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Kapitel 4
Einfache Theorie chemischer
Elementarreaktionen und die
Temperaturabhangigkeit der
Geschwindigkeitskonstanten
Ziel dieses Kapitels ist ein einfaches Verstandnis der Temperaturabhangigkeit der Geschwin-
digkeitskonstanten chemischer Elementarreaktionen. Ausgangspunkt fur unsere Darstellung ist
eine elementare statistisch-thermodynamische Behandlung der kinetischen Primarprozesse. Die-
se geht im Verstandnis etwas tiefer als eine rein formal quasithermodynamische Diskussion etwa
im Rahmen der thermodynamischen Formulierung der Theorie des Ubergangszustandes. Aller-
dings mussen einige Konzepte, die erst in der Vorlesung PC VI, Statistische Thermodynamik,
vorweggenommen werden.
4.1 Populationsverteilung
In der statistischen Mechanik stellt sich die Frage nach der Verteilung der Molekule auf die Ener-
giezustande im thermischen Gleichgewicht. Im Rahmen der klassischen Mechanik sind beliebige,
kontinuierliche Energiewerte moglich, in der Quantenmechanik fur manche molekularen Bewe-
gungen nur diskrete Energien. Es werden hier zunachst die wichtigsten Ergebnisse fur diskrete
Energien zusammengefasst und danach auf den kontinuierlichen Fall ubertragen.
127
128 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
4.1.1 Boltzmannverteilung auf Energieniveaus im thermischen Gleichgewicht
und chemische Gleichgewichtskonstante
Es seien zwei Energiezustande Ei und Ej gegeben, deren Besetzungswahrscheinlichkeiten (oder
einfach “Besetzungen”) mit pi und pj bezeichnet werden (Bild 4.1). Als Besetzungswahrschein-
lichkeit pj bezeichnet man also die Wahrscheinlichkeit, bei einer Temperatur T ein Atom oder
Molekul – oder allgemein ein Quantensystem – im Energiezustand Ej vorzufinden:
pj =Cj∑k
Ck(4.1)
wobei Cj die Konzentration der Molekule im Quantenzustand Ej ist.
Das Boltzmann-Verteilungsgesetz liefert als Ergebnis das Verhaltnis der beiden Besetzungen fur
jede Temperatur T , und zwar:pjpi
= exp
(−(Ej − Ei)
kBT
)(4.2)
mit
kB =R
NA= 1.38066× 10−23 J K−1, Boltzmannkonstante (4.3)
Das Boltzmann-Verteilungsgesetz lasst sich elementar aus der barometrischen Hohenformel her-
leiten, fundamental folgt es aus der mikrokanonischen Gleichverteilung. Wir wollen das Ergebnis
hier ohne Herleitung als Ausgangspunkt fur die folgenden Uberlegungen akzeptieren. Die Sum-
me der Besetzungen aller einzelnen Energiezustande sei auf eins normiert, d.h. man betrachtet
Besetzungswahrscheinlichkeiten ∑j
pj = 1 (4.4)
Also gilt fur die Besetzung eines Zustandes
pj =1
Qexp
(− EjkBT
)(4.5a)
mit der kanonische Zustandssumme
Q =∑j
exp
(− EjkBT
)(4.5b)
Es ergibt sich oft, dass mehrere Energiezustande fur dieselbe Energie existieren, man spricht
von entarteten Energiezustanden. Diese Zustande derselben Energie konnen in Gruppen oder
”Niveaus” zusammengefasst werden, wobei die Zahl der Zustande gJ zur Energie EJ statistisches
Gewicht heisst (wir verwenden hier grosse Indices fur solche entarteten Niveaus, man spricht auch
von der Entartung oder der Polytropie gJ):
pJ = gJ1
Qexp
(− EJkBT
)(4.6)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.1. POPULATIONSVERTEILUNG 129
Q =∑J
gJ exp
(− EJkBT
)=∑j
exp
(− EjkBT
)(4.7)
Man beachte die unterschiedlichen Summationsindices in Gl. (4.7), wobei wir hier durch gros-
se Indices entartete Niveaus J von einzelnen Quantenzustanden j unterscheiden. Mittels des
Boltzmann-Verteilungsgesetzes lasst sich nun die chemische Gleichgewichtskonstante eines Sy-
stems aus den molekularen Eigenschaften berechnen. Als Beispiel sei eine Isomerisierungsreak-
tion (A = B) aufgefuhrt (siehe Bild 4.1).
∆E
E
E ′
E ′
A B
(A)
(B)
Abbildung 4.1: Zur Boltzmann-Verteilung fur zwei Isomere A und B.
NB sei die Zahl der Molekule, die sich in einem Quantenzustand befinden, der zum Stoff B gehort
und analog ist auch NA definiert. Dann gilt:
NB
NA= Kc =
cB
cA=pB
pA=
∑i(B)
exp
(−Ei(B)
kBT
)∑i(A)
exp
(−Ei(A)
kBT
) (4.8)
Man summiert jeweils uber die Besetzung von Quantenzustanden, die entweder dem Isomeren A
oder dem Isomeren B zugeordnet werden konnen. Jetzt kann eine neue Energieskala eingefuhrt
werden, in der die Energie E′ jedes Isomers vom tiefsten Energiezustand E0 dieses Isomers
gemessen wird (siehe Bild 4.1):
pB
pA=
∑i(B)
exp
(− E′ikBT
)∑i(A)
exp
(− E′ikBT
) exp
(−∆E
kBT
)=QB
QAexp
(−∆E
kBT
)= Kc (4.9a)
mit
∆E = E0(B)− E0(A) (4.9b)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
130 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
Die Zustandssummen QA und QB sind gemass Gl. (4.7) definiert, ohne Berucksichtigung der
Existenz des anderen Isomeren. In der statistischen Thermodynamik lassen sich alle Gleichge-
wichtseigenschaften eines Systems aus der Zustandssumme herleiten. Die vorliegende Berech-
nung einer Gleichgewichtskonstanten ist ein einfaches Beispiel aus den allgemeinen statistischen
Berechnungen chemischer Gleichgewichte. Wir haben sie hier vorweggenommen, da wir das Er-
gebnis fur einige der folgenden Uberlegungen benotigen (siehe auch Ubungsanhang).
4.1.2 Quasikontinuierliche Verteilung und Maxwell-
Boltzmann-Geschwindigkeitsverteilung
Werden die Energieunterschiede zwischen benachbarten Zustanden sehr klein, so konnen mehrere
Energiezustande in einem kleinen Intervall dE zusammengefasst werden. Man definiert zu diesem
Zweck die “Zustandsdichte” ρ(E) abstrakt als Zahl der Quantenzustande pro Energieeinheit ganz
analog wie ja auch die Teilchenzahldichte als Zahl der Teilchen pro Volumeneinheit definiert wird
oder eine “Bevolkerungsdichte” als Zahl der Personen pro Flacheneinheit. Die Zustandsdichte
ist offenbar gerade der Kehrwert des Energieabstandes δ(E) bei der Energie E (oder eventuell
geeigneter Mittelwert hierzu, siehe Bild 4.2:
ρ(E) = δ(E)−1 (4.10a)
ρ(E)dE = ′′g(E)′′ (4.10b)
ρ(E)dE = dE/δ(E) ist die Anzahl der Energiezustande im Energieintervall dE, also quasi die
Entartung ′′g(E)′′ fur das Niveau, das dem Intervall dE bei der Energie E entspricht (siehe Bild
4.2).
E
dE
δ E( ) ρ E( )1-
=
dE
Abbildung 4.2: Skizze zur quasikontinuierlichen Energieverteilung mit der Zustandsdichte ρ(E).
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.1. POPULATIONSVERTEILUNG 131
Fur die Besetzungsdichte p(E) bei der Energie E gilt dann analog zu Gl. (4.6):
p(E)dE =
ρ(E) exp
(− E
kBT
)dE
∞∫0
ρ(E) exp
(− E
kBT
)dE
(4.11a)
Bei der quasikontinuierlichen Verteilung wird die Zustandssumme aus Gl. (4.7) durch ein ent-
sprechendes Integral ersetzt:
Q =
∫ ∞0
ρ(E) exp(−E/kBT )dE (4.11b)
Hierbei ubernimmt ρ(E)dE die Rolle der Entartung gJ in Gl. (4.7). Die notwendige Voraus-
setzung fur die Gultigkeit dieser Naherung ist die geringe Grosse der Energiedifferenzen δ(E)
zwischen den benachbarten Energiezustanden, wie dies bei den Translationsenergiezustanden
der Fall ist. Als Beispiel diskutieren wir hier die Berechnung der Translationsenergie- und der
Geschwindigkeitsverteilung in einatomigen idealen Gasen. Hier berechnet man zunachst die Zu-
standsdichte ρ (E) fur die Translationszustande unabhangiger Teilchen in einem Kasten mit dem
Volumen V :
ρ(E) = m3/225/2πh−3E1/2V (4.12)
m ist die Masse der Teilchen und h die Plancksche Konstante. Man setzt diese Zustandsdichte
in Gl. (4.11a) ein. Das dann fur Gl. (4.11a) und (4.11b) benotigte Integral lasst sich mit Hilfe
von Tabellen ermitteln (vergl. [Bronstein, Semendjajew 1980]).
∞∫0
E1/2 exp
(− E
kBT
)dE =
√π
2(kBT )3/2 (4.13)
Als Wahrscheinlichkeitsdichte der Besetzung oder kurz Besetzungsdichte bezeichnet man die
Besetzungswahrscheinlichkeit pro Energieintervall, also gemass Gl. (4.6) und (4.11a) p(E) =
p(E)dE/dE. Somit kann die Besetzungsdichte, die auch als Translationsenergieverteilung be-
zeichnet wird, durch folgenden Ausdruck dargestellt werden:
p(E) = E1/2
{√π
2(kBT )3/2
}−1
exp
(− E
kBT
)(4.14)
Obwohl die Energie eine fundamentale Grosse ist, erweist es sich manchmal als nutzlicher, von der
Translationsenergie auf den Betrag v der entsprechenden Geschwindigkeit umzurechnen. So lasst
sich auch die Translationsenergieverteilung auf die Geschwindigkeitsverteilung transformieren:
E =mv2
2(4.15a)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
132 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
dE = mv dv (4.15b)
p(E)dE = g(v)dv
= v√m/2
(√π
2(kBT )3/2
)−1
exp{−m
2v2 (kBT )−1
}mvdv (4.16)
Es folgt:
g(v) = 4πv2
(m
2πkBT
)3/2
exp
(− mv2
2kBT
)(4.17)
Es resultiert die Maxwell-Boltzmann-Geschwindigkeitsverteilung g(v) idealer Gase bei der Tem-
peratur T .
Man kann diese Verteilung in Atomstrahlexperimenten messen, wie in Bild 4.3 gezeigt ist.
g(v)
v
g(v)
v
O D
Z2Z1
M
Hochvakuum
Verteilung vor Z1
Verteilung nach Z2
dA
=
Zahnrad Z
d
Abbildung 4.3: Messung der Geschwindigkeitsverteilung im Atomstrahl (schematisch). O: Ofen,
aus dem Gasmolekule bei der Temperatur T austreten und nach einer Blende einen Molekulstrahl
bilden; D: Detektor; A: drehbare Achse; ω : Winkelgeschwindigkeit der Zahnrader Z1 und Z2; α
: Winkel, um den sich das Rad wahrend t gedreht hat; d : Abstand der Zahnrader Z1 und Z2.
Ein Teilchen kann genau dann durch die laufenden Rader Z1 und Z2 hindurchfliegen, wenn seine
Geschwindigkeit
v =ω d
α(4.18)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.1. POPULATIONSVERTEILUNG 133
betragt. Dann namlich entspricht der Drehwinkel α zwischen zwei Lucken gerade der Flugzeit t
fur die Strecke d (Analoges gilt fur Vielfache von α).
α = ωt (4.19)
t = d/v = α/ω (4.20)
Vor dem laufenden Zahnrad Z1 findet man die gesamte Geschwindigkeitsverteilung g(v), nach
dem Selektor Z2 sieht man nur noch den Ausschnitt dieser Verteilung, welcher der bekannten
Winkelgeschwindigkeit des Zahnrads entspricht. Bild 4.5 zeigt Beispiele fur thermische Geschwin-
digkeitsverteilungen nach Gl. (4.17).
Xe
O2
H2
0 2000 4000 6000 v / (m s-1)
g(v)
/ (1
0-3 m
s-1)
0
1
2
3
4
Abbildung 4.4: Geschwindigkeitsverteilung fur zwei typische Temperaturen und drei Beispiele
von Atom- oder Molekulmassen: T = 300 K (durchgezogen) und T = 1000 K (gestrichelt) fur
Xenon (m(Xe)= 131.29 u), Sauerstoff (m(O2) = 31.99u) und Wasserstoff (m(H2) = 2.02 u).
Aus den Energie- und Geschwindigkeitsverteilungen kann man Mittelwerte berechnen. Fur die
Mittelwertbildung einer Grosse f(x) gilt allgemein
〈f〉 =
B∫A
p(x)f(x)dx (4.21)
wobei p(x) die Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion ist. Anhand der Translationsenergieverteilung
p(E)dE kann man die mittlere Translationsenergie 〈E〉 berechnen (Sonderfall x ≡ E, f(x) = E)
〈E〉 =
∞∫0
p(E)EdE (4.22)
Einsetzen von p(E) ergibt
〈E〉 =
∞∫0
E3/2
(√π
2(kBT )3/2
)−1
exp
(− E
kBT
)dE (4.23)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
134 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
Man findet das folgende Integral in Tabellen:
∞∫0
xn exp (−ax) dx =Γ(n+ 1)
an+1(4.24)
Γ(n+ 1) ist die Gammafunktion mit dem Argument (n+ 1), eine verallgemeinerte Fakultat mit
der Eigenschaft Γ(n+ 1) = n Γ(n). Hierbei ist n eine beliebige reelle Zahl. Der Zusammenhang
mit der wohlbekannten Fakultat ergibt sich bei Beschrankung auf den Sonderfall der naturlichen
Zahlen. Es gilt hier offenbar Γ(N) = (N − 1)! = (N − 1)× (N − 2)...2× 1. Die Gammafunktion
ist allgemein tabelliert [Bronstein, Semendjajew 1980]. Im vorliegenden Fall findet man den
Tabellenwert fur Γ(3/2) =√π/2 und errechnet hiermit
Γ
(5
2
)=
(3
2
)Γ
(3
2
)=
(3
4
)√π (4.25)
〈E〉 =3
2kBT (4.26)
Die Berechnung der mittleren Geschwindigkeit liefert
〈v〉 =
∞∫0
g (v) vdv =
∞∫0
p (E) v (E) dE (4.27)
mit
v =
√2E
m(4.28)
〈v〉 =
∞∫0
E exp
(− E
kBT
)dE√
2/m((√
π/2)
(kBT )3/2)−1
=
(8kBT
πm
)1/2
≈(
2.55 kBT
m
)1/2
(4.29)
Neben der mittleren Geschwindigkeit werden auch die wahrscheinlichste Geschwindigkeit (Ma-
ximum der Verteilung)
vw =
(2kBT
m
)1/2
(4.30)
und die mittlere quadratische Geschwindigkeit
⟨v2⟩
=2
m〈E〉 =
(3kBT
m
)(4.31)
als charakteristische Grossen angegeben. Bild 4.5 illustriert diese Grossen. Man kann als weitere
charakteristische Grosse der Verteilung auch ihre Halbwertsbreite Γv angeben (das ist die volle
Breite Γv (FWHM), bei halber Hohe 12g (vw) in Bild 4.5, vom Englischen ‘Full Width at Half
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.1. POPULATIONSVERTEILUNG 135
Maximum’).
Γv ≈ 1.632 (kBT/m)1/2 ≈(
2.66 kBT
m
)1/2
(4.32)
Abbildung 4.5: Geschwindigkeitsverteilung mit vw, 〈v〉 und√〈v2〉, (schematisch)
Diese Formel ergibt sich aus einer numerischen Nullstellenbestimmung, wobei der Faktor auf drei
Stellen genau berechnet wurde. Tabelle 4.1 stellt einige Zahlenwerte fur Beispiele zusammen.
T/K Teilchen Γv/(m s−1) vw/(m s−1) v(Ew)/(m s−1)
300 H2 1815 1573.1 1112.4
O2 455.6 394.8 279.2
Xe 224.9 194.9 137.9
1000 H2 3314 2872.1 2030.9
O2 831.9 720.9 509.5
Xe 410.7 355.9 251.7
Tabelle 4.1: Halbwertsbreite Γv, wahrscheinlichste Geschwindigkeit vw und Geschwindigkeit
v(Ew) bei der wahrscheinlichsten Energie Ew fur Wasserstoff, Sauerstoff und Xenon bei zwei
Temperaturen.
Es kann zweckmassig sein, eine Darstellung mit reduzierten Energie- und Geschwindigkeitsva-
riablen einzufuhren, die dann fur alle Temperaturen und Molekule gilt. Als reduzierte dimensi-
PCII - Chemische Reaktionskinetik
136 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
onslose Energievariable eignet sich
Ered =E
kBT(4.33)
dEred =dE
kBT(4.34)
Damit erhalt man
pred(Ered)dEred = p(E)dE =2√πE
1/2red exp(−Ered)dEred (4.35)
Ebenso erhalt man mit
vred =
(m
kBT
)1/2
v (4.36)
gred(vred)dvred = g(v)dv =
√2
πv2
red exp(−v2red/2) dvred (4.37)
Die beiden Funktionen sind in einer universellen Darstellung in Bild 4.6 zusammengefasst.
2 4 6 8 10
0.1
0.2
0.3
0.4
0.5
0.6
Ú
Ô
´
Ö
µ
Ù
Ò
´
Ú
Ö
µ
Ered, vred
p red(E
red)
, gre
d(v r
ed)
Abbildung 4.6: Geschwindigkeitsverteilung gred(vred) (durchgezogen) und Translationsenergie-
verteilung pred(Ered) (gestrichelt) in reduzierten Geschwindigkeits- und Energievariablen.
Wir haben hier einige sehr einfache Anwendungen der kinetischen Gastheorie besprochen. Wei-
tere Ergebnisse dieser Theorie betreffen die physikalische Kinetik von Diffusions- und Warmelei-
tungsvorgangen, die Viskositat und viele weitere Eigenschaften von Gasen. Wir werden uns der
Berechnung von Geschwindigkeitskonstanten mit dieser Theorie zu wenden.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.2. ARRHENIUSGLEICHUNG 137
4.2 Arrheniusgleichung
4.2.1 Arrheniusgleichung und Stosstheorie bimolekularer Reaktionen
Stosshaufigkeit
Fur die spezifische bimolekulare Geschwindigkeitskonstante der Reaktion von A mit B bei der
Stossenergie Et hat man
k (Et) = σ (Et)
√2Et
µ(4.38)
wobei Et die relative Translationsenergie der Stosspartner ist, σ (Et) der effektive Reaktions-
querschnitt (energieabhangig) und µ die reduzierte Masse (µ = (m−1A +m−1
B )−1).
Der effektive Stossquerschnitt σ enthalt die quantitative Information uber den reaktiven Stoss.
Eine analoge Gleichung gilt fur nichtreaktive Stosse (mit einem anderen Wert fur σ). Nun wird
der thermische Mittelwert 〈k (Et)〉 gebildet.
〈k (Et)〉 =
∞∫0
p (Et) k (Et) dEt
=
∞∫0
E1/2
(√π
2(kBT )3/2
)−1
exp
(− E
kBT
)σ (E)
√2E/µdE
=
(8kBT
πµ
)1/2∞∫
0
(E
kBT
)σ (E) exp
(− E
kBT
)(dE
kBT
)(4.39)
≡ k (T ) = 〈vrel〉 〈σ〉 (4.40)
mit
〈σ〉 =
∞∫0
(E
kBT
)σ (E) exp
(− E
kBT
)(dE
kBT
)(4.41)
Wir haben hier verwendet, dass die Energieverteilung fur die relativen Translationsenergien ei-
ne thermische Gleichgewichtsverteilung (Maxwell-Boltzmann-Verteilung) gemass Gl. (4.14) ist
und haben in der Schreibweise den Ubergang von Et auf eine abstrakte Energievariable E und
die praktische, dimensionslose Energievariable (E/kBT ) als Integrationsvariable vollzogen. Die
Verwendung der reduzierten Masse µ in der thermischen Stossenergieverteilung ist naheliegend
und lasst sich durch eine ausfuhrlichere Rechnung begrunden. Mit Hilfe dieses gewichteten Mit-
telwertes des effektiven Stossquerschnittes lasst sich die Zahl der Stosse fur ein Teilchen A mit
allen Teilchen der Sorte B ausrechnen (Konzentration CB als Teilchenzahldichte genommen):
ZA = k(T )CB = 〈σ〉 〈vrel〉CB (4.42)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
138 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
ZA ist eine Geschwindigkeitskonstante scheinbar erster Ordnung fur Stosse von A mit B. Also
gilt fur die Zahl der Stosse pro Volumeneinheit
ZVAB = 〈σ〉 〈vrel〉CA · CB (4.43)
Fur die Anzahl der Stosse gleicher Molekule schreibt man entsprechend
ZVAA =1
2〈σ〉 〈vrel〉C2
A (4.44)
Der Faktor 12 muss hier wegen der Doppelzahlung der Stosse A mit A′ und A′ mit A berucksichtigt
werden. In diesem Fall kann auf die absolute Geschwindigkeit umgerechnet werden (mA = mB ≡ m)
〈vrel〉 =
(8kBT
πµ
)1/2
mit µ = m/2, und 〈vrel〉 =(
16kTπm
)1/2=√
2 〈vabs〉.
ZVAA =1√2〈σ〉 〈vabs〉C2
A (4.45)
Beispiel: Abschatzung der Zahl der Stosse pro cm3 und pro Sekunde in Ar bei 1 atm
(=101325 Pa) und 300 K. Der geschatzte effektive Stossquerschnitt sei 〈σ〉 ' 0.25 (nm)2. Das
ergibt ZVAA = 4.21 × 1028 cm−3 s−1. Fur die Zahl der Stosse eines Ar-Atoms hat man dement-
sprechend ZA = 3.44× 109 s−1.
Diese Grossenordnung sollte man sich merken, da sie praktisch angibt, bis zu welchen Zeiten man
bei Atmospharendruck unimolekulare Primarprozesse in ”isolierten” Atomen und Molekulen
vorfindet, die nicht wesentlich durch Stosse beeinflusst werden. Das gilt sicher fur Zeiten im fs
Bereich, weitgehend auch im ps Bereich. Dementsprechend kann man sagen, dass eine chemische
Reaktion in Gasen bei Atmospharendruck im Picosekunden- und Subpicosekundenzeitbereich si-
cher nicht bimolekular (oder trimolekular) sein kann. Will man langsamere Prozesse in isolierten
Molekulen untersuchen, so muss man bei geringeren Drucken arbeiten (z.B. mbar Drucke fur
Nanosekunden).
Einfache Modelle fur den Reaktionsquerschnitt
In Kapitel 3.3.7 wurde auf die Natur des Stossquerschnittes σ nicht naher eingegangen, er war
eine beliebige Funktion der Stossenergie Et. Hier sollen nun vier Modelle des funktionalen Zu-
sammenhanges fur σ = f (Et) erlautert werden.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.2. ARRHENIUSGLEICHUNG 139
Modell harter Kugeln
Die Stosspartner A und B werden durch harte Kugeln mit den Radien rA und rB approximiert.
Es gilt
rAB = rA + rB (4.46)
Et
σ ( )
σ0
rAB
R(Et)
Abbildung 4.7: Modell harter Kugeln und σ0 als Funktion von Et.
Beruhrung oder Stoss tritt ein, wenn sich die Zentren der beiden Kugeln auf diesen Abstand
nahern. Der effektive Stossquerschnitt entspricht also der Flache des gestrichelten Kreises in
Bild 4.8:
σ0 = π (rA + rB)2 (4.47)
Der Stossquerschnitt σ0 ist konstant fur alle Stossenergien (Bild 4.7). Der thermische Mittelwert
der Reaktionsgeschwindigkeitskonstanten kann durch Integration gemass Gl. (4.39) ermittelt
werden und man erhalt mit σ (E) = σ0
k (T ) =
(8kBT
πµ
)1/2
σ0
∞∫0
x exp (−x) dx (4.48)
Und aus Gl. (4.24)∞∫
0
x exp (−x) dx = 1 (4.49)
k (T ) =
(8kBT
πµ
)1/2
σ0 (4.50)
Modell mit Aktivierungsenergie E0
Im Modell mit einer Schwellenenergie oder Aktivierungsenergie E0 fur die Reaktion muss die
Stossenergie Et einen bestimmten Wert E0 ubersteigen, damit es zur Reaktion kommen kann.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
140 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
σR(Et) folgt einer Sprungfunktion bei E0. Fur Et > E0 ist σ in diesem Modell eine Konstante
(σ0, Bild 4.8).
σ0
σ
EtE0
R(Et)
Abbildung 4.8: σR als Funktion von Et, Schwellenenergie E0 und Sprungfunktion.
Auch fur dieses Modell lasst sich der thermische Mittelwert der Reaktionsgeschwindigkeits-
konstanten bestimmen.
k (T ) =
(8kBT
πµ
)1/2
σ0
∞∫E0
(E
kBT
)exp
(− E
kBT
)(dE
kBT
)(4.51)
Durch partielle Integration erhalt man fur dieses bestimmte Integral mit der variablen Unter-
grenze E0
k (T ) = σ0
(8kBT
πµ
)1/2(1 +
E0
kBT
)exp
(− E0
kBT
)(4.52)
Modell mit Aktivierungsenergie und langsam wachsendem σR (E)
Hier wird auch eine minimale Energie fur einen erfolgreichen Stoss vorausgesetzt. Wird allerdings
die Energie E0 erreicht, springt σR nicht gleich auf seinen Grenzwert σ0, sondern wachst stetig
bis zu diesem Endwert an (Bild 4.9). Man kann dieses Modell noch naher physikalisch begrunden
und es wird oft auch experimentell ein solches allmahliches Ansteigen gefunden, wobei allerdings
bei hohen Energien kein konstanter Wert erreicht wird, sondern wieder eine Abnahme von σ.
σ (Et) = 0 fur Et < E0
σ (Et) = σ0
(1− E0
Et
)fur Et > E0
(4.53)
Die Integration fur k (T ) ergibt:
k (T ) =
(8kBT
πµ
)1/2
σ0 exp
(− E0
kBT
)(4.54)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.2. ARRHENIUSGLEICHUNG 141
σ0
σ
EtE0
R(Et)
Abbildung 4.9: σR als Funktion von Et mit Aktivierungsenergie und langsam wachsendem
σR (E).
Verallgemeinertes Modell mit Aktivierungsenergie
Die Verallgemeinerung der vorhergehenden Modelle erfolgt durch die Einfuhrung einer beliebigen
Funktion f(Et − E0) = f(∆E), welche das Verhalten des Reaktionsquerschnittes oberhalb der
Schwellenenergie E0 beschreibt.
σR(Et) = 0 fur Et < E0
σR(Et) = σ0
(1− E0
Et
)f (∆E) fur Et > E0
(4.55)
Der allgemeine Ausdruck des thermischen Mittelwertes der Geschwindigkeitskonstanten lautet:
k(T ) = σ0
(8kBT
πµ
)1/2
exp
(− E0
kBT
)g(T ) (4.56)
mit
g(T ) =
∞∫0
(∆E
kBT
)f (∆E) exp
(−∆E
kBT
)d∆E
kBT(4.57)
Alle Modelle, ausser demjenigen der harten Kugeln, fuhren zu einem Ausdruck fur die Geschwin-
digkeitskonstanten k(T ), welcher sich in einen stark und einen schwach temperaturabhangigen
Term gliedern lasst. Dies fand auch Arrhenius, dessen Gesetz folgende Form hat:
k(T ) = A(T ) exp
(−EA
RT
)(4.58)
wobei A(T ) schwach temperaturabhangig ist, und exp(−EART
)stark temperaturabhangig ist.
Die Arrhenius-Aktivierungsenergie EA wird unten genauer definiert. Fur grosse Werte von EA ist
PCII - Chemische Reaktionskinetik
142 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
sie ungefahr gleich E0. Falls g(T ) genugend ”schwach T-abhangig” ist, bzw. die Schwellenenergie
E0 hoch ist, fuhrt auch das verallgemeinerte Modell zu einem Typus der Arrheniusgleichung,
dann namlich dominiert der exponentielle Term und bestimmt somit die Funktionsform.
Ein spezielles Beispiel fur das verallgemeinerte Modell des Reaktionsquerschnittes mit
f(∆E) = f(Et − E0) = exp
(−Et − E0
a
)(4.59a)
fuhrt zu der Form des Reaktionsquerschnittes
σR(Et ≥ E0) = σ0 (1− E0/Et) exp
(−Et − E0
a
)(4.59b)
Eine solche Form ist in Bild 4.10 fur den Wert a = 3E0 in reduzierter Form dargestellt, mit
σR(Et < E0) = 0:σR
σ0= (1− E0/Et) exp
(1− Et/E0
a/E0
)(4.60)
0.05
0.1
0.15
0.2
0.25
0.3
0.35
¼
Ê
´
µ
¼
2 4 6 8 10
σ0
σR(E
t) /
Et/E0
Abbildung 4.10: Verallgemeinertes Modell des Stossquerschnittes σR(Et)/σ0 nach Gl. (4.60) mit
a = 3E0.
Berechnet man hierfur k(T ) durch partielle Integration, so findet man
k(T ) = σ0
(8kBT
πµ
)1/2
exp
(− E0
kBT
)(1 + kBT/a)−2 (4.61)
Bild 4.11 zeigt diese Geschwindigkeitskonstanten in einem Arrheniusdiagramm fur σ0 = 0.1
nm2, NA E0 = 50 kJ mol−1 und a = 3E0. Die Darstellung erscheint fast linear uber einen
grossen Temperaturbereich, obwohl es quantitative Abweichungen von der Linearitat gibt. Bei
sehr hohen Temperaturen (T > 10000 K) findet man ein Maximum fur ln k(T ) = f(1/T ) mit
negativen Werten von EA(T ) bei noch hoheren Temperaturen. Wertet man dieses Beispiel nu-
merisch aus, so findet man bei 300 K A = 2.81× 10−10 cm3 s−1 und EA = 51.166 kJ mol−1, bei
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.2. ARRHENIUSGLEICHUNG 143
5000 K entsprechend A = 4.87 × 10−10 cm3 s−1 und EA = 52.743 kJ mol−1, also eine schwache
Temperaturabhangigkeit der Arrheniusparameter.
0 1 2 3 4 5
-50
-45
-40
-35
-30
-25
-20
1000 K / T
ln[k
(T)/
(cm
3 s-1)]
Abbildung 4.11: Arrheniusdiagramm ln[k(T )/(cm3 s−1)] aufgetragen gegen 1/T fur das verall-
gemeinerte Modell, Gl. (4.60) und (4.61), (a = 3E0 und µ = 1.914 u.
4.2.2 Arrheniusgleichung fur unimolekulare Reaktionen
Wir diskutieren hier zunachst ein einfaches Modell fur unimolekulare Reaktionen, das auf die
Arrheniusgleichung fuhrt. Das stabile Molekul Xz besitze die Energie Ez. Die Schwellenenergie,
die X erreichen muss, damit es reagieren kann, betrage E∗ (Bild 4.12). Das kinetische Schema
ist
Xz
k1
�
k2
X∗k3→ Produkte (4.62)
Fur die Geschwindigkeitskonstanten gelte k1 und k2 � k3. Diese Voraussetzung erlaubt die
Annahme eines Gleichgewichtszustandes zwischen Xz und X∗, also
[X∗]
[Xz]=k1
k2= K∗ =
g∗
gzexp
(−∆E
kBT
)(4.63)
g∗ ist die Entartung fur das Niveau bei der Energie E∗ und gz fur das Niveau bei der Energie
Ez. Die Reaktionsgeschwindigkeit fur dieses System ist also
− d [X]
dt= −d ([Xz] + [X∗])
dt= k3 [X∗] = k3 [Xz]
g∗
gzexp
(−∆E
kBT
)(4.64a)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
144 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
EzXz
k2k1∆E
k3
XEProdukte
* *
Abbildung 4.12: Energieschema des unimolekularen Zerfalls.
Wegen ∆E � kBT folgt [X] ' [Xz]� [X∗] und man kann zusammenfassend schreiben:
−d [X]
dt= keff [X]
mit
keff = k3g∗
gzexp
(−∆E
kBT
)(4.64b)
Der Vergleich mit dem Arrheniusgesetz
k (T ) = A (T ) exp
(−EA
RT
)(4.65a)
zeigt
A (T ) = k3g∗
gz(4.65b)
exp
(−EA
RT
)= exp
(−∆E
kBT
)(4.65c)
Unter diesen Bedingungen sind A und EA konstante Grossen und das logarithmierte Arrheni-
usgesetz kann als Gerade dargestellt werden:
ln k = lnA− EA
RT(4.66)
Im allgemeinen wird das Gleichgewicht durch die Reaktion gestort (Quasistationaritat statt
Gleichgewicht). Es existieren ausserdem viele X∗ mit verschiedenen k3 und E∗. Deshalb findet
man in Wahrheit im Allgemeinen eine schwache Temperaturabhangigkeit fur A und EA.
4.2.3 Temperaturabhangige Arrheniusparameter
Differentielle Form der Arrheniusgleichung
Die logarithmische Darstellung von k(T ) als Funktion von 1/T fuhrt im allgemeinen Fall nicht
zu einer Geraden (s. Bild 4.13). Die Ableitung der Funktion ln k nach 1/T fuhrt zur Tangenti-
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.2. ARRHENIUSGLEICHUNG 145
algleichung:d ln k (T )
d (1/T )= −EA (T )
R(4.67a)
Diese Gleichung lasst sich auch nach EA aufgelost umschreiben
EA = −R d ln k(T )
d(1/T )= RT 2 d ln k(T )
dT(4.67b)
Man kann diese Form der Gleichung zur Bestimmung von EA verwenden, wenn ln k(T ) als
Funktion von (1/T ) oder von T gemessen wurde. Die Integration von Gl. (4.67a) ergibt die
Arrheniusgleichung mit temperaturabhangigen Parametern
k (T ) = A (T ) exp
(−EA (T )
RT
)(4.68)
Die differentielle Auswertung der Arrheniusgleichung ist die Grundlage der strengen Definition
der Arrheniuskonstanten:
• EA(T ) ist die Aktivierungsenergie nach Arrhenius gemaßDefinition in Gl. (4.67b)
• A(T ) ist der praexponentielle Faktor nach Arrhenius, der durch Auflosen von Gl. (4.68)
nach A(T ) bei aus Gl. (4.67b) bekanntem EA(T ) und bekanntem k(T ) definiert wird
Man muss die Aktivierungsenergie nach Arrhenius von der Schwellenenergie E0 (oder schlicht
der Aktivierungsenergie) unterscheiden.
Bei der einfachsten Auswertung nach Arrhenius nimmt man bei einer Messung der tempe-
raturabhangigen Geschwindigkeitskonstanten uber kleine Bereiche von T an, dass A und EA
temperaturunabhangig sind. Falls die Temperaturabhangigkeit der Arrheniusparameter wichtig
ist, geht man in der Praxis so vor, dass man zunachst eine geeignete, wenn moglich theoretisch
begrundete, nichtlineare Form der logarithmierten Arrheniusgleichung an die experimentellen
Werte anpasst. Sodann bestimmt man fur die gewunschte Temperatur Tx die Ableitung gemass
Gl. (4.67a) und hieraus EA (Tx). A (Tx) errechnet sich dann mit dem so bestimmten Wert von
EA (Tx) und dem Wert fur k (Tx).
A (Tx) = k (Tx) exp [+EA (Tx) /RTx] (4.69)
Neben dieser numerischen Auswertung ist selbstverstandlich auch die direkte graphische Auswer-
tung gemass Bild 4.13 sinnvoll, wenn auch weniger genau. Ein praktisches Anwendungsbeispiel
ist im Ubungsanhang zu finden.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
146 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
Steigung:E Tx( )
R------------------
kln
1 T⁄
A Tx( )ln
1 Tx⁄
Tangente bei an die Funktion1 Tx⁄ kln
A
Abbildung 4.13: Nichtlineare graphische Darstellung und differentielle Auswertung der Arrheni-
usgleichung mit der Tangente bei 1/Tx und dem Achsenabschnitt der Tangente lnA(Tx).
Analogie zur van’t Hoff-Gleichung
Auch die van’t Hoff-Gleichung (4.70), welche die Temperaturabhangigkeit der Gleichgewichts-
konstanten K beschreibt, kann auf die differentielle Form gebracht werden:
d lnK
d (1/T )= − ∆rH
(T )
R(4.70)
mit
K = exp
(−∆rG
(T )
RT
)= exp
(∆rS
(T )
R
)exp
(−∆rH
(T )
RT
)(4.71)
Hierbei sind ∆rH(T ) die Reaktionsenthalpie und ∆rS
(T ) die Reaktionsentropie unter Stan-
dardbedingungen.
Man erkennt eine vollige Analogie der beiden Auswertungen nach Arrhenius und van’t Hoff.
Diese ist nicht zufallig. Van’t Hoff hatte zunachst die entsprechende Auswertung von ther-
modynamischen Daten eingefuhrt (Bild 4.16). Spater hat er dann die Arrheniusgleichung fur
Geschwindigkeitskonstanten in Analogie zu diesen thermodynamischen Gleichungen vorgeschla-
gen. Streng genommen ist also die Benennung dieser Gleichung nach Arrhenius historisch nicht
gerechtfertigt.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.3. DIE THEORIE DES UBERGANGSZUSTANDES 147
Steigung:∆H0 Tx( )
R-----------------------
Kpln
1 T⁄1 Tx⁄
Tangente bei an die Funktion1 Tx⁄ Kpln∆S0 Tx( )
R--------------------
Abbildung 4.14: Differentielle Auswertung der van’t Hoff Gleichung (mit Kp = K).
Andere Gleichungen fur die Temperaturabhangigkeit der Geschwindigkeitskonstan-
ten
In der Praxis wird haufig von temperturunabhangigen Arrheniusparametern A und EA ausge-
gangen. Da dies jedoch oft nicht genugt, werden weitere Gleichungen mit mehreren temperatu-
runabhangigen Parametern eingesetzt, um die Temperaturabhangigkeit der Arrheniusparameter
zu modellieren. Eine haufig verwendete Form ist
k(T ) = A′ T b exp
(− Ea
RT
)(4.72)
wobei A′, b und Ea als temperaturunabhangig angenommen werden. Hiermit ergibt sich fur die
temperaturabhangigen Arrheniusparameter
A = A′ (eT )b (4.73a)
EA = Ea + b RT (4.73b)
Tabellen mit entsprechenden Parametern fur zahlreiche Reaktionen finden sich bei
[Warnatz et al. 1999] und [Atkinson 1989].
4.3 Die Theorie des Ubergangszustandes
Die Theorie des Ubergangszustandes gehort zu den fruchtbarsten Theorien der Geschwindigkeits-
konstanten chemischer Elementarreaktionen. Sie wird gelegentlich auch als Theorie des aktivier-
ten Komplexes bezeichnet (englisch ”transition state theory”, TST, oder ”activated complex
PCII - Chemische Reaktionskinetik
148 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
theory”, ACT, auch ”absolute rate theory”, ART). Besonders fur unimolekulare Reaktionen ist
auch “Quasigleichgewichtstheorie” (”quasiequilibrium theory”, QET) gebrauchlich. Man kann
sie elementar mit quasithermodynamischen Konzepten einfuhren, wobei ihre Anwendung dann
auf eine Auswertung und Deutung der Temperaturabhangigkeit der Geschwindigkeitskonstanten
beschrankt ist, die nicht wesentlich uber die Auswertung und Deutung im Rahmen der Arrheni-
usgleichung hinausgeht. Ein besserer Zugang erfolgt uber statistisch-thermodynamische Konzep-
te, wobei erkennbar wird, dass die Theorie des Ubergangszustandes prinzipiell zur ”absoluten”
(ab initio) Berechnung von Geschwindigkeitskonstanten geeignet ist. Dies erlaubt ein wesentlich
tieferes Verstandnis der Grundlagen dieser Theorie. Wir werden diesen zweiten Zugang hier im
Rahmen einer sehr einfachen Darstellung wahlen. Wir wollen hier jedoch die wichtigsten Ergeb-
nisse der Theorie zusammenfassen, da sie in allen Bereichen der Chemie, von der anorganischen
uber die organische bis hin zur Biochemie von grundlegender Bedeutung ist.
4.3.1 Die physikalische Grundidee der Theorie des Ubergangszustandes: Eine
Analogie zur Effusion oder Ausstromung aus einem Behalter
Die Grundidee der Theorie des Ubergangszustandes kann man durch die Analogie des Aus-
stromens eines Gases (Teilchenzahl N) durch den engen Flaschenhals einer Flasche in ein Va-
kuum verstehen (Bild 4.15). Der Flaschenhals sei genugend eng, so dass sich der Druck p in der
Flasche nur langsam andert. Zur Berechnung der Ausstromungsgeschwindigkeit −dN/dt muss
man die Geschwindigkeit vs der Molekule am Flaschenhals mit der Querschnittsflache F des
Flaschenhalses und der Konzentration CF der Molekule am Flaschenhals multiplizieren. Die pro
Zeiteinheit ins Vakuum austretende Zahl von Molekulen ist also mit der Idealgasnaherung fur
CF gegeben durch
− dN
dt= vs F CF = vs F
pF
kBT(4.74a)
p C,pkT------=
pF p≤
p 0≈
Strömungsgeschwindigkeit vs
kBT
Abbildung 4.15: Ausstromung eines Gases aus einer Gasflasche mit engem Flaschenhals.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.3. DIE THEORIE DES UBERGANGSZUSTANDES 149
In der Differentialnotation lasst sich dies auch anschaulich schreiben mit dem Volumen V und
dem Differential dV = Fdx, wobei die x-Achse die Stromungsrichtung angibt mit der Konzen-
tration CF = −dN/dV und vs = dx/dt (−dN = CF dV ist positiv)
− dN
dt= −dV
dt
dN
dV=
dx
dtF CF (4.74b)
Wenn die Flasche geschlossen ist, so gilt pF = p (Gleichgewichtsdruck). Bei offener Flasche kann
man bei kleinem Flaschenhals annehmen, dass der Druck am Flaschenhals ungefahr gleich dem
Gleichgewichtsdruck ist, in Wahrheit wird er etwas kleiner sein, also
pF . p (4.75)
− dN
dt= vsF
(pF
kBT
). vsF
(p
kBT
)(4.76)
Die Annahme, dass die Konzentration der Molekule am Flaschenhals gleich der Gleichgewichts-
konzentration ist, erlaubt uns eine einfache Abschatzung der Ausstromungsgeschwindigkeit bei
bekanntem p und vs. Wenn weiterhin der Flaschenhals von molekularer Dimension ist, konnen
wir annehmen, dass die thermische Geschwindigkeitsverteilung nicht wesentlich durch die Aus-
stromung gestort ist. Berucksichtigt man die Tatsache, dass im Mittel nur die Halfte der Mo-
lekule einen Geschwindigkeitsvektor in Richtung einer Ausstromung hat (d.h. CF(Ausfluss)'
p/(2kBT )) und dass fur die hier massgebliche eindimensionale Maxwell-Boltzmann-Verteilung
gilt
vs ≈ 〈|v1D|〉 =1
2〈|v3D|〉 =
√2kBT
πm(4.77)
(〈|v1D|〉 ist der eindimensionale mittlere Geschwindigkeitsbetrag (in einer Richtung), 〈|v3D|〉 der
mittlere Geschwindigkeitsbetrag aus Gl. (4.29)), so findet man
− dN
dt=
1
2
√2kBT
πmF C =
1
2
√2RT
πMF
(p
kBT
)(4.78)
Man bezeichnet den Prozess der molekularen Ausstromung auch als Effusion. Die Effusionsge-
schwindigkeit ist umgekehrt proportional zur Molekulmasse m (Molmasse M) und ist deshalb
prinzipiell zur Molmassenbestimmung oder in einem Gasgemisch von Isotopen verschiedener
Masse zur Isotopentrennung geeignet. Unabhangig davon, ob wir die wahre Stromungsgeschwin-
digkeit vs oder die mittlere thermische Geschwindigkeit 〈|v1D|〉 verwenden, erkennt man, dass
wegen der Ungleichung Gl. (4.75) die Gleichgewichtsannahme zu einer oberen Schranke fur
die wahre Ausstromungsgeschwindigkeit fuhrt. Die Berechnung der Effusionsgeschwindigkeit ist
auch an sich wichtig, und man sollte sie sich neben der allgemeinen Vorgehensweise merken. Das
PCII - Chemische Reaktionskinetik
150 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
hier diskutierte Vorgehen zur Berechnung eines Durchsatzes an einem “Flaschenhals” fur ein
kinetisches Phanomen lasst sich in einer Vielzahl von Beispielen anwenden. Wir wollen das Ver-
fahren nun auf die Reaktionskinetik von Molekulen anwenden. Zuvor seien die hauptsachlichen
gedanklichen Schritte bei dieser Vorgehensweise nochmals zusammengefasst:
1. Der kinetische Prozess wird durch einen “Flaschenhals” bestimmt, einen Raumbereich, wo
im Fall der Ausstromung eine enge Begrenzung des Gasflusses, im Falle der Reaktion des
“Reaktionsflusses” zu erwarten ist. Es ist der Ort minimaler Stoffmenge als Funktion der
Stromungsrichtung (im Gleichgewicht).
2. Die Geschwindigkeit des Prozesses wird aus der Konzentration und der Flussgeschwindig-
keit am Flaschenhals berechnet (vF = −dN/dt = vs F CF).
3. Die Konzentration CF am Flaschenhals wird als Gleichgewichtskonzentration C (im Gleich-
gewicht mit dem “Reservoir” in der Flasche oder allgemeiner der Reaktanden) und die
Flussgeschwindigkeit vs als thermische Gleichgewichtsgeschwindigkeit approximiert. Hier-
bei erwartet man, dass diese Approximation einen oberen Grenzwert fur den wahren Wert
liefert.
Bei der Anwendung auf molekulare chemische Prozesse werden wir nun zunachst besprechen,
was dort die Rolle des Flaschenhalses ubernimmt. Sodann werden wir durch Anwendung der
genannten Schritte zur Berechnung der Geschwindigkeitskonstanten mit Hilfe einer geeigneten
Gleichgewichtsannahme am Flaschenhals kommen.
4.3.2 Reaktionskoordinaten, Flaschenhalse, Sattelpunkte und Energiebarrie-
ren auf molekularen Potentialhyperflachen
Die Analogie zwischen dem Ausstromen eines Gases durch eine kleine Offnung und einer chemi-
schen Reaktion lasst sich durch Betrachtung der Landkarte der potentiellen Energien als Funk-
tion der Position der Atome in einer molekularen Umlagerung verstehen. Selbst fur einfachste
Umlagerungen wie etwa die Isomerisierung
HNC� HCN (4.79)
ware eine ”Landkarte” der potentiellen Energie in drei Dimensionen (z. B. zwei Bindungslangen
rCH und rCN sowie ein Winkel) notig. Wir konnen zur Veranschaulichung jedoch vereinfachend
annehmen, dass die CN Bindungslange rCN bei der Isomerisierung konstant bleibt. Dann hat
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.3. DIE THEORIE DES UBERGANGSZUSTANDES 151
man wie bei Landkarten mit Hohenlinien auf einer Flache eine Darstellung der potentiellen Ener-
gie durch “Aquipotentiallinien” gleicher Energie auf einer Flache wie in Bild 4.16 dargestellt.
N C
M1M2
=y / 1
00 p
m
x / 100 pm
Abbildung 4.16: Aquipotentiallinien fur die Isomerisierung HNC� HCN bei festgehaltener Bin-
dungslange rCN. Die Graphik zeigt die potentielle Energie als Funktion der Position des H-Atoms
in einer Ebene (x, y) relativ zu C-N wie gezeichnet. x gibt die Position in Richtung der C-N
Achse und y die Position senkrecht hierzu an. Der Ursprung liegt etwa in der Mitte zwischen
C und N. Das tiefere Minimum M1 entspricht der Struktur HCN, das hohere Minimum M2 der
Struktur CNH. Der Energieunterschied zwischen benachbarten Aquipotentiallinien ist 0.5 eV
(ca. 48 kJ mol−1). Die gestrichelte Linie mit Pfeilen gibt die Reaktionskoordinate rq an, 6= mar-
kiert die Struktur des Ubergangszustandes an der Stelle r 6=q die dem “Flaschenhals” entspricht
(Sattelpunkt oder Pass auf dem Energiegebirge) nach [Murrell et al. 1978].
Die chemische Umlagerung lasst sich hier als Wanderung des H-Atoms vom Minimum M2 zum
Minimum M1 verstehen, entsprechend einer “Stromung” der Molekule von der Reaktanden- auf
die Produktseite, ungefahr entlang der eingezeichneten Reaktionskoordinate rq. Hierbei wird wie
bei der Ausstromung eines Gases durch einen Flaschenhals eine besonders ungunstige Stelle mi-
nimaler Wahrscheinlichkeit entlang rq an der Stelle r 6=q entscheidend sein (wegen der Boltzmann-
Verteilung ist die Besetzung hier am geringsten). Es ist gebrauchlich, die Darstellung auf eine
Dimension, also potentielle Energie als Funktion von rq zu beschranken. Wie in Bild 4.17 ge-
PCII - Chemische Reaktionskinetik
152 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
zeigt, erscheint der Sattelpunkt aus Bild 4.16 als Maximum der potentiellen Energie entlang der
Reaktionskoordinate rq. Es ist nun naheliegend, die Reaktionsgeschwindigkeit aus dem Gleich-
gewichtsfluss an der Stelle r 6=q zu berechnen, wobei diese Stelle mit einem speziellen Symbol 6=
als Ubergangszustand bezeichnet wird.
Abbildung 4.17: Potentielle Energie als Funktion der Reaktionskoordinate rq fur eine Isomeri-
sierung (schematisch der gestrichelten Linie mit Pfeilen (rq) in Bild 4.16 folgend).
Ganz allgemein ergibt sich die potentielle Energie eines N -atomigen Molekuls als Funktion der
3N − 6 inneren Freiheitsgrade (Koordinaten) aus der Losung der Schrodingergleichung fur die
Elektronenbewegung bei der entsprechenden (festgehaltenen) Position der Atomkerne. Das ent-
spricht der nach Born und Oppenheimer benannten Naherung fur die Molekuldynamik.
4.3.3 Faktorisierung molekularer Zustandssummen
Zur Berechnung der Gleichgewichtsbesetzung am Ubergangszustand mit Hilfe von Gl. (4.5)
bis (4.9) benotigen wir noch einige Ergebnisse aus der statistischen Thermodynamik, die wir
hier kurz zusammenfassen. Es gilt oft in brauchbarer Naherung, dass die Energien Em der
molekularen Energieniveaus als Summe von Beitragen der Translation Et, der Rotation Er, der
Schwingung Ev und der elektronischen Bewegung Ee dargestellt werden kann:
Em = Et + Er + Ev + Ee (4.80)
Wir nehmen hier an, dass nur ein Quantenzustand der elektronischen Bewegung Ee (der elek-
tronische Grundzustand eventuell mit der Entartung ge) eine Rolle spielt (dieser definiert die
Potentialflache, die als Beispiel in Bild 4.16 gezeigt ist). Es folgt aus der Summe in Gl. (4.80)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.3. DIE THEORIE DES UBERGANGSZUSTANDES 153
und der Exponentialform der Zustandssumme, Gl. (4.7), dass die molekulare Zustandssumme
qm entsprechend diesen Beitragen faktorisiert werden kann
qm = qt qr qv ge gKernspin /σ (4.81)
Wir verwenden hier den kleinen Buchstaben q fur die Definition der Zustandssumme von einzel-
nen Molekulen und Atomen, wobei die Energieniveaus sich auf Molekule oder Atome beziehen.
Die allgemeine Zustandssumme Q in Kap. 4.1 konnte sich auch auf eine makroskopische Stoff-
menge, z. B. 1 mol eines Gases beziehen. Die allgemeinen Gleichungen sind aber vollig analog.
Hierbei ist nun in q neben der elektronischen Entartung ge noch die Kernspinentartung
gKernspin =∏i
(2Ii + 1) (4.82)
wobei Ii der Spin des Kerns i im Molekul ist. Die σ sind eine Symmetriekorrektur; Sie sind einfa-
che ganze Zahlen, die sich aus der Symmetriegruppe des Molekuls ermitteln lassen. σ ist gleich 1
fur den Fall asymmetrischer Molekule, sowie auch fur HCN oder HNC. Das Symbol σ ist nicht mit
dem Wirkungsquerschnitt zu verwechseln. Man hat in der Praxis folgende Naherungsgleichungen
fur die Anteile der Zustandssummen:
• fur die Translationszustandssumme:
qt = V
(2πmkBT
h2
)3/2
(4.83)
wobei m die Masse des Molekuls ist und V das Volumen des idealen Gases (Gl. (4.83)
impliziert die Idealgasnaherung unabhangiger Teilchen).
• fur die Vibrationszustandssumme:
qv =
s∏i=1
qvi (4.84)
mit
qvi =
(1− exp
(− hνikBT
))−1
(4.85)
s ist die Zahl der Schwingungsfreiheitsgrade (3N − 6 fur nichtlineare Molekule, 3N − 5 fur
lineare Molekule mit N Atomen). Die νi sind die Schwingungsfrequenzen zur Schwingung
i, wobei Gl. (4.85) auf der Annahme einer harmonischen Schwingung beruht.
• fur die Rotationszustandssumme:
qr =√π
(kBT
hc
)3/2
(ABC)−1/2 (4.86)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
154 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
fur nichtlineare Molekule mit drei Rotationskonstanten A,B,C und
q`r =kBT
hcB(4.87)
fur lineare Molekule, mit der spektroskopischen Rotationskonstanten B.
Da gemass Gl. (4.81) und (4.83) qm und qt proportional zu V sind, definiert man auch entspre-
chende Zustandssummen pro Volumeneinheit
qm = qm/V (4.88a)
qt = qt/V (4.88b)
Die elektronische Entartung ist in der Regel 1 fur gewohnliche Molekule mit geschlossenen
Schalen (gerade Elektronenzahl), 2 fur freie Radikale mit einem ungepaarten Elektron. Von
dieser Regel gibt es allerdings Ausnahmen (z.B. fur O2 hat man ge = 3).Weiterhin ist noch die
Zustandssumme der Translation eines Teilchens der Masse m in einem eindimensionalen Kasten
der Lange d nutzlich
qt,1D = d
(2πmkBT
h2
)1/2
(4.89a)
Wegen der Additivitat der Energien des Teilchens im Kasten
Enx,ny ,nz = Enx + Eny + Enz (4.89b)
gilt offensichtlich analog zu Gl. (4.81) mit V = d3
qt,3D = (qt,1D)3 = V
(2πmkBT
h2
)3/2
(4.89c)
Es ist auch oft gebrauchlich, die Zustandssummen der inneren Freiheitsgrade zusammenzufassen
und Gl. (4.81) zu schreiben
qm = qt qint (4.90)
qint = qr qv ge gKernspin/σ (4.91)
Fur die meisten thermodynamischen Rechnungen wird gKernspin nicht weiter berucksichtigt, da
es sich bei einer chemischen Reaktion nicht andert. Hiermit haben wir die wichtigsten Formeln
fur statistische Rechnungen nach der Theorie des Ubergangszustandes zusammengestellt.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.3. DIE THEORIE DES UBERGANGSZUSTANDES 155
4.3.4 Statistisch thermodynamische Formulierung der Theorie des Ubergangs-
zustandes
Entsprechend der Grundidee bei der Berechnung der Effusionsgeschwindigkeit aus einem Behalter
in Kap. 4.3.1 wollen wir nun die Reaktionsgeschwindigkeit aus dem Gleichgewichtsfluss der
Molekule am “Flaschenhals” (das entspricht dem Sattelpunkt auf der Energiehyperflache) der
Reaktion berechnen. Hierzu greifen wir auf die statistisch-thermodynamische Berechnung der
Gleichgewichtskonstanten in Kap. 4.1.1 zuruck. Wir betrachten gemass Bild 4.21 Molekule mit
der Konzentration [−→X], die sich im Bereich d = r 6=q + 1
2d−(r 6=q − 1
2d)
der Reaktionskoordinate an
der Stelle des Sattelpunktes r 6=q befinden und sich, wie durch den Pfeil angedeutet, in Richtung
auf die Produktseite des Potentials hin bewegen. Der Bereich des eindimensionalen, virtuellen
“Kastens” der Lange d sei so klein gewahlt, dass das Potential V (rq) in diesem Bereich ungefahr
konstant ist, aber gleichzeitig auch so gross, dass die Zustandssumme durch eine eindimensionale
Translation mit quasikontinuierlichem Spektrum und quasiklassischer Zustandssumme approxi-
miert werden kann (siehe Kap. 4.1.2).
Wir nehmen nun an, dass die Teilchen [−→X], die sich in der Richtung von der Reaktanden- auf
rq
V rq( )
A
B
rq=
E0
d
X[ ]
rq
V rq( )
rq=
d
X[ ]
A B+
C D+
Abbildung 4.18: Potentielle Energie entlang der Reaktionskoordinate rq fur eine unimolekula-
re Isomerisierung (Links) und eine bimolekulare Reaktion (Rechts) mit Molekulen X im Be-
reich d um den Sattelpunkt (siehe auch Diskussion im Text). Streng genommen ist hier die
potentielle Energie entlang rq gezeigt, welche die Nullpunktsenergiebeitrage der Schwingungen
in allen Koordinaten ausser rq einschliesst. E0 ist also die Differenz der Energie des tiefsten
Quantenzustandes des Ubergangszustandes und des tiefsten Quantenzustandes des Reaktanden
A (die Nullpunktsenergie des Ubergangszustandes fur die Bewegung in Richtung rq wird als
vernachlassigbar klein angenommen).
PCII - Chemische Reaktionskinetik
156 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
die Produktseite bewegen, im Gleichgewicht mit den Reaktanden sind und dass keine Molekule
[←−X] von der Produktseite kommen. Im Gleichgewicht ware [
−→X] = [
←−X] = 1
2 [X] wobei [X] die
Konzentration der Molekule am Sattelpunkt im tatsachlichen Gleichgewicht ist, die sich zu ge-
nau gleichen Teilen aus [−→X] und [
←−X] zusammensetzt, da diese beiden Flusse “vorwarts” und
“ruckwarts” sich ja genau aufheben mussen. Hiermit konnen wir die Gleichgewichtskonzentrati-
on [−→X]eq berechnen (Beispiel der unimolekularen Reaktion mit Reaktand A, siehe Gl. (4.8) und
(4.9)):−→[X]eq =
q−→X
qA[A] exp
(− E0
kBT
)(4.92)
q−→X
= q 6=1
2d
(2πµkBT
h2
)1/2
(4.93)
q 6= wird als Zustandssumme des Ubergangszustandes bezeichnet, der hiermit bei festgehalte-
nem r 6=q einen inneren Freiheitsgrad (Schwingungsfreiheitsgrad) weniger besitzt als ein normales
nichtlineares Molekul (3N−7 statt 3N−6). Ansonsten erfolgt die Berechnung von q 6= wie bei ei-
nem normalen Molekul. Der ”Ubergangszustand” als terminus technicus bezeichnet den Zustand
bei festgehaltenem Wert r 6=q . Aus dieser Definition ergibt sich, dass der Ubergangszustand im
Gegensatz zu den Molekulen−→X keine meßbare Konzentration besitzt, da die Wahrscheinlichkeit,
ein Molekul mit dem exakten Wert q 6= fur die Reaktionskoordinate zu finden, genau gleich Null
ist. Der zweite Faktor in Gl. (4.93) entspricht der Translationszustandssumme fur die Molekule−→X ( = halber Wert wie fur X). µ ist die reduzierte Masse fur eine Bewegung entlang rq an der
Stelle r 6=q . µ ist in der Regel nicht einfach zu berechnen. Wir werden jedoch sehen, dass es spater
fur die Berechnung der Reaktionsgeschwindigkeit nicht benotigt wird. Man hat namlich fur die
mittlere Geschwindigkeit 〈|v1D|〉 der Bewegung von Reaktand zu Produkt am Sattelpunkt aus
der eindimensionalen Maxwell-Boltzmann-Verteilung:
〈|v1D|〉 =
(2kBT
πµ
)1/2
(4.94)
Man berechnet die Reaktionsgeschwindigkeit als Gleichgewichtsfluss am Sattelpunkt
− d [A]
dt= vc = [
−→X]eq
〈|v1D|〉d
(4.95a)
Analog zu Gl. (4.78) lasst sich auch diese Gleichung anschaulich in der Differentialschreibweise
verstehen, wenn wir −d[A]/drq = [−→X]eq/d setzen und 〈|v1D|〉 = drq/dt (−d[A] ist wiederum
positiv):
− d [A]
dt= −d [A]
drq
drqdt
= [−→X]eq 〈|v1D|〉 /d (4.95b)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.3. DIE THEORIE DES UBERGANGSZUSTANDES 157
Also erhalt man fur die Reaktionsgeschwindigkeit vc mit der Geschwindigkeitskonstanten kuni(T )
der unimolekularen Reaktion mit der Annahme [−→X] = [
−→X]eq aus Gl. (4.92)
− d [A]
dt= vc = kuni(T ) [A]
=q 6=
qAexp
(− E0
kBT
)[A]
d
2h(2πµkBT )1/2
(2kBT
πµ
)1/2 1
d(4.96)
Sowohl die willkurlich gewahlte Lange d des Kastens am Sattelpunkt als auch die schwer zu
berechnende reduzierte Masse µ fur die Bewegung am Sattelpunkt fallen bei der Vereinfachung
dieser Gleichung durch Kurzen weg und man erhalt die 1. Eyringsche Gleichung:
kuni(T ) =kBT
h
q 6=
qAexp
(− E0
kBT
)(4.97)
kBT/h ist ein universeller Frequenzfaktor, der bei 300 K den Wert 6.23×1012 s−1 annimmt, q 6=/qA
wird als ”statistischer Faktor” (oder auch entropischer Faktor, siehe unten) bezeichnet. Das Pro-
dukt dieser beiden Faktoren entspricht ungefahr (aber nicht exakt) dem praexponentiellen Faktor
A (T ) nach Arrhenius. Die Schwellenenergie E0 ist die Differenz zwischen der Energie am Ma-
ximum des effektiven eindimensionalen Potentials in Richtung der Reaktionskoordinate rq und
der Nullpunktsenergie des Reaktanden A (siehe Bild 4.18 links). Wenn E0 gross ist, dominiert
der Beitrag des exponentiellen Faktors exp (−E0/kBT ) und entspricht ungefahr (aber wiederum
nicht genau) dem exponentiellen Faktor mit der Aktivierungsenergie EA nach Arrhenius. q 6=,
qA und exp (−E0/kBT ) sind dimensionslos, dementsprechend hat kuni (T ) in Gl. (4.97) fur die
unimolekulare Reaktion die Dimension Zeit−1.
Sowohl die molekularen Zustandssummen als auch E0 lassen sich prinzipiell alle ab initio, das
heisst aus grundlegenden quantenmechanischen und statistisch mechanischen Gesetzen, berech-
nen. Die Theorie des Ubergangszustandes ist also prinzipiell eine Theorie der Geschwindig-
keit von Elementarreaktionen, wenn auch eine Naherung. In diesem Sinne geht die Theorie des
Ubergangszustandes uber die empirische Arrheniusgleichung hinaus. Gelegentlich findet man
auch noch Formen von Gl. (4.97) und (4.99) mit einem dynamischen Korrekturfaktor, dem
Transmissionskoeffizienten κ, also z.B. statt Gl. (4.97)
k (T ) = κkBT
h
q 6=
qAexp
(− E0
kBT
)(4.98)
wobei in der Regel 0 ≤ κ ≤ 1 angenommen wird, da der berechnete Gleichgewichtsfluss am
Sattelpunkt kleiner oder gleich dem wahren Fluss ist (siehe Kap. 4.3.1). q 6=, qA und qB sowie E0
(wegen diverser Nullpunktsenergiebeitrage) hangen von den Schwingungsfrequenzen und Rotati-
onskonstanten und daher von den Massen der beteiligten Atome ab, was zu einem Isotopeneffekt
PCII - Chemische Reaktionskinetik
158 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
fuhrt, dessen Berechnung eine wichtige Anwendung der Theorie des Ubergangszustandes ist. Die
Messung und Berechnung solcher Isotopeneffekte spielt besonders auch in der biochemischen Ki-
netik von Enzymreaktionen eine Rolle (siehe z.B. [Gandour, Schowen 1978]).
Die Nomenklatur im Bereich der Theorie des Ubergangszustandes ist leider nicht sehr einheit-
lich. Es hat sich ziemlich generell durchgesetzt, den Begriff des “Ubergangszustandes” (engl.
“transition state”) als terminus technicus fur das statistische Objekt zu reservieren, das durch
die Zustandssumme q 6= und den festen Wert der Koordinate r 6=q definiert ist. Der Begriff des
”aktivierten Komplexes” wird weniger einheitlich verwendet. Manchmal ist er ein Synonym fur
”Ubergangszustand”, manchmal wird er jedoch auch fur die X oder auch die−→X Molekule ver-
wendet, was nicht dasselbe ist.
4.3.5 Theorie des Ubergangszustandes und Stosstheorie bimolekularer Re-
aktionen
Fur bimolekulare Reaktionen erhalt man aus einer vollig analogen Herleitung
kbi (T ) =kBT
h
q 6=
qA · qBexp (−E0/kBT ) (4.99)
Hier werden die molekularen Zustandssummen pro Volumeneinheit q verwendet. Die Dimension
von kbi (T ) ist Volumen×Zeit−1, wie es auch sein muss.
Gelegentlich wird ein Gegensatz zwischen der Theorie des Ubergangszustandes und der Stosstheo-
rie konstruiert, wobei dann bei Verwendung einfachster Modelle fur den Stossquerschnitt meist
der Theorie des Ubergangszustandes der Vorzug gegeben wird. Wir haben jedoch in Kapitel
4.2 diskutiert, dass das Ergebnis einer Stosstheorie vom verwendeten Modell fur den Reakti-
onsquerschnitt abhangt. Verwendet man einen (berechneten oder gemessenen) ”exakten” Re-
aktionsquerschnitt, so hat man eine exakte Stosstheorie, die unter geeigneten Voraussetzungen
experimentelle Geschwindigkeitskonstanten genau reproduziert. Dementsprechend ist es sinnvoll,
die Theorie des Ubergangszustandes als eine Theorie zur Berechnung des Reaktionsquerschnittes
aufzufassen. Man kann die bimolekulare Geschwindigkeitskonstante Gl. (4.99) nach der Theorie
des Ubergangszustandes in folgender Form schreiben
kbi (T ) =
(8kBT
πµAB
)1/2( h2
8πµABkBT
)(q 6=int
qint,A qint,B
)exp
(− E0
kBT
)(4.100)
Bei dieser Umformung haben wir die Zustandssummen gemass Gl. (4.90) in einen Translations-
anteil qt und einem Anteil qint aufgeteilt, wobei der Translationsanteil gemass Gl. (4.83) und
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.3. DIE THEORIE DES UBERGANGSZUSTANDES 159
(4.88b) mit den Massen mA und mB der Reaktionspartner und m6= = mA +mB eingesetzt wird.
Mit der reduzierten Masse
µAB =mAmB
mA +mB(4.101)
fur den Stoss ergibt sich aus Gl. (4.99) schliesslich Gl. (4.100). Aus dem Vergleich mit Gl. (4.40)
folgt der mittlere Reaktionsquerschnitt 〈σR〉 nach der Theorie des Ubergangszustandes
〈σR〉 =h2
8πµABkBT
q 6=int
qint,A qint,Bexp
(− E0
kBT
)(4.102)
Aus verallgemeinerten Theorien des Ubergangszustandes lassen sich auch spezifische, energie-
abhangige Reaktionsquerschnitte berechnen. Man kann die Theorie des Ubergangszustandes
bimolekularer Reaktionen also auch als eine bestimmte Form der Stosstheorie bimolekularer
Reaktionen auffassen [Quack, Troe 1981].
4.3.6 Verallgemeinerte Theorien des Ubergangszustandes
Die beschriebene, statistisch-thermodynamische Herleitung der Theorie des Ubergangszustandes
beruht auf verschiedenen Naherungen. Die wichtigste ist die Annahme des thermischen Gleich-
gewichtes zwischen Reaktandenmolekulen im Grundzustand, energetisch hochangeregten Reak-
tandenmolekulen und den−→X-Molekulen. Diese Annahmen sind nicht immer gerechtfertigt. Zum
Beispiel findet man bei unimolekularen Reaktionen in der Gasphase, dass hochangeregte Re-
aktandenmolekule nicht im Gleichgewicht mit Grundzustandsmolekulen sind, wenn der Druck
gering ist. Man kann die Theorie dann verallgemeinern, indem man fur jede Anregungsenergie E
ein Gleichgewicht zwischen den Reaktandenmolekulen A(E) und den Molekulen−→X (E) annimmt
(mikrokanonisches Gleichgewicht, mikrokanonische Theorie des Ubergangszustandes).
Man kann weiterhin die Gleichgewichtsannahme ganz ersetzen durch andere dynamische Annah-
men, zum Beispiel im statistischen Modell adiabatischer Reaktionskanale, welches auch eine Be-
rechnung zustandsselektierter, energieabhangiger Reaktionsquerschnitte erlaubt [Quack, Troe 1998].
Durch thermische Mittelung erhalt man auch aus solchen verallgemeinerten Theorien Ausdrucke
der Form (4.97) und (4.99) fur die Geschwindigkeitskonstanten, mit etwas geanderter Berech-
nung und Interpretation der q 6=.
Es stellt sich bei Reaktionen ohne Sattelpunkt oder Energiebarriere die Frage nach der Lage des
Ubergangszustandes (Bild 4.19). Man kann zeigen, dass in solchen Fallen aus den verallgemeiner-
ten Theorien folgt, dass die beste Approximation erreicht wird, wenn man den Ubergangszustand
PCII - Chemische Reaktionskinetik
160 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
A ′ rq( )
rq rC-C pm⁄≅
V rq( )
A ′ rq 1700K,( )
A ′ rq 300K,( )
V rq( )
100 500
Abbildung 4.19: Statistisch-mechanische Energie A′ (Helmholtzenergie) als Funktion der Reak-
tionskoordinate rq ' rcc beim Zerfall von Ethan, C2H6 → 2 CH3 (schematisch, halbquantitativ
nach [Quack, Troe 1977b]). Das Potential V (rq) (gestrichelte Linie) besitzt hier kein Maximum.
Das Maximum der freien Energie A′ liegt bei 300 K nahe bei 350 pm und bei 1700 K nahe bei
200 pm; es ist also stark T -abhangig. Man kann von einer temperaturabhangigen Position r 6=q
des Ubergangszustandes sprechen.
an der Stelle des Maximums der statistisch-mechanischen freien (Helmholtz-) Energie A′ wahlt,
die mit einer rq-abhangigen inneren Zustandssumme verknupft ist
A6= (T ) = A′ (rq, T )max = −kBT ln[q 6= (T )] (4.103)
wobei
q 6= (T ) = q (rq, T )min bei r 6=q (4.104)
q(rq, T )min entspricht dem Minimum von q(rq, T ) als Funktion von rq bei der Temperatur T .
Der entsprechende Wert r 6=q beim Minimum definiert die Position des Ubergangszustandes bei
der Temperatur T .
Es ist hier explizit vermerkt, dass q 6= (T ) und A 6= (T ) von der Temperatur abhangen. Bild
4.19 erlautert das mit dem Beispiel einer quantitativen Berechnung fur den Zerfall von Ethan,
C2H6 → 2 CH3. Solche Ergebnisse geben den haufig verwendeten Diagrammen ”freier Ener-
gien” und ”freier Aktivierungsenthalpien” als Funktion der Reaktionskoordinate eine gewisse,
wenn auch modifizierte Berechtigung. Die Theorie des Ubergangszustandes mit dem Kriterium
des Maximums der freien (Helmholtz-) Energie als Funktion einer Reaktionskoordinate wird in
der neueren Literatur auch als ”kanonische variationelle Theorie des Ubergangszustandes” be-
zeichnet (man ”variiert” die Position des Ubergangszustandes, bis man ein Maximum der freien
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.3. DIE THEORIE DES UBERGANGSZUSTANDES 161
Energie gefunden hat).
4.3.7 Thermodynamische Schreibweise
Analog zu Gl. (4.9) konnen wir eine formale Gleichgewichtskonstante K 6=c definieren
K 6=cdef=
q 6=
qAexp
(− E0
kBT
)(4.105)
Fur eine unimolekulare Reaktion gilt weiterhin die analoge Definition einer Gibbsenergie ∆ 6=G
nach folgender Gleichung
∆ 6=Gdef= −RT lnK 6=p
def= −RT lnK 6=c (4.106)
K 6=c und ∆6=G sind so zwar eindeutig uber die berechenbaren Zustandssummen q 6= (und qA,
E0) definiert, sie haben aber anders als bei den entsprechenden thermodynamischen Beziehungen
keine unabhangige Bedeutung als ”thermodynamische” Grossen, da weder die Konzentrationen
von Ubergangszustanden [6=] noch die entsprechenden Gibbsenergien ∆ 6=G experimentell direkt
messbar sind. In der Tat hat der “Ubergangszustand”, der mit dem Symbol 6= bezeichnet wird
und einen exakt festgelegten Wert der Koordinate r 6=q besitzt, stets exakt die Konzentration Null,
da die Wahrscheinlichkeit, ein Molekul mit einem exakt festgelegten Wert von r 6=q zu finden, Null
ist. Die theoretisch definierten Grossen q 6= und K 6=c sind aber verschieden von Null. Mit diesen
Definitionen erhalt man
kuni (T ) =kBT
hexp
(−∆ 6=G
RT
)(4.107)
Verwendet man weiterhin
∆ 6=G = ∆6=H − T∆ 6=S (4.108)
findet man die 2. Eyringsche Gleichung
kuni (T ) =kBT
hexp
(∆ 6=S
R
)exp
(−∆ 6=H
RT
)(4.109)
Fur bimolekulare Gasreaktionen definiert man
kbi (T ) =kBT
h
(kBT
p
)exp
(−∆ 6=G
RT
)(4.110)
mit dem Standarddruck p und dem molekularen Standardvolumen des idealen Gases
V =kBT
p=
1
C(4.111)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
162 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
wobei C eine hierdurch definierte Standardkonzentration im idealen Gas ist.
Logarithmiert man den Ausdruck kuni(T )/(kBTh−1), so erhalt man eine der van’t Hoff Darstel-
lung ahnliche Gleichung
ln
(kuni(T )
kBTh−1
)=
∆ 6=S
R− ∆ 6=H
RT(4.112)
Tragt man in einem sogenannten Eyring Diagramm ln[kuni(T )/kBTh−1] als Funktion von 1/T
auf, so erhalt man eine naherungsweise lineare Darstellung mit dem Achsenabschnitt ∆6=S/R
und der Steigung −∆ 6=H/R. Besonders in der physikalisch-organischen Chemie hat diese Form
der Auswertung, deren Analogie zur van’t Hoff Darstellung von Gleichgewichtskonstanten noch
offensichtlicher ist, als das Arrheniusdiagramm, eine weite Verbreitung [Bain 2001].
Die Angabe der nach Gl. (4.112) empirisch aus k (T ) bestimmten Aktivierungsparameter ∆ 6=S
(Aktivierungsentropie) und ∆6=H (Aktivierungsenthalpie) ist eine haufig gewahlte Alternative
zur Angabe der Arrheniusparameter A (T ) und EA (T ). Die ungefahre Beziehung zwischen den
diversen Parametern ergibt sich direkt durch Vergleich der praexponentiellen und Exponenti-
alfaktoren in der 2. Eyringschen Gleichung und der Arrheniusgleichung. Die genaue Beziehung
ergibt sich durch Einsetzen der 2. Eyringschen Gleichung in Gl. (4.65a) bis (4.69).
4.3.8 Interpretation von Arrheniuskonstanten von Elementarreaktionen mit
Hilfe der Theorie des Ubergangszustandes
Die Theorie des Ubergangszustandes erlaubt es im Prinzip, die Zustandssummen q und q 6= und
damit k(T ) zu berechnen. Man kann umgekehrt aber auch die experimentell bestimmten Kon-
stanten des ArrheniusgesetzesA (T ) und EA (T ) im Rahmen der Theorie des Ubergangszustandes
interpretieren. EA (T ) ist ungefahr gleich der Schwellenenergie E0 oder auch der Aktivierungs-
enthalpie ∆ 6=H. Im allgemeinen Fall muss man Korrekturen zu dieser Naherung berechnen,
die aber relativ klein sind, solange E0 � RT . Der praexponentionelle Faktor ist mit der Aktivie-
rungsentropie ∆6=S verknupft. Grosse, positive Werte von ∆ 6=S findet man zum Beispiel bei
einfachen Bindungsbruchreaktionen mit praexponentiellen Faktoren von 1015 s−1 bis 1017 s−1.
Das lasst sich so verstehen, dass ein Teil der positiven thermodynamischen Dissoziationsentro-
pie in der Aktivierungsentropie erscheint. Andererseits haben einfache Isomerisierungsreaktio-
nen wie z.B. cis-trans-Isomerisierungen an der C=C-Doppelbindung Aktivierungsentropien nahe
Null, mit praexponentiellen Faktoren um 1013 s−1, entsprechend A ≈ kBT/h. Negative Aktivie-
rungsentropien findet man, wenn im Ubergangszustand fur die Reaktion eine sehr spezifische,
sterisch eingeschrankte, eventuell besonders starre Struktur eingenommen wird, wie zum Bei-
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.4. ALLGEMEINE THEORIE CHEMISCHER ELEMENTARREAKTIONEN 163
spiel in der folgenden Reaktion:
CH H
H
CH H
Cl
CH2
CH2
HCl+
Abbildung 4.20: Intramolekulare HCl-Eliminierung: A = 1011.5 s−1, EA = 197 kJ mol−1.
Wahrend im Reaktand die CH3 und CH2Cl Gruppen eine nur geringfugig gehinderte Rotations-
bewegung ausfuhren konnen, was einem grossen Beitrag zur Entropie des Reaktanden entspricht,
sind diese Rotationen im Ubergangszustand eingefroren, entsprechend einer reduzierten Entro-
pie fur diese Strukturen. Hier gilt offenbar ∆ 6=S < 0 und A < kBT/h. Oft konnen also die
experimentell gefundenen Werte fur die Aktivierungsentropie eine Aussage enthalten, ob eine for-
mulierte Elementarreaktion ”sinnvoll” ist. Unvernunftige A-Faktoren deuten auf einen anderen
als den vermuteten Verlauf der Reaktion hin. ”Vernunftige” A-Faktoren beweisen andererseits
nichts. Insbesondere hat es gar keinen Sinn, Aktivierungsentropien und Aktivierungsenthalpien
zu interpretieren, bevor man sicher weiss, dass die betrachtete chemische Reaktion eine Elemen-
tarreaktion ist. Die Analyse der Geschwindigkeitskonstanten im Hinblick auf Aktivierungspara-
meter ist das Gebiet der ”thermochemischen Kinetik”. Dieses Spezialgebiet soll hier nicht im
Detail abgehandelt werden, obwohl es zweifellos praktische Bedeutung hat (fur weiterfuhrende
Literatur siehe auch [Benson 1976]).
Wahrend die Angabe der empirischen Arrheniusparameter A(T ) und EA(T ) auch fur Geschwin-
digkeitskonstanten zusammengesetzter Reaktionen sinnvoll ist (siehe Kap. 5), ist die Angabe
von Eyring Parametern aus der 1. oder 2. Eyring Gleichung (∆6=S,∆ 6=H, q 6= etc.) fur solche
Reaktionen vom Konzept her prinzipiell nicht sinnvoll. Die Eyring Gleichungen sind theoretische
Gleichungen fur die Geschwindigkeitskonstanten von Elementarreaktionen.
4.4 Kurzer Uberblick uber die allgemeine Theorie chemischer
Elementarreaktionen
Es soll hier kurz auf die Grundlagen der heutigen Theorie chemischer Elementarreaktionen ein-
gegangen werden, wobei nur die Grundkonzepte erwahnt werden, ohne dass diese hier im Detail
ausgearbeitet und erklart werden konnen.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
164 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
Ausgangspunkt ist die zeitabhangige Schrodingergleichung (4.113) fur die Zustandsfunktion
(“Wellenfunktion”) Ψ(t) des reaktiven molekularen Systems mit dem Hamiltonoperator H
i~∂Ψ(t)
∂t= HΨ(t) (4.113)
Die Losungen der Schrodingergleichung lassen sich mit Hilfe des Zeitentwicklungsoperators U
schreiben
Ψ(t) = U(t, t0) Ψ(t0) (4.114)
Der Operator U lasst sich formal aus der Losung einer zu Gl. (4.113) analogen Differentialglei-
chung erhalten
i~∂U(t)
∂t= H U (4.115)
Falls der Hamiltonoperator H zeitunabhangig ist, gilt
U(t, t0) = exp[− iH (t− t0)/~
](4.116)
Fur monomolekulare Prozesse lassen sich aus diesen Gleichungen zeitabhangige Wahrscheinlich-
keitsdichten erhalten
P ({rn}, t) = |Ψ({rn}, t)|2 (4.117)
Hierbei geben die {rn} die Gesamtheit der Koordinaten aller Elektronen und Kerne im Molekul
an. Man kann auch Ubergangswahrscheinlichkeiten
Pfi = |Ufi|2 (4.118)
aus einer Matrixdarstellung des Zeitevolutionsoperators mit den Matrixelementen Ufi zwischen
den Anfangs- (i, initial) und den Endquantenzustanden (f, final) angeben.
Fur bimolekulare Reaktionen lasst sich ein Grenzubergang fur die Quantenzustande i beliebig
lange vor dem Stoss und f (nach dem Stoss) ausfuhren, der zur sogenannten Streumatrix des
Streu- oder Stossprozesses fuhrt:
Sfi = Ufi(t→ +∞, t0 → −∞) (4.119)
Die Ubergangswahrscheinlichkeiten fur einen Ubergang vom Quantenzustand i vor dem Stoss
auf einen Quantenzustand f nach dem Stoss sind dann
Pfi = |Sfi|2 (4.120)
Die Grundgleichung, welche die Reaktionsquerschnitte mit der Streumatrix verknupft, ist
σfi =π
ki|δfi − Sfi|2 (4.121)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.4. ALLGEMEINE THEORIE CHEMISCHER ELEMENTARREAKTIONEN 165
Hierbei ist ki = (1/~)√
2µEt,i die Wellenzahl fur den Stoss, µ die reduzierte Masse und Et,i die
Translationsenergie der Relativbewegung vor dem Stoss. Alle messbaren Reaktionsquerschnitte
und Geschwindigkeitskonstanten lassen sich schliesslich durch geeignete Mittelungsprozesse uber
thermische oder andere Energieverteilungen berechnen:
σFI = 〈σfi〉 (4.122a)
k(T ) = 〈kFI〉 (4.122b)
Bild 4.21 zeigt diesen langen Weg von der zeitabhangigen Schrodingergleichung zu den Ge-
schwindigkeitskonstanten in einem Uberblick. Die am Anfang des Kapitels erwahnten einfachen
Stosstheorien entsprechen der Einfuhrung von Modellfunktionen fur den Reaktionsquerschnitt
(anstelle einer korrekten Berechnung aus der quantenmechanischen Streumatrix). Unter gewis-
sen Voraussetzungen lassen sich einfache Stossmodelle naherungsweise rechtfertigen.
Auch die einfache Theorie des Ubergangszustandes lasst sich heute auf dem Weg in Bild 4.21
uber verallgemeinerte, zustandsselektierte statistische Theorien begrunden [Quack, Troe 1998].
Hierbei werden statistische Naherungen fur die Streumatrix eingesetzt, aus denen dann sowohl
zustandsselektive Streuquerschnitte und spezifische Geschwindigkeitskonstanten, als auch ther-
mische Geschwindigkeitskonstanten berechnet werden konnen. Demgegenuber ist die statistisch
thermodynamische Formulierung der Theorie des Ubergangszustandes in Kapitel 4.3.4 eine di-
rekte Naherungstheorie nur fur die thermischen Geschwindigkeitskonstanten k(T ). Schliesslich
gibt es noch die Moglichkeit, die Freiheitsgrade der elektronischen Bewegung quantenmechanisch
zu behandeln (Berechnung der Born-Oppenheimer Potentialhyperflachen), wahrend fur die Be-
wegung der schweren Atomkerne naherungsweise die Gultigkeit der klassischen Mechanik ange-
nommen wird (Newtonsche oder Hamiltonsche Bewegungsgleichungen). Man spricht in diesem
Fall von der Methode der klassischen Trajektorien oder auch von “Molekuldynamik”. Hier wer-
den oft einfache Modellpotentialfunktionen verwendet (sogenannte Kraftfelder, z.B. GROMOS96
[van Gunsteren et al. 1996]). In der Methode von Car und Parrinello [Car, Parrinello 1985] wer-
den besonders einfache Techniken zur Berechnung der elektronischen (potentiellen) Energiefunk-
tionen durch Dichtefunktionalmethoden eingesetzt, die eine explizite Konstruktion von Potenti-
alhyperflachen vermeiden. Die Genauigkeit der verschiedenen Verfahren, die mit der klassischen
Mechanik die Bewegung von Atomkernen beschreiben, sollte nicht uberschatzt werden. Beson-
ders bei Beteiligung von Wasserstoffatomen an der Reaktion spielen quantenmechanische Effekte
wie der Tunneleffekt oft eine entscheidende Rolle.
PCII - Chemische Reaktionskinetik
166 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
Zeitabhängige Schrödingergleichung
ZeitevolutionsoperatorU
Zeitabhängige Wahrschein-lichkeiten, Übergangswahr-scheinlichkeiten
StreumatrixMatrixelemente
SSfi
Streuquerschnitte
Spezifische Geschwindigkeits-
Thermische Mittelung über Trans-
Zustandsselektierte Geschwindigkeits-konstanten
konstanten
Thermische Mittelung über innere
σfi σFI,
kFI E t( )
kFI T( )
k T( ) kFI=
Quantenzustände der R
^
eaktanden
lationsenergieverteilung
Summation überNiveaus derProdukte
Abbildung 4.21: Schritte in der allgemeinen Theorie chemischer Elementarreaktionen.
Ziel dieses Unterkapitels war es, die diversen theoretischen Methoden vorzustellen, um einen
Uberblick uber den aktuellen Stand der Theorie zu geben. Es sollte deutlich gemacht werden,
welche Theorien chemischer Elementarreaktionen heute zum Einsatz kommen und wie man heu-
te einfachere Theorien wie die Theorie des Ubergangszustandes auf einer hoheren theoretischen
Ebene verstehen und begrunden kann. Es ist hier nicht moglich, die weitergehenden Theorien
im Detail zu erklaren, das wurde den Rahmen unserer Darstellung bei weitem sprengen.
4.5 Thermodynamische Randbedingungen in der Kinetik
4.5.1 Detailliertes Gleichgewicht fur Elementarreaktionen in idealen Gasen
Zeitumkehrsymmetrie
Die Zeitumkehrsymmetrie der mechanischen und quantenmechanischen Bewegungsgleichungen
ist ein Naturgesetz, welches nach heutiger Kenntnis fur alle Wechselwirkungen ausser der so-
genannten schwachen Wechselwirkung gilt (diese ist fur die β-Radioaktivitat verantwortlich).
Unter Vernachlassigung sehr kleiner Effekte, welche in Molekulen noch nie, in Elementarteilchen
PCII - Chemische Reaktionskinetik
4.5. THERMODYNAMISCHE RANDBEDINGUNGEN 167
in wenigen Fallen nachgewiesen wurden, gilt die Zeitumkehrsymmetrie fur alle atomaren und
molekularen Prozesse in der Chemie. Hier sollen nur einige wichtige Konsequenzen dieses Geset-
zes fur die Reaktionskinetik zusammengefasst werden. Fur die Ubergangswahrscheinlichkeiten
Pfi = |Ufi|2 zwischen zwei Quantenzustanden f und i findet man diesem Gesetz entsprechend:
Pfi = |Ufi|2 = |Uif |2 = Pif (4.123)
|Ufi| ist das Matrixelement der sogenannten Zeitentwicklungsmatrix. Hieraus folgt weiter das
Prinzip der mikroskopischen Reversibilitat.
Prinzip der mikroskopischen Reversibilitat
Fur Stossquerschnitte σ hat man die folgende Formulierung:
σif gf = σfi gi (4.124)
σfi ist der Querschnitt fur den Ubergang von i nach f. gi und gf sind die statistischen Gewichte
der Niveaus i und f vor und nach dem Stoss. Der physikalische Inhalt von Gl. (4.124), eventuell
kombiniert mit Gl. (4.123), wird als Prinzip der mikroskopischen Reversibilitat bezeichnet, wobei
gelegentlich keine scharfe Unterscheidung zwischen diesem Begriff und der zugrundeliegenden
Zeitumkehrsymmetrie gemacht wird.
Prinzip des detaillierten Gleichgewichts
Man betrachte die Elementarreaktion (siehe Bild 4.22)
A
ka
�
kb
B (4.125)
Durch thermische Mittelung von energieabhangigen Reaktionsquerschnitten und -wahrscheinlich-
keiten folgt mit den Ergebnissen aus den Prinzipen der mikroskopischen Reversibilitat und des
detaillierten Gleichgewichts Prinzip des detaillierten Gleichgewichts das in Gl. (4.126) zusam-
mengefasst ist (fur ideale Gase, Reaktanden und Produkte jeweils fur sich genommen im ther-
mischen Gleichgewicht gemass der Boltzmann-Verteilung):
ka
kb= Kc =
[B]eq
[A]eq
(4.126)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
168 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
ΔrU
EAa
EAb
r
V r( )
Er⟨ ⟩
EA⟨ ⟩ U
A=
EB⟨ ⟩ U
B=
Abbildung 4.22: 〈Er〉 ist die mittlere Energie der reagierenden Molekule,⟨EA⟩
und⟨EB⟩
sind
die mittleren Energien der Molekule A und B; ∆rU ist die innere Standardreaktionsenergie.
Diese Tatsache hat Konsequenzen fur die Temperaturabhangigkeit der Gleichgewichts- und der
Geschwindigkeitskonstanten (hier fur eine Isomerisierungsreaktion; der Index a steht fur die
Hinreaktion und b fur die Ruckreaktion)
Kp = Kc =ka
kb= exp
(−∆rG
RT
)(4.127)
oder mit Hilfe des Arrheniusgesetzes umformuliert:
Kc =Aa exp (−Ea
A/RT )
Ab exp(−Eb
A/RT) = exp
(∆rS
R
)exp
(−∆rH
RT
)(4.128)
Fur kleine Temperaturintervalle kann der Vorfaktor A und die Aktivierungsenergie EA als tem-
peraturunabhangig betrachtet werden, also gilt (fur eine Isomerisierung):
∆rH = ∆rU
= EaA − Eb
A (4.129)
und
exp
(∆rS
R
)=Aa
Ab(4.130)
oder∆rS
R= ln
(Aa
Ab
)(4.131)
Dieses Ergebnis lasst sich auch aus der Theorie des Ubergangszustandes herleiten, doch ist
dies eine schwachere Begrundung. Fur die einzelnen Reaktionsgeschwindigkeitskonstanten gilt
(wiederum fur eine Isomerisierung, wo Kp = Kc gilt):
ka =kBT
hexp
(−∆ 6=Ga
RT
)=kBT
hexp
(−G6= −GA
RT
)(4.132)
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4.5. THERMODYNAMISCHE RANDBEDINGUNGEN 169
kb =kBT
hexp
(−
∆ 6=GbRT
)=kBT
hexp
(−G6= −GB
RT
)(4.133)
also
ka
kb=
exp(−∆ 6=Ga /RT
)exp
(−∆ 6=Gb /RT
) = exp
(−GB −G
A
RT
)
= exp
(−∆rG
RT
)= Kc (4.134)
∆rG = ∆6=Ga −∆ 6=Gb = GB −G
A (4.135)
Wahrend das Prinzip des detaillierten Gleichgewichts in der Form von Gl. (4.126) und (4.127)
fur Elementarreaktionen unter den angegebenen Voraussetzungen aus sehr grundlegenden phy-
sikalischen Gesetzen folgt, ist seine Gultigkeit im allgemeinen Fall fur andere Reaktionen und
andere Voraussetzungen nicht selbstverstandlich.
4.5.2 Zusammengesetzte Reaktionen
Fur zusammengesetzte Reaktionen gilt das Prinzip des detaillierten Gleichgewichtes nicht mehr
in der einfachen Form, die bereits vorher diskutiert wurde. Um den Gleichgewichtszustand zu
erreichen, mussen allgemein nur die Reaktionsgeschwindigkeiten der Hin- und der Ruckreaktion
gleich gross sein. Dies ist auf verschiedene Weise realisierbar.
Beispiel einer Hin- und Ruckreaktion ohne Reaktionsordnung
Wir wollen hier zunachst eine Verallgemeinerung diskutieren, die bei zusammengesetzten Reak-
tionen mit Ruckreaktionen ofter auftritt und die auch eine interessante Anwendung auf Reak-
tionen in realen Gasen und Losungen hat. Wir betrachten eine Reaktion mit der Stochiometrie:
A + B
ka
=
kb
C + D (4.136)
Im Gleichgewicht gilt:
Kc =[C]eq [D]eq
[A]eq [B]eq (4.137)
Ein mogliches Geschwindigkeitsgesetz ware:
vc =d [C]
dt= −d [A]
dt= ka [A] [B] f {[A] ... [D] , T, x}
−kb [C] [D] f {[A] ... [D] , T, x} (4.138)
PCII - Chemische Reaktionskinetik
170 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
x ist ein beliebiger Parameter, so konnen hier zum Beispiel die Konzentrationen von Stoffen
auftreten, die nicht in der stochiometrischen Gleichung vorkommen. f ist eine beliebige Funktion,
fur die Reaktion ”vorwarts” und ”ruckwarts” aber dieselbe. Im Gleichgewicht gilt:
− d [A]eq
dt= ...
d [D]eq
dt= 0 (4.139)
Also schreibt man weiter
ka
kb=
[C]eq [D]eq f {[A] ... [D] , T, x}[A]eq [B]eq f {[A] ... [D] , T, x}
= Kc (4.140)
Die beliebige Funktion f lasst sich durch Kurzen aus der Gleichung schaffen. Dadurch wird
zwar die Form der Beziehung mit derjenigen des detaillierten Gleichgewichts vereinbar, doch
handelt es sich nicht um eine Elementarreaktion, die Reaktionsgeschwindigkeit fur Hin- und
Ruckreaktion kann dann in der Regel nicht auf die Form
vc = k∏i
cmii (4.141)
reduziert werden. ka und kb sind hier auch nicht die gewohnlichen Geschwindigkeitskonstanten
einer Elementarreaktion. Ein konkretes Beispiel dieser Art ist die Bromwasserstoffreaktion. Die
Stochiometrie sei:
H2 + Br2
ka
=
kb
2HBr (4.142)
Das Geschwindigkeitsgesetz lautet:
1
2
d [HBr]
dt= ka [H2] [Br2]
{√[Br2]
(1 +
y [HBr]
[Br2]
)}−1
−kb [HBr]2{√
[Br2]
(1 +
y [HBr]
[Br2]
)}−1
(4.143)
In diesem praktischen Fall hangt die beliebige Funktion f, die hier als Klammerausdruck { }
erscheint, von der Brom- und der Bromwasserstoffkonzentration sowie uber den Koeffizienten y
von der Temperatur ab. y ist eine Konstante, welche sich aus mehreren Geschwindigkeitskon-
stanten der Elementarreaktionen in dem Mechanismus zusammensetzt. Die Reaktion hat keine
Reaktionsordnung, das einfache detaillierte Gleichgewicht gilt nicht, obwohl das Analogon zu
Gl. (4.126) rein rechnerisch durch Kurzen des komplizierten Faktors erfullt wird.
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4.5. THERMODYNAMISCHE RANDBEDINGUNGEN 171
Beispiel einer Hin- und Ruckreaktion mit Reaktionsordnung
Fur die Stochiometrie
aA + bB
ka
=
kb
cC (4.144)
gilt im Gleichgewicht:
Kc =[C]ceq
[A]aeq [B]beq
(4.145)
Das Geschwindigkeitsgesetz fur die Hinreaktion lautet
vhinc = −1
a
(d [A]
dt
)hin
= ka [A]α [B]β [C]γ (4.146)
und fur die Ruckreaktion:
vruckc = −1
c
(d [C]
dt
)ruck
= kb [A]α′[B]β
′[C]γ
′(4.147)
Ferner gilt fur die Reaktionsgeschwindigkeit insgesamt:
− 1
a
(d [A]
dt
)gesamt
=1
c
(d [C]
dt
)gesamt
= vhinc − vruck
c = vc (4.148)
Im Gleichgewicht verschwindet vc, also gilt:
ka
kb=
[A]α′
eq [B]β′
eq [C]γ′
eq
[A]αeq [B]βeq [C]γeq
= f{T} (4.149)
Die Gleichgewichtskonstante ist temperaturabhangig
Kc = g (T ) (4.150)
Man kann T als Umkehrfunktion g−1 von g erhalten (das ist nicht 1/g, wir setzen voraus, dass
eine Umkehrfunktion existiert, wie z.B. fur die Exponentialfunktion der Logarithmus)
T = g−1 (Kc) (4.151)
Man kommt zum sehr allgemeinen Schluss, dass das Verhaltnis der beiden Reaktionsgeschwin-
digkeitskonstanten eine Funktion der Gleichgewichtskonstanten ist.
ka
kb= f
{g−1 (Kc)
}= F (Kc) (4.152)
Als Beispiel sei eine Potenzfunktion angenommen (mit n > 0)
F (Kc) = Knc (4.153)
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172 KAPITEL 4. THEORIE DER ELEMENTARREAKTIONEN
Also gilt:
[A]α′−α [B]β
′−β [C]γ′−γ =
([C]c
[A]a [B]b
)n(4.154)
Durch Logarithmieren findet man
(α′ − α
)ln[A] +
(β′ − β
)ln[B] +
(γ′ − γ
)ln[C] = −an ln[A]− b n ln[B] + c n ln[C] (4.155)
Der anschliessende Koeffizientenvergleich liefert:
γ′ − γc
= −β′ − βb
= −α′ − αa
= n > 0 (4.156)
Durch Einsetzen von konkreten Zahlenwerten fur den Exponenten und die Reaktionsordnung
der Hinreaktion lassen sich mogliche Reaktionsordnungen der Ruckreaktion bestimmen.
Reaktionsordnung fur die Potenz in Gleichung (4.153)
Ruckreaktion
γ′ = nc+ γ
β′ = − nb+ β
α′ = − na+ α
n = 1 n = 2 n = 2.5
1 2 2.5
0 −1 −1.5
0 −1 −1.5
Tabelle 4.2: Reaktionsordnungen fur die Ruckreaktion.
Als Beispiel treffen wir die folgenden Annahmen fur die stochiometrischen Koeffizienten a =
1, b = 1, c = 1 und die Reaktionsordnung der Hinreaktion α = 1, β = 1, γ = 0. Tabelle 4.2 gibt
fur diesen Fall mogliche Reaktionsordnungen fur die Ruckreaktion. Man liest aus dieser Tabelle
zum Beispiel fur n = 2
vc = ka [A] [B]− kb [A]−1 [B]−1 [C]2 (4.157)
Wiederum bestatigt sich, dass fur zusammengesetzte Reaktionen das Prinzip des detaillierten
Gleichgewichtes in der einfachen Form nicht gilt.
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