Post on 27-Nov-2021
Entwicklungslinien der jugendlichen
Borderline-Persönlichkeitsstörung
F. Resch
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Universitätsklinikum Heidelberg
Innsbruck, 2017
Borderline-Persönlichkeitsstörung
• anhaltend - umfassende Instabilität • Zwischenmenschliche Beziehungen
• Selbstbild
• Affektregulation
• Impulsivität
Scientific American, 2009
Borderline-Persönlichkeitsstörung (DSM-5-Kriterien)
1. Verzweifelte Versuche, tatsächliches oder vorgestelltes Verlassenwerden zu vermeiden
2. Muster von instabilen und intensiven Beziehungen
3. Identitätsstörung mit durchgängig instabilen Selbstbild oder Selbstwahrnehmung
4. Impulsives Verhalten mit potentiell selbstschädigenden Verhaltensweisen
Borderline-Persönlichkeitsstörung (DSM-5-Kriterien)
5. Wiederholte suizidale Handlungen, Suizidandrohungen oder selbstverletzendes Verhalten
6. Affektive Instabilität
7. Chronisches Gefühle der inneren Leere
8. Unangemessene, sehr heftige Wut oder Schwierigkeiten Wut zu kontrollieren
9. Vorübergehende, stressabhängige paranoide Vorstellungen oder dissoziative Symptome
BPD bei Jugendlichen: Drei Mythen
• Mangel an Validität: – Instabilität von Affekt, Selbstbild und Beziehungsmustern
altersgemäß? nein: Entwicklungsgefährdung
• Mangel an Stabilität: – Kategorielle Diagnose/Symptombelastung: 2-jahres-
stabilität wie bei Erwachsenen
• Keine Therapie – nur Stigma: – Störungsspezifische Psychotherapie
Kaess & Brunner 2016
Borderline-
Persönlichkeitsentwicklungsstörung
• Frühformen und prodromale Zeichen
schon bei Kindern
• Subjektive Beeinträchtigung
• Schwere Bindungsprobleme mit
Bezugspersonen
• Schul- und Leistungsprobleme
• Frühe Anzeichen – frühe Intervention
(Kaess et al. 2012)
biologische
psychologische
soziokulturelle
Faktoren
Traumatische
Einflüsse
Dynamische Interaktion
kritische Entwicklungsperioden
Prävalenz von selbstverletzendem
Verhalten im Jugendalter
(Brunner*, Kaess* et al., 2014) Seyle-Studie: n = 12068
~20% SVV bei 15 jr. Jugendlichen
• Prädisponierende Faktoren?
• Definition spezifischer Vulnerabilität?
Entwicklungswege in die BPD
0.5% bis 5.9% (median 2.8%) BPD bei 25 jr. Erwachsenen
~90%
~30%
Genetische Studien 1
• Heritabilitätsschätzung (Zwillingsstudien, Familienstudien): 35%-45% (Torgersen et al. 2008; Kendler et al. 2008; Distel et al. 2009, 2011)
• Unterschiedliche genetische Faktoren (Kendler et al. 2008)
– negative Emotionalität
– Impulsivität
– Introversion
• Chromosom 9 wahrscheinlichstes Kandidatengen (Distel et al. 2008)
Genetische Studien 2
• Komplexe Gen-Umwelt Interaktion
– Sensitiver Genotyp ↔ prädisponierende
Umweltrisiken
– Sensitiver Genotyp → erhöhte
Wahrscheinlichkeit sich negativen
Lebensereignissen auszusetzen
(siehe Übersicht bei Chanen & Kaess, 2012)
Molekulare Befunde 1
Stress
life events
Suizidales Verhalten
SVV
Depression
erhöhtes Risiko wenn s-Allel-Carrier
(nicht wenn l/l homozygot)
(Lin et al., 2004; Brent u. Mann, 2005)
Serotonin-Transporter-Gen-Promotor (5 HTTLPR)
Polymorphismus
Molekulare Befunde 2
• Serotonin-Transporter-Gen-Promotor (5 HTTLPR) Polymorphismus
– moduliert den Zusammenhang zwischen kritischen Lebensereignissen und Impulsivität bei Patienten mit BPD (Wagner et al. 2009)
– Probleme der Replikation der Ergebnisse (Pasqual et al. 2008; Tadic et al. 2010)
– Träger des s-Allels im Kindes- und Jugendalter haben die deutlichsten BPD Persönlichkeitszüge (Hankin et al. 2011)
Rolle von Traumen in der
Ätiologie? Prospektive Studien (CIC study)
• Child abuse/neglect (4x BPD Risko) – körperliche Misshandlung
– sexueller Missbrauch
– Vernachlässigung
• Kindesmisshandlung (BPD odds ratio = 7.7)
• Inkonsistenz in der Erziehung + Überinvolviertheit
• Frühe Trennungserlebnisse (in den ersten 5 Lebensjahren)
(Cohen et al. 2005, 2008; siehe Übersicht bei Chanen & Kaess 2012)
Borderline-Symptome und traumatische
Kindheitserlebnisse
CECA-Interview, SKID-II Interview, n = 187, r = 0.3209, p < 0.001
BPD und graue Substanz
Graue Substanz verringert bei Jugendlichen mit BPD im Vergleich zu gesunden
Kontrollen, FWE-korrigiert, p<0.05, k=50 (Brunner et al., 2010, Neuroimage)
Rechter dorsolateraler
prefrontaler Cortex
Linker orbitofrontaler
Cortex
Linker dorsolateraler
prefrontaler Cortex
Neuropsychologie
• Stärkere Orientierung auf negative
Gesichtsausdrücke
• Haften an negativen Gesichtsausdrücken,
wenn depressiv
• Hypermentalisierung / Überinterpretieren
der Motive anderer
• Präferenz unmittelbarer Belohnung
Kaess et al 2014
Instabilität
Findet affektive Instabilität auf
vegetativ/somatischer Ebene
oder in der
Kognitiven Reflexion
statt?
SVV und Stressantwort
Trier Social Stress Test, 15 Jugendliche mit SVV, 20 gesunde Kontrollen, Alter 15-17.
SVV Gruppe hat verringerte Cortisol-Response, aber normale Pulse-Response.
(Kaess et al. 2012)
BPD und Schmerzwahrnehmung
Weibliche Jugendliche, Alter 16±2, 20 Patientinnen mit BPD, 20 gesunde Kontrollen,
Quantitative Sensory Testing mit TSA-2001 Thermoden. Bei BPD erhöhte Schmerzschwelle
aber normale Wahrnehmungsschwelle (Ludäscher et al, 2015).
Vorläufersymptome und frühe
Symptome
• Wutanfälle • häufiges Weinen / forderndes Verhalten
(BPD-Risiko erhöht 30 Jahre später)
• Verhaltensprobleme + emotionale Störungen
• Oppositionelle Störungen / ADHS in Kindheit und
Jugendalter + Depression
• Impulsives Risikoverhalten
• Substanzmissbrauch (Alkohol)
• SVV (Chanen & Kaess 2012)
Emotionaler Dialog
• affect attunement
– Differenzierte Antwort auf Gefühlsausdrücke
– durch veränderte Antwortamplitude Modulation
• social referencing
– Soziale Referenzierung / Bedeutungsgebung
• joint attention
– Gemeinsame Aufmerksamkeit auf ein Drittes
Emotionaler Dialog
• 6-12 Wo.: Konversationsähnlicher
Austausch
– Protokonversation
– Unterscheidung von
Person und Ding
(Brazelton 1974; Trevarthen 1974; Tarabulsy et al. 1996; Übersicht bei Dornes 2006)
Depression und Dissoziation bei
traumatisierten Müttern stört empfindlich
den emotionalen Dialog
Kinder mit Einschränkungen
der Kontaktfähigkeit
beeinflussen die
Dialogfähigkeit der Mutter
Affect Attunement
Joint attention
Kind folgt dem Finger
Bezugsperson
Kind zeigt
Bezugsperson folgt dem Finger (bringt eventuell)
Kind zeigt
Bezugsperson benennt
Borderline-Persönlichkeits-Störung
• Entwicklungsstörung der wichtigen
Bindungen
• Störung des emotionalen Dialogs
• Störung der Selbstregulation
• KEINE apriori-Hyperreagibilität und
Stressempfindlichkeit!
Entwicklung der Borderline-
Persönlichkeitsstörung
Fragilität vs.
Plastizität der
kindlichen
Persönlichkeit
somatische
Einflüsse
genetische
Disposition
psychosoziale
Entwicklungs-
einflüsse
wiederholte interpersonelle Traumata
Fehlen von protektiven Faktoren, Störungen im
Bindungskontext, Mangel/Vernachlässigung
Fundamentale
Störung der
Affektregulation
und
Selbstregulation
„Vulnerables Selbst“
DepressiveVerstimmungen
Depersonalisation
Somatisierung
Selbstverletzung
Suizidalität
Suchtmittelmissbrauch
Warnzeichen
• Repetitives SVV + Suizidalität
• Häufige emotionale Ausbrüche
• Häufige Streitsituationen
• Selbstwertprobleme
• Identitätsprobleme
Frühintervention bei BPD
• Reduktion der kumulativen Traumatisierung
• Misshandlung, Missbrauch
• Reduktion komorbider Störungen
• Depression, Substanzmissbrauch
• Reduktion von iatrogenen Schäden
• Langzeithospitalisierung, Polypharmakotherapie
• Reduktion negativer sozialer Folgen
• Beruf, Ausbildung, soziales Netz
Kaess 2016
AtR!Sk – Ambulanz für Risikoverhalten und
Selbstschädigung
• Selbstverletzung
• Suizidalität
• Substanzmissbrauch
• Internetsucht
• Promiskuität
• Schulverweigerung
• Impulsives und delinquentes Verhalten
Krankenkassenmodell
Dietmar-Hopp-stiftung
AtR!Sk - Ambulanz
• Stufe 1: „offene Sprechstunde“
• Stufe 2: umfassende Diagnostik
• Stufe 3: ambulante Behandlung • Psychosoziales Management, Psychotherapie
• Stufe 4: „Eskalationsstufe“ • Krisenintervention, Suizidprophylaxe
Dialektisch-behaviorale Therapie für
Adoleszente (DBT-A)
Akzeptanz
der Gegenwart
Veränderung
der Gegenwart
Veränderung durch Akzeptanz
Gruppentherapie: Skillsgruppe
(2x in der Woche)
Unterstützung durch
Pflege- und Erziehungsdienst
Einzeltherapie 2x in der Woche
DBT-A Konzept STEP