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Einführung in die Politikwissenschaft
Wintersemester 2014/15 Prof. Dr. Annette Henninger
Institut für Politikwissenschaft Büro: G 00057; Sprechstunde: Di 14.30-16.00
Annette.Henninger@staff.uni-marburg.de
Was ist Wissenschaft? (I) Aufbau der heutigen Sitzung: • Was ist Wissenschaft?
– Alltagswissen versus wissenschaftliches Wissen
• Die ‚Arbeit am Begriff’ • Handwerkliches: Wie arbeite ich wissenschaftlich? • Ist Wissenschaft immer kritisch?
Was ist Wissenschaft?
Erste Annäherung - Perspektive der Ratgeberliteratur: „Wissenschaft und wissenschaftliches Denken beginnen dort, wo ich bereit bin, meinem eigenen Denken zu trauen, es zu explizieren, auf die Meinungen anderer zu beziehen, und seine Resultate in den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen.“ (Otto Kruse 1995: 59) ¾ Wissenschaft als ‚selber denken‘ ¾ als soziale Aktivität der Erkenntnisgewinnung durch Widerspruch/kritische
Auseinandersetzung mit vorhandenem Wissen/den Positionen anderer
Was ist Wissenschaft?
… Ratgeberliteratur: „Eine neue Theorie oder ein neues Themengebiet zu erkunden, erfordert etwa ebenso viel Mut, wie auf Reisen ein fremdes Land selbständig zu erschließen. Wie dort muss man bereit sein, sich mit Neuem, Überraschendem, Fremdem zu konfrontieren und den Boden des Bekannten zu verlassen. Beschränkt man sich darauf, vorhandene Bücher nachzuvollziehen, dann bleibt man ein wissenschaftlicher Pauschaltourist.“ (Otto Kruse 1995: 59) ¾ Wissenschaft erfordert den Mut, sich von vertrauten Gewissheiten zu
verabschieden und Dinge zu hinterfragen: – Ist es wirklich so? – Warum ist es so? – Könnte es auch anders sein?
Was ist Wissenschaft? … und jetzt noch mal etwas komplizierter – Wissenschaftstheorie:
„Das wissenschaftliche Erforschen der Wirklichkeit, die wissenschaftliche Suche nach Wahrheit unterscheidet sich von anderen Formen der Realitäts-erkundung durch eine besondere Systematisierung der Wirklichkeitsbeobach-tungen. Vertraut man im Alltag häufig auf persönliche, auch zufällig erhaltene Eindrücke, so zielt die Sozialwissenschaft auf Erkenntnisse, die die unmittelbare Anschauung übersteigen.“ (Noetzel 2009:50) ¾ Gegenüberstellung Alltagswissen (selektiv, perspektivisch, meist
unreflektiert) versus wissenschaftliches (systematisch gewonnenes) Wissen • Bsp.: aus BeobachterInnen-Perspektive scheint sich die Sonne um die Erde zu drehen;
systematische wissenschaftliche Beobachtungen zeigen, dass es umgekehrt ist
Was ist Wissenschaft? …Wissenschaftstheorie: „Wissenschaft ist jenes menschliche Handeln, das auf die Herstellung solcher Aussagen abzielt, die jenen Aussagen an empirischem und logischem Wahr-heitsgehalt überlegen sind, welche schon mittels der Fähigkeiten des ‚gesun-den Menschenverstandes‘ (‚Common-sense-Kompetenzen‘) formuliert werden können.“ (Patzelt 2013: 69) Exkurs: Wie schlachte ich einen Schachtelsatz? • Wissenschaft ist menschliches Handeln • Es zielt auf die Herstellung von Aussagen. • Wissenschaftliche Aussagen sind dem ‚gesunden Menschenverstand‘ an
logischem und empirischem Wahrheitsgehalt überlegen. ¾ Ziel von Wissenschaft ist es, empirisch wahre (d.h. in der Realität
zutreffende) und logisch wahre (d.h. widerspruchsfreie) Aussagen zu formulieren
Was ist Wissenschaft? (Politik-)Wissenschaft will nicht nur Wissensfragen beantworten, sondern Aussagen über komplexe Zusammenhänge machen (Patzelt 2013: 72): 1. Beschreibungen: Die Bundeskanzlerin hat folgende Kompetenzen…
2. Aussagen über Zusammenhänge: Die Wahl der FDP korreliert mit % statistischer Wahrscheinlichkeit mit einer selbständigen Tätigkeit.
3. Erklärungen: Mubarak konnte gestürzt werden, weil sich Polizei und Armee mit den Demonstrierenden solidarisierten.
4. Prognosen: Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, wäre die Stimmen-verteilung auf der Basis unserer repräsentativen Befragung vermutlich wie folgt …
5. Werturteile: Der Einsatz von Fassbomben durch das syrische Regime gegen die eigene Bevölkerung ist zu verurteilen, weil sie eine schwere Menschenrechtsverletzung darstellt.
6. Handlungsanweisungen: Die internationalen Gemeinschaft sollte auf der Basis unserer Analyse angesichts des Vormarsches des IS auf Kobane folgende Maßnahmen ergreifen …
Was ist Wissenschaft?
Grenzen der Prüfung des Wahrheitsgehalts wiss. Aussagen: „Eben weil Forschung und wissenschaftliches Denken immer wieder an die Grenzen verfügbaren Wissens gehen und über diese bisherigen Grenzen hinausgelangen wollen, ist bei wissenschaftlicher Arbeit oft gerade nicht genug Wissen verfügbar, um tatsächlich zutreffende Aussagen formulieren zu können; (…). Auch unterlaufen immer wieder Denk- und Argumentations-fehler, die man lange Zeit nicht entdeckt.“ (Patzelt 2013: 73) ¾ Wissenschaftliche Aussagen gelten daher solange als wahr, bis sie
widerlegt werden (Falsifikationsprinzip)
Die ‚Arbeit am Begriff’ (Fritz W. Haug)
Unterschied Begriff – empirischer Referent (Vorstellung über einen Gegenstand) (Gegenstand) http://www.bpb.de/lernen/unterrichten/grafstat/144809/mb-01-04-musterstimmzettel-zur-bundestagswahl-2009
Beobachtungsbegriffe – theoretische Begriffe (empirische Begriffe) (=abstrakte Begriffe) Bsp. Stimmzettel Bsp. Demokratie
„Einen Begriff (…) zu definieren meint: Es wird mitgeteilt, welcher Vorstellungsinhalt durch die Benutzung eines bestimmten Wortes oder einer bestimmten Reihe von Worten ‚abgerufen‘ werden soll“ (Patzelt 2013: 88)
Beispiel:
„Demokratie“ meint im wissenschaftlichen und politischen Sprachgebrauch „Herrschaft und Machtausübung des Volkes oder Herrschaft der Vielen, im Unterschied zur Herrschaft der Wenigen, wie in der Aristokratie oder der Oligarchie, oder zur Einerherrschaft, wie im Fall der Monarchie oder der Tyrannis“ (Schmidt 2008: 17).
Die ‚Arbeit am Begriff’ (Fritz W. Haug)
• Vorteil theoretischer Begriffe: ermöglichen Aussagen über ein größeres Themengebiet
• Nachteil: empirischer Wahrheitsgehalt ist schwerer zu überprüfen • Trick: Verknüpfung von theoretischen und empirischen Begriffen mit Hilfe
von Theorien = Operationalisierung: „Jeder noch so abstrakte Begriff muss in einem logisch stimmigen Gedanken-gang so auf die Beobachtungsbegriffe bezogen werden können, dass sowohl sein empirischer Referent angebbar ist als auch die mittels des abstrakten Begriffs formulierten Aussagen auf ihre Übereinstimmung mit jenen Tat-sachen geprüft werden können, auf die sie sich beziehen.“ (Patzelt 2013: 85)
Die ‚Arbeit am Begriff’ (Fritz W. Haug)
Funktion von Begriffen: • Ordnungsfunktion: Begriffe helfen, Wahrnehmungen über einen Gegen-
standsbereich zu ordnen und zu systematisieren (Bsp.: Vögel sind keine Reptilien.) -> Anm. AH: Begriffe haben auch eine normierende/normalisierende Funktion: Ein Politikbegriff, der sich auf formelle politische Institutionen bezieht, erlaubt es nicht, die Aktivitäten sozialer Bewegungen als Politik zu analysieren
• Kommunikationsfunktion: erleichtert die Verständigung „Typischerweise bieten konkurrierende Theorien verschiedene Terminologien an“ (Patzelt 2013: 82) -> Auswahl erforderlich
• Bewertungsfunktion • Appellfunktion Patzelt empfiehlt, sich auf die Ordnungs- und Kommunikationsfunktion zu konzen-trieren und Beschreibung und Bewertung bereits auf der Ebene von Begriffen zu trennen -> Anm. AH: gesellschaftskritische Strömungen sehen das anders (vgl. z.B. die Relevanz des Begriffs „Emanzipation“ in der Kritischen Theorie oder Relevanz des Begriffs „Geschlechter-gerechtigkeit“ in feministischen Ansätzen)
Handwerkliches: Wie arbeite ich wissenschaftlich?
• Ziel wissenschaftlicher „Spielregeln“ ist es, „die Entdeckung, Korrektur bzw. Aussonderung empirisch wie logisch falscher Aussagen zu verbürgen“ (Patzelt 2013: 77f)
• Grundregel: Begründen, was man tut, erklären, Bezüge herstellen, den eigenen Standpunkt und die eigene Perspektive reflektieren (Norbert Frank 2003: 15ff).
Konventionen der Wissenschaftssprache (Otto Kruse 1995: 67f.) 1. Systematisches Vorgehen 2. Widerspruchsfreiheit und logische Folgerichtigkeit 3. Explikation der eigenen Perspektive auf das Thema 4. Bezüge zum (politikwissenschaftlichen) Fachdiskurs herstellen: Was weiß
man schon über das Thema? 5. Differenzieren: Kontroversen nachzeichnen, Pro/Contra-Argumente
abwägen
Handwerkliches: Wie arbeite ich wissenschaftlich? Konventionen der Wissenschaftssprache (Otto Kruse 1995: 67f.) 6. Zentrale Begriffe definieren (durch Anlehnung an vorhandene
Definitionen und/oder Explikation der eigenen Begriffsverwendung) – Geeignete Nachschlagewerke: Fachlexika, Handwörterbücher der Politik; – NICHT: wikipedia oder andere Internetseiten mit unklarer AutorInnenschaft,
Brockhaus, Meyers Konverstationslexikon etc. -> warum nicht?
7. Argumentieren, d.h. andere von der Richtigkeit/Falschheit einer Aussage, von der Angemessenheit der eigenen Vorgehensweise und den eigenen Schlussfolgerungen überzeugen
8. Aussagen und Behauptungen belegen: – durch Verweis auf wissenschaftliche Literatur oder empirische Daten – Aussagen anderer Personen durch Zitate belegen
• Was ist ein Plagiat? • Sanktionen bei Plagiaten http://www.uni-marburg.de/fb03/selbstverwaltung/dokumente/plagiat?searchterm=plagiat
9. Formale Vorgaben einhalten (z.B. Vorgaben für Deckblatt, Inhaltsverzeichnis, Formatierungsvorgaben für den Text und die Literaturangaben)
Ist Wissenschaft immer kritisch? „Tatsächlich besteht die kritische, auf Aufklärung abzielende Aufgabe der Politikwissenschaft darin, politisches Alltagswissen und politische Theorien aller Art auf Blindstellen, Vorurteile und Täuschungen, auf logisch wie empirisch falsche Aussagen zu überprüfen“ und diesen „an logischem und empirischem Wahrheitsgehalt überlegene Alternativen entgegenzustellen“ (Patzelt 2013: 76) • Unterschied: kritische Reflexion von Alltagswissen – Gesellschaftskritik ¾ nächste Woche mehr zum Werturteilsstreit in den Sozialwissenschaften.
Ist Wissenschaft immer kritisch? Problem: Trennung Alltagswissen/wissenschaftliches Wissen ist nicht einfach, vielleicht sogar unmöglich aufgrund der Standortgebundenheit wissenschaftlichen Denkens/Wissens: „Ausgehend von Klassen, der ethnischen und Genus-Gruppenzugehörigkeit der erkennenden Wissenschaftssubjekte und deren spezifischen Erfahrungen, Interessen, Wertvorstellungen, Normen und Weltanschauungen analysierten feministische Erkenntnis- und Wissenschaftskritikerinnen die historisch-soziale Bedingtheit wissenschaftlicher Begriffe, Theorien und Methoden sowie die Ethik und Ziele wissenschaftlicher Forschung. Somit hinterfragten sie das Ideal eines interessenfreien, emotions- und körperlosen Subjekts des Erkennens und Forschens.“ (Dackweiler 2006: 57) ¾ (gesellschafts-)kritische Wissenschaftstraditionen fordern die Reflexion
und Offenlegung des eigenen Standorts
Zitierte Literatur (1) Patzelt, Werner, 2013: Was ist Wissenschaft? In: Ders.: Einführung in die Politikwissenschaft, Grundriss des Faches und studiumbegleitende Orientierung, 7. Aufl., S. 69-88 ---------------------- Dackweiler, Regina-Maria (2006): Wissenschaftskritik – Methodologie – Methoden. In: Rosenberger, Sieglinde K. und Birgit Sauer (Hg.) (2004): Politikwissenschaft und Geschlecht. Konzepte – Verknüpfungen – Perspektiven. Wien u.a.: WUV/UTB, 45-63. Kruse, Otto, 1995: Keine Angst vor dem leeren Blatt. Ohne Schreibblockaden durchs Studium. (4. Aufl.).Frankfurt/New York: Campus. Noetzel, Thomas (2009): Zum Verhältnis von Wissenschaftstheorie, Methodologie, Theorie, Methoden und empirischer Realität. In Westle, Bettina (Hg.): Methoden der Politikwissenschaft. Baden-Baden: Nomos, S. 50-61. Schmidt, Manfred G. (2008): Demokratietheorien. Eine Einführung, 4., überarb. u. erweit. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag.
Einführung*in*die*Poli0kwissenscha6*
Wintersemester)2014/15)Prof.)Dr.)Anne6e)Henninger)
Ins:tut)für)Poli:kwissenschaC))Büro:))G)00057;)Sprechstunde:)Di)14.30M16.00)Anne6e.Henninger@staff.uniMmarburg.de)
Was ist Wissenschaft? (II) Inhalt*letzte*Woche:*• Was)ist)WissenschaC?)
• Die)‚Arbeit)am)Begriff’)
• Handwerkliches:)Wie)arbeite)ich)wissenschaClich?)
• Ist)WissenschaC)immer)kri:sch?)
Inhalt*der*heu0gen*Sitzung:)• Was)ist)eine)Theorie?)(I))
• EmpirischManaly:sche)versus)norma:ven)Theorien)
• Darf)SozialwissenschaC)norma:v)sein?)Der)Werturteilsstreit)
• Was)ist)eine)Theorie?)(II))
• Ist)WissenschaC)immer)kri:sch?)–)Teil)II)
Was*ist*eine*Theorie?*“Allgemein) wird) mit) Theorie) ein) System) von) Begriffen,) Defini:onen) und)Aussagen) bezeichnet,) das) dazu) dienen) soll,) die) Erkenntnisse) über) einen)Bereich) von) Sachverhalten) zu) ordnen,) Tatbestände) zu) erklären) und)vorherzusagen”)(Hanns)Wienold)2010)[1978]).)
Reminder:)poli:kwissenschaClich)interessante)Aussagen)nach)Patzelt)(2013))1. Beschreibungen)
2. Aussagen)über)Zusammenhänge)
3. Erklärungen)
4. Prognosen)
5. Werturteile)6. Handlungsanweisungen)
Welche*dieser*Aussageformen*werden*von*der*Defini0on*abgedeckt,*welche*nicht?*
EmpirischGanaly0sche*vs.*norma0ve*Theorien
Krauskreise)
Kreisky,)Eva,)2002:)Was)ist)Theorie?)Was)ist)poli:sche)Theorie?)Wozu)Theorie?)h6p://evakreisky.at/onlinetexte/nachlese_theorie.php)
EmpirischGanaly0sche*vs.*norma0ve*Theorien*
Kleine*westliche*Wissenscha6sgeschichte*im*Schnelldurchlauf:*
• An:ke:)Verknüpfung)norma0ver*(d.h.)auf)sollMAussagen)gerichteter))und)empirischer*(d.h.)auf)istMAussagen)zielender))Theoriebildung)– Bsp.)Aristoteles‘)Staatsformenlehre)M)norma:ve)Vorannahme:)eine)Verfassung)ist)
gerecht,)wenn)zum)Nutzen)aller)regiert)wird)=)Kriterium)zur)Bewertung)von)Verfassungen)+)empirisches)Unterscheidungskriterium)(Wer)herrscht?)Zu)wessen)Nutzen)wird)geherrscht?))
• Christliches)Mi6elalter/frühe)Neuzeit:)Theologie)als)Leitdisziplin)=)norma:ve)Bindung)von)WissenschaC)an)christliche)Werte/Glauben)
• 17.)Jhd.)AuKlärung:)Berufung)auf)VernunC:)
„AuSlärung)ist)der)Ausgang)des)Menschen)aus)seiner)selbst)verschuldeten)Unmündigkeit.)Unmündigkeit)ist)das)Unvermögen,)sich)seines)Verstandes)ohne)Leitung)eines)anderen)zu)bedienen.“)(Immanuel)Kant,)1784))
EmpirischGanaly0sche*vs.*norma0ve*Theorien*
Folge*der*AuKlärung:)
• Auoommen)des)Empirismus)(Fundierung)erfahrungswissenschaClicher)Erkenntnisse)auf)Beobachtung)und)Experiment);)NaturwissenschaCen)als)Königsdisziplin)
• GesellschaCspoli:sche)Orien:erung)auf)religiöse)Toleranz,)BürgerM/Menschenrechte,)Emanzipa0on*(Befreiung)aus)gesellschaClichen)HerrschaCsverhältnissen))– Bsp.)für)die)wissenschaCliche)Anknüpfung)an)diesen)emanzipatorischen)Anspruch:)
)„Die)Kri:k)der)Religion)endet)mit)der)Lehre,)daß)der)Mensch)das)höchste)Wesen)für)den)Menschen)sei,)also)mit)dem)kategorischen)Impera:v,)alle)Verhältnisse)umzu`werfen,)in)denen)der)Mensch)ein)erniedrigtes,)ein)geknechtetes,)ein)verlassenes,)ein)verächtliches)Wesen)ist.“)Karl)Marx)(1843/44)))„Die)Philosophen)haben)die)Welt)nur)verschieden)interpre:ert;)es)kömmt)drauf)an,)sie)zu)verändern.“)(Karl)Marx,)1845))
Empirische*und*norma0ve*Theoriebildung*treten*zunehmend*auseinander*und*geraten*in*Konflikt*
Darf*Sozialwissenscha6*norma0v*sein?**Die*Posi0on*von*Max*Weber*(1904)*im*Werturteilsstreit*
• These:)die)Gül:gkeit)von)Werten)ist)nicht)wissenschaClich)beweisbar;)es)könne)„niemals)Aufgabe)einer)Erfahrungswissenschag)sein)[…],)bindende)Normen)und)Ideale)zu)ermijeln,)um)daraus)für)die)Praxis)Rezepte)ableiten)zu)können.“)(ebd.:)149))
• Weber)unterscheidet)zwischen)„Zwecken“)(d.)h.)Werten))und)„Mijeln“;)WissenschaC)könne)zwar)ZweckMMi6elMRela:onen)untersuchen;)eine)AbMwägung)von)Zwecken)erfordere)jedoch)norma:ve)Werturteile)und)sei)Aufgabe)der)„wollenden)Menschen“)(ebd.:)150),)also)von)BürgerInnen)und)Poli:kerInnen.)
• WissenschaClerInnen)müssten)ihre)Bewertungsmaßstäbe)explizieren,)um)„jederzeit)deutlich)zu)machen,)daß)und)wo)der)denkende)Forscher)aunört)und)der)wollende)Mensch)anfängt“)(ebd.:)157).)
Weber*=*Begründer*des*Postulats*der*Werturteilsfreiheit*
„Poli0k*gehört*nicht*in*den*Hörsaal“*(Weber*1917)*
Darf*Sozialwissenscha6*norma0v*sein?**Kri0k*am*Postulat*der*Werturteilsfreiheit)
• Max)Horkheimer,)1937:)Tradi0onelle*Theorie*habe)eine)„posi:ve“,)d.h.)systemstabilisierende,)Funk:on)–)anders)die)kri0sche*Theorie:))
„Die)Kategorien)des)Besseren,)Nützlichen,)Zweckmäßigen,)Produk:ven,)Wertvollen,)wie)sie)in)dieser)Ordnung)gelten,)sind)ihm)(dem)gesellschaCskri:schen)Verhalten,)AH))vielmehr)selbst)verdäch:g)und)keineswegs)außerwissenschagliche)Voraussetzungen,)mit)denen)es)nichts)zu)schaffen)hat.“)(Horkheimer)1937:)19))
„)Es)ist)gerade)diese)ihre)poli:sche)Enthaltsamkeit,)ihre)Selbstverpflichtung)auf)die)Werturteilsfreiheit)mit)der)sie)(die)WissenschaC,)AH))sich)den)‚herrschenden)Mächten’)ausliefert.)(...))Folglich)ist)auch)ihre)Unparteilichkeit)gerade)deswegen)ihre)Parteilich`keit)für)alle)herrschenden)Zwecke.“)(Huisken)2008:)23))
Darf*Sozialwissenscha6*norma0v*sein?**Werturteilsfreiheit*als*Forderung*des*empirischGanaly0schen*Mainstreams*
• Randständigkeit)norma:ver)Theorien:)Poli:sche)Philosophie,)IdeenMgeschichte,)gesellschaCskri:sche)Theorieströmungen)
• Dominanz)empirischManaly:scher)Theorien:)– Vorbild:)NaturwissenschaC;)Einschränkung:)Naturgesetze)=)determinis:sche)
Theorien)(wenn)A,)dann)folgt)immer)B);)SozialwissenschaC)hat)probabilisM:sche)Theorien)(wenn)A,)dann)folgt)mit)einer)Wahrscheinlichkeit)von)x%)B)
• Probleme:))– PoWi)darf)zwar)Normen)+)Werte)empirisch)erforschen)(z.B.:)Wie)halten)es)real)
exis:erende)Staaten)mit)den)Menschenrechten?),)aber)selbst)keine*normaG0ven*Aussagen*machen*(z.B.:)Wie)sollen)die)Menschenrechte)ausgestaltet)sein?))
– Nur)kausale)Erklärungen/Prognosen)werden)als)wiss.)Wissen)anerkannt;)gerade)in)den)SozialwissenschaCen)ist)Verstehen)(hermeneu:sche)RekonMstruk:on)von)Sinn))aber)genauso)wich:g)wie)Erklären)
– EmpirischManaly:sche)Theorien)enthalten)häufig)unreflek0erte*norma0ve*Vorannahmen)(vgl.)Vorwurf)des)Androzentrismus/Eurozentrismus).)
Was*ist*eine*Theorie?*(II)*Funk:on)von)Theorien:)
“Theorien)sind)heuris:sche)Mijel,)mit)deren)Hilfe)…)die)unmijelbare)Anschau`ung)übersteigenden,)systema:schen)Informa:onen)über)nicht)offensichtliche)Aspekte)der)Wirklichkeit)gewonnen)werden)sollen.”)(Noetzel)2009:)50))
• Dazu)gehören)für)Noetzel)auch)norma:ve)Theorien,)die)versuchen,)mi6els)systema:scher)Begründungen)Normen)des)Poli:schen)zu)entwickeln;)auch)norma:ve)Theorien)kommen)nicht)ohne)Realitätsbezug)aus,)indem)sie)– aus)der)Analyse)prak:zierter)Regelbefolgung)auf)die)zugrunde)liegenden)
Normen)schließen,)z.B.)Habermas:)Theorie)kommunika:ven)Handelns)– <Ergänzung)AH>:)aus)der)Analyse)sozialer)Kämpfe)auf)die)darin)angelegten)
Normen)schließen;)z.B.)Kri:sche)Theorie:)Emanzipa:on;)Honneth:)Kampf)um)Anerkennung)
• Probleme:)– Wie)kann)man)die)Differenz)zwischen)Norm)und)Wirklichkeit)beobachten/
bewerten?)
– Kann)man)von)dem,)was)ist,)auf)das)schließen,)was)sein)soll?))
Was*ist*eine*Theorie?*(II)*Theorien)entstehen)als)Voraussetzung)und)Folge)von)Wirklichkeitserforschung:)
„Ohne)theore:sche)Annahmen)ist)systema:sche)Wirklichkeitsbeobachtung)unmöglich,)weil)jede)Beobachtung)die)Komplexität)der)zu)beobachtenden)Umwelt)reduzieren)muss.)Das)heißt,)es)muss)vor)der)Beobachtung)gewusst)werden,)was)beobachtet)werden)soll.“)(Noetzel)2009:)51))
• Systema:k)der)Wirklichkeitsbeobachtung)entsteht)durch)theoriegeleitete)Selek:on)M>)Theorien)sind)die)Brille,)durch)die)wir)die)Welt)betrachten;)ohne)bewusste)Theoriewahl)ist)dies)die)Brille)unserer)(unreflek:erten))Alltagstheorien)
• ob)Theorien)‚rich:g’)oder)‚falsch’)sind,)entscheidet)sich)danach,)ob)die)behaupteten)Zusammenhänge)sich)in)der)Wirklichkeit)wiederfinden)
• Reminder:)Ziel*von*Wissenscha6*ist*es,*empirisch*wahre)(d.h.)in)der)Realität)zutreffende))und*logisch*wahre)(d.h.)widerspruchsfreie))Aussagen*zu*formulieren*(Patzelt)2013:)69))
• Theorien)haben)immer)einen)historischen,)sozialen)und)poli:schen)Kontext))
Was*ist*eine*Theorie?*(II)*Verhältnis*von*Wissenscha6,*Vermi_lungsins0tu0onen*und*poli0scher*Praxis:*
Kreisky,)Eva,)2002:)Was)ist)Theorie?)Was)ist)poli:sche)Theorie?)Wozu)Theorie?)h6p://evakreisky.at/onlinetexte/nachlese_theorie.php)
Ist*Wissenscha6*immer*kri0sch?)„Tatsächlich)besteht)die)kri'sche,)auf)Au-lärung)abzielende)Aufgabe)der)Poli:kwissenschag)darin,)poli:sches)Alltagswissen)und)poli:sche)Theorien)aller)Art)auf)Blindstellen,)Vorurteile)und)Täu`schungen,)auf)logisch)wie)empirisch)falsche)Aussagen)zu)überprüfen“)und)diesen)„an)logischem)und)empirischem)Wahrheitsgehalt)überlegene)Alterna:ven)entgegenzustellen“)(Patzelt)2013:)76))
Problem:)Trennung)Alltagswissen/wissenschaCliches)Wissen)ist)nicht)einfach,)vielleicht)sogar)unmöglich)aufgrund)der)Standortgebundenheit*wissenscha6Glichen*Denkens/Wissens:*„Ausgehend)von)Klassen,)der)ethnischen)und)Genus`Gruppenzugehörigkeit)der)erkennen`den)Wissenschagssubjekte)und)deren)spezifischen)Erfahrungen,)Interessen,)Wertvorstel`lungen,)Normen)und)Weltanschauungen)analysierten)feminis:sche)Erkenntnis`)und)Wissenschagskri:kerinnen)die)historisch`soziale)Bedingtheit)wissenschaglicher)Begriffe,)Theorien)und)Methoden)sowie)die)Ethik)und)Ziele)wissenschaglicher)Forschung.)Somit)hinterfragten)sie)das)Ideal)eines)interessenfreien,)emo:ons`)und)körperlosen)Subjekts)des)Erkennens)und)Forschens.“)(Dackweiler)2006:)57))
(gesellschags`)kri:sche)Wissenschagstradi:onen)fordern)nicht)Werturteils`freiheit,)sondern)die)Reflexion)und)Offenlegung)des)eigenen)Standorts)
Ist*Wissenscha6*immer*kri0sch?*(II)*
Wie*unterscheidet*sich*(gesellscha6sG)kri0sche*Poli0kwissenscha6*vom*empirischGanaly0schen*Mainstream?*
• keine)anderen)Inhalte/Methoden,)sondern)„spezifische)Erkenntnisinteressen,)methodologische)und)inhaltliche)Hintergrundannahmen“)(Greven)2006:)9):)1. historisches)Verständnis)ihres)Gegenstands;)2. gesellschaCstheore:sche)Einbe6ung)von)Poli:k;)
3. (GesellschaCsM)kri:sche)PoWi)untersucht)anknüpfend)an)die)Tradi:on)von)Auolärung)und)Emanzipa:on)„gesellschagliche)Wirklichkeit)unter)dem)Gesichtspunkt)poli:sch)erweiterter)Par:zipa:on)und)verallgemeinerter)Teilhabe)am)gesellschaglichen)Reichtum“)(ebd.:)10))
4. Sie)hat)einen)„komplexen,)mehrdimensionalen)Poli:kbegriff,)der)vor)allem)für)die)Analyse)von)Herrschagsverhältnissen)und)–prak:ken)sensibel)ist“)(ebd.:)11))
Ist*Wissenscha6*immer*kri0sch?*(II)*
Fazit:*
Poli:kwissenschaC)bewegt)sich)je)nach)WissenschaCsverständnis)trotz)des)allg.)Anspruchs)einer)kri:schen)Hinterfragung)von)Alltagswissen)zwischen))Affirma:on)des)Bestehenden,)Reformorien:erung)und)GesellschaCskri:k))
– Achtung:)auch)GesellschaCskri:k)kann)wieder)in)Affirma:on)umschlagen)–)Bsp.)MarxismusMLeninismus)in)der)DDR)
– Merke:)Die)größten)Kri:ker)der)Elche)werden)später)(manchmal))selber)welche))
Zitierte Literatur Dackweiler,)Regina`Maria))(2006):)Wissenschagskri:k)–)Methodologie)–)Methoden.)In:)Rosenberger,)Sieglinde)K.)und)Birgit)Sauer)(Hg.))(2004):)Poli:kwissenschag)und)Geschlecht.)Konzepte)–)Verknüpfungen)–)Perspek:ven.)Wien)u.a.:)WUV/UTB,)45`63.)Greven,)Michael,)2006:)Aktualität)und)Bedeutung)einer)kri:schen)Poli:kwissenschag)nebst)Bemerkungen)zur)Pluralismustheorie,)in:)Eisfeld,)Rainer,)Streitbare)Poli:kwissenschag,)Baden`Baden,)9)–)16.)Horkheimer,)Max,)1937:)Tradi:onelle)und)kri:sche)Theorie.)www.kripo.uzh.ch/wp`content/uploads/MaxHorkheimer/Tradi:onelleundkri:scheTheorie.pdf)(download:)20.10.14))Huisken,)Freerk,)2008:)Zur)Kri:k)an)Max)Weber.)In:)Heither,)D.)u.a.,)2008:)Poli:k)–)Wirtschag)–)Gesellschag.)Grundlagentexte)für)den)Unterricht,)Braunschweig,)22`24.)
Karl)Marx)(1976)[1843/44]):)Zur)Kri:k)der)Hegelschen)Rechtsphilosophie.)In:)MEW)Band)1,)378`391.)Karl)Marx)(1969)[1845]):)Thesen)über)Feuerbach.)In:)MEW)Band)3,)5ff.)
Kant,)Immanuel,)1784:)Beantwortung)der)Frage:)Was)ist)AuSlärung?)In:)Berlinische)Monatsschrig,)1784,)2,)481–494.)
Kreisky,)Eva,)2002:)Was)ist)Theorie?)Was)ist)poli:sche)Theorie?)Wozu)Theorie?)hjp://evakreisky.at/onlinetexte/nachlese_theorie.php)
Noetzel,)Thomas)(2009):)Zum)Verhältnis)von)Wissenschagstheorie,)Methodologie,)Theorie,)Methoden)und)empirischer)Realität.)In)Westle,)Beyna)(Hg.):)Methoden)der)Poli:kwissenschag.)Baden`Baden:)Nomos,)50`61.)Patzelt,)Werner,)2013:)Was)ist)Wissenschag?)In:)Ders.:)Einführung)in)die)Poli:kwissenschag,)Grundriss)des)Faches)und)studiumbegleitende)Orien:erung,)7.)Aufl.,)69`88.)Weber,)Max)2008)[1917]:)Wissenschag)als)Beruf)(Auszug).)In:)Heither,)D.)u.a.,)2008:)Poli:k)–)Wirtschag)–)Gesellschag.)Grundlagentexte)für)den)Unterricht,)Braunschweig,)19`21.)Weber,)Max)(1988):)Die)“Objek:vität”)sozialwissenschaglicher)und)sozialpoli:scher)Erkenntnis.)In:)Max)Weber:)Gesammelte)Aufsätze)zur)Wissenschagslehre.)Tübingen:)Mohr,)146–214.)Wienold,)Hanns)(2010[1978]:)Theorie.)In:)Fuchs`Heinritz,)Werner)(Hrsg.):)Lexikon)zur)Soziologie.)5.)Aufl.)Wies`baden:)Verlag)für)Sozialwissenschagen.))