt (d.h. keine medizinisch erklärbaren körperlichen Symptome)
! Es brauchte positive Diagnosekriterien unter Einbezug von psychologischen und Verhaltenscharakteristika. ! Somatische Belastungsstörung und affektive Störungen sollen separat codiert werden
Dimsdale & Creed, J Psychosom Res 2009, Dimsdale et al, J Psychosom Res 2013
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Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
DSM-5 300.82: «Somatic Symptom Disorder» bzw. «Somatische Belastungsstörung»
Kriterien A, B (mind. 1) und C müssen erfüllt sein A. Somatische(s) Symptom(e): - belastend oder zu Störungen des Alltagslebens führend B. Psychologische Kriterien bezogen auf körperliche(s) Symptom(e) - Übertriebene und anhaltende Gedanken über die Ernsthaftigkeit des
Symptoms (kognitiv) - Anhaltend hohes Angstniveau bezogen auf Gesundheit oder
Symptome (emotional) - Exzessiver Zeit- und Energieaufwand bezüglich der Symptome oder
Gesundheitssorgen (Verhalten) C. Symptombelastung ist persistierend (meist > 6 Monate)
Ersetzt Somatisierungsstörung, undifferenzierte somatoforme Störung, Hypochondrie, Schmerzstörung
DSM-5, American Psychiatric Association, 2013 (Deutsch: 2015)
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Chronische Körpersymptome – Stand Anfang 2017 (1) Die meisten (chronischen) somatischen Symptome («was die
Patienten körperlich spüren») lassen sich weder medizinisch noch psychiatrisch erklären.
(2) Es herrscht unter Fachkräften keine Einigkeit, welche Körperbeschwerden «medizinisch erklärbar» sind.
(3) Patienten leiden wegen ihrer Körpersymptome unabhängig von deren Pathogenese umfassend bio-psycho-sozial (Somatische Belastungsstörung).
(4) Mehr Symptome bedeutet schlechtere Lebensqualität, mehr psychiatrische Komorbidität, mehr AUF und höhere Kosten
(5) Das Konzept der zentralen Hypersensitivität …liefert eine medizinische (bio-psycho-soziale) Erklärung für medizinisch nicht
erklärbare Symptome («forget about medically unexplained!») …intensiviert ebenfalls Symptome aufgrund einer körperlichen Erkrankung
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Aktuelle Literatur zu diesen Entwicklungen
Änderungen im DSM-5: „Somatic Symptom Disorders“ (SSD)
Änderungen für ICD-11: „Bodily Distress Disorder“ (BDD)
DSM-5, American Psychiatric Association 2013 Dimsdale & Creed, J Psychosom Res 2009
Fink & Schröder J Psychosom Res 2010
Ziel: Bessere klinische Versorgung!
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"Bodily Distress Disorder" ICD-11 Beta Draft (ICD-10: F45)
• Is characterized by the presence of bodily symptoms that are distressing to the individual and excessive attention directed toward the symptoms
• which may be manifest by repeated contact with health care providers.
• If a medical condition is causing or contributing to the symptoms, the degree of attention is clearly excessive in relation to its nature and progression.
• Excessive attention is not alleviated by appropriate clinical examination and investigations and appropriate reassurance.
• Bodily symptoms and associated distress are persistent, being present on most days for at least several months, and are associated with significant impairment in personal, family, social, educational, occupational or other important areas of functioning.
• Typically, bodily distress disorder involves multiple bodily symptoms that may vary over time. Occasionally there is a single symptom—usually pain or fatigue—that is associated with the other features of the disorder.
Gureje & Reed, World Psychiatry 2016
Fink & Schröder, J Psychosom Res 2010
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One single diagnosis, bodily distress syndrome, succeeded to capture 10 diagnostic categories of functional somatic syndromes and somatoform disorders.
• 978 consecutive patients from neurological (n=120) and medical (n=157) departments and from primary care (n=701), only clinically relevant cases, i.e., patients with impairing illness.
• Bodily distress syndrome included 100% of patients with FM (n=58); CFS (n=54) and hyperventilation syndrome (n=49); 98% of those with IBS (n=43); and at least 90% of patients with noncardiac chest pain (n=129), pain syndrome (n=130), or any somatoform disorder (n=178).
• Overall agreement of bodily distress syndrome with any of these diagnostic categories = 95% (95% CI 93.1–96.0; P<.0001).
Fink & Schröder, J Psychosom Res 2010
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel 38
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Beobachtung über 3 Jahre der 14 häufigsten Symptome bei 1‘000 Patienten in einem Ambulatorium für Innere Medizin (Texas, USA)
567x neu aufgetreten bei 38% der Patienten
1. Thoraxschmerz 2. Müdigkeit 3. Schwindel 4. Kopfschmerzen 5. Ödeme 6. Rückenschmerzen 7. Atemnot 8. Schlafstörungen 9. Bauchschmerzen 10. Taubheitsgefühl 11. Impotenz 12. Gewichtsverlust 13. Husten 14. Verstopfung
• Diagnostische Testung erfolgte in mehr als 2/3 der Fälle.
• Eine organische Ursache konnte (im Verlauf) in nur 16% gefunden werden (10% psychologisch, 74% unklar)
• Behandlung erfolgte in 2/3 der Fälle
• Verbesserung in 50%... …unabhängig davon, ob Symptome
behandelt wurden oder nicht!
• Bessere Prognose: - organische Ursache - Dauer<4 Monate - ≤2 Symptome
Kroenke et al, Am J Med 1989
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel 39
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Anzahl fachärztlicher Visiten unabhängig davon, ob Symptome medizinisch erklärbar sind oder nicht!
295 kardiologische, gastroenterologische und neurologische ambulante Patienten mit körperlichen Symptomen (39% MUPS, 61% medizinisch erklärbar)
Jackson et al, J Psychosom Res 2006
Beziehung zw. Symptom Schweregrad und Status in verschiedenen Funktionsbereichen im Vgl. zur Referenzgruppe (PHQ-15 score 0-4)
Statistisch kontrolliert für Alter, Geschlecht, Ausbildung, Anzahl körperliche Krankheiten
Kroenke et al, Psychosom Med 2002
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel 41
Psychosomatische Medizin Klink Barmelweid
Chronic Fatigue als Ausdruck einer Wahrnehmungsstörung des übersensiblen Hirns (Central Hypersensitivity) • Das Gehirn “produziert” ein übermässiges und langanhaltendes Müdigkeits-
gefühl bei Tätigkeiten, die eine durchschnittliche Person normalerweise nicht oder nur kurzzeitig ermüdend wahrnimmt (“Neuroinflammation”)
• Funktionelle Bildgebung bei CFS: Erhöhte Aktivität in kortikalen und sub-kortikalen Regionen während kognitiver Aufgabe - assoziiert mit berichteter Ermüdung. CFS Patienten erbringen für gleiche Performance wie Kontrollen eine subjektiv grössere mentale Anstrengung, was sich objektivieren lässt.
• Zentrale Hypersensivität: Übersensible Wahrnehmung durch Müdigkeitslupe wegen Vulnerabilität. Woher? genetisch, frühere Erfahrungen (z.B. Stress, Infekte, Entzündungen, Krebs/Chemo, Übertraining, allg. “Fatiguegedächtnis”).
• Auslöser: vielfältige körperliche und psychische Stressoren.
• Eigendynamik, durch aufrechterhaltende Faktoren: Dekonditionierung, sekun-däre Stressoren (z.B. drohender Verlust der Arbeitsfähigkeit, übermässige Anstrengungen bei “Durchbeissern”, entzündliche Krankheiten).
Morris et al, BMC Med 2015; Ursin, Psychoneuroendocrinology 2014; Tanaka et al, Rev Neurosci 2013; Jackson & Bruck, J Clin Sleep Med 2012; Cook et al, Neuroimage 2007
Müdigkeitswahrnehmung im Hirn
Körperliche und kognitive Anstrengung
= Müdigkeitslupe
normale körperliche und kognitive Ermüdung
schweres Erschöpfungs-gefühl
Dr. med. N. Egloff, Schulungsclip Psychosomatik
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel 43
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Central Sensitivity Syndromes (CSS)
Kardinalkriterium von FSS und somatoformen
Störungen (gemeinsame
Pathophysiologie) =
Zentrale Sensitivierung
+ Hypersensitivität
Yunus, Semin Arthritis Rheum 2008 Ursin, Psychoneuroendocrinology 2015
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel 44
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Zusammenspiel von neurobiologischen, psycho-neuroinflammatorischen und strukturellen/läsionalen Einflussfaktoren für die Perzeption von Körpersymptomen und Stellenwert von Angst und Stimmung/Depressivität
von Känel, im Druck
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel 45
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Erfassung von klinisch relevanter psychiatrischer Komorbidität mit dem Gesundheitsfragebogen für Patienten (PHQ-4)
Sensitivität und Spezifität bei ≥ 3 Punkten je ~ 80% für Depression (Items 1+2) und Angststörung (Items 3+4)
Löwe et al, J Affect Disord 2010
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(Persönliche) Replik zur Somatischen Belastungsstörung
„Stoff“ für Diskussionen…
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(Persönliche) Replik zur neuen DSM-5 Diagnose SBS (I) • Trägt der klinischen Tatsache Rechnung, dass Patienten mit körperlichen
Symptomen - unabhängig von deren Ursachen - leiden können und zwar vor allem an den Gedanken und Ängsten bezogen auf diese Symptome.
• SBS basiert auf Stressmodell: Körperliches Symptom ist ein Stressor, welcher je nach zur Verfügung stehenden Bewältigungsmöglichkeiten (Coping) zu einer chronifizierten Stressreaktion (kognitiv, affektiv, behavioral, physiologisch) mit Krankheitswert führen kann.
• Rasche und relativ einfache Identifizierung von Patienten mit hoher psychischer Belastung (Leiden) wegen ihrer körperlichen Beschwerden im Setting der somatischen Medizin (dort, wo diese Patienten überwiegend gesehen werden!). Häufig sind es gerade Gedanken und Ängste bezogen auf Symptome, welche die Patienten zum Arzt bringen (z.B. IBS).
• Präventives Potenzial: Mögliche Sekundärfolgen wie Depressivität, Abnahme der Lebensqualität, Arbeitsunfähigkeit und hohe Gesundheitskosten können so früher erkannt und angegangen werden.
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(Persönliche) Replik zur neuen DSM-5 Diagnose SBS (II)
• Aufhebung des Mind-Body Dualismus bei der Suche nach Erklärungen für «medizinisch nicht erklärbare» körperliche Symptome ist revolutionär und wirkt potenziell entstigmatisierend.
• Mind-Body Dualismus bei den Klassifikationssystemen für Krankheiten als eine grundsätzliche Problematik der westlichen Medizin (DSM-5, F-Kapitel ICD-10): Entstigmatisierung wird „torpediert“ durch die Tatsache, dass die SBS immer noch in einem Manual für mentale Störungen aufgeführt ist.
• Die Diagnostik einer SBS entbindet Mediziner aller Fachrichtungen nicht davon, eine bio-psycho-soziale Diagnostik lege artis durchzuführen und sowohl somatische als auch psychiatrische Krankheiten zu suchen, welche die somatischen Symptome (mit)erklären könnten (Bsp. CF).
• Gegen katastrophisierende Gedanken, exzessive Ängste und ungünstiges Krankheitsverhalten kann und muss therapeutisch etwas unternommen werden. Hierzu muss man deren klinische Bedeutung erst würdigen, was mit der SBS erfolgt ist.
Kupfer, Kuhl, Wulsin. Psychiatry‘s Integration with Medicine: The Role of DSM-5. Annu Rev Med 2013
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Die SBS ist das "Kerngeschäft" der Psychosomatik Psychosomatische Medizin ist die Spezialität für somatische Belastungsstörungen; d.h. für jegliche körperlichen Symptome, die dadurch Krankheitswert erhalten, dass Patienten wegen Symptom-bezogener dysfunktionaler Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen übermässig medizinische Versorgung in Anspruch nehmen und leiden.
Versorgung mit abgestuftem Behandlungssetting je nach Symptom-Schweregrad: • Population: edukative und präventive Bestrebungen • Grundversorgung: Fortbildungen zu SBS, insb. viele Symptome =
grosses Risiko für Leiden, funktionelle Einschränkungen im Alltag, psychische Belastung, wiederholte Arztbesuche, Kosten, AUF etc.
• Grundversorgung +: FA SAPPM • Spezialisten (Ambulanzen/Spitäler): schwere Fälle (z.B. komorbide
körperliche / psychiatrische Krankheiten, starke Ängste, ungünstige Verhaltensweisen, drohende AUF); i.d.R. interdisziplinär, multimodal
Somatische Belastungsstörung (SBS) / Prof. R. von Känel 50
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• Kognitive Verhaltenstherapien • Entspannungsformen (einschl. Achtsamkeit) • Andere Formen der Psychotherapie • Psychopharmaka • Körperliche Aktivität • Edukation etc. • Team-basiert (Training und Unterstützung von Grundversorgern)
Mehrere empirisch getestet Therapien stehen zur Verfügung, mit welchen sich Elemente der SBS behandeln lassen.
Dimsdale et al, J Psychosom Res 2013; Sharma & Manjula, Int Rev Psychiatry 2013
Das somatische Symptom – Fatigue, Schmerz – sollte in den Fokus rücken, Zugang über das Körpererleben scheint hilfreich
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Zusammenfassung
• Revolutionäre Änderung in der Terminologie psychosoma-tischer Störungen ist Realität (SBS; BDD am Horizont).
• Obsoleter Dualismus: körperliche Beschwerden mit/ohne organischen Befund hinsichtlich des assoziierten bio-psycho-sozialen Leidens.
• Im besten Falle bewirkt Einführung der SBS: - Frühere Identifikation von Patienten mit potenziell schlechtem Verlauf
von körperlichen Beschwerden (Prävention) - Adäquatere Patientenbetreuung (braucht Weiterbildung,
„revolutionäre“ Versorgungssysteme, z.B. Team-basiert) - Mehr Zufriedenheit bei Patienten und Ärzten - Kosteneinsparungen