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GEDICHTE DER WOCHE
26. Dezember 2011 - 01. Januar 2012 (52. Woche)
Zu Neujahr
vonWilhelm Busch [http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Busch]
15.04.1832 — 09.01.1908
Will das Glück nach seinem Sinn
Dir was Gutes schenken, Sage Dank und nimm es hin
Ohne viel Bedenken.
Jede Gabe sei begrüßt, Doch vor allen Dingen:
Das, worum du dich bemühst, Möge dir gelingen.
19. - 25. Dezember (51. Woche)
Morgen kommt der Weihnachtsmann
vonHoffmann von Fallersleben [http://de.wikipedia.org/wiki/Hoffmann_von_Fallersleben]
02.04.1798 — 19.01.1874
Morgen kommt der Weihnachtsmann,
kommt mit seinen Gaben. Bunte Lichter, Silberzier,
Kind und Krippe, Schaf und Stier, Zottelbär und Pantertier möcht’ ich gerne haben!
Bring uns, lieber Weihnachtsmann,
bring auch morgen, bringe eine schöne Eisenbahn,
Bauernhof mit Huhn und Hahn, einen Pfefferkuchenmann,
lauter schöne Dinge.
Doch du weißt ja unsern Wunsch,
Kennest unsere Herzen. Kinder, Vater und Mama,
Auch sogar der Gro�papa, Alle, alle sind wir da,
Warten dein mit Schmerzen.
12. - 18. Dezember (50. Woche)
Wolken im Licht
vonFerdinand Avenarius [http://de.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_Avenarius]
20.12.1856 — 22.09.1923
Was von segnenden
Seelen Ewiges Aus dem Vergänglichen
Aufwärts stieg: Siehe, das wandelt
In schwebenden Landen Feurig
Über den Suchenden hin, Und zu seines Volkes
Lichteskindern Blickt der Umdunkelte
Dankbar auf.
05. - 11. Dezember (49. Woche)
Advent
vonBernhard-Victor Christoph Carl von Bülow [http://de.wikipedia.org/wiki/Loriot]
12.11.1923 — 22.08.2011
Es blaut die Nacht, die Sternlein blinken,
Schneeflöcklein leis hernieder sinken. Auf Edeltännleins grünem Wipfel
häuft sich ein kleiner weißer Zipfel. Und dort vom Fenster her durchbricht den dunklen Tann ein warmes Licht .
Im Forsthaus kniet bei Kerzenschimmer die Försterin im Herrenzimmer. In dieser wunderschönen Nacht hat sie den Förster umgebracht. Er war ihr bei des Heimes Pflege
seit langer Zeit schon sehr im Wege. So kam sie mit sich überein:
am Niklasabend muß es sein.
Und als das Rehlein ging zur Ruh’,
das Häslein tat die Augen zu, erlegte sie direkt von vorn
den Gatten über Kimm’ und Korn. Vom Knall geweckt rümpft nur der Hase zwei-, drei-, viermal die Schnuppernase
und ruhet weiter süß im Dunkeln, derweil die Sternlein traulich funkeln.
Und in der guten Stube drinnen da läuft des Försters Blut von hinnen.
Nun muß die Försterin sich eilen, den Gatten sauber zu zerteilen.
Schnell hat sie ihn bis auf die Knochen nach Waidmannssitte aufgebrochen. Voll Sorgfalt legt sie Glied auf Glied (was der Gemahl bisher vermied) -,
behält ein Teil Filet zurück als festtägliches Bratenstück
und packt zum Schluß, es geht auf vier, die Reste in Geschenkpapier.
Da tönt's von fern wie Silberschellen, im Dorfe hört man Hunde bellen. Wer ist's, der in so tiefer Nacht
im Schnee noch seine Runde macht?
Knecht Ruprecht kommt mit goldnem Schlitten auf einem Hirsch herangeritten!
"He, gute Frau, habt ihr noch Sachen, die armen Menschen Freude machen?"
Des Försters Haus ist tief verschneit, doch seine Frau steht schon bereit: "Die sechs Pakete, heil’ger Mann,
s’ist alles was ich geben kann." Die Silberschellen klingen leise,
Knecht Ruprecht macht sich auf die Reise. Im Försterhaus die Kerze brennt,
ein Sternlein blinkt - es ist Advent.
28. November - 04. Dezember (48. Woche)
Der Eilwagen (Ein Schnellgedicht)
vonSamuel Friedrich Sauter [http://de.wikipedia.org/wiki/Samuel_Friedrich_Sauter]
10.11.1766 — 14.07.1846
Der eilende Wagen kommt rumpelnd daher!
Die Pferde sind muthig, sie ziehen nicht schwer. Fünfmal in der Woche des Abends um vier, Erscheinen sie pünktlich dreispännig dahier.
Wer vorn in der Kutsche als Aufseher sitzt,
War einstens mein Schüler und früh schon gewizt;
Er diente dem Fürsten als wackrer Soldat, Drum ward’s Conducteur-Amt dem Braven zur Gnad.
So oft ich den gelben Eilwagen erblick’, Denk ich an die vorigen Jahre zurück,
Da hatte man diese Bequemlichkeit nicht, Wovon man im Lande jetzt überall spricht.
Mein Wunsch ist dann dieser: O nähme im Lauf
Die Kutsche aus meiner Behausung mich auf! Ich gäbe auch öfters der Neugier Gehör,
Und flöge nach Karlsruh und wieder hieher.
21. - 27. November (47. Woche)
Nebel
vonAugust Freudenthal [http://de.wikipedia.org/wiki/August_Freudenthal]
02.09.1851 — 06.08.1898
Der blasse Nebel schreitet
Gespenstisch durch die Flur, Und hüllt in seine Schatten Die schlummernde Natur.
Er streckt die Riesenarme
Hin über’s weite Land, Und fährt mit kaltem Finger
Mir über Stirn und Hand.
Und Wiesen, Wälder, Höhen Und Thäler rings umher
Verschwinden und versinken Im weiten Nebelmeer.
Der böse Gast verschleiert Mir gar der Sterne Acht;
Und selbst aus Liebchens Fenster Kein Strahl die Nacht durchbricht.
Doch mag er weiter brauen,
Ich kenne das Revier; Trotz Nebel, Nacht und Grauen
Find’ ich den Weg zu Dir!
14. - 20. November (46. Woche)
Der höhere Friede
vonHeinrich von Kleist [http://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_von_Kleist]
10. oder 18.10.1777 — 21.11.1811
Wenn sich auf des Krieges Donnerwagen
Menschen waffnen, auf der Zwietracht Ruf, Menschen, die im Busen Herzen tragen,
Herzen, die der Gott der Liebe schuf:
Denk’ ich, könen sie doch mir nichts rauben, Nicht den Frieden, der sich selbst bewährt,
Nicht die Unschuld, nicht an Gott den Glauben, Der dem Hasse wie dem Schrecken wehrt;
Nicht des Ahorns dunkelm Schatten wehren,
Daß er mich im Weizenfeld erquickt, Und das Lied der Nachtigall nicht stören,
Die den stillen Busen mir entzückt.
07. - 13. November (45. Woche)
Der lydische Stein, eine Fabel
vonArthur Schopenhauer [http://de.wikipedia.org/wiki/Arthur_Schopenhauer]
22.02.1788 — 21.09.1860
Auf einen schwarzen Stein war Gold gerieben; Ein gelber Strich jedoch war nicht geblieben:
"Dies ist nicht ächtes Gold!" so riefen Alle. Man warf es hin, zu schlechterem Metalle.
Es fand sich spät, dass jener Stein, obzwar
Von Farbe schwarz, doch kein Probierstein war. Hervorgesucht kam jetzt das Gold zu Ehren:
Nur ächter Stein kann ächtes Gold bewähren.
31. Oktober - 06. November (44. Woche)
Ich liebte dich
vonAlexander Puschkin [http://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Puschkin]
06.06.1799 — 10.02.1837
Ich liebte dich; und liebe wohl noch immer, Denn ganz erstarb’s in meiner Seele nicht;
Doch möge dies Gefühl dich nicht bekümmern;
Ich stellte es nicht gern in schlechtes Licht. Ich liebte schweigend, ohne Zuversicht,
Von Schüchternheit, von Eifersucht gequält; Ich liebte dich so innig und so zärtlich, Gott mit dir, wird der andre so beseelt.
Übersetzung von Eric Boerner
17. - 23. Oktober (42. Woche)
Oktobersturm
vonChristian Morgenstern [http://de.wikipedia.org/wiki/Christian_Morgenstern]
06.05.1871 — 31.03.1914
Schwankende Bäume
im Abendrot - Lebenssturmträume vor purpurnem Tod -
Blättergeplauder - wirbelnder Hauf -
nachtkalte Schauder rauschen herauf.
17. - 23. Oktober (42. Woche)
An die Kunst
vonFriedrich Hebbel [http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Hebbel]
18.03.1813 — 13.12.1863
Dir, heil’ge Kunst, dir hab’ ich mich ergeben!
Nicht drängt’ ich mich, du riefst mich zum Altare, Ich rang mit dir, ob ich mich frei bewahre,
Du siegtest, nimm mich denn auf Tod und Leben!
Nun wollen Träume meinen Blick umweben, Ich aber schau’ hinab auf ernste Jahre,
Doch, wie sich auch zum Kampf der Pöbel schare,< Am Ende siegt ein gottgebornes Streben.
Viel trage ich, doch schl&aumL;gt mir die Entbehrung
Der Welt-Idee, auf deren Leib ich hoffe, Durch Puppen-Larven leicht die Todeswunde.
Was tut’s? Die echte Zeugung ist Entleerung
Des Einzelwesens von dem Weltenstoffe Und geht mit ihrem Vater nicht zugrunde.
10. - 16. Oktober (41. Woche)
Märkte reizen dich zum Kauf
vonJohann Wolfgang von Goethe [http://de.wikipedia.org/wiki/Goethe]
28.08.1749 — 22.03.1832
Märkte reizen dich zum Kauf Doch das Wissen blähet auf.
Wer im stillen um sich schaut, Lernet, wie die Lieb erbaut.
Bist du Tag und Nacht beflissen, Viel zu hören, viel zu wissen. Horch an einer andern Türe, Wie zu wissen sich gebühre.
Soll das Rechte zu dir ein, Fühl, in Gott was Rechts zu sein: Wer von reiner Lieb entbrannt, Wird vom lieben Gott erkannt.
3. - 9. Oktober (40. Woche)
An die Sonne
vonLudwig Eichrodt [http://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Eichrodt]
02.02.1827 — 02.02.1892
O jugendliche Sonne,
Du bräutlich Himmelslicht, Du bleibe meine Wonne, Dir bleibe mein Gedicht!
So lang die Flammentriebe In mir noch ungestillt,
Des Geistes und der Liebe Bleibst du das schönste Bild.
26. September - 2. Oktober (39. Woche)
An eine matte Herbstfliege
vonFranz Grillparzer [http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Grillparzer]
15.01.1791 — 21.01.1872
Wanken dir die matten Füße,
ist der Flügel Schwung erlahmt? Traurig schleichst du an dem Fenster,
das einst deine Spiele sah: Ach, der Sommer ist verronnen,
und der raue Winter naht.
Doch sieh meine welken Knie, sieh das Antlitz totenbleich,
sieh der Augen mutges Feuer, von der Krankheit Hauch gelöscht;
ist denn schon mein Herbst gekommen, eh mein Sommer noch erschien?
19. - 25. September (38. Woche)
Bedarf ein Armer der Hilfe dein
von Ignaz Franz Castelli [http://de.wikipedia.org/wiki/Ignaz_Franz_Castelli]
06.03.1781 — 05.02.1862
Bedarf ein Armer der Hilfe dein,
so laß dir nicht erst seinen Lebenslauf lesen;
fürs Erste mu� man wohltätig sein, dann prüfen, ob man’s mit Recht gewesen.
12. -18. September (37. Woche)
Liebe ist Blüte von Liu Xiaobo
[http://de.wikipedia.org/wiki/Liu_Xiaobo]
geb. 28.12.1955
Liebe ist Blüte, ist Blatt Nicht rot, nicht grün
Solange wir uns In den Armen liegen, ist es Glück
Liebe ist Herz, ist Blut Verkrallt euch nicht ineinander
Wendet euch einander zu Das ist Wärme
Liebe ist Gefühl, ist Wille Nicht Geld, nicht Dinge Bettler und Prinzessin
Erregen nur Mitleid und Neid Euch, meinen Lieben, rate ich:
Achtet die Liebe, solange euer Herz schlägt Erst wenn eure Haare schlohweiß sind Werdet ihr wissen: Dinge sind nichts
�bersetzung: Shi Ming
05. - 11. September (36. Woche)
Regen und Tränen
von Friedrich von Bodenstedt [http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_von_Bodenstedt]
22.04.1819— 18.04.1892
Wer Weisheit nur aus Büchern lernt
Und selbst nicht weise denkt und lebt, Wird immer mehr von ihr entfernt,
Je mehr er ihr zu nahen strebt.
Das Leben soll die Erde sein, darin die Weisheit Wurzeln schlägt,
Und pflanzt ihr hier den Kern nicht ein, Wächst auch kein Baum, der Früchte trägt.
29. August - 04. September (35. Woche)
Regen und Tränen von Justinus Kerner
[http://de.wikipedia.org/wiki/Justinus_Kerner]
18.09.1786 — 21.02.1862
Daß es jüngst geregnet hat, Zeigt der Tropfe auf dem Blatt, Und wenn naß die Augen sind,
Sieht man, da� geweint ein Kind.
Blatt saugt bald die Tropfen ein, Bald wird’s Auge trocken sein. Scheint die Sonne wieder klar,
Weiß man nicht, daß Regen war.
22. - 28. August (34. Woche)
An meinen Lehrer
von Joachim Ringelnatz [http://de.wikipedia.org/wiki/Joachim_Ringelnatz]
07.08.1883 — 17.11.1934
Ich war nicht einer deiner guten Jungen. An meinem Jugendtrotz ist mancher Rat
Und manches wohlgedachte Wort zersprungen. Nun sieht der Mann, was einst der Knabe tat.
Doch hast du, alter Meister, nicht vergebens An meinem Bau geformt und dich gemüht. Du hast die besten Werte meines Lebens
Mit heißen Worten mir ins Herz geglüht.
Verzeih, wenn ich das Alte nicht bereue. Ich will mich heut wie einst vor dir nicht bücken.
Doch möcht ich dir für deine Lehrertreue nur einmal dankbar, stumm die Hände drücken.
15. - 21. August (33. Woche)
Also lautet der Beschluss aus Max und Moritz (4. Streich)
von Wilhelm Busch [http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Busch]
15.04.1832 — 09.01.1908
Also lautet ein Beschluss:
Das der Mensch was lernen muss. Nicht allein das ABC
bringt den Menschen in die Höh. Nicht allein im Schreiben, Lesen übt sich ein vernünftig Wesen.
Nicht allein in Rechnungssachen soll der Mensch sich Mühe machen. Sondern auch der Weisheit Lehren muss man mit Vergnügen hören.
08. - 14. August (32. Woche)
Zuweilen kommen niegeliebte Frauen� von Hugo von Hofmannsthal
[http://de.wikipedia.org/wiki/Hugo_von_Hofmannsthal]
01.02.1874 — 15.07.1929
Zuweilen kommen niegeliebte Frauen Im Traum als kleine Mädchen uns entgegen Und sind unsäglich rührend anzuschauen,
Als wären sie mit uns auf fernen Wegen Einmal an einem Abend lang gegangen,
Indess die Wipfel athmend sich bewegen,
Und Duft herunterfällt und Nacht und Bangen, Und längs des Weges, unsres Wegs, des dunkeln, Im Abendschein die stummen Weiher prangen,
Und, Spiegel unsrer Sehnsucht, traumhaft funkeln,
Und allen leisen Worten, allem Schweben Der Abendluft und erstem Sternefunkeln
Die Seelen schwesterlich und tief erbeben Und traurig sind und voll Triumphgepränge
Vor tiefer Ahnung, die das grosse Leben
Begreift und seine Herrlichkeit und Strenge.
01. - 07. August (31. Woche)
Sommerbetrachtung
von Klabund [http://de.wikipedia.org/wiki/Klabund]
04.11.1890 — 14.08.1928
Hier saß ich oft. An diesem grünen Strauch.
Die Rosen blühen heute röter noch. Die Fuchsien halten ihre Farbe auch.
Es bellt am Zaun der kahle Köter noch.
Die Espe zittert, weil es ihr Beruf. Den roten Pilz betreut der Regenwurm.
Ein Einhorn scharrt versonnen mit dem Huf. Die Sonne steht als Frau auf einem Turm.
Der Sommer herbstelt. Im geharkten Kies Geht an der Krücke ein geborstner Greis. Ein Kind spielt Mutter. Und es lächelt leis,
Als ich ihm eine offne Grube wies.
Bei jedem Schritte trifft man auf ein Grab Von Leuten, die noch längst am Leben sind. O liebstes Herz, dem meinen Leib ich gab:
Wie wohlig weht durch mein Skelett der Wind!
25. - 31. Juli (30. Woche)
Regenschauer und Hagelschlag
von Johann Wolfgang von Goethe [http://de.wikipedia.org/wiki/Goethe]
06.04.1878 — 10.07.1934
Zu Regenschauer und Hagelschlag
Gesellt sich liebeloser Tag, Da birgst du deinen Schimmer;
Ich klopf am Fenster, poch am Tor: Komm, liebstes Seelchen, komm hervor!
Du bist so schön wie immer.
18. - 24. Juli (29. Woche)
Als ich dich fragte .. von Erich Mühsam
[http://de.wikipedia.org/wiki/Erich_M%C3%BChsam]
06.04.1878 — 10.07.1934
Als ich dich fragte: Darf ich Sie beschützen? Da sagtest du: Mein Herr, Sie sind trivial.
Als ich dich fragte: Kann ich ihnen nützen? Da sagtest du: Vielleicht ein andres Mal.
Als ich dich bat: Ein Kuß, mein Kind, zum Lohne! Da sagtest du: Mein Gott, was ist ein Kuß?
Als ich befahl: Komm mit mir, wo ich wohne! - Da sagtest du: Na, endlich ein Entschluß!
11. - 17. Juli (28. Woche)
Sommerabend
von Rainer Maria Rilke [http://de.wikipedia.org/wiki/Rainer_Maria_Rilke]
04.12.1875 — 29.12.1926
Die große Sonne ist versprüht,
der Sommerabend liegt im Fieber, und seine heiße Wange glüht.
Jach seufzt er auf: "Ich möchte lieber ..." Und wieder dann: "Ich bin so müd ..."
Die Büsche beten Litanein,
Glühwürmchen hangt, das regungslose, dort wie ein ewiges Licht hinein;
und eine kleine weiße Rose trägt einen roten Heiligenschein.
27. Juni - 10. Juli (26. + 27. Woche)
Kürzeste Liebe
von Joachim Ringelnatz 07.08.1883 — 17.11.1934
Blöde Bauern, die den biedern
Gruß der Bürger nicht erwidern, Menschen, die mit halbem Nicken
Danken, ohne aufzublicken. Prüde, scheue Frauen, leise
Kinder, würdevolle Greise - - -
Aber wenn an Dorf und Feld und Wald vorbei dein Schnellzug braust,
Du aus deinem Wagen schaust:
Ja dann stehen - stehn auch diese Ganz dir zugewandt am Hange,
Vor dem Stalltor, auf der Wiese -. Und sie winken. Winken lange.
Grüßen voll und grüßen frei
Dich und deine Fahrtgenossen.
Und die reinste Liebe wird vergossen Im Vorbei.
20. - 26. Juni (25. Woche)
Mittag
von Ernst Stadler 11.08.1883 — 30.10.1914
Der Sommermittag lastet auf den weißen
Terrassen und den schlanken Marmortreppen, die Gitter und die goldnen Kuppeln gleißen,
leis knirscht der Kies. Vom müden Garten schleppen
sich Rosendüfte her, wo längs der Hecken der schlaffe Wind erschlief in roten Matten
und geisternd strahlen zwischen Laubverstecken die Götterbilder über laue Schatten.
Die Efeulauben flimmern. Schwäne wiegen
und spiegeln sich in grundlos grünen Weihern und große fremde Sonnenfalter fliegen
traumhaft und schillernd zwischen Düfteschleiern.
13. - 19. Juni (24. Woche)
Gegenwart
von Andreas Gryphius 02.10.1616 — 16.07.1664
Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen; mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen.
Der Augenblick ist mein, und nehm’ ich den in acht, so ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.
6. - 12. Juni (23. Woche)
Pfingsten
von Georg Heym 30.10.1887 — 16.01.1912
Durch den nächtlichen Wald ein Raunen zieht.
In blütenschweren Düften. Es säuselt der Wind im schlafenden Ried
Es wallt und wogt in den Lüften.
Hell hebt sich im Osten ein glühender Schein Es lohen zuckende Gluten.
Sie läutern in goldenen Flammen mich rein In strahlenden rauschenden Fluten.
30. Mai 2011 - 5. Juni (22. Woche)
Juni
von Theodor Storm 14.09.1817 — 04.07.1888
Leichtherzig ist die Sommerzeit! Getändelt wird, geküßt, gefreit,
Ein Kränzel auch wohl wird gemacht, An Hochzeit nimmer gern gedacht.
23. - 29. Mai 2011 (21. Woche)
So freundlich sah ich nie die Sonne walten
von Francesco Petrarca 20.07.1304 — 18.07.1374
So freundlich sah ich nie die Sonne walten, Wann rings umher die Nebel sich verzogen, Nach Regen nie des Himmels bunten Bogen
So viele Farben in der Luft entfalten;
Wie ich in Flammen sah sich umgestalten Am Tag, der um die Freiheit mich betrogen, Das Auge, dem (ich hab es wohl erwogen)
Kein Ding auf Erden kann die Waage halten.
Ich sah, wie Amor in den Augen spielte,
So hold, da� seit ich solches drin gelesen, Mir ist, als ob sonst alles dunkel wäre.
Ich sah ihn, mein Sennuccio, wie er zielte,
So da� seitdem ich sicher nicht gewesen, Und doch, es immer neu zu sehn, begehre.
16. - 22. Mai 2011 (20. Woche)
Dâvet | Einladung von Nâzım Hikmet
20.01.1902 — 03.07.1963
Im Galopp kommend vom fernen Asien streckt sich ins Mittelmeer wie ein Stutenkopf
das ist unser Land.
Gelenke bluten, Zähne verklammert, Füße nackt und die Erde einem seidenen Teppich gleich,
das ist unser Paradies, unser Höllenbrand.
Lasst die Tore der Fremde sich schließen und nie wieder öffnen,
schafft die Sklaverei des Menschen ab, das ist unsere Einladung.
Leben wie ein Baum einzeln und frei
und brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht.
(Übersetzt von Yüksel Pazarkaya)
Dörtnala gelip Uzak Asyadan Akdenize bir kisrak basi gibi uzanan
bu memleket, bizim.
Bilekler kan içinde, disler kenetli, ayaklar çiplak
ve ipek bir haliya benziyen toprak, bu cehennem, bu cennet bizim.
Kapansin el kapilari, bir daha açilmasin,
yok edin insanin insana kullugunu! Bu davet bizim.
Yasamak! Bir agaç gibi tek ve hür ve bir orman gibi kardesçesine,
bu hasret bizim!
9. - 15. Mai 2011 (19. Woche)
Frühlingsgruß
von Heinrich Heine 13.12.1797 — 17.02.1856
Leise zieht durch mein Gemüt
Liebliches Geläute; Klinge, kleines Frühlingslied,
Kling hinaus ins Weite
Sprich zum Vöglein, das da singt Auf dem Blütenzweige;
Sprich zum Bächlein, das da klingt, Daß mir keines schweige!
Zieh hinaus bis an das Haus, Wo die Veilchen sprießen!
Wenn du eine Rose schaust, Sag, ich laß sie grüßen!
2. - 8. Mai 2011 (18. Woche)
Maikäfer flieg!
mit herausgegeben von Achim von Arnim 26.01.1831 — 21.01.1831
Maikäfer flieg!
Der Vater ist im Krieg, Die Mutter ist im Pommerland,
Und Pommerland ist abgebrannt. Maikäfer flieg!
25. April - 1. Mai 2011 (17. Woche)
O-Stern
Verfasser unbekannt
Ach, was war das ein schönes Osterfest: Sich am Feuer mit alten Freunden getroffen, mit Leuten, die man sonst links liegen läßt,
das eine oder andere Bier getrunken.
Sonntags mit Familie den Bauch vollgeschlagen,
und anschlie�end in Garten Schoko-Eier suchen, dabei Streit schlichten zwischen den Blagen
und heimlich über die Familien-Bande fluchen.
Am Montag sangen wir dann lustige Lieder, beim frühen Schoppen mit den Kumpanen
Aber, da fragt man doch jährlich immer wieder lässt sich da noch Christliches erahnen?
18. - 24. April 2011 (16. Woche)
Rätsel Buch
von Josef Guggenmos 02.07.1922 — 23.09.2003
Ich nahm es, und ich trug es,
ich trug’s zum Tisch und schlug es, ich schlug es auf und las,
was ich herauslas, ließ ich gerne noch für andre drin,
doch ist’s in mir jetzt immerhin.
11. - 17. April 2011 (15. Woche)
Über den Gartenzaun gesprochen
von Peter Rühmkorf 25.10.1929 — 08.07.2008
Der Ursprung von drei Weltreligionen
eine Dünendrift aus verminten Zonen — Da empfiehlt es sich schon
in gemäßigten Ländern durch ein selbstverfaßtes Idyll zu schlendern.
Während ich — schaut nur hin — meine Blümchen tränke,
wieder Mordsradau in der Dreigöttersenke —
die ballern uns noch den Erdball entzwei wegen ihrer dreierlei Rechthaberei.
Unverbindlicher Wink übern Gartenzaun:
Bloß nicht ewig den eigenen Götzen vertraun, und sich statt an Gebetsbüchern
dummzulesen: Hier sind Hacke.
Harke, Schaufel und Besen,
und nach zwei drei Jahren erblüht für jeden vor der eigenen Haustür ein Garten Eden.
4. - 10. April 2011 (14. Woche)
Der Mensch
von Matthias Claudius 15.08.1740 — 21.01.1815
Empfangen und genährt vom Weibe wunderbar
kömmt er und sieht und höret und nimmt des Trugs nicht wahr,
gelüstet und begehret und bringt sein Tränlein dar,
verachtet und verehret, hat Freude und Gefahr,
glaubt, zweifelt, wähnt und lehret, hält nichts und alles wahr, und quält sich immerdar,
schläft, wachet, wächst und zehret, trägt braun und graues Haar.
Und alles dieses währet, wenn’s hochkommt, achtzig Jahr.
Denn legt er sich zu seinen Vätern nieder, Und er kömmt nimmer wieder.
28. März - 3. April 2011 (13. Woche)
Erste Hilfe
von Eugen Roth 24.01.1895 — 28.04.1976
Man liest zwar deutlich überall: Was tun bei einem Unglücksfall?
Doch ahnungslos ist meist die Welt, Wie sie beim Glücksfall sich verhält.
21. - 27. März 2011 (12. Woche)
Tod
von Anselm von Canterbury um 1033 — 21.04.1109
Nichts ist gewisser als der Tod
nichts ist ungewisser als seine Stunde
14. - 21. März 2011 (11. Woche)
Zeit genug
von Johann Rist 08.03.1607 — 31.08.1667
Was andren Leuten in der Welt,
Ihr Haus betreffend, nicht gefällt, Das bleibet mir zwar unbekant;
Mir aber komt ein Ding zur Hand, Ein rechtes Elend, voll Betrug,
Mein ärgster Feind, heißt. "Zeit genug!"
7. - 13. März 2011 (10. Woche)
Differenz
von Ilse Kibgis * 03.06.1928
Die Frau
von nebenan stand dann und wann
mal ihren Mann doch dieser Mann
von nebnan wurd alt und grau
und stand noch niemals seine Frau
28. Februar - 6. März 2011 (9. Woche)
Das Wasser
von Christian Morgenstern 06.05.1871 — 31.03.1914
Ohne Wort, ohne Wort
rinnt das Wasser immerfort; andernfalls, andernfalls
spräch’ es doch nichts andres als:
Bier und Brot, Lieb und Treu, - und das wäre auch nicht neu,
Diese zeigt, dieses zeigt, dass das Wasser besser schweigt.
21. - 27. Februar 2011 (8. Woche)
Blau
von Rose-Ausländer 11.05.1901 — 03.01.1988
Blau
eine Fahne dem Wunder Himmel
Abend Ascona
Césanne
Abertausend Wunder im Traum
Die uns vernichten
die schweren auch diese Wunder
Aus hellsten Blau
eine Fahne aus dunkelstem Blau
14. - 20. Februar 2011 (7. Woche)
Wenn alle untreu werden
von Hugo von Hofmannsthal 01.02.1874 — 15.07.1929
Schneeglöckchen, ei, bist du schon da?
Ist denn der Frühling schon so na? Wer lockte dich hervor ans Licht?
Trau doch dem Sonnenscheine nicht! Wohl gut er’s eben heute meint,
Wer weiss, ob er dir morgen scheint? "Ich warte nicht, bis alles grün;
Wenn meine Zeit ist, muss ich blühn".
07 - 13. Februar 2011 (6. Woche)
Wenn alle untreu werden
von Novalis 02.05.1772 — 25.03.1801
Wenn alle untreu werden, so bleib ich dir doch treu,
dass Dankbarkeit auf Erden nicht ausgestorben sei.
Für mich umfing dich Leiden, vergingst für mich in Schmerz. Drum geb ich dir mit Freuden
auf ewig dieses Herz.
31. Januar - 06. Februar 2011 (5. Woche)
Der Nacht Zephir
von Alexander Puschkin | Александр Пушкин 06.06.1799 — 10.02.1837
Der Nacht Zephir Im Äther schwirrt.
Es rauscht, Es fließt
Guadalquivir.
Mond ist golden aufgegangen, Leiser … Hör … Guitarrenton … Spanierin, so jung und schlank, Stützt sich ab auf dem Balkon.
Der Nacht Zephir Im Äther schwirrt.
Es rauscht, Es fließt
Ночной зефир Струит эфир.
Шумит, Бежит
Гвадалквивир.
Вот взошла луна златая, Тише… чу… гитары звон…
Вот испанка молодая Оперлася на балкон.
Ночной зефир Струит эфир.
Шумит, Бежит
Guadalquivir.
Öffne die Mantilla, Engel, Leuchte wie der helle Tag!
Durch die eisernen Gestänge Steck dein Füßchen, süß und zart!
Der Nacht Zephir Im Äther schwirrt.
Es rauscht, Es fließt
Guadalquivir.
Гвадалквивир.
Скинь мантилью, ангел милый, И явись как яркий день! Сквозь чугунные перилы Ножку дивную продень!
Ночной зефир Струит эфир.
Шумит, Бежит
Гвадалквивир.
24. - 30. Januar 2011 (4. Woche)
Augen in der Großstadt
von Kurt Tucholsky 09.01.1890 — 21.12.1935
Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen, wenn du am Bahnhof stehst
Mit deinen Sorgen: da zeigt die Stadt dir asphaltglatt
im Menschentrichter Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider � Was war das? vielleicht dein Lebensglück...
vorbei, verweht, nie wieder.
Du gehst dein Leben lang auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang, die dich vergaßen.
Ein Auge winkt, die Seele klingt;
du hasts gefunden, nur für Sekunden...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück... vorbei, verweht, nie wieder.
Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern; siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern. Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein Genosse sein.
Er sieht hinüber und zieht vorüber...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
Von der gro�en Menschheit ein Stück! Vorbei, verweht, nie wieder.
17. - 23. Januar 2011 (3. Woche)
Vom Hering
von Heinrich Seidel 25.06.1842 — 07.11.1906
Der Hering ist ein salzig Tier,
er kommt an vielen Orten für. Wer Kopf und Schwanz kriegt, hat kein Glück.
Am besten ist das Mittelstük.
Es gibt auch eine saure Art, in Essig wird sie aufbewahrt.
Geräuchert ist er alle Zeit ein Tier von großer Höflichkeit.
Wer niemals einen Hering aß,
wer nie durch ihn von Qual genas, wenn er mit Höllenpein erwacht,
der kennt nicht seine Zaubermacht!
Drum preiset ihn zu jeder Zeit, der sich der Menschheit Wohl geweiht,
der heilet, was uns elend macht, dem Hering sei ein Hoch gebracht!
10. - 16. Januar 2011 (2. Woche)
Angst
von Eva Strittmatter 08.02.1930 — 03.01.2011
Die Amsel macht mich traurig,
Die Kirschen wollen blühn. Ich fürchte, du könntest mir sterben
Und alles würde doch grün.
Vielleicht ist es auch mein Tod, der mich schon traurig macht.
Die Amsel kann ich nicht fragen, Wer hilft mir heute Nacht?
3. - 9. Januar 2011 (1. Woche)
Gedicht zum neuen Jahr
von Erich Kästner 23.02.1899 — 29.07.1974
"Wird’s besser? Wird’s schlimmer?"
Fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer
Lebensgefährlich.
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