Post on 03-Feb-2021
Perfektion wird Klang
Arturo Benedett i Michelangel iEinleitung und Koordination von Pier Carlo Della Ferrera
Texte von Marco Vitale (Gespräch mit Isacco Rinaldi) und Lidia Kozubek
KlavierKonzert für
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Vorige Seite:
Arturo Benedetti
Michelangeli gegen
Ende der 40-er Jahre
auf einem Bild der
berühmten ungarischen
Fotografin Ghitta Carell,
die in ihren Porträts
die wichtigsten
Persönlichkeiten des
20. Jahrhunderts
verewigte.
Plakat eines Konzerts
von Arturo Benedetti
Michelangeli mit dem
RAI-Symphonie-
orchester der Fenice
von Venedig am 16.
September 1953 –
eins der wenigen
gemeinsamen Projekte
des Meisters mit
Herbert von Karajan.
Arturo Benedetti Michelangeli
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Perfektion wird Klang
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Arturo Benedetti Michelangeli wurde inBrescia am 5. Januar 1920 geboren. SeineEltern kamen aus Umbrien und waren erstwenige Monate zuvor in der lombardischenStadt angekommen. Der Vater Giuseppestammte aus einer angesehenen Familieaus Foligno; er hatte Jura und Philosophiestudiert und war als Anwalt tätig. Da er aus-serdem einen Abschluss in Klavierkomposi-tion hatte, gab er auch Unterricht in Musik-geschichte, musikalischer Theorie undHarmonielehre. Michelangelis Mutter AngelaPaparoni hatte ihre Kindheit und Jugendmit ihrer Familie zuerst in Terni und dannin Bologna verbracht. Nach dem Schul-abschluss begann sie ein Studium der Geistes-wissenschaften und Mathematik, wandte sichdann aber der Erziehung ihrer Kinder undihrer eigenen Familie zu.Das lebhafte Interesse für die Musik ist alsoin Michelangelis Elternhaus tief verwurzelt,und so beginnt der kleine Ciro – er wurdewegen seiner Locken und der damit verbun-denen Ähnlichkeit mit einer beliebten Figuraus der Zeitschrift “Corriere dei Piccoli” sogenannt – bereits mit drei Jahren, unter derAnleitung seines Vaters das Klavierspielenzu lernen. Dennoch ist es vor allem dieMutter, die einen starken Einfluss auf diekünstlerische Entwicklung ihres Sohnesausübt und ihn zum Spielen anhält. Dasgeht so weit, dass sie entscheidet, ihn nicht
zur Schule zu schicken, sondern ihn selbst zuunterrichten. Mit vier Jahren tritt er bereits in die städti-sche Musikschule ein, das “Civico IstitutoMusicale Venturi” in Brescia, wo ihn PaoloChimeri unter seine Fittiche nimmt. Am 10.März 1927 – Michelangeli ist gerade siebenJahre alt – erntet er allgemeines Erstaunenund Bewunderung, als er bei der Abschluss-vorstellung des Schuljahres 1925-26 zumersten Mal auf einer Bühne auftritt.Vom Frühjahr 1929 an bekommt er Privat-unterricht von Giovanni Anfossi in Mailand.Seine Mutter begleitet ihn jede Woche dort-hin, und am 22. Oktober 1931 schliesst er dieerste Stufe der Klavierausbildung am Verdi-Konservatorium in der lombardischen Metro-pole ab. Keine drei Jahre später, am 11. Juni1934, bringt er die musikalische Ausbildungmit einem Klavierdiplom zum Abschluss.Bereits in dieser Zeit und auch in den darauffolgenden Jahren nimmt er Geigenunterrichtbei Ferruccio Francesconi und lernt Orgelund Komposition bei Isidoro Capitanio.Während seiner Zeit in Mailand bekommt erdie Gelegenheit, bei Maria Lentati de’ Medicivorzuspielen, einer feinsinnigen Musik-expertin, die in dem jungen Pianisten bereitsdas zukünftige Genie erkennt. Sie fördertseine Talente nach Kräften und schenkt ihmseinen ersten Steinway-Flügel. Die adligeDame wird in dieser Phase der künstlerischenEntwicklung des Meisters eine entscheidendeRolle spielen. Nachdem er sich in den Jahren zwischen1936 und 1938 bei einigen landesweiten
Rechts:
Das Venturi-
Musikinstitut in Brescia,
wo Arturo Benedetti
Michelangeli mit vier
Jahren das Klavier-
spielen lernte. Mit
seinem ersten Lehrer
Paolo Chimeri entstand
dabei auch eine tiefe
persönliche Bindung.
Unten:
Der neunjährige “Ciro”
mit seiner Mutter und
Maestro Chimeri,
eins der wenigen
Familienfotos aus
Kindertagen.Arturo
Benedetti Michelangeli
hatte zwei Geschwister:
Umberto, der die Erste
Geige in einem
bedeutenden Orchester
spielte, und Liliana, die
mit acht Jahren an einer
Lungenentzündung starb.
Wettbewerben hervorgetan hat, erscheintArturo Benedetti Michelangeli nun auch zumersten Mal auf der internationalen Bühne:beim Eugène-Ysaÿe-Wettbewerb der Königin-Elisabeth-Stiftung in Brüssel belegt er zwarnur den siebten Platz, wird von Kritik undPublikum aber gleichwohl als der eigentlicheSieger angesehen. Im Juli 1939 siegt er dage-gen beim Concours International d’ExécutionMusicale in Genf und wird von den Kritikernals der neue Liszt gefeiert. Der Ruhm, den erbei dieser Veranstaltung erntet, bringt ihmeinen Lehrstuhl am Konservatorium vonBologna ein.Ende Januar 1942, mitten im Krieg, wird erbei der dritten Sanitätskompanie in der Nähevon Mailand eingezogen. Von seinen abenteu-erlichen Kriegserlebnissen ist wenig überlie-fert; das Wenige, das wir wissen, ist durchschriftliche Zeugnisse einiger Personen
bekannt, die ihm sehr nahe standen. Nachdem 8. September 1943 flieht er vor denRazzien der deutschen Besatzer und demnachfolgenden Musterungsbefehl der neugegründeten Republik von Salò nach Borgo-nato di Cortefranca. Dort wird er im Schlossder Familie Berlucchi aufgenommen, undbereits am 20. September heiratet er GiulianaGuidetti in der Kirche San Vitale. (Die Ehewird am 10. März 1970 vom Gericht inBrescia wieder geschieden). Das jung ver-mählte Paar lebt zunächst in Sale Marasino ineiner Villa oberhalb des Sees von Iseo, die derFamilie Martinengo gehört. Michelangelibleibt dort bis zum November 1944, als ernach einem Bombenangriff, bei dem dasGebäude und unter anderem auch der vonseinen ersten Gagen gekaufte Konzertflügelbeschädigt wird, zur Räumung des Domizilsgezwungen ist. Wir sehen ihn als nächstesnach Gussago ins Haus der Familie Togni
ziehen, wo er von den Faschisten verhaftetwird. Man bringt ihn als Gefangenen insHauptquartier der SS in den ebenfalls amIseosee gelegenen Ort Marone. Wenige Tagespäter wird er Dank der Fürsprache vonInnocente Dugnani, des Provinzleiters vonBrescia, in die Provinzhauptstadt gebracht,wo er einige Zeit lang unter dem Dach desHotels “Vittoria” versteckt lebt. Trotz des Einberufungsbefehls und der tragi-schen Wechselfälle des Krieges kann er seineKonzertaktivitäten in eingeschränktem Massfortsetzen. Unterstützt wird er dabei vonPrinzessin Maria José, Tochter der KöniginElisabeth von Belgien, die die Leistungen desjungen Talents beim Wettbewerb von Brüsselnicht vergessen hat. Er spielt in der Akademievon Santa Cecilia in Rom, in der Scala inMailand und beim “Maggio Musicale Fio-rentino” (Musikalischen Mai in Florenz) undgibt einige weitere Konzerte in verschiedenenStädten Italiens und der Schweiz. Danebendebütiert er 1940 in Barcelona und 1943 inBerlin.Aus dieser Zeit stammen auch die erstenPlattenaufnahmen. 1941 wird für “La Vocedel Padrone” seine erste 78-er Platte heraus-gebracht. Mit His Master’s Voice und mitTelefunken macht er bis in die späten 50-erJahre noch zahlreiche weitere Aufnahmen. Nach dem Ende des Krieges nimmt er dieLehrtätigkeit wieder auf. Er bekommt denLehrstuhl für Klaviermusik am Konservato-rium von Venedig und leistet als Präsidentder Konzertvereinigung “Santa Cecilia” einenentscheidenden Beitrag zum Wiederauflebendes musikalischen Lebens in seiner Heimat-stadt. Diesen Posten gibt er 1947 wegen sei-ner zunehmenden Konzertverpflichtungenin der ganzen Welt wieder auf. So spielt er1946 in der Royal Albert Hall in London;1948-49 führt ihn die erste seiner zahlreichenTourneen in die Vereinigten Staaten (weiterewerden in den Jahren 1950, 1967, 1968, 1970und 1971 folgen). 1949 spielt er in Süd-amerika und 1951 in Südafrika.1950 geht er ans Monteverdi-Konservatoriumvon Bozen und folgt damit dem Ruf desdamaligen Direktors Cesare Nordio, mit demer auch den Busoni-Wettbewerb für Pianistenaus der Taufe hebt. Bis 1959 bleibt er inSüdtirol, wo er neben den staatlichen Kursenauch in einer privaten Schule unterrichtet,die er in Schloss Paschbach bei Appiano
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Arturo Benedetti Michelangeli
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Ein seltenes, anrühren-
des Bild von Arturo
Benedetti Michelangeli
mit der kleinen
Donatella in der Villa
Berlucchi in Borgonato
di Franciacorta aus dem
Oktober 1945.
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Perfektion wird Klang
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gegründet hat. Damit kommt er den Bedürf-nissen zahlreicher Pianisten aus der ganzenWelt entgegen, die bereits Abschlüsse in derTasche und teilweise auch bedeutendeWettbewerbe gewonnen haben, weshalb sievon den Konservatorien nicht mehr aufge-nommen werden. 1952 und 1953 beginnendann zum ersten Mal die Kurse in Arezzo, dieschnell zu einer Institution werden und zwi-schen 1955 und 1965 jedes Jahr stattfinden.Sie werden von der ortsansässigen “As-sociazione Amici della Musica” (Gesellschaftder Musikfreunde) mit der entschiedenenund leidenschaftlichen Unterstützung desRichters Mario Bucciolotti organisiert. Von1960 bis 1962 gibt es daneben auch Kurse inMoncalieri, die Dank der Vermittlung vonLidia Palomba von Fiat finanziert werden.Und schliesslich sind noch die Kurse von1965 und 1966 in der Accademia Chigiana inSiena zu nennen. Die Lehrveranstaltungen von Michelangelisind exklusiv und haben nie mehr als 25 oder30 Schüler, auf die der Maestro seineLektionen zuschneidet. Er lebt die Lehre wie eine Mission, wie eine moralischeVerpflichtung, und er widmet sich ihr miteiner unermüdlichen und einzigartigenLeidenschaft und Grosszügigkeit. Für seineArbeit lässt er sich nie bezahlen. Seine intensive Lehrtätigkeit hindert ihnallerdings nicht daran, auch weiterhin in denKonzertsälen der Welt von sich reden zu
machen. 1955 spielt er in Warschau (wo erauch Mitglied der Jury beim Chopin-Wettbewerb ist); 1957 debütiert er in Pragund 1964 in Moskau. Zwischen dem Ende der50-er Jahre und dem Anfang der 60-er führenihn seine Konzertreisen durch Spanien,Deutschland, Portugal, Frankreich, Öster-reich und die Schweiz. 1962 tritt er imVatikan vor Papst Johannes XXIII und 1966vor Paul VI auf. 1965 spielt er zum ersten Malin Japan, wohin er 1973, 1974, 1980 und 1982zurückkehren wird. In jenem Jahr wird aufeine Initiative von Agostino Orizio hin, dasnach Arturo Benedetti Michelangeli benann-te Internationale Klavierfestival von Bresciaund Bergamo ins Leben gerufen, das bereitsim Vorjahr mit einigen Konzerten zum 25-jährigen Jubiläum der Lehrtätigkeit des gros-sen Maestro eine inoffizielle Vorpremiereerlebt hat.Die Plattenaufnahmen nehmen zu dieser Zeitdeutlich ab. Abgesehen von einigen wichti-gen Aufnahmen aus dem Jahr 1965 (beiDecca-BDM veröffentlicht) betritt er dieganzen 60-er Jahre über kaum ein Studio,ein Umstand, der zur Verbreitung vonRaubkopien seiner Platten nicht wenigbeiträgt. Vergeblich versucht er, diesemTreiben auf gerichtlichem Weg Einhalt zugebieten. Erst in den 70-er Jahren beginnt ermit neuen Aufnahmen in Zusammenarbeitmit EMI und der Deutschen Grammophon.Mit dieser Plattenfirma arbeitet er von 1971
Benedetti Michelangeli
spielt am 28.April 1962
in der Sala delle
Benedizioni des Vatikan
vor Papst Johannes
XXIII. Das Konzert
wurde von Gianandrea
Gavazzeni angeregt
und geleitet, der damit
den Papst ehren wollte,
der wie er aus
Bergamo stammte.
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Arturo Benedetti Michelangeli
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bis zum Ende seiner Karriere zusammen.1959 verlässt er das Konservatorium vonBozen und macht sich an die Planungen füreinen Pianistenkurs auf internationalerEbene, durch den er seine Berufung zurLehre zu krönen hofft. Das zuständigeMinisterium zögert lange mit der Anerken-nung seiner Meriten und mit einer Antwortauf seine Anfrage – zu lange, denn derMaestro entscheidet anders: er gründet einekleine Privatschule an einem Ort, der ihmgeeignet erscheint: in der Abgelegenheit derBerge des Val di Rabbi, am Trient zugewand-ten Hang des Stilfser Nationalparks kauft erzwei Almhütten. Eine davon wurde alsUnterkunft und die andere als Schulungs-raum hergerichtet. Es folgt eine kurze Zeitdes Friedens und der Heiterkeit in der Naturund der Stille der Alpenlandschaft, die fürseine musikalischen Aktivitäten eine idealeKulisse darstellt. Dazu kommt noch eineneue Erfahrung: die Harmonisierung voninsgesamt 19 Gesängen des SAT-Chores, mitdem er bereits seit 1954 eine fruchtbareZusammenarbeit unterhält.Doch Frieden und Ruhe finden schon am 13.Juni 1968 ein jähes Ende. Als Gesellschafterder Plattenfirma BDM in Bologna wirdMichelangeli in deren Konkurs hineingezo-gen. Ohne weitere Zimperlichkeiten undohne Rücksicht auf den Vertrag, der Miche-langeli von jeder Haftung entbindet, schrei-ten die gerichtlichen Stellen zur Beschlag-nahmung seines Besitzes einschliesslich derEinkünfte aus allen in Italien abgehaltenen
Konzerten – insgesamt ein Betrag von 89Millionen Lire. Zu der Demütigung und demmoralischen Schaden kommt nun auch einhandfestes wirtschaftliches Problem, das ihnzur Fortführung seiner beruflichen Tätigkeitim Ausland zwingt. Seinen Wohnsitz belässter in Bozen, doch er lebt zum Teil in Rabbiund zum Teil in der Schweiz. In seinerHeimat tritt er nicht mehr auf, abgesehenvon einem Wohltätigkeitskonzert zur Erin-nerung an Papst Paul VI., das im Juni 1980im Teatro Grande von Brescia stattfindet. Am 24. Juli 1969, so geben es die Dokumenteder Einwohnermeldeämter seiner Wohnortewieder, zieht Arturo Benedetti Michelangeliin die Schweiz, wo er sich zunächst imKanton Zürich niederlässt. Gegen EndeSeptember des folgenden Jahres bekommt ereine Aufenthaltsgenehmigung für den KantonTessin, dank der Fürsprache von GiannaGuggenbühl und Carlo Florindo Semini, diesich bei Dr. Solari von der EidgenössischenFremdenpolizei in Bern für ihn verwenden.1969 und 1971 führt er zusammen mitSemini zwei Meisterkurse in der VillaHélénaeum in Castagnola durch – es solltendie letzten seiner Laufbahn als Lehrer sein.Bis September 1974 lebt er in Massagno,dann in Riva San Vitale und ab Dezember1977 in Sagno. Am 1. August 1979 zieht ernach Pura und lebt zur Miete in einer Villa,die er kurz darauf einem anderen grossenPianisten überlässt: Vladimir Ashkenazy. Vondort aus begibt er sich in das Heim seinerletzten Jahre: in Pura, nur wenige hundert
Benedetti Michelangeli
1974 im Gespräch mit
Arthur Rubinstein.
Das Foto wurde von
Marco Miele aufgenom-
men, dem Direktor
des italienischen Kultur-
instituts in Tel Aviv.
Anlass war ein Empfang
in der italienischen
Botschaft nach einem
Festival, das der Staat
Israel zu Ehren des
polnisch-amerikanischen
Pianisten ausgerichtet
hatte.
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Perfektion wird Klang
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Meter von besagter Villa entfernt, an dersel-ben Strasse im Schatten von Kastanien-bäumen, und lebt fortan in weit ab vom Lärmder Massen und in beinahe franziskanischerEinfachheit. Seine gesundheitlichen Leidenwerden durch die Pflege und die Aufmerks-amkeit seiner treuen Sekretärin Anne-Marie-José Gros Dubois etwas gemildert.Die Konzertaktivität lässt in dieser Zeit wie-der nach, doch durch seinen Ruhm ist erinzwischen zum Mythos geworden, und jederAuftritt gerät zu einem öffentlichen Ereignisersten Ranges. 1977 hält er ein Rezital in derSala Nervi im Vatikan ab (zehn Jahre späterwird er drothin zurückkehren) und 1981spielt er im Auditorium des Radio dellaSvizzera Italiana. 1985 erkrankt er an einerhalbseitigen Lähmung infolge von Herz-Kreislauf-Problemen. Für fast ein Jahr wirder in keinem Konzertsaal mehr gesehen.Seine Rückkehr auf die Bühne ist für denFrühling 1986 geplant, er soll in Paris undZürich auftreten, wo er allerdings gezwungenist, das Konzert nach der Pause abzubrechen.Im Januar 1988 spielt er in Bregenz, und am17. Oktober desselben Jahres in Bordeaux –ein dramatischer Auftritt, während dem eram Flügel wegen eines Aneurysmas an der
Aorta zusammensinkt. Er muss einen heiklenchirurgischen Eingriff über sich ergehen las-sen, doch weniger als ein Jahr später tritt erschon wieder auf, in Hamburg und Bremen.Noch im Juni 1992 hält er eine Reihe vondenkwürdigen Konzerten in Münchenzusammen mit den Münchner Philhar-monikern unter der Leitung von Sergiu
Celibidache ab – Anlass ist der 80. Geburtstagdes rumänischen Dirigenten. Die unver-gleichliche und unwiederholbare Karrierevon Michelangeli findet ihren Höhepunktund Abschluss am 7. Mai 1993 in Hamburg.Chopin, Debussy, Mozart, Beethoven, Schu-mann und Ravel sind seine bevorzugtenKomponisten, seine Interpretationen ihrerWerke haben ihn zu einem Höhenflug beflü-gelt, der in der Welt der internationalenKlaviermusik einmalig ist. Im Juni 1995 wird er mit einer erneutenHerzattacke ins Kantonsspital von Luganoeingeliefert. In der Nacht vom 11. auf den 12.Juni stirbt er. Bestattet ist er auf dem kleinenFriedhof von Pura in einem schlichten Grab,das nach seinem Wunsch ohne Grabsteingeblieben ist.“Wer sich an den Maestro als den überra-genden Künstler und rechtschaffenen Mannerinnert, der er war, für den ist die Erinner-ung an ihn nicht nur ein leerer Gedanke, son-dern eine gern gelebte und konkrete Teil-nahme an der Geisteswelt, zu der seine Musikund er selbst als unsterbliche Teile gehören.” 1
Und so endet das irdische Dasein von ArturoBenedetti Michelangeli – einem Menschenund Künstler, der die Wahrheit durch diePerfektion seiner Interpretationen suchte,während die Wahrheit über ihn selbst immernoch darauf wartet, geschrieben zu werden.
1 Mit diesen Worten wendet sich Anne-Marie-José Gros Dubois in
ihrem Dankesschreiben an alle, die in der Trauer über den Tod von
Arturo Benedetti Michelangeli vereint waren.
Arturo Benedetti
Michelangeli und
Maestro Carlo Florindo
Semini in Lugano zu
Beginn der 70-er Jahre.
Perfektion wird Klang
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Nicht nur ein grosser Pianist, sondern ein wahrer grosser Maestro
von Marco Vitale*
Arturo Benedetti Michelangeli am Klavier
im Jahr 1943.
Links:
Arturo Benedetti Michelangeli auf einem Bild
in Hollywood-Manier.
Arturo Benedetti Michelangeli
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Von den Klavierkünsten des Meisters zureden, steht mir nicht zu. Ich bin nur einervon denen, die Lidia Kozubek auf der letztenSeite ihres Buches als seine Fans bezeich-net: “Obwohl seine extrem scheue Art einergesteigerten Popularität eher im Wegestand, machten sich die Kenner und die Fansseiner Kunst aus vielen Ländern zu regel-rechten Pilgerzügen auf, um ihn zu hören.”Ich war dabei in Bregenz, in München, wo ersein legendäres Konzert mit Sergiu Celibi-dache abhielt, von Lugano, Bremen undHamburg. “Pilgerzüge”, so nannte das LidiaKozubek (eine polnische Schülerin desMeisters, die ein sehr gutes Buch über ihngeschrieben hat, das bereits 1992 auf Japa-nisch, dann 1999 auf Polnisch und 2003unter dem Titel Arturo Benedetti Michelan-geli. Come l’ho conosciuto - Arturo Benedetti
Michelangeli. Wie ich ihn kannte - bei L’Eposauf Italienisch erschienen), und mit diesemAusdruck hatte sie den Nagel auf den Kopfgetroffen: diese Fahrten hatten in der Tatnichts mit dem Starkult des Meisters zu tun,sondern waren in gewisser Weise Reisen aufder Suche nach dem Spirituellen, demKontakt mit dem Mysterium, dem Göttlich-en über das Medium der Musik. Und nie-mand konnte solche Gefühle besser weckenals Arturo Benedetti Michelangeli.Ich beschäftige mich mit Menschenführungund Berufsethik, und so hat dieser Maestroimmer eine besondere Faszination auf michausgeübt – nicht nur als unvergleichlicherMusiker, sondern auch als Mensch, alsErzieher und als Vorbild für Konsequenzund Tiefgang. Er war ein Mensch unsererZeit, der sich dennoch den Verdorbenheitenunserer Zeit zu entziehen versuchte: derOberflächlichkeit, der Hast, der Vermarktereiund der Gier. Als Vorsitzender einer bedeu-tenden Musikgesellschaft in Mailand bin ichoft erschrocken über die Habgier, die vielenStars der Musikszene von heute ganz selbst-verständlich zu sein scheint. Sie werdenzum grössten Teil mit öffentlichen Geldernbezahlt, verlangen aber Gagen, die manch-mal höher sind als die der von uns immer sogern kritisierten Fussballstars. Und danndenke ich an die Uneigennützigkeit und dieGrosszügigkeit von unserem Maestro ausBrescia, die von so vielen Quellen bezeugtwird; an sein Engagement für die Lehre(seine Kurse zur Spezialisierung waren
immer kostenlos), die er ohne Kompromisseund Zweideutigkeiten betrieb, und ohnedabei Anstrengungen für sich und seineSchüler zu scheuen. Vor Jahren versuchte ich in meiner und sei-ner Heimatstadt Brescia, eine nach ArturoBenedetti Michelangeli benannte Stiftungins Leben zu rufen, die die Dokumentationüber ihn sammeln und vor allem seineIdeen und Lehren lebendig halten sollte. Indem Rundschreiben sagte ich: “ArturoBenedetti Michelangeli war nicht nur eingrosser Pianist, sondern auch ein grosserMusiker im Allgemeinen und ein Mann voll-er Spiritualität und Religiösität, der oft vonder Presse verkannt und verfälscht wordenist. Er war eine dieser seltenen Persönlich-keiten, die mit ihrer Kunst die Tür zumÜbernatürlichen öffnen. Die lebendige undtatkräftige Erinnerung an ihn kann zueinem aussergewöhnlichen Mittel zur För-derung der musikalischen Kultur gemachtwerden. […] Wenn wir nichts Ernsthaftesunternehmen, wird diese Erinnerung inwenigen Jahren verblassen und er wird nurnoch einigen besonders glühenden Ver-ehrern im Gedächtnis bleiben. Als Gemein-wesen und als Stadt seiner Geburt haben wireine einmalige Gelegenheit zur Belebungeiner echten musikalischen Kultur verstrei-chen lassen. Wir hätten als Menschen diemoralische Pflicht gehabt, das wenigstenszu versuchen. Das haben wir nicht getan.” Ich habe es versucht, aber ohne Erfolg. Ichstellte meine Bemühungen ein, als ich merk-te, dass die Personen, auf die ich gesetzthatte, eher dazu neigten, aus der Erinnerungan Arturo Benedetti Michelangeli Kapital zuschlagen, als sie wirklich am Leben zu erhal-ten. Ich will an dieser Stelle eine Gelegenheitnutzen, die die Banca Popolare di Sondrio(SUISSE) mir gegeben hat, um einen Zugund eine Lebensphase von Arturo BenedettiMichelangeli herauszustreichen, die oft ver-nachlässigt wurde und ihn als das Vorbild fürMoral und Professionalität darstellen, das erwirklich war. Als Michelangeli, eins meiner nicht nurmusikalischen Idole starb, war ich befremdetdarüber, dass niemand seinen enormenBeitrag zur Wiederbelebung des musikali-schen Lebens nach dem Krieg würdigte.Diese Lücke war auch in der Ausstellung undin dem zugehörigen Katalog zu spüren, die
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Brescia ihm widmete. Ich aber erinnere michsehr gut an die lebhafte Präsenz vonMichelangeli beim “musikalischen Wieder-aufbau” in der Stadt. Ich war noch sehrjung, aber ich entsinne mich genau an dieflüchtigen, aber magischen Zusammen-treffen zwischen meinem Vater, dem Maestround anderen Personen, die sich in jenenJahren um die Wiederbelebung der Musik inBrescia bemühten. Im Nachlass meinesVaters habe ich ein kleines Heft aus diesenJahren gefunden, aus dem hervorgeht, dasser als Ratgeber und dann als Vorsitzenderder Symphonischen Gesellschaft von SantaCecilia in Brescia tätig war. Von 1940 biszum 18. September 1947 (das ist das Datumdes Rücktrittsschreibens) war MichelangeliEhrenpräsident dieser Gesellschaft, einPosten, den er mit grosser Ernsthaftigkeitwahrnahm. Ich blätterte in den alten undungeordneten Papieren und fand darinAnmerkungen, Erinnerungen und Doku-mente, die mir interessant erschienen, ganzzu schweigen von einigen bewegendenZeitzeugnissen. Und so kam auch dieserBeitrag zu Stande, der leider, infolge derLückenhaftigkeit der Dokumentation, nurein unvollständiges und einseitiges Bild zeich-nen kann. Ich kann nicht mehr tun, als mei-nen Fund der Öffentlichkeit zur Verfügung zustellen und wünschen, dass dieses Materialdennoch seinen Nutzen für diejenigen habenwird, die sich mit der Lebensgeschichte desMeisters berufsmässig befassen – mit jener
Lebensgeschichte, auf deren umfassendeBeschreibung wir noch warten. Brescia hat seit langem eine Konzert-vereinigung, deren Statuten von der Gesell-schafterversammlung am 20. Mai 1914 ver-abschiedet wurden und die sich besondersder Kammermusik widmete. Das war kurzvor dem Ersten Weltkrieg. Und ausgerech-net zu Beginn des Zweiten Weltkrieges,nämlich zwischen 1939 und 1940, beganneine neue musikalische Initiative, derenerstes Ziel die Verbreitung von Praxis undTheorie der symphonischen Musik war. Siebestand in der Gründung eines festenOrchesters, das “Orchestra Stabile d’ArchiS. Cecilia” getauft wurde. Ziel war vor allemdie Förderung der Musik und des Musizi-erens an sich, und weniger die Veran-staltung von Konzerten. Einer der wichtig-sten Förderer war der Anwalt Carlo PedraliNoy, in dessen Haus die ersten Auftrittestattfanden, dann Ferruccio Francesconi,der als erster die Leitung innehatte, undschliesslich der erst zwanzigjährige Arturo Be-nedetti Michelangeli. Zum engeren Führungs-kreis gehörten auch Pier Paolo Cicognini,Emilio Franchi, Emilio Pisa, Angelo Vitale,Arturo Gatti und Gino Francesconi. Cicogniniwar der erste Vorsitzende, Ehrenpräsident warvon Anfang an Michelangeli, der, wie gesagt,sehr rührig war und viel mitredete – sowohlin der ersten Phase von 1940 bis 1943, alsauch in der Wiederaufbauphase, die miteinem ersten ausserordentlichen Konzert
[XI]
Porträt von Arturo
Benedetti Michelangeli
aus dem Jahr 1947 mit
einer handschriftlichen
Widmung des Meisters
an Angelo Vitale.
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Arturo Benedetti Michelangeli
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am 16. Dezember 1945 begann. Er blieb biszur Saison 1947-48 auf diesem Posten.Schon in der Konzertsaison von 1941-42und in der von 1942-43 hatte es bedeutendeVeränderungen gegeben. Vom Kristallisa-tionskern eines Orchesters war die Vereini-gung zur Konzertveranstalterin geworden,die bekannte Solisten und Orchester in dieStadt holte. Die Arbeit von Michelangeli wardabei vor allem bei der Zusammenstellungdes Programms, bei der Auswahl derMusiker und beim Rühren der Werbe-trommel entscheidend. Aus dem Jahr 1942wird von einem “hinreissenden Konzert imTeatro Grande berichtet, zu dem unser gros-ser Pianist Arturo Benedetti Michelangeliseinen unvergleichlichen, wertvollen unduneigennützigen Beitrag leistete.” Genaudieses Ereignis wird auch in der Konzert-chronik von Harry Chin und Carlo Paleseerwähnt, in der es einen Band über Miche-langeli gibt (Arturo Benedetti Michelangeli.Il Grembo del Suono - Arturo BenedettiMichelangeli. Der Schoss der Klänge - ,
Mailand, Skira, 1996). Das Konzert fand am12. April im Teatro Grande statt; es spieltedas Orchester der Vereinigung von SantaCecilia unter der Leitung von FerruccioFrancesconi. Zum Programm gehörten das
Konzert Opus 73 von Beethoven, das KonzertOpus 16 von Grieg, und als Zugabe gab derMaestro eine Sonate von Scarlatti, eine Studieund einen Walzer von Chopin, den RituellenFeuertanz von De Falla, Cançion y Danzavon Mompou, die Malagueña von Albéniz unddie Mazurka von Chopin.Mitten im Krieg, zu Beginn des Jahres 1942,erwarb die Vereinigung auf Anraten vonArturo Benedetti Michelangeli einen herrli-chen Konzertflügel von Steinway & Sons.Das Geld kam aus verschiedenen bescheide-nen Quellen und vor allem aus einemWechseldiskont der Banca San Paolo, für diePedrali, Franchi, Folonari, Vitale, Cicogniniund Francesconi bürgten. Der Wechselwurde dann später von Pedrali, Franchi undFolonari eingelöst. Die Wiederaufnahme derVeranstaltungen erfolgte am 29. Mai 1945(einige Quellen sprechen vom 27.) mit einemausserordentlichen Konzert im Teatro Grande.Die Einnahmen wurden vollständig an eineEinrichtung der Kurie gespendet, die dennach Deutschland Deportierten die Heimkehrermöglichen sollte. Auch die organisatori-sche Tätigkeit wurde in einer ersten Ver-sammlung am 29. Oktober 1945 wieder auf-genommen. Die Grussadresse, der ersteBericht über die Aktivitäten der Vereinig-ung, der Brief an das Publikum und diePresseerklärung geben ein beredtes Bild vonder frühen Geschichte der Gesellschaft ab,von den Gefühlen und Zielen, die die kleineGruppe von unermüdlichen Förderern be-seelte. In meinen Dokumenten steht nicht,aus wessen Feder die Grussadresse stammt.Allerdings lässt sich aus dem Entwurf mitden handschriftlichen Verbesserungen schlies-sen, dass Angelo Vitale sie geschrieben hat.Aber auch ohne das Manuskript deuten diegrosse Verehrung für Michelangeli, die ausdiesem Dokument spricht, und die wichtigeRolle, die dem Pianisten darin zugedachtwird, darauf hin, dass Angelo Vitale derVerfasser ist, denn all das waren tief in Vitaleverankerte Überzeugungen, seit er denMeister im Jahr 1940 zum ersten Mal spielengehört hatte. Der Bericht, der fünf Jahre fruchtbarerArbeit inmitten des Krieges beleuchtet,beginnt mit folgenden Worten: “Die Konzertvereinigung von Brescia wurde
im Jahr 1940 in eben dieser Stadt unter dem
bescheidenen Namen ‘Orchestra Stabile
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Perfektion wird Klang
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d’Archi S. Cecilia’ gegründet. Sie wurde von
einer Gruppe leidenschaftlicher Musik-
freunde gegründet, unter denen vor allem
Carlo Pedrali Noy zu nennen ist, in dessen
Haus die ersten Proben unter der Leitung
von Ferruccio Francesconi stattfanden.
Unser grosser Pianist Arturo Benedetti
Michelangeli war ihr Fürsprecher und
Ehrenpräsident.” (Unterstreichung wurdespäter hinzugefügt).Weiter liest man:“Lassen Sie mich in Ihrem Namen und im
Namen des geschäftsführenden Vorstandes
einen freundschaftlichen und anerkennen-
den Gruss an Arturo Benedetti Michelangeli
richten. Sie wissen, dass er zusammen mit
anderen die Seele der Institution war, auch
wenn seine unvergleichliche Kunst ihn weit
von uns weg führte. Was er für die
Vereinigung getan hat, ist den Mitgliedern
ebenso bewusst wie der Dank, der ihm dafür
gebührt.” (Unterstreichungen wurden spä-ter hinzugefügt).Und noch weiter heisst es:“Erinnern wir uns an das wundervolleKonzert des Pianistenduos Sergio Lorenzi
und Gino Gorini, das vom Maestro Benedetti
geplant und organisiert und von der Vereinig-
ung in Zusammenarbeit mit der Konzert-
gesellschaft durchgeführt wurde, wie auch
an das grosse Konzert zum Saisonende mit
dem Maestro Arturo Benedetti Michelan-
geli.” (Unterstreichung wurde später hinzu-gefügt).Inzwischen war die Richtung vorgegeben:grosse Musikveranstaltungen sollten es
sein, und davon legt vor allem die Saison1946-47 Zeugnis ab. Nach der genanntenausserordentlichen Veranstaltung im Mai1945 fand das erste Konzert dieser Nach-kriegssaison am 16. Dezember 1945 statt,unter Teilnahme des Violinisten AlfredoPoltronieri. Das Programm war bestimmtvon Bach und Mendelssohn (Die Gesamt-kosten beliefen sich auf 51.275,20 Lire). Daszweite Konzert folgte am 6. Januar 1946 mitdem Orchester der Vereinigung von SantaCecilia und dem Frauenchor des TeatroGrande von Brescia. Das Stabat Mater vonPergolesi wurde von den Solistinnen Cianiund Iachia vorgetragen (diesmal entstandenKosten von 53.410 Lire). Folgende weitereKonzerte finde ich dokumentiert: das dritteam 20. Januar 1946 mit dem PianistenduoGino Gorini und Sergio Lorenzi, in Zusam-menarbeit mit der Konzertgesellschaft, aufdas wir noch zurückkommen werden; amfünften Konzert am 19. März 1946 nahm derjunge Pianist Agostino Orizio teil; das sech-ste Konzert fand am 7. Mai 1946 unter derLeitung von Sergio Failoni mit dem PianistenPaul Baumgartner statt. Wenn 1945-46 insge-samt schon eine gute Saison war, so sollte1946-47 geradezu überwältigend werden. Zu Beginn des Jahres 1946 gab es eine Reihevon Verstimmungen zwischen Arturo Bene-detti Michelangeli und der Vereinigung vonSanta Cecilia. In einem Brief vom 12. Januar1946 trat der Maestro von seinem Posten alsEhrenpräsident zurück und kündigte denAbbruch der Zusammenarbeit an. Er fühlteein allgemeines Unbehagen und hatte, wie
Zwei Aufnahmen von
Arturo Benedetti
Michelangeli am Klavier
aus den
50-er Jahren.1
[XIV]
er schrieb, den Eindruck, “wenig geschätztzu werden”. Dahinter steckte der Umstand,dass ein Mitglied des Vorstandes (aus derAntwort glaube ich folgern zu können, dassvon Angelo Vitale die Rede ist) ihn kritisierthatte, weil er ein Konzert des Duos Gorini-Lorenzi vorbereitet und sich dabei aufAusgaben eingelassen hatte, die die üblicheGage überstiegen, ohne sich mit demVorstand darüber abgestimmt zu haben. Der gekränkte Maestro fügte seinem Schrei-ben einen Scheck über 10.000 Lire bei, umden angeblichen Schaden gutzumachen (dieGage eines einzelnen Solisten betrug nor-malerweise 10.000 Lire, während das DuoGorini-Lorenzi 20.000 Lire gekostet hatte).Die Antwort von Vitale, der damals eine ArtFaktotum der Vereinigung war und dieAktivitäten von seinem Büro aus organisier-te, folgte auf dem Fusse; sie trägt dasselbeDatum wie das Schreiben von Michelangeli.Er drückt ehrliches Bedauern und Selbst-kritik aus. Der Scheck wurde dem Maestrozurückgeschickt. Gleichzeitig erging einBrief an das Duo Gorini-Lorenzi, in dem diemit Michelangeli eingegangenen Absprachen
einschliesslich der Gage von 20.000 Lirebestätigt wurden. Seltsamerweise trägt dieserBrief das Datum des 11. Januar, also einenTag vor dem Schreiben des Maestros. Wie ichAngelo Vitale kenne, vermute ich allerdings,dass er den Brief an das Duo erst am 12., alsonach dem Empfang von MichelangelisSchreiben verfasste. Abgesehen davon emp-fand Vitale nicht nur eine tiefe Verehrung fürden Meister, er hatte auch dessen Verdiensteum die Vereinigung erkannt und wollte denVorfall so schnell wie möglich aus der Weltschaffen. Und so bestätigte er die Verpflich-tungen, die man gegenüber dem Duo einge-gangen war, um Michelangeli anschliessend– eben in seinem Schreiben vom 12. – mit-teilen zu können, dass “die Sache geklärt”sei. Doch der Maestro blieb bei seinemStandpunkt, und in einem Brief vom 15.Januar 1946 wurde der Scheck erneut an dieVereinigung geschickt. Angelo Vitale, dernicht weniger dickköpfig war als der Meisterselbst, blieb da nur eine Möglichkeit: denScheck nicht einzulösen. Und so liegt dieserScheck noch heute zwischen meinenPapieren: er ist mit einer Nadel an dem Briefdes Meisters vom 15. Januar 1946 festge-steckt. Was an dieser Korrespondenz beson-ders starken Eindruck macht, ist die Konse-
Die beiden Briefe vom
12. und vom 15. Januar
1946, die Arturo
Benedetti Michelangeli
der Gesellschaft
“S. Cecilia” in Brescia
wegen eines Konzertes
des Duos Gorini-
Lorenzi schickte.
Arturo Benedetti Michelangeli
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[XV]
Perfektion wird Klang
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quenz und die Härte von Michelangeli(immerhin haben wir es hier mit einem jun-gen Mann von 27 Jahren zu tun, der mitPersonen redet, die bald doppelt so alt sindwie er und die im beruflichen und im öffent-lichen Leben der Stadt bedeutende Rollenspielen; einige von ihnen waren während desKrieges hochrangige Widerstandskämpfergewesen), die völlig frei von Groll auf persön-licher Ebene ist. Über seinen Standpunkt willer nicht diskutieren, aber die Grüsse und diepersönlichen Worte sind immer von Herz-lichkeit geprägt. Ausserdem hielt der Streitden Maestro nicht von seinem professionellenEngagement ab. Er arbeitete an der Vorberei-tung des Konzertes von Gorini und Lorenziund damit fuhr er fort. Und so finden wireinen weiteren Brief, immer noch vom 15.Januar, in dem er das endgültige Programmfür das Konzert mitteilt. Die Krise wurde beigelegt. Der Scheck wurdevon Michelangeli nicht zurückgenommen,von der anderen Seite aber auch nicht einge-löst, und der Maestro führte seine wertvolleArbeit als Ehrenpräsident bis zum 18.September 1947 fort. Wir haben hier alsoeinen der seltenen Fälle, in denen er wenig-stens zum Teil seine einmal gefällteEntscheidung änderte. Und das war ein gros-ses Glück für das musikalische Leben inBrescia und für die Vereinigung, dennMichelangelis Engagement trug mindestensin dreierlei Hinsicht reiche Früchte.Da waren zunächst einmal seine Konzerte.In der Saison 1946-47 gab er deren drei: daserste zur Eröffnung der Saison am 12.Januar 1947 im Grossen Theater unter derLeitung von Mario Rossi und dem Orchester“Pomeriggi musicali” des Teatro Nuovo vonMailand – ein grossartiger Erfolg. Das zwei-te Konzert fand am 27. April 1947 ebenfallsim Teatro Grande statt und wieder imRahmen der “Pomeriggi musicali”, diesmalunter der Leitung von Nino Sanzogno.Diesen beiden Veranstaltungen war einbesonderes Konzert am 25. Mai 1946 voran-gegangen. Das wunderbare Programmreichte von der “Toccata e fuga” in D-Mollvon Bach-Busoni bis hin zu Stravinskij. DasKonzert wurde von der Vereinigung vonSanta Cecilia zusammen mit der Konzert-gesellschaft angeboten. Für Nicht-Mitgliederkostete der Eintritt für das Parkett 150 undfür die Galerie 30 Lire.
Der zweite Beitrag des Maestro bestand in derAuswahl des Programms und der Künstler,im Aufbau von Kontakten zur Musikweltund in der Anregung, immer wieder nachNeuem zu suchen. In diese Richtung gingauch schon die Episode mit dem Duo Gorini-Lorenzi. Besonders denkwürdig scheint mirdarüber hinaus die Geschichte vom Konzertdes Pierrot lunaire von Schönberg. DieAccademia Filarmonica Romana plante gera-de eine Schönberg-Tournee in Italien undBrescia sollte eine der Stationen sein. Siehatten sich bereits mit der Konzertgesell-schaft in Verbindung gesetzt und auchMichelangeli für das Projekt gewonnen.Dieser war begeistert und schlug vor, dasKonzert in Zusammenarbeit mit der Ver-einigung von Santa Cecilia durchzuführen.Er arbeitete mit grossem Eifer an derUmsetzung des Vorhabens, wie aus einemSchreiben seiner Frau Giuliana hervorgeht.Der Brief trägt zwar kein Datum, wurde abersicherlich zwischen dem 23. Februar 1947(Datum des Briefes der Accademia Filar-monica Romana) und dem 26. März 1947geschrieben, denn an diesem Tag schriebAngelo Vitale seine Antwort. Aus der Korres-pondenz erfahren wir, dass es einige Schwierig-keiten gab, das Konzert von Schönberg in dasbereits festgelegte Programm einzufügen.Doch am Ende fand es in Form der vomMeister gewünschten Zusammenarbeit statt.Wichtig war der Beitrag von Michelangeliauch beim Ausbau der äusserst nützlichenBeziehungen zu den “Pomeriggi musicali”des Teatro Nuovo aus Mailand, das unter derLeitung von Remigio Paone stand. Es waram 21. November 1946 unter dem Eindruckdes Erfolges der Saison 1945-46 geschaffenworden. Um die Organisation kümmertesich Paones Gesellschaft “Spettacolo Errepi”.Es gab 20 Gründungsmitglieder, von denennur sechs wirklich in Mailand geborenwaren – ein eindrucksvolles Beispiel für das,was man unter einer offenen Stadt versteht.Der Maestro Nino Sanzogno stammte ausVenedig, die anderen kamen aus Brindisi,Rom, Gargano, Cuneo, Orvieto, Monza,Padua, Brissago (Kanton Tessin), Lesnia(Dalmatien), Sankt Gallen (Schweiz), Anconaund Viareggio. Zwischen den “Pomeriggimusicali” des Teatro Nuovo und der Vereini-gung von Santa Cecilia entstand sofort eineenge Zusammenarbeit, die auch heute noch
[XVI]
Arturo Benedetti Michelangeli
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beispielhaft ist. Ohne diese Zusammenarbeitwäre die aussergewöhnliche Saison 1946-47so nicht möglich gewesen. Und sie nütztenatürlich auch den “Pomeriggi musicali”,denn es kam nicht nur Geld in ihre Kasse,sondern sie hatten auch die Gelegenheit, sichausserhalb von Mailand einen Namen zumachen. Auf der Grundlage dieses beidersei-tigen Interesses entwickelte sich also eineintensive Beziehung, die von grosser Herz-lichkeit geprägt war. Untermauert wurde dasGanze durch die Sympathie und die darauserwachsende Freundschaft zwischen RemigioPaone und Angelo Vitale, aber vor allemdurch die aktive Präsenz von ArturoBenedetti Michelangeli, für Paone der wich-tigste Ansprechpartner bei der Zusammen-stellung der Programme. Paone als klugerUnternehmer machte sich Michelangeli dennauch zu Nutze, indem er dessen Gastspiele inMailand den Veranstaltungen in Bresciaunterordnete, wie aus der Korrespondenzklar hervorgeht.Sein dritter grosser Beitrag ist eher indirekt,vom Maestro nicht eigentlich gewollt, son-dern nolens volens geduldet: der Vorstandund vor allem Angelo Vitale hatten Kontaktezu öffentlichen Stellen aufgebaut, umFördermittel zu bekommen. Und das fielumso leichter, als die Vereinigung von SantaCecilia etwas ganz Besonderes zu bietenhatte – Arturo Benedetti Michelangeli eben.So wurde der Meister bisweilen in derartigeVerwaltungsvorgänge hineingezogen, wieaus einigen Briefen hervorgeht. Die beidengrossen Konzerte des Jahres 1947 im TeatroGrande, genauer gesagt, das erste und dasfünfte der herausragenden Saison 1946-47,finden in der bereits genannten Konzert-
chronik von Harry Chin und Carlo Palese (zufinden in dem schon erwähnten Werk ArturoBenedetti Michelangeli. Il Grembo del
Suono) keine Erwähnung. Diese Lücke solltebeseitigt werden, denn diese beiden Veran-staltungen waren mehr als einfache Konzerte– sie nährten in besonderer Weise dieBewunderung, den Stolz, ja, die Liebe derStadt zu ihrem Künstler. Sie waren grossarti-ge Beiträge zur Wiederaufnahme des kultu-rellen Lebens in Brescia und legten denGrundstein zum Erfolg der Vereinigung vonSanta Cecilia, die in diesen Jahren dank ebendieser Konzerte zu einer bedeutendenEinrichtung wurde. Ich erinnere mich nochgut an damals, und wer die alten Zeitungendurchblättert, dem schlägt noch heute diesebesondere Atmosphäre entgegen. Ein weite-res bezeichnendes Zeugnis für die herrschen-de Stimmung ist ein Brief von ProfessorAlessandro Redaelli, einem Arzt am städti-schen Krankenhaus, der wegen eines ge-sundheitlichen Problems beim Eröffnungs-konzert der Saison 1946-47 zu Michelangeligerufen wurde. Als die Vereinigung sich nachseinem Honorar erkundigte, weigerte er sich,Geld anzunehmen und erklärte, er sei“zufrieden, zusammen mit Ihnen allen ander Durchführung eines so bedeutendenkünstlerischen Ereignisses mitgewirkt zuhaben.” Ich will auch noch an den KlavierstimmerFacchinetti aus Brescia erinnern, der bei die-sen Konzerten für den Meister arbeitete.Leider finden sich in der Dokumentationkeine Spuren seiner Arbeit, aber ich erinne-re mich noch an seine Aufmerksamkeit undan seine Geduld. Mein Vater ermahnte ihnstets, in der Nähe des Meisters zu bleiben
Arturo Benedetti
Michelangeli mit
Freunden und
Bekannten nach einem
Konzert. Man erkennt
den Orchesterleiter
Ettore Gracis (zweiter
von rechts) und
Remigio Paone (wendet
sich an den Maestro),
Direktor der “Pomeriggi
musicali” vom Teatro
Nuovo in Mailand.
[XVII]
und ihm immer zu helfen. Die schweigsameund geduldige Tätigkeit von Facchinetti warfür das Gelingen der Konzerte sehr wichtig.Und schliesslich soll noch eine besondereEpisode geschildert werden, die in demBericht aus dem Oktober 1947 auftaucht. ImZuge der allgemeinen Begeisterung für dasEröffnungskonzert von Michelangeli ver-sprach auch eine gewisse Esterina Conti inTogni aus Santelle di Gussago bei BresciaUnterstützung. Diese Unterstützung bestandin einer ausserordentlichen Spende von20.000 Lire, einer bedeutenden Summe zujener Zeit. Die Spenderin wollte anonymbleiben, und diesem Wunsch wurde dieganze Zeit über entsprochen. Erst heute, 50Jahre nach den Ereignissen, konnte ich dasGeheimnis lüften: ich fand die Visitenkartevon Esterina Conti Togni, die mit einerinzwischen verrosteten Nadel an den Dankes-brief geheftet war. Ich hoffe, dass mir meineIndiskretion wegen der langen Zeit, dieinzwischen verstrichen ist, verziehen wird.Ich halte es für wichtig, dass die Menschennicht vergessen werden, die so bezeichnendfür das Klima sind, das Arturo Benedetti Mi-chelangeli, und nur er, zu verbreiten wusste. Aber das erfolgreiche Gespann Michelangeli– Santa Cecilia sollte seine Zusammenarbeitbald beenden. Vom 18. September 1947datiert das Schreiben des Meisters, in dem erden Rücktritt als Ehrenpräsident derVereinigung verkündet. Diesmal steht seinSchritt im Zusammenhang mit seiner Beru-fung. Michelangeli ist einfach zu gross für
Brescia – seine Zukunft liegt in der weitenWelt. Aus dem Antwortschreiben von AngeloVitale im Namen des Vorstandes lässt sichherauslesen, dass man sich darüber wohlbewusst war. Die bescheidene Gabe alsErinnerung an eine grosse Saison war einegoldene Uhr, die von Angelo Vitale persönlichzusammen mit dem Dankschreiben am 22.September 1947 Michelangelis Ehefrau über-reicht wurde. Das geht wiederum aus einemhandschriftlichen Vermerk auf dem Umschlaghervor, der Michelangelis Rücktrittsschrei-ben enthielt. Die Bitte der Vereinigung, dieVerbindung durch das Amt des Ehren-präsidenten aufrecht zu erhalten, überzeugtnicht. Michelangeli war kein Ehrenpräsidentund konnte es nicht sein. Er war Präsidentohne Einschränkungen, und als solcherbezeichnet er sich auch in seinem Rück-trittsschreiben. Und so weist er das Amt desEhrenpräsidenten der von ihm bezeichnen-derweise “unsere Vereinigung” genanntenGesellschaft höflich zurück. Eine für dieWiederaufnahme des musikalischen Lebensin Italien wichtige Saison ist damit zu Ende.Eins scheint mir besonders wichtig heraus-zustreichen, und ich glaube, dass die Zeug-nisse das auch untermauern: Arturo Bene-detti Michelangeli war nicht einfach nur ausBrescia. Er war, gerade in den prägendenJahren von 1940 bis 1947, mit dem städti-schen Musikleben sehr verbunden und leiste-te einen enormen, grosszügigen, uneigen-nützigen und geduldigen Beitrag dazu. Erwar keineswegs ein isolierter, ungeselligerund auf sich selbst konzentrierter Künstler,sondern ein Mensch, der mehr als sich selbstdie Musik schätzte, die Musik, die er als einenWeg zu Gott lebte. Ich will mit einer kurzen Anmerkung schlies-sen. Im Jahr 1940 war Michelangeli gerade 20Jahre, 1947 dementsprechend 27 Jahre alt. Erwar noch ein sehr junger Mann, und dennochspürt man in diesen Schriftstücken einenRespekt und eine Bewunderung für seinePerson, die geradezu magisch ist. Schon mit20 Jahren tritt er vor die Menschen als das,was er immer bleiben sollte: nicht nur eingrosser Pianist, sondern ein echter Maestro,zu Grossem geboren und damit in gewisserWeise alterslos.
* Betriebswirt
Der Brief vom
18. September 1947,
mit dem Arturo
Benedetti Michelangeli
seinen Rücktritt als
Vorsitzender der
Gesellschaft “S. Cecilia”
in Brescia ankündigte.
Perfektion wird Klang
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Perfektion wird Klang
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Musik als Gebet
Marco Vitale befragt Isacco Rinaldi*
Benedetti Michelangeli vor den Houses of Parliament
in London 1965.Anlässlich dieses Besuchs hielt der
Maestro zwei Konzerte in der Royal Festival Hall
ab – am 8. und am 17. Juni.
Du warst Arturo Benedetti Michelangeli deinganzes Leben lang sehr nahe. Ihr habt vorallem bei der Lehrtätigkeit eng zusammengearbeitet – ein Bereich, der ihm sehr amHerzen lag. Kannst du deine Erfahrungeneinmal detailliert wiedergeben?Meine ersten Erinnerungen an ihn dürftenmit deinen zusammenfallen: ich rede vonden Jahren 1940 und 1941 und dann vorallem von der Zeit zwischen 1946 und 1948.Ich war zu Anfang dieser Zeit noch ein Kind,aber ich erinnere mich sehr genau an diegeradezu magische Ausstrahlung dieses jun-gen Genies, das damals in Brescia auftrat.Für mich war er eine besonders wichtigeFigur, weil auch ich gerade damit begonnenhatte, Klavier zu studieren. Auch ich warbereits früh ein geschätzter Musiker. Ich weissnoch, wie ich in jenen Jahren in Brescia beieinem örtlichen Wettbewerb ausgezeichnetwurde, bei dem auch er in der Jury sass. 1945hatte ich mit der Note “10 mit Auszeichnung”die untere Stufe der Klavierausbildung amKonservatorium von Parma beendet undvom Direktor den schmeichelhaften Spitz-namen “kleiner Mozart” bekommen. 1946bekam ich als Vierzehnjähriger eine Anstell-ung als Organist an der Kathedrale vonBrescia, wo ich bis 1961 blieb. Mit 16 Jahrenbeendete ich am Arrigo-Boito-Konserva-torium von Parma die mittlere Stufe derKlavierausbildung, ebenfalls mit der Note “10mit Auszeichnung” in allen Bereichen undim Jahr darauf das Klavierdiplom mit vollerPunktzahl. Das öffnete mir den Weg zumbedeutendsten Zusammentreffen meinesLebens – meiner Begegnung mit ArturoBenedetti Michelangeli. Damals hatte derMaestro bereits seit einigen Jahren – genau-er gesagt, seit 1939 – den Lehrstuhl am staat-lichen Konservatorium inne, zuerst in Bolo-gna, wohin er wegen seines grossen Namensvom damaligen Direktor Cesare Nordio beru-fen worden war, und ab 1950 in Bozen, wo erunter anderem weiterführende Kurse abhielt.Seine Frau Giuliana war es, die mich dazubrachte, den Meister um eine Anhörung zubitten, um an einem seiner Kurse teilneh-men zu können. Voller Erregung und miteiner gehörigen Portion Schüchternheitfolgte ich ihrem Rat. Michelangeli antworte-te mir sofort und bestellte mich nach Bozen.Das war im Jahr 1952; er war damals 32 Jahrealt und ich 20. Am verabredeten Tag erschien
ich also am Konservatorium von Bozen undwartete von drei Uhr nachmittags bis um sie-ben Uhr abends, ohne dass der Meister sichblicken liess. Schliesslich fuhr ich enttäuschtund niedergeschlagen zurück nach Brescia.Kurz darauf aber rief Michelangeli mich anund fragte, warum ich nicht zu unsererVerabredung erschienen sei. Einer von unshatte sich bei der Uhrzeit geirrt, aber das ein-zige, was für mich zählte, war die Tatsache,dass Michelangeli ein neues Treffen mit mirausmachte. Und wieder eilte ich nach Bozen,wo die Begegnung beim zweiten Anlauf danntatsächlich stattfand. Ich werde es nie verges-sen: wie ich an die Tür klopfte, die derAmtsdiener mir genannt hatte. Ich sah einenjungen Mann vor mir, dachte schon, ich hättemich im Raum geirrt und wollte mich gera-de entschuldigen und kehrtmachen, als mirklar wurde, dass ich vor Michelangeli stand.Er wies mir einen Platz am Klavier an, setztesich in eine Ecke und hörte mir anderthalbStunden lang zu, ohne auch nur ein Wort zusagen. Schliesslich sah er mich mit einemdurchdringenden Blick an und fragte: “Waswillst du eigentlich von mir?” Es war daserste Mal, dass ich mit dieser für ihn typi-schen Eigenart konfrontiert wurde, alles mitwenigen, aber treffenden Worten aufs We-sentliche zu reduzieren. Ich erinnere michnicht mehr genau, was für eine Antwort ichdamals zusammenstotterte. Heute weiss ichallerdings, was ich hätte antworten sollen:“Maestro, ich bin hier, um die Musik zu ler-nen – nicht Klavier, Musik!” Musik, was dasist, was sie für eine Bedeutung im Leben derMenschen hat, warum sie uns mehr als jedeandere Kunst diesen göttlichen Hauchspüren lässt, warum alle Menschen ein Rechtauf sie haben, warum die Musik mehr dasHerz als den Verstand anspricht (nach einer
Arturo Benedetti Michelangeli
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Der Maestro Isacco
Rinaldi am Klavier
während der Kurse in
Arezzo im Jahr 1955.
Perfektion wird Klang
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Bemerkung von Beethoven am Ende derMissa Solemnis: “Von Herzen – möge es wie-der zu Herzen gehen”), warum die Musik nurda ist, wo musiziert wird, und nicht da, woüber sie gesprochen oder geschrieben wird(vom grossen Konzert bis hin zum Kinder-chor und zum SAT-Chor), warum für dieMusik eine “Liebesgemeinschaft” zwischendem Interpreten und seinem Publikum nötigist. All das habe ich von diesem grossenMeister gelernt, und das ist viel mehr als dieVollendung der Technik am Klavier, vielmehr, als ich damals noch glauben oder hof-fen konnte. Und von ihm habe ich noch ande-re Dinge gelernt, auf menschlicher wie aufberuflicher Ebene. Bei der Beziehung zu sei-nen Schülern überraschte vor allem die Be-scheidenheit und die Hilfsbereitschaft, mitder er auftrat und die in keiner Weise einenWiderspruch zu seiner Strenge bildeten, son-dern diese eher noch erklärten und rechtfer-tigten. Bereits bei meinem ersten andert-halbstündigen Vorspiel vermittelte er auchmir diesen Eindruck, der sich dann später beizahllosen Gelegenheiten immer wiederbestätigte. Schliesslich sagte er zu mir: “Gut,bereiten Sie bitte die Sonate Nr. 5 in F-Dur,der Frühling von Beethoven für Violine undKlavier und die Sonate für Violine undKlavier von César Franck vor”, zwei bezau-bernde Stücke, mit denen ich dann auchmeine ersten Konzerte bestritt. So beganndie Beziehung zwischen uns, die 43 Jahrebestand und erst durch seinen Tod am 12.Juli 1995 unterbrochen wurde.
Reden wir noch etwas mehr von derLehrtätigkeit.
Ich machte also den weiterführenden Kurs inBozen mit und dann den Sommerkurs inArezzo und gab in dieser Zeit keine Konzerte,um mich voll und ganz auf die Studien kon-zentrieren zu können und darauf, mir diesebesondere Art zu eigen zu machen, die denMeister mit der Musik verband und die erausstrahlte. “Sich der Musik anvertrauen”, sonannte er das gerne. Später wurde ich dannin Bozen und 1959 und 1960 auch in Arezzosein Assistent. Er bezahlte mir regelmässig50.000 Lire und ich liess mich in Appianonieder, wo die neue Schule ihren Sitz hatte.Der Kurs zog dann ins Schloss Paschbach inAppiano bei Bozen um, in der Nähe desCaldano-Sees auf einer Höhe von 416 Meternund umgeben von Weinbergen. Die Burgselbst war Eigentum der Provinz. Bei denKursen herrschte Strenge und eine konzen-trierte Atmosphäre, bei der es dennoch nichtan Heiterkeit mangelte. Die Schüler verehr-ten den Meister sehr, denn er gab ihnendurch seine bescheidene und hingebungsvol-le Art das Gefühl von Nähe. Seinerseits spür-te er die grosse und ehrliche Zuneigung sei-ner Schüler und ich glaube, dass ihm das guttat. Er war gern in Gesellschaft seinerSchüler, er ass mit ihnen zusammen (er warein Feinschmecker und ein hervorragenderKoch dazu), ging mit ihnen spazieren,scherzte, plauderte, spielte Tischtennis undverbrachte die Sommernächte mit ihnen imFreien und beobachtete die Sterne. Niemand,der bei ihm gelernt hat, kann das Klischeevom streitbaren, verschlossenen und egoisti-schen Menschen bestätigen, das vor allemvon solchen Leuten in die Welt gesetztwurde, die ihn entweder nie kennen gelernt
[XXI]
Arturo Benedetti
Michelangeli und einige
Schüler des Kurses
von Arezzo aus dem
Jahr 1962 bei einem
Spaziergang durch die
toskanische Landschaft.
Arturo Benedetti Michelangeli
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oder im Leben immer kritisiert haben, umsich nach seinem Tod wie die Aasgeier aufsein künstlerisches Vermächtnis zu stürzen.Er stand seinen Schülern zur Verfügung undhatte immer guten Rat in allen Fragen zurMusik. Für alle war er ein lebendes Beispielfür die Hingabe an die Musik und ihrErlernen. Er zeigte den Weg zur stetigenVerbesserung nicht nur mit Worten, sondernauch in seinem ganzen Verhalten. Wie gesagt, folgte ich ihm auch zu denSommerkursen nach Arezzo. Auf Anregungder Vereinigung der Musikfreunde vonArezzo hatte er in dieser Stadt, der er sehrverbunden war, einen weiterführenden Kursfür Klavier ins Leben gerufen. Der Kurs fand
im Sommer statt und stand allen italieni-schen und ausländischen Absolventen offen.Er war gratis (einige Schüler wurden sogarvon ihm selbst auf seine eigenen Kostenbeherbergt) und Michelangeli selbst nahmkeine Vergütung dafür an, im Gegenteil, erleistete aus eigener Tasche einen Beitrag fürdie Bedürftigeren unter den Schülern. Dererste Kurs fand vom 26. Juli bis zum 31.August 1953 mit 25 Schülern statt. 1954 und1955 musste er wegen der Tuberkuloseer-krankung des Meisters ausfallen, wurde aberim Sommer 1956 (vom 20. Juli bis zum 20.August) mit 30 Schülern wieder aufgenom-men. Der Erfolg der Veranstaltung nahm inden Jahren 1957 bis 1960 weiter zu (1959nahmen vom 15. Juli bis zum 30. September30 Schüler aus elf Ländern teil, nämlichItalien, Australien, Bulgarien, Dänemark,Grossbritannien, Deutschland, Frankreich,Spanien, Polen, USA und der Türkei). Ich
folgte Michelangeli als Assistent undOrganisationsleiter in den Jahren 1959 und1960 nach Arezzo. Die Atmosphäre war die-selbe wie in Bozen, vielleicht noch ein weniginternationaler. Das Engagement des Meisterswar enorm, schliesslich opferte er für dieseKurse seine Sommerpause, in der er sichnormalerweise der Erholung hingab.Seine Lektionen waren sehr individuell underforderten dementsprechend viel Zeit, sodass die Anzahl der Schüler begrenzt werdenmusste. In der Tat gab es fast nie mehr als 30Teilnehmer. Die Anfragen waren natürlichzahllos, und für jeden Abgewiesenen tat esdem Meister Leid. Er sagte einmal:“Musizieren ist ein Recht, das alle haben – die
Musik ist für alle da.” Der Erfolg, dieNotwendigkeit einer besseren Koordinationdes Unterrichts in Bozen und Arezzo, dieGelegenheit, aus der Initiative eine dauerhaf-te Einrichtung zu machen und sie dabei zumVorteil der internationalen Musikwelt auszu-weiten, brachten Michelangeli und dieMusikfreunde von Arezzo dazu, das Projekteiner internationalen Klavierhochschule fürAbsolventen voranzutreiben, die wie diestaatlichen Konservatorien dem Bildungs-ministerium unterstellt werden sollte undderen künstlerische und pädagogischeLeitung bei Arturo Benedetti Michelangeliliegen sollte. Heute würden wir sagen: eininternationaler Master in Klavier, geleitetvom grössten Pianisten der Welt, der damalsnoch ziemlich jung war (1959 war er nochnicht einmal 40 Jahre alt) und dennochbereits 20 Jahre Lehrtätigkeit hinter sichhatte und dabei immer wieder seine ausser-
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Ein lächelnder Arturo
Benedetti Michelangeli
zwischen Isacco Rinaldi
(links) und dem
Sekretär des Kurses
von Arezzo aus dem
Jahr 1959.
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ordentliche Berufung und auch eine selteneGrosszügigkeit bewiesen hatte. Kein Landder Welt hatte eine solche Chance zu bieten,und so sprach die Vereinigung der Musik-freunde von Arezzo in einer Eingabe an dasMinisterium mit Recht von dem “enormenPrestige in der Welt”, das diese InitiativeItalien bringen würde. Die Antwort war nichts als Schweigen. Diezuständigen Minister – das waren in denJahren 1959 und 1960 Aldo Moro, GiuseppeMedici und Giacinto Bosco – liessen nichtsvon sich hören. Diese grobe Unhöflichkeitführte dazu, dass der Meister seine öffentli-che Lehrtätigkeit an den Nagel hängte. 1960trat er als Dozent am Konservatoriumzurück. Ich habe gelesen, dass Cesare Nordio,Direktor des Konservatoriums von Bozeneinen Schritt in dieselbe Richtung gemachtund vom Ministerium die Genehmigungbekommen hatte, einen internationalenKlavierkurs unter Leitung von Michelangeliins Leben zu rufen. Aber es war schon zuspät. Ausserdem wollte Michelangeli nachzwanzig Jahren der grosszügig angelegtenLehrtätigkeit eine Schule und nicht nureinen Kurs. Ich kenne die Einzelheiten nicht,ich habe nur darüber gelesen. Aber ich kannbezeugen, dass er eines Tages auf demRückweg von den Bergen nach Arezzo trau-rig zu mir sagte: “Es ist vorbei. Die Gruppelöst sich auf. Soviel Arbeit und Mühe, undalles für nichts und wieder nichts!” In dieser Zeit war zum ersten Mal die intel-lektuelle und gefühlsmässige Kluft zwischenihm und dem italienischen System aufgebro-chen, die ihn ein paar Jahre später dazubrachte, infolge der hinreichend bekanntenrechtlichen Querelen das Land für immer zuverlassen. Nach dem Rücktritt von seinenÄmtern wurden ihm vom Ministerium nocheinige weitere Projekte zerlegt: Man bot ihman, in Rom an der Akademie von SantaCecilia zu unterrichten, aber nur als norma-ler Lehrer. Und das, obwohl die für Arezzogeplante Schule noch nicht einmal einZehntel dessen gekostet hätte wie die kleinsteZweigstelle eines normalen Konservatoriumsund Italien zum weltweiten Zentrum fürKonzertpianisten gemacht hätte. Seine Liebezur Lehrtätigkeit verliess ihn dennoch nichtund es sollten sich andere Gelegenheiten fin-den, dieser Neigung nachzugehen, allerdingsnur noch auf privater Basis. Auch in Arezzo
machte man in kleinerem Rahmen weiter,ich glaube bis 1965. Aber dennoch: 1960 ginggeradezu eine Epoche zu Ende, es wurde einegrosse Gelegenheit verspielt, durch die Italienfür Pianisten zum Nabel der Welt hätte werdenkönnen.
Wie ging eure Beziehung denn weiter, nach-dem es mit der Lehrtätigkeit vorbei war?Ich hatte auf Anraten von Michelangeli imJahr 1960 an der Ausschreibung für denLehrstuhl am Konservatorium von Ferrarateilgenommen und die Stelle bekommen. Esschien mir ganz normal, von Appiano nachFerrara zu ziehen. Der Meister dagegen hattegedacht, dass ich in Appiano bleiben undimmer hin und her fahren würde und warnicht gerade begeistert. Dann aber trafen wiruns aus Anlass eines Konzerts in der Feniceund räumten die Differenzen aus dem Weg,so dass unser Verhältnis keinen Schadennahm. Wir sprachen dabei auch über seinVerbot an mich, seine Konzerte zu besuchen.Ich fragte ihn nach dem Sinn dieses Verbotesund er sagte mir: “Du sollst so spielen, wieich es dir sage, und nicht so, wie du michspielen hörst.” Ich gab zurück: “Maestro, ichwill dabei ja gar nicht lernen, ich komme nurwegen der reinen Freude, Sie spielen zuhören!” Nach einiger Zeit bekam ich von ihmeine Einladung zu einem Sonderkonzert, daser am 5. April 1981 in Lugano gab. Er hattemir einen Platz ganz in seiner Nähe reser-vieren lassen, so dass unsere Blicke sichwährend des Konzerts mehrmals trafen. Ich
war auf vielen seiner Konzerte gewesen, aberdas von jenem Abend war wirklich einmalig.Im Programm standen zwei Sonaten vonBeethoven, Opus 26 und 22, die Sonate in A-Moll D 537 von Schubert und die vierBalladen Opus 10 von Brahms. Ich bin sicher,dass auch viele Leute aus Lugano sich noch
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Benedetti Michelangeli
bei einem Konzert
am 7.April 1981 im
Auditorium von Besso
bei Radio della Svizzera
Italiana.
Arturo Benedetti Michelangeli
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an diesen Abend erinnern. So grandios wieMichelangeli auch immer war – bei jenemKonzert war er nichts weniger als göttlich,man spürte eine geheimnisvolle Verbindungzu etwas, das über uns alle – ihn einge-schlossen – hinausging, es schien, als lege erdem Publikum seine Seele zu Füssen. Als ichmich, völlig ausser mir, zum Verlassen derKonzerthalle anzog, hörte ich eine Stimmeaus dem Lautsprecher: “Maestro IsaccoRinaldi bitte zu Maestro Arturo BenedettiMichelangeli!” Ich stürzte zu ihm und wirfielen uns voller Rührung in die Arme. Ichhabe ihn nie in einer so intimen Glück-seligkeit erlebt wie in diesem Moment. Aucher spürte, dass er an jenem Abend daserreicht hatte, was seiner eigenen Definitionvon “Musik machen” genügte. Ich blieb einekleine Weile bei ihm, dann verabschiedete ermich mit den Worten: “Dann will ich malwieder. Schau, sie haben mir das Abendessengebracht, ich esse jetzt schnell ein paarBissen, und dann mache ich mich an dieArbeit.” Ich war wie vom Donner gerührt:nach diesem unglaublichen Triumph hatteder Meister die Bescheidenheit, sich hinzu-setzen und das nächste Konzert vorzuberei-ten. Ich las einmal, dass Giulini überMichelangeli geschrieben hatte, für ihn seiKlavierspielen ein Leiden, eine Qual. Daskann man so einfach nicht stehen lassen: anjenem Abend in Lugano war das Klavierspielalles andere als eine Qual für ihn, es war ihmeine tief empfundene, intime und unver-fälschte Freude, und so sollte es noch einigeandere Male sein. Er hatte eine glücklicheBeziehung zum Klavier, diesem Instrument,dem er in harter Arbeit die musikalischenGefühle abgetrotzt hatte, von der wir alsseine Zuhörer zu profitieren das Glück hat-ten. Gelitten hat er unter anderen Dingen,aber sicherlich nicht unter dem Klavier ansich. Wenn es ihm nicht gelang, das Niveauzu erreichen, das er sich als Messlatte gesetzthatte, wenn eine Arbeit unvollendet blieb,dann war er zutiefst unzufrieden, aber nichtwegen der Angst eines Mannes, für den derPerfektionismus zum Selbstzweck gewordenist, wie viele das behaupteten, sondern weil erimmer auf der Suche nach einer Wahrheitwar, die nirgendwo ausdrücklich geschriebenstand, sondern die sich in den Beziehungenzwischen den beteiligten Elementen aus-drückt und nur dann ans Licht kommt, wenn
vollständiger und kompromissloser Respektfür die Musik, für das Publikum und für diemoralische und professionelle Pflicht zurVollendung vorhanden ist. “Nichts demZufall überlassen”, das sagte er mir an demAbend in Lugano. Später erfuhr ich, dass der
grosse Michelangeli seit einer Woche inLugano gewesen war, sich in der Konzert-halle eingeschlossen und mit seinem Stimmerdieses Konzert vorbereitet hatte, das unsallen die Seelen für das Übernatürliche öffnete.
Reden wir nun von der letzten Phase diesesaussergewöhnlichen Lebens.In der Zwischenzeit hatte der Meister sichvollständig von Italien gelöst, während ich1969 die Ausschreibung für den Posten einesDirektors des musikalischen Gymnasiumsvon Modena gewonnen hatte und die Ge-legenheiten nutzte, Michelangelis Lehren,seine Professionalität und seine Liebe zurMusik in den Schulbetrieb einfliessen zu las-sen. Wir trafen uns gelegentlich, aber daswurde immer schwieriger. Ich musste schonnach Pura fahren, um ihn zu sehen. 1984und 1985 hatte er einen zweiten schwerengesundheitlichen Rückschlag einzustecken,von dem man nie etwas liest, weil seineUmgebung versuchte, die Sache geheim zuhalten. Er bekam eine schwere Lähmung, dieihm eine Zeit lang noch nicht einmal dasSprechen erlaubte und seine rechte Handvollständig unbrauchbar machte. Als es ihmbesser ging, fuhr ich ihn besuchen und fandihn voller Trauer und Bitterkeit. “Ich mussschon wieder wie ein kleines Kind von vornanfangen”, klagte er. Damals dachte ich zumersten Mal, dass es besser wäre, wenn er
Arturo Benedetti
Michelangeli und der
Stimmer Guido Vicari
auf dem wahrscheinlich
letzten Foto des
Meisters, das im Januar
1995 in Pura
aufgenommen wurde.
Perfektion wird Klang
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finanziell nicht auf die Konzerte angewiesenwäre. Und so kam in jener Zeit wieder dieIdee einer eigenen Schule auf den Tisch, ander der Meister sich gegen gutes Entgelt dar-auf hätte konzentrieren können, anderenseine einmalige Beziehung zur Musik zu ver-mitteln und die Konzerttätigkeit gemäss sei-nem Wunsch so weit wie möglich zurückzu-schrauben. Seine Rückkehr auf die Bühneerfolgte am 16. Mai 1986 in Zürich. Er spiel-te ein Programm mit Chopin, Opus 35 unddie Images Serie I und II von Debussy. Derzweite Teil, für den die Valses Nobles und derGaspard de la nuit von Ravel vorgesehenwaren, fand nicht statt. Ich wusste ja, dass ernoch vor wenigen Monaten weder sprechennoch die rechte Hand hatte bewegen können,und mir war natürlich klar, welcheAnstrengung dieses Konzert ihm abverlang-te. Dazu kam noch, dass es im Konzertsaalsehr warm und feucht war – für das Klavieralso schlechte Bedingungen. Ich bewunderte ihn schon dafür, dass erüberhaupt den ersten Teil eines Konzertes zuEnde spielte, das man einfach nicht fort-führen konnte. An jenem Abend liebte ichihn noch mehr als sonst und mich überkamdie kalte Wut, als ich die wohlbekanntenAasgeier sah, die sich im Saal aufhielten –erst recht, als einer von ihnen sich mirnäherte und zu mir meinte: “Er ist es nichtmehr.” Dieses Konzert findet sich nicht inder bereits erwähnten Chronologie vonHarry Chin und Carlo Palese, aber man mussdennoch seine Bedeutung sehen. Seine
Krankheit und das damit verbundene Leidenhatten ihn auf eine noch höhere Stufe geho-ben. In der Zwischenzeit, genauer gesagt, imJahr 1984, hatte ich Modena verlassen undden Posten als Direktor am Donizetti-Institutvon Bergamo angenommen, einer renom-mierten und altehrwürdigen Einrichtung(sie wurde 1804 gegründet). Ich hatte dasauch deshalb getan, um in seiner Nähe zusein und ihn öfter besuchen zu können. VonBergamo aus fuhr ich häufig nach Pura.Auch wenn er insgesamt immer schweigsa-mer wurde, sprachen wir in dieser Zeit überviele Dinge. Er war über alles informiert. Erstellte viele Fragen zu Brescia, zum Gardasee(den er sehr liebte, vor allem Limone), aberauch über Bergamo, wo er vor Jahren einenseiner weiterführenden Kurse abgehaltenhatte, ohne dass er damit vor Ort grosseResonanz gefunden hätte. Seine alte Liebezur guten Küche, zur Formel 1 und zuschnellen Autos hatte er sich bewahrt. Ich versuchte, in Bergamo einen Kurs unterseiner Leitung anzubieten, um ihn von denKonzerten unabhängig zu machen. Ich hattedaran gedacht, das mit der “GioventùMusicale” (die von Bulla geleitet wurde) zumachen. Ich weiss nicht, ob Michelangeli dasangenommen hätte. Er war nicht der Mann,dem man eine vage Vorstellung schmackhaftmachen konnte. Ich hätte es ihm gesagt,wenn wir das Projekt realisiert hätten, aberdie Sache scheiterte am Widerstand der örtli-chen Musikszene. Als ich ihm gegenüberschliesslich doch davon sprach, sagte er nur:
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Der Maestro auf
einem privaten Foto
aus späteren Jahren.
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Arturo Benedetti Michelangeli
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“Ich habe mit solchen Sachen nichts mehrzu tun. Mach es selbst.”1988 bekam er ein schweres Herzleiden, daseinen risikoreichen chirurgischen Eingriffnötig machte. Ich traf ihn das letzte Mal etwasechs Monate nach der Operation. Es wareine sehr traurige Begegnung. Er empfingmich in seinem Haus in Pura, in seinem klei-nen und schmucklosen Schlafzimmer, das aneine Mönchszelle erinnerte. Sein Stimmer,ein Mann namens Tallone, sagte mir, er seiein Franziskanertertiar geworden. SeinBegräbnis 1995 fand denn auch in franziska-nischer Schlichtheit statt, der Sarg stand vordem Altar auf dem Boden. Schon Jahre zuvorwar er oft zur Erholung in das Franziskaner-kloster Verna gefahren. Ich weiss nicht, ob erwirklich ein Franziskaner geworden war,aber ich habe niemals daran gezweifelt, dasser im Grunde seines Herzens ein echterMönch war: die Arbeit war für ihn ein Gebet.Von den letzten und für ihn sehr traurigenJahren will ich nicht sprechen. Ich fuhr nichtmehr nach Pura, weil ich nicht eine Traurig-keit an die andere reihen wollte und darüberhinaus auch nicht mit der Art und Weise ein-verstanden war, mit der Anne-Marie-JoséGros Dubois und Frau Lotti Lehmann ihnvom Rest der Welt abschnitten. Aber ichbesuchte seine Konzerte (denkwürdig zumBeispiel das Konzert von 1992 in Münchenanlässlich des achtzigsten Geburtstags vonCelibidache). Ich schrieb ihm und hielt ihnso über meine eigenen Aktivitäten auf demLaufenden. Um selbst informiert zu sein, riefich die Frauen an und bekundete meine
Bereitschaft, jederzeit zu helfen, wenn dasnötig sein sollte. Ich bekam aber immer nurberuhigende Antworten, die ein wenig nachAusflüchten klangen: “Dem Maestro geht esgut, dem Maestro geht es gut”, hiess es daimmer. Als er das Haus in Pura verlor unddann die Hütten von Rabbi, die er so sehrliebte, litt er sehr. Und ebenso sehr litt er, alser hören musste, dass von seinem grossenEngagement für die Vermittlung der Musiknichts geblieben war. Wenn all die echtenFreunde von Arturo Benedetti Michelangeliihre Kräfte zusammengenommen hätten,dann hätten die Dinge vielleicht einen ande-ren Verlauf genommen.
Du hast den Maestro auch in der frühenReifezeit begleitet, als er voll mit derLehrtätigkeit und den Konzerten beschäftigtwar. Und dann hast du ihn in der letztenPhase seines Lebens begleitet. WelcheGemeinsamkeiten und Unterschiede, welcheKontinuitäten und Brüche kannst du zwi-schen diesen Phasen seines Lebens erken-nen? Welche Werte und Überzeugungen,welche Gefühle von Arturo Benedetti Mi-chelangeli sind im Lauf seines Lebens stabilgeblieben, jenseits der Veränderungen, diedas Altern nun einmal so mit sich bringt?Seine Vorstellungen vom Leben und von derMusik sind auf aussergewöhnliche Art undWeise stabil und stimmig geblieben. Wie dudas auch schon in deinem Beitrag geschrie-ben hast, war er von Jugend an ”nicht nur eingrosser Pianist, sondern ein echter Maestro,zu Grossem geboren und damit in gewisserWeise alterslos”. Es ist schon beeindruckend,die Kontinuität seiner Vorstellungen von derMusik in seinen Briefen und in seinen weni-gen Schriften aus der frühen Zeit nachzu-zeichnen, all das, was er in seinen Kursenvermittelte und woran er bis zuletzt immergeglaubt hat. Die schweren Proben desLebens haben ihn sicherlich zu einer ständi-gen Vertiefung getrieben, die manchmal sehrschmerzhaft war, aber seinen grundlegendenWertvorstellungen haben sie nichts anhabenkönnen. Natürlich hat es auch in seinemLeben Entwicklungen und bisweilen auchRückschritte gegeben, aber das betraf nie diezentralen Aspekte. Seine bleibenden Vorstel-lungen über alles Grundlegende und vorallem über die Musik sind schon verblüffend.Ich meine damit die Idee, die er von der
Der Maestro bei einer
Entspannungspause mit
der nicht wegzudenk-
enden Zigarette.
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Perfektion wird Klang
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Musik und ihrer Beziehung zum Lebenhatte, und weniger die stilistische und inter-pretatorische Entwicklung, die natürlichwichtig war und in der es verschiedenePhasen und Entwicklungsstufen gab.
Was bedeutete die Musik für ArturoBenedetti Michelangeli?Alles. Die Musik war sein Leben. 1954, als erwegen der Tuberkulose zwischenzeitlich allesaufgeben musste, schrieb er der Mutter einesihm sehr am Herzen liegenden Schülers:“Seit neun langen Monaten habe ich alles ausder Hand gegeben, und damit meine ich diemir teuerste Sache überhaupt, meinen Le-benszweck: die Musik.” Er war kultiviert,klug, neugierig und hatte viele Interessen –mit Sicherheit war er nicht der sauertöpfi-sche Mensch, als der er manchmal hinge-stellt wird. Aber die beiden wirklich wichti-gen Dinge in seinem Leben waren die Musikund die Lehrtätigkeit. Musik im Allgemein-en, nicht nur das Klavier. Er hatte Komposi-tion und auch Violine studiert. Sein Sinn fürdas Legato stammt von der Violine, von derOrgel und vom Gesang. Einige seiner typi-schen Farben kommen nicht vom Klavier,sondern aus anderen Quellen und Stimula-tionen – er übertrug sie nur auf das Klavier.Er war eine komplexe und gelehrte Persön-lichkeit, er wusste sehr viel. Aber über dieMusik wusste er schlicht und einfach alles.Er hatte ein enormes musikalisches Wissenund, im Gegensatz zu dem Unsinn, der bis-weilen geschrieben wurde, auch ein immen-ses Repertoire.
Und was bedeutete das Klavier für ihn?Es war zunächst einmal einfach einInstrument, aber ein Instrument, ohne dasman keine Musik machen konnte, und damitein grundlegendes und unverzichtbaresElement. Es war wie der SAT-Chor für dieLieder der Berge. Wenn das Instrument per-fekt gestimmt ist – wie die SAT-Chöre –, dannsind die Lieder wunderbar. Wenn der Chorunharmonisch zusammengestellt ist oderschief singt, werden die Gesänge unerträg-lich. Beethoven ist praktisch zusammen mitdem Klavier geboren. Sein Klavierwerk istdamit auch eine ständige Suche nach denAusdrucksmöglichkeiten dieses neuen Instru-mentes. Das geht bis zu Opus 111, in dem erKlänge aus dem Klavier holt, die nur wenige
Jahre zuvor niemand, wahrscheinlich nochnicht einmal er selbst, für möglich gehaltenhätte. Das Instrument muss perfekt sein,damit man das Maximum aus ihm herausho-len kann. Michelangelis Aufmerksamkeit fürdas Klavier, die von einigen Dummköpfenzur Manie abgestempelt worden ist, war inWahrheit nichts anderes als Respekt für dieMusik, für das Publikum, für die Inter-pretation an sich, und damit eine natürlicheKonsequenz des Berdürfnisses, den Inhaltder Musik zur vollen Entfaltung zu bringen.Und gleichzeitig war es eine dauerhafteSuche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten.Das Klavier ist, auch mechanisch, ein sehrkompliziertes Instrument und reagiert äus-serst empfindlich auf Schwankungen derLuftfeuchtigkeit, der Temperatur und deräusseren Bedingungen im Allgemeinen. Umzu verstehen, dass es sich bei seiner Auf-
merksamkeit für diese Details nicht um eineManie handelte, wie uns das einige dummeKritiker weismachen wollten, muss man nureinmal lesen, was grosse Techniker zu die-sem Thema geschrieben haben, die mit ihmzusammen gearbeitet haben. Angelo Fab-brini meinte zum Beispiel sehr richtig: “Fürihn war das Klavier wie eine grosse Violine, erkümmerte sich auch um die kleinstenStörungen und war in der Lage, sie zusam-men mit seinem Instrument zu erleben, daser gleichzeitig liebte und hasste (weil es dieUrsache seines Leidens war). Er lebte wie eingrosser Violinist mit seiner Stradivari undwir als seine Mitarbeiter waren gewissermas-sen die Geigenbauer. Es war für uns alle einegrosse Schule, durch die wir gingen, undselbst die Instrumentenbauer schätzten ihnüber alle Massen.”
Und was bedeutete die Lehrtätigkeit fürMichelangeli?Ohne mich wiederholen zu wollen: die Lehre
Arturo Benedetti
Michelangeli vor
Mitgliedern des
SAT-Chores in Madonna
di Campiglio am
13. September 1976
anlässlich der
Feierlichkeiten zum
50. Geburtstag des
Chores. Die herzlichen
Beziehungen des
Meisters zu der
Vereinigung aus Trient
begannen im März
1946 und dauerten
viele Jahre; dabei
wurden 19 Gesänge
harmonisiert.
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Arturo Benedetti Michelangeli
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war für ihn ein unverzichtbarer Bestandteilseiner musikalischen Aktivitäten. Musikmachen, das hiess für ihn auch: Musik unter-richten, das waren für ihn zwei Seiten dersel-ben Medaille, von Anfang an. Sein FreundAngelo Corelli schrieb 1943 – da war derMeister gerade 23 Jahre alt – in sein Tage-buch: “Heute erzählte er mir von seiner gros-sen Neigung, ich würde fast sagen, seinerLiebe zur Lehre.” So erklärt es sich, dass erder Lehre so viel Platz einräumte und ihr so
viel Leidenschaft widmete. Natürlich verlang-te er sich selbst und den anderen viel ab. Erhatte grosse Achtung vor der Arbeit und dul-dete kein Nachlassen. Aber auch für dieSchüler hatte er viel Respekt. Er wollteimmer, dass die Schüler von selbst dieAntworten fanden, anstatt sie ihnen einzuflü-stern. Die Schüler sollten den Dingen auf denGrund gehen. Musik machen, das war für ihnein langsamer Aufstieg in ein Gebirge, daseinen mehr und mehr vereinnahmte. Aberman musste zulassen, vereinnahmt zu wer-den, man musste sich, wie er sagte, von derMusik packen lassen, “sich ihr anvertrauen”.Er spürte grosse Freude, wenn einer seinerSchüler seine Sache besonders gut machte,und er liess die anderen das auch spüren. AlsMensch und als Lehrer war er von einerunglaublichen Sanftheit. Und so kam es, dasser von seinem Amt am Konservatoriumzurücktrat, als er sah, dass seine Liebe undseine Grossherzigkeit nicht geschätzt undnicht verstanden wurde, und das gerade vondenen, die sie am ehesten hätten schätzenund verstehen müssen.
Wie erklärst du seine Liebe zu den Gesängender Berge?Ich wüsste nicht, wie ich zwischen seinerLiebe zu den Gesängen und der zum SAT-Chor unterscheiden sollte. Michelangelikonnte komponieren, das hatte er studiert,und in den ersten Jahren tat er das auch. Erbrachte für den Chor eine Reihe von Liedernin Ordnung, vielleicht zwanzig. Die merk-würdige Perfektion bei der Intonation desSAT-Chores zog ihn an. Das war für ihn einemagische Kombination aus feinen Harmo-nien und einem ausserordentlichen Instru-ment. Einige Schüler liess er Aufzeichnungendes Chors hören, damit sie das Repertoirekennen lernten und eine Vorstellung von denfantastischen Fähigkeiten zur gefühlvollenund natürlichen Intonation bekamen, zudenen die menschliche Stimme in der Lage ist.
Kannst du eine Bilanz dieser Kurse ziehen?Was kam dabei heraus? Was ist davon übriggeblieben? Welches Erbe hat Arturo BenedettiMichelangeli dir persönlich hinterlassen?Ich glaube, dass in den öffentlichen Schulenund in den Konservatorien bei diesen Kursenam Ende nichts herausgekommen ist. SolcheSchulen sind für Phänomene wie Miche-langeli einfach undurchlässig. Das ist in etwaso, wie wenn Sie fragen, was die Schule inBarbiana von Don Milani hinterlassen hat. ImGegensatz dazu haben die Kurse bei denSchülern viel hinterlassen. Und auf dieseWeise, so hoffe ich wenigstens, haben er undsein Stil auch Eingang in deren Lehrtätigkeitund damit in die Köpfe einer weiterenGeneration von Schülern gefunden. Was ermir persönlich hinterlassen hat, das ist sogross, dass ich gar nicht weiss, was ich aufdiese Frage antworten soll. Er hat mich dieMusik als Ganzes gelehrt, als eine Entdeck-ungsreise ohne Ende, als einen langen,langsamen und geduldigen Aufstieg in dieBerge auf der Suche nach verstecktenSchätzen. Und er hat mir die Überzeugunghinterlassen, dass Musik etwas Einfaches undKlares ist und nichts Verworrenes.
Du hast schon viel über ihn gesagt. Wenn ichdich aber bitten würde, in einem einzigenSatz die Substanz seiner Persönlichkeit undseines Handelns zusammenzufassen, waswürdest du dann sagen?Ich würde das wiederholen, was ich vorhin
Arturo Benedetti
Michelangeli mit dem
Schüler Renato
Premezzi in der
Internationalen
Pianistenakademie
nahe der Vigna del
Gerbino von Moncalieri
am 30. Dezember 1961.
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Perfektion wird Klang
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bereits sagte: seine Arbeit war wie ein Gebetund das Musizieren eine Suche nach Gott.Vielleicht sollte ich auch noch sagen, dassalle, die mit ihm gearbeitet haben, eineunvergessliche Lektion in Strenge undProfessionalität bekamen. Auch der Mythosder abgesagten Konzerte muss einmal richtiggestellt werden. Es wurden lange nicht soviele Konzerte abgesagt, wie immer behaup-tet wird, und wenn, dann gab es immer guteGründe dafür – entweder seine schwacheGesundheit oder schlechte Bedingungen vorOrt, Mängel bei der Organisation oderNichteinhaltung der Abmachungen vonSeiten der Veranstalter. Celibidache sagte ein-mal, wenn Michelangeli ein Konzert abzusa-gen drohte, dann deshalb, weil musikalischeGründe dahinter steckten und nicht etwa dieLaunen des Meisters.
Bei verschiedenen Gelegenheiten haben wiruns gemeinsam darüber geärgert, wie ArturoBenedetti Michelangeli von den Kritikernund von einem Teil der Presse dargestelltwurde. Ich würde gern den Gründen überdiesen Ärger auf den Grund gehen. Vielleichtkommen wir so den Aspekten der Person undder Tätigkeit von Michelangeli auf denGrund, die unserer Ansicht nach vernachläs-sigt oder verfälscht wurden.Ich glaube, das ergibt sich alles aus dem, wasbereits gesagt wurde. Aus deiner Analyse derfrühen Zeit ergibt sich ja glasklar, dass wir esmit einer Person von ausserordentlicherGrossherzigkeit zu tun haben. Meine Erinner-ung an die Kurse und auch die Erinnerungender anderen Schüler wie auch der Organisa-toren bestätigen das allesamt. Ich kenne kei-nen anderen grossen italienischen Musiker,der für die Jugend so viel getan und geopferthat. Aber wer hat das schon gebührendgewürdigt? Er war von einer einzigartigenProfessionalität und das wurde ihm alsBesessenhei