Post on 26-May-2018
Die Isolierung im eigenen Sein
Das Motiv „Isolation“ in den Robinsonaden „Die Wand“ von Marlen Haushofer und
„Die Arbeit der Nacht“ von Thomas Glavinic
vorgelegt von
Laura Aline Widerhofer
8A
Schuljahr 2014/15
BG Stockerau
Unter den Linden 16 2000 Stockerau
Mag.a Verena Ofner
Stockerau, Februar 2015
2
Meinen Eltern
3
Abstract
Die vorliegende vorwissenschaftliche Arbeit behandelt das literarische Motiv Isolation in
den Romanen DIE WAND von Marlen Haushofer und DIE ARBEIT DER NACHT von Thomas
Glavinic. Die Untersuchung bietet sowohl einen formalen als auch inhaltlichen Überblick
über die beiden Romane, wobei das Hauptaugenmerk auf auftretenden Unterschieden
liegt. Da es sich bei dieser Arbeit um eine Literaturanalyse handelt, beschränkt sich die
gewählte wissenschaftliche Methodik auf die Analyse der Primärwerke sowie die Studie
der Sekundärliteratur, welche die erarbeiteten Thesen stützen soll. Bei diesen Werken
handelt es sich um moderne Robinsonaden, weshalb die Einsamkeit der Robinsonfigur
im Zentrum der Erzählungen steht. Beide Male wird das letzte Individuum in seiner Exis-
tenz als Mensch und bewusst handelndes Wesen bedroht.
Die Arbeit zeigt schlussendlich, dass die Bearbeitung des Themas der totalen Isolation
stark divergieren und sehr individuell ausgelegt werden kann. Im Vergleich wird deut-
lich, dass zwei unterschiedliche Identitätsentwürfe einander konträr gegenüberstehen.
Dieser Antagonismus wird sowohl in der inneren Sicht der Robinsonfiguren als auch äu-
ßeren Faktoren wie dem Isolationsbereich deutlich. Auch die Auflösung der Anti-Utopie,
die in DIE ARBEIT DER NACHT mit der Selbstbefreiung des Robinsons aus der Einsamkeit
durch Suizid miteinhergeht, kann wie in DIE WAND durch den Mord an dem wohl letzten
männlichen Überlebenden unterschiedlich geschehen – beide Male bedeutet dies je-
doch das Ende der Menschheit.
4
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung – Zwei Romane im Vergleich ....................................................................... 5
2. Die formale Ebene...................................................................................................... 6
2.1. Die Gattung der Robinsonade ............................................................................ 6
2.2. Wer erzählt? ....................................................................................................... 8
3. Die inhaltliche Ebene ............................................................................................... 10
3.1. Die Isolationssituation und ihre möglichen Auslöser ...................................... 12
3.2. Überlebensstrategien....................................................................................... 16
3.2.1. Die physischen Überlebensbestrebungen der Protagonistin/des
Protagonisten ............................................................................................ 16
3.2.2. Die psychischen Überlebensbestrebungen der Protagonistin/des
Protagonisten ........................................................................................... 18
3.2.2.1. Kontaktversuche: Ersatzfamilie bzw. (Verzweiflungs-)Taten .......... 18
3.2.2.2. Kontrollversuche der Ich-Auflösung bzw. des Ich Zerfalls .............. 22
3.2.2.3. Die Zementierung der Isolation – Das Ende des utopischen Spiels..28
4. Abschließender Vergleich .......................................................................................... 33
Literaturverzeichnis ...................................................................................................... 36
Selbstständigkeitserklärung ............................................................................................ 37
5
1. Einleitung – Zwei Romane im Vergleich
Die beiden österreichischen Robinsonaden DIE WAND1 (1968) von Marlen Haushofer und
DIE ARBEIT DER NACHT2 (2006) von Thomas Glavinic haben beide die Isolation der mensch-
lichen Robinsonfigur als literarisches Motiv im Zentrum. Das Hauptziel dieser Arbeit ist
es, diesen Stoff zu untersuchen, Parallelen zwischen den Werken zu ziehen und Unter-
schiede aufzuzeigen.
Die Arbeit beruht einerseits auf der Studie der Primärwerke, andererseits auf jener der
Sekundärliteratur. Im Zuge dessen halfen die von Mara Stuhlfauth in ihrer Arbeit MO-
DERNE ROBINSONADEN3 anhand Daniel Defoes ROBINSON CRUSOE erarbeiteten Gattungs-
merkmale, einen Überblick über die Kohärenz von Inhalt und Struktur einer Robinsona-
de zu bekommen. Eben diese scheinen nicht nur eine wichtige, strukturelle Leitlinie vor-
zugeben, sondern die Romane auch auf inhaltlicher Ebene maßgeblich zu beeinflussen.
Der inhaltlichen Analyse der beiden Romane werden zum besseren Verständnis des in-
haltlichen Stoffes eine kurze Erörterung der literarischen Gattung Robinsonade in Ver-
bindung mit dem Konzept (Anti-)Utopie sowie eine knappe Struktur- und Sprachanalyse
der Werke vorangestellt. Im weiteren Verlauf werden inhaltliche Punkte wie etwa die
Auslöser der verschiedenen Isolationssituationen, die unterschiedliche Art der Ausei-
nandersetzung der Protagonistin/des Protagonisten mit der Einsamkeit und deren suk-
zessive Wesensveränderung sowie die schlussendliche Auflösung des Robinsonzustan-
des beleuchtet. Im abschließenden Kapitel kommt es zu einem zusammenfassenden
Vergleich der beiden Robinsonaden. Die Arbeiten von Monika Kohler4 und Gina Kaiser5,
die sich mit einer ähnlichen Fragestellung beschäftigen, bilden eine wichtige Grundlage
für diese inhaltliche Untersuchung.
1 Haushofer, Marlen: Die Wand. 17.Auflage. Berlin: List Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH,2012 2 Glavinic, Thomas: Die Arbeit der Nacht. 3.Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, 2011 3 Stuhlfauth, Mara: Moderne Robinsonaden. Eine gattungstypologische Untersuchung am Beispiel von Marlen Haushofers Die Wand und Thomas Glavinic Die Arbeit der Nacht. 1.Auflage. Würzburg: Ergon- Verlag GmbH, 2011 4 Kohler, Monika: Das Symbol „Wand“ in Werken Marlen Haushofers/ Monika Kohler.–2002 5 Kaiser, Gina: „Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang“: Arno Schmidts „Schwarze Spiegel“, Marlen Haushofers „Die Wand“, Herbert Rosendorfers „Großes Solo für Anton“ und ein Kon- zept der postapokalyptischen Robinsonade im 20. Jahrhundert. München: September 2011. Als Down- load: http://d-nb.info/1025821998/34 (Zugriff:28.06.2014)
6
Die Arbeit konzentriert sich vor allem auf die Analyse des Motivs Isolation in den beiden
Romanen und so konnten weitergehende Aspekte nicht behandelt werden. Im Falle
Haushofers Roman sind dies beispielsweise zeitgeschichtliche sowie autobiografische
Hintergründe, die Daniela Strigl in der Biografie „WAHRSCHEINLICH BIN ICH VERRÜCKT…“6
erläutert. Bei Glavinic wäre die Untersuchung der Intertextualität des Romans DIE ARBEIT
DER NACHT in seinem Gesamtwerk sehr spannend und bietet genügend Stoff für eine
weitere Abhandlung.
2. Die formale Ebene
2.1. Die Gattung der Robinsonade
Das Genre der Robinsonade wurde mit der Veröffentlichung Daniel Defoes ROBINSON
CRUSOE im Jahr 1719 begründet. Jedoch findet sie noch lange keine Berechtigung als
eine eigenständige, vom klassischen Abenteuerroman unabhängige Gattung, obwohl ihr
Stoff und die damit verbundenen strukturellen Merkmale bald Anklang in der Literatur
des 18. und 19. Jahrhunderts finden und auf immense Adaption stoßen: „[…] der Name
‚Robinson‘ [ist] […] nicht mehr der Name eines individuellen Protagonisten eines Aben-
teuerromans, sondern ein Kollektivsubstantiv für […][die Hauptfigur] in einer durch die
Vorlage definierten Situation.“7 Defoe gelang es durch seinen Roman nicht nur die Lite-
ratur seiner Zeit maßgeblich zu prägen, sondern mit ihm einen historischen Prototyp zu
erschaffen. Seine Vorlage erfuhr in den vergangen Jahrhunderten zwar eine Weiterent-
wicklung, doch sind die Grundmuster der klassischen Robinsonade auch in ver-
schiedensten literarischen Variationen des Stoffes von unzähligen Autorinnen und Auto-
ren weltweit im Grunde gleichgeblieben und folgen einem einheitlichen Schema: der
Protagonist/die Protagonistin lebt einsam in einem isolierten, realen oder imaginären
Raum. Zentral dabei ist die Veränderung, die diese/r sowie seine/ihre Umwelt dabei
erfährt.
Eine bedeutende Charakteristik der Robinsonade der Gegenwart ist die nahe Ver-
wandtschaft zur fantastischen und grotesken Literatur. Hierbei wurde die Struktur der
klassischen Robinsonade adaptiert und mit utopisch-futuristischen Elementen verbun- 6 Strigl, Daniela: „Wahrscheinlich bin ich verrückt…“. Marlen Haushofer – die Biographie. 4.Auflage. Berlin: List Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH,2012 7 Stuhlfauth, Moderne Robinsonaden, S.11
7
den. Es zeichnet sich ab, dass im Gegensatz zur klassischen in der modernen Robinsona-
de der, einer Fabel ähnliche, belehrende Charakter weniger stark im Zentrum steht bis
hin zu gar nicht vorhanden ist. Es geht nicht mehr darum, im subjektleeren Raum die
Missstände der alten Gesellschaft aufzuzeigen, daraus Lehren zu ziehen und neuentwi-
ckelte Werte an die Nachwelt weiterzugeben. Es ist viel eher ein unbewusstes Rekapitu-
lieren des früheren Lebens und die sinnstiftende (aktive) Flucht aus einer Welt, die für
ein Individuum keine Perspektiven mehr geboten hatte, in eine Utopie. Es besteht also
eine scheinbare Abhängigkeit der Robinsonade von der Utopie und so ist es wichtig, an
dieser Stelle kurz auf diese ambivalente Beziehung einzugehen: Es muss unterschieden
werden, ob es sich um Kritik an den bis zum Auftreten der Katastrophe herrschenden
Zuständen handelt (Utopie), oder um die Kritik an der „utopischen Welt“ und dem uto-
pischen Denken der Menschheit (Kritik an der Utopie Æ Anti-Utopie). Die beiden in die-
ser Arbeit behandelten Romane können insofern als anti-utopische bezeichnet werden,
als dass sie die Aussicht auf eine ideale (utopische) Zukunftsgesellschaft negieren und
schlussendlich ablehnen – eine optimale Situation wird sich niemals einstellen und der
Glaube daran wird als naiv enttarnt. Gina Kaiser wiederum konstatiert in ihrer Disserta-
tion, dass gerade die Einbindung einer imaginären Welt in einen realen Raum in der
Endzeitdichtung und die damit verbundenen utopischen sowie anti-utopischen Eigen-
schaften eine Klassifizierung der modernen Robinson-Romane als Robinsonaden nicht
zulassen.8 Es lässt sich also keine eindeutige Genreeinteilung treffen. Kaiser argumen-
tiert, dass die fehlende Hoffnung auf Rettung dem Robinsonaden-Charakter nicht ge-
recht werde. Wird nun aber die Isolierung als aktive Handlung der Robinsonfigur defi-
niert, hat die Hauptfigur als Utopistin Einfluss auf das Gedankenspiel Utopie, dessen
Realitätsgrad sie sich dennoch nicht bewusst werden kann.
Ein anderer wichtiger Punkt der weiterentwickelten Form der Robinsonade wird von
dem „jungen“ inhaltlichen Merkmal Ende des Menschengeschlechts gebildet, der in bei-
den Romanen sehr zentral ist. Das Phänomen einzig und somit auch letzte/r Überleben-
de/r der Menschheit ist die Voraussetzung dafür, dass dieser Stoff funktionieren kann -
ein auktorialer Erzähler, wie er in DIE ARBEIT DER NACHT vorkommt, steht dazu im Wider-
spruch. 8 vgl. Kaiser, „Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang“, S.230f
8
2.2. Wer erzählt?
Unter Betrachtung des zuvor genannten Merkmals ist der Bericht die einzig logische
Form des Erzählens, wie ihn auch der in der 17. Auflage des List Verlags 276 Seiten um-
fassende Roman DIE WAND von Marlen Haushofer annimmt. Die im weiteren Verlauf der
Robinsonade als Ich-Erzählerin agierende Protagonistin beginnt diesen mit den Worten:
„Heute, am fünften November, beginne ich mit meinem Bericht.“9 Sie reflektiert darin
über das ihr Widerfahrene und verarbeitet den Mord an ihren Tieren. Die chronologi-
sche Erzählung des Geschehenen basiert auf von ihr angefertigten Kalendernotizen,
wobei sich häufig Ungereimtheiten zeigen. Es scheint, als würden „[d]ie Inkohärenzen,
die sich zwischen [den] Notizen [der Ich-Erzählerin] und dem Bericht ergeben, in diesem
Roman der Veranschaulichung des Bruches in der Identität der Protagonistin [die-
nen].“10 Diese sowie die Reduzierung des Geschehenen auf die reine Subjektivität der
Ich-Erzählerin lassen den Leser/die Leserin in Angesicht der psychischen Instabilität der
Frau zu Beginn des Schreibprozesses an deren Erzählautorität und damit an ihrem Be-
richt zweifeln. Zum Zeitpunkt des eigentlichen Schreibens des Skripts ist die Roman-
handlung bereits abgeschlossen und beim Lesen dessen die Existenz der Frau ungewiss.
Die zwei entstehenden Handlungsebenen (vor und nach Eintreten der Wand in das Le-
ben der Protagonistin) werden durch den Bericht auf drei Zeitebenen geteilt:
x Zeit des Verfassens fällt in die im Bericht beschriebene Gegenwart
x Schilderung der vergangenen Monate in Isolation wird unterbrochen
x durch Rückblicke in eine Vergangenheit vor der Katastrophe
Die im Bericht beschriebene Dauer in Einsamkeit erstreckt sich beinahe über einen Zeit-
raum von zweieinhalb Jahren, die in nur einigen Monaten niedergeschrieben werden.
Dadurch entsteht eine große Diskrepanz zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit.
Sprachlich ist das Buch sehr einfach gehalten, was abermals stilistisch begründet liegt
und die Beschreibungen sehr authentisch wirken lässt. Es besteht großteils aus Wetter-
und Naturbeobachtungen, sowie Schilderungen des Gemütszustands der Robinsonfigur.
9 Haushofer, Die Wand, S.7 (Zitation infolge angeführt unter: „Wand, S.“) 10 Stuhlfauth, Moderne Robinsonade, S.70
9
Die Frau versucht zwar objektiv zu berichten, doch klappt dies nur bedingt, da ja bereits
die angedachte Funktion des Schreibens eine andere ist: die eigene Angstbewältigung.
Der Bericht dient bei Haushofers außerdem als Mittel zur Verdeutlichung des (fiktiven)
Utopischen Spiels, das die Autorin mit dem Robinson-Stoff anstellt. Das Lesen durch den
Rezipienten/die Rezipientin des Berichts setzt voraus, dass dieser zu einem ungewissen
Zeitpunkt aus dem Isolationsbereich geborgen werden musste. Da der Ausgang der Iso-
lationssituation in DIE WAND eine Leerstelle bleibt, kann über den Grad der Fiktionalität
des Ereignisses insgesamt lediglich gemutmaßt werden.
In Glavinic´ Roman DIE ARBEIT DER NACHT, der aufgrund seiner Veröffentlichung im Jahr
2006 zur Literatur der Gegenwart zählt, sind Parallelen zu Haushofers Werk nicht zu
leugnen, auch wenn der Autor selbst wiederholt betont, dieses nicht gekannt zu haben.
Auf formaler Ebene bildet der Roman einen starken Gegensatz. Auf rund 400 Seiten
beschreibt ein personaler Erzähler die letzten 47 Tage im Leben des Protagonisten Jonas
in Isolierung und berichtet sehr objektiv über die Geschehnisse. Da aber aufgrund des
postapokalyptischen Szenarios hier keine Fremdcharakterisierung möglich ist (die Inter-
aktion mit einem Gegenüber, die auf Charakterzüge schließen lässt, kommt nicht infra-
ge), muss der Erzähler hier besonders genau arbeiten. Die Satzstellung ahmt Gedanken-
gänge des Protagonisten nach und die Figurenrede weist Elemente der erlebten Rede
auf, wodurch dem Leser/der Leserin ein Einblick in Jonas´ Innerstes ermöglicht wird. Der
Erzähler eröffnet hier gleichzeitig eine neue Perspektive, die unweigerlich zur Frage
führt, wer denn erzähle, wenn es außer der Robinsonfigur selbst keinen anderen Men-
schen mehr geben soll. Seine bloße Existenz liefert einen Hinweise auf die spätere Situa-
tion: Denn gegen Ende des Romans verschwimmt auch seine Perspektive, als er in das
Leben Jonas´ eingreift, und nicht mehr klar ist, ob es die Fiktion des Autors Glavinic, die
der Hauptfigur oder die eines wiederum fiktiven Autors ist.
Auch in DIE ARBEIT DER NACHT ist die Sprache überwiegend einfach gehalten, ab und zu
kommen österreichische Besonderheiten im Ausdruck durch. Die Sätze wirken durch
ihre Knappheit umso kraftvoller. Bei der Ausgestaltung des literarischen Doppelgänger-
Motivs schafft es Glavinic doch gerade mithilfe der so charakteristischen mystisch-
10
bedrohlichen Ausschmückungen, Spannung aufzubauen und zu halten und verwendet
häufig detaillierte Beschreibungen erdrückender Stille zur Darstellung der inneren An-
spannung des Protagonisten. Die aktive Handlungsebene der Robinsonfigur wird hier
mittels zweier Zeitebenen geschildert, wobei die der Gegenwart deutlich überwiegt und
nur stellenweise durch Erinnerungen unterbrochen wird. Eine zweite bildet die Ebene
des fiktiven Autors, der sich auf einer übergeordneten Zeitebene befindet und sowohl in
die Vergangenheit, als auch die Gegenwart der Romanfigur hineinspielt.
3. Die inhaltliche Ebene
DIE WAND (1968), Marlen Haushofer
„Plötzlich fiel mir auf, was mich im Unterbewußtsein schon die ganze Zeit gequält haben
mochte, daß die Straße völlig leer lag. Irgend jemand mußte doch längst Alarm geschla-
gen haben. […] Daß kein einziger Mensch zu sehen war, erschien mir noch rätselhafter
als die Wand.“11
Die namenlose Ich-Erzählerin reist mit ihrer Cousine und deren Ehemann zu einer Jagd-
hütte in den Bergen, um sich dort einige Tage in Abgeschiedenheit zu erholen. Als die
Frau an ihrem ersten Morgen erwacht, muss sie feststellen, dass lediglich der Hund ihrer
Verwandten, Luchs, von dem abendlichen Spaziergang ins Dorf zurückgekehrt war, nicht
so ihre Cousine noch deren Gatte. Sie findet sich und das Tier eingeschlossen hinter ei-
ner unsichtbaren Wand wieder, hinter welcher kein weiteres Leben zu existieren
scheint. Durch diese, über Nacht eingetretene, Katastrophe, wird die Frau offensichtlich
zur letzten Überlebenden – zu einer Robinsonfigur – zu einer Alleinversorgerin, gleich-
zeitig geschützt wie gefangen hinter einer undefinierbaren Grenze. Nach und nach baut
sich die Protagonistin eine Existenz auf, lernt das rurale Bewirtschaften und gründet
eine tierische Ersatzfamilie. Sie lernt Verantwortung für sich und ihre Tiere zu überneh-
men und die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen. Allmählich verschafft sich die
Ich-Erzählerin auch einen gewissen Grad an Mobilität und zieht beispielsweise in ihrem
zweiten Sommer von ihrer Jagdhütte im Tal auf eine Alm in der Nähe, um dort ihre Kü-
he besser versorgen zu können. Ihre Trauer um ihr vorheriges Leben wird mit der Zeit
immer geringer und mit ihm schwindet auch die Hoffnung, jemals wieder auf menschli- 11 Wand, S. 16
11
ches Leben zu stoßen. Dies ändert sich jedoch eines Tages, als plötzlich ein fremder
Mann in ihren Lebensraum eindringt und ohne ersichtlichen Grund zunächst ihren Stier
und anschließend ihren Hund umbringt und ihr somit ihre scheinbar letzten Existenz-
grundlagen nimmt. Die Frau erschießt daraufhin den Fremden. Sie beginnt, traumati-
siert von den erneuten, schicksalsträchtigen Ereignissen einen Bericht zu verfassen, in
dem sie ihr Leben aufzeichnet, ohne zu wissen, ob ihre Zeilen jemals gelesen werden.
Trotz zahlreicher Rückschläge, die ihr in ihren zweieinhalb Jahren hinter der Wand wi-
derfahren sind, klingt die Protagonistin auch gegen Ende ihres Berichts weiter zuver-
sichtlich; diesen Bericht kann sie nicht ewig weiterführen, da ihr allmählich die Lebens-
grundlagen ausgehen und damit auch die Ressourcen ihres letzten „weltlichen“ Kultur-
guts. Das endgültige Schicksal der Protagonistin bleibt offen.
DIE ARBEIT DER NACHT (2006), Thomas Glavinic
„Man konnte doch nicht eine Millionenstadt innerhalb einer Nacht evakuieren und nur
ihn vergessen. Und das alles, ohne daß er es merkte. Oder er träumte. Oder war wahn-
sinnig geworden.“12
Auch Jonas, der Protagonist dieses Romans, wacht eines Morgens auf und sieht sich
damit konfrontiert, dass er alleine in Wien zu sein scheint. Er ist zurückgelassen in einer
Welt, die aussieht wie je zuvor, doch fehlt jegliche Spur von animalischem Leben. Jonas
irrt durch die ihm vertrauten Straßen und Gassen der Stadt, immer auf der Suche nach
dem Verbleib seiner Familie, seiner Freunde und Bekannten, vor allem aber auf der Su-
che nach einer Antwort auf die Frage nach dem Ursprung dieser Katastrophe. Verzwei-
felt nach Hinweisen auf den Verbleib der Menschheit begibt sich Jonas zuerst auf zu
Plätzen in Österreich, die einst für ihn von Bedeutung waren. Später gelangt er so bis
nach Ungarn, Deutschland und England, wo er hofft, den letzten Aufenthaltsort seiner
Freundin Marie vorzufinden, die sich zum vermeintlich Zeitpunkt der Katastrophe dort
aufgehalten hat. Unerschöpflich verfolgt er wie besessen ein Ziel: hinter des Rätsels Lö-
sung zu gelangen.
12 Glavinic, Die Arbeit der Nacht, S.17 (Zitation infolge angeführt unter: „Arbeit, S.“)
12
Zu diesem Zeitpunkt des Romans hegt der Protagonist noch Hoffnung und hinterlässt an
jedem besuchten Ort eine Spur von sich selbst; meist schreibt er seinen Namen, das
Datum und seine Kontaktdaten auf, oder bringt Zeichen zur Rettung an. Bald spürt Jonas
ein inneres Verlangen nach mehr Kontrolle über die Situation, aber auch über sich selbst
und beginnt mit Kameras zu arbeiten, die er an mehreren Orten aufstellt, sie gleichzeitig
filmen lässt und anschließend die Aufnahmen auf Anomalitäten untersucht. Im Zuge
dessen analysiert Jonas auch Sequenzen, die ihn nachts beim Schlafen zeigen. Hierbei
spricht er von sich selbst als der „Schläfer“ und auch seine Taten sind denen des „Tag-
Ichs“ fremd. Diese beiden Identitäten entwickeln sich immer weiter bis sie gegen Ende
des Romans vielmehr zu Feinden als zu Unterstützern des Protagonisten geworden sind.
In diesem Zwiespalt gefangen, arbeitet Jonas aktiv gegen sich selbst und macht es sich
beinahe unmöglich, sein eigentliches Ziel, einmal noch ganz nahe bei Marie oder zu-
mindest an dem Ort, an dem sie zuletzt war, zu sein, zu erreichen.
Nachdem Jonas es jedoch geschafft hat, Maries Besitztümer von England nach Öster-
reich zurückzubringen, seine zwei Identitäten mehr oder weniger wieder zu vereinen
und sein Schicksal anzunehmen, endet der Roman mit dem Sturz des Protagonisten vom
Stephansdom.
3.1. Die Isolationssituation und ihre möglichen Auslöser
„Verdutzt streckte ich die Hand aus und berührte etwas Glattes und Kühles: einen glat-
ten, kühlen Widerstand an einer Stelle, an der doch gar nichts sein konnte als Luft. Zö-
gernd versuchte ich es noch einmal, und wieder ruhte meine Hand wie auf der Scheibe
eines Fensters.“13
Der Beginn der Isolationssituation der namenlosen Ich-Erzählerin kann mit ihrer Ent-
scheidung, nicht mit ihrer Cousine und deren Mann ins Dorf zu gehen, um dort Abend zu
essen, gleichgesetzt werden. Die Romanheldin zieht hier ein erstes Mal die Einsamkeit
der Gesellschaft vor. Schon vor dem Ereignis Wand war sie in ihrer Rolle als Hausfrau
und Mutter gefangen. Später einmal erinnert sie sich zurück an die Frau, die sie früher
einmal war: „Als sie jung war, nahm sie, unwissend, eine schwere Last auf sich und
gründete eine Familie, und von da an war sie immer eingezwängt in eine beklemmende
13 Wand, S.15
13
Fülle von Pflichten und Sorgen.“14 Sie führte ein Leben in Anonymität und Abgeschie-
denheit in einer Gesellschaft, der sie sich aktiv zu entziehen versuchte. Der Unzufrie-
denheit mit ihrem Leben konnte die Protagonistin in ihrer damaligen Welt nichts entge-
gensetzten. Sie isolierte sich zusehends und schien, misanthrope Züge entwickelt zu
haben, denn „[…] schon lange ehe es die Wand gab, ha[t] [sie] gewünscht, tot zu sein,
um [ihre] Bürde endlich abwerfen zu können. Über diese schwere Last [hat sie] immer
geschwiegen; […]“15 und stattdessen versucht, der Menschheit zu entgehen, indem sie
sich „durch innere Wände in Form einer psychischen Barriere von ihren Mitmenschen
isoliert[e].“16 Trotz dieser Voraussetzung, allein sein zu können, wirkt ihr Überleben in
der hereingebrochenen Not willkürlich. Nichts deutet daraufhin, dass sie als Person spe-
ziell auserwählt worden ist, ein Unglück wie dieses als einzige zu überstehen. Ihr Unwis-
sen über den Ablauf und ihre „zufällige“ Abwesenheit während des vermeintlichen Ent-
stehungszeitpunktes der Katastrophe scheinen ihr Bestehen zu rechtfertigen.
Haushofers Protagonistin wacht in der neuen Situation auf und muss das plötzliche Auf-
treten einer gläsernen Wand erst nach und nach geistig erfassen.
„[…] nach wenigen Schritten stieß ich mit der Stirn heftig an und taumelte zurück. […]
Dann hörte ich lautes Pochen und sah um mich, ehe ich begriff, daß es mein eigener
Herzschlag war, der mir in den Ohren dröhnte. Mein Herz hatte sich schon gefürchtet,
ehe ich es wußte. […] Ich stand noch dreimal auf und überzeugte mich davon, daß hier,
drei Meter vor mir, wirklich etwas Unsichtbares, Glattes, Kühles war, das mich am Wei-
tergehen hinderte. Ich dachte an eine Sinnestäuschung, […] Aber da war Luchs mit sei-
nem blutenden Maul, und da war die Beule auf meiner Stirn, […] “17
Die Auswirkungen, die dieser massive Einschnitt in das Leben der Protagonistin reißen
wird, lassen sich zu diesem Zeitpunkt für sie noch lange nicht abschätzen. Was zurück-
bleibt, sind Ungläubigkeit und Ratlosigkeit, denn „[e]s konnte einfach nicht wahr sein,
derartige Dinge geschahen einfach nicht, und wenn sie doch geschahen, nicht in einem
kleinen Dorf im Gebirge, nicht in Österreich und nicht in Europa.“18 Gerade die Unmög-
14 Wand, S.83 15 ebd. S.71 16 Stuhlfauth, Moderne Robinsonaden, S.22 17 Wand, S.14f 18 ebd. S.18f
14
lichkeit des Ereignisses verleiht dem Text eine fantastische Note, die es dem Leser/der
Leserin unmöglich macht, die Handlung in Traum oder Wirklichkeit, in Schlaf oder in
Wachzustand einzuordnen19 und lässt somit den Wahrheitsgehalt der Erzählung offen.
Gleichzeitig bietet der für die Protagonistin neue Lebensraum aufgrund seiner naturhaf-
ten Prozesse und der Autonomie der noch existierenden Lebewesen ein neues Ver-
ständnis für sie selbst und somit auf gewisse Weise auch Halt in der radikalen Isolations-
situation: „Hier, im Wald, bin ich eigentlich auf dem mir angemessenen Platz.“20 Das
Entkommen der Frau aus der alten Welt ist in jener Situation relativ. Die Wand fungiert
für die Heldin als Asyl und Exil zugleich.21 Sie eröffnet der Protagonistin die Chance eines
absoluten Neuanfangs nach einer totalen Katastrophe, doch bietet für diesen wenige bis
keine Grundlagen. Die Wand ermöglicht ihr also eine Flucht aus ihrem früheren Leben,
schickt sie jedoch gleichzeitig in eine beinahe unmenschlich anmutende Perspektivenlo-
sigkeit, da die Aussicht auf eine Besserung der nunmehr gegenwärtigen, bei weitem
nicht optimalen Situation nicht vorhanden ist. So hat ihr zwar „[d]ie Katastrophe […]
eine große Verantwortung abgenommen, und [doch] ohne, daß [sie] es sogleich merkte,
eine neue Last auferlegt.“22
Gina Kaiser konstatiert in ihrer Arbeit, dass „obwohl im Roman eine lokale Katastrophe
gezeigt wird, […] der Hinweis, dass die Ich-Erzählerin [am Ende] bereits seit über zwei
Jahren auf Rettung wartet, darauf hin [deutet], dass es sich um ein globales Phänomen
handelt.“23 Somit wird die These bestätigt, dass die Wand die Welt in zwei Bereiche
trennt: den abgegrenzten Lebensraum der Erzählerin und den Todesraum außerhalb,
den sie wie durch eine Glasscheibe immer vor Augen hat – der omnipräsent ist. Der Ro-
binsonfigur ist diese Teilung klar und so bleibt sie mit dem Schicksal ihrer Cousine be-
schäftigt, die „[v]ielleicht […] immer noch am Wirtshaustisch [sitzt], [wie] ein lebloses
erstarrtes Ding mit bemalten Lippen und rotblonden Locken.“24
19 vgl. Kaiser, „Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang“, S. 261 20 Wand, S.222 21 Anm.: Besonders hier wird die enge Verbundenheit von Robinsonade und (Anti-)Utopie sichtbar, denn zeichnet sich ersteres oftmals durch eine Exil-, zweiteres durch eine Asyl-Situation aus. 22 Wand, S.75 23 Kaiser, „Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang“, S. 241 24 Wand, S.124
15
Die Protagonistin kann sich bis zum Schluss des Romans kein genaues Bild über das tat-
sächliche Ausmaß der Wand machen, somit wird nie zur Gänze geklärt, ob es sich bei
dem postapokalyptischen Raum um eine lokale oder globale Ausdehnung handelt. Der
Leser/die Leserin kann erst gegen Ende des Buches mit der Erscheinung des Menschen-
manns jene Absolutheit der Menschheitskatastrophe, die die Protagonistin stets vermit-
telt, anzweifeln.
„Als er den Kopf hob, stellte er fest, daß außer ihm niemand zu sehen war. Daß kein
Mensch da war und daß keine Autos fuhren.
Ein Scherz, kam ihm in den Sinn. Und: Es muß Feiertag sein.“25
Wie bei Haushofer wird auch Glavinic´ Protagonist, Jonas, über Nacht von einem unbe-
kannten Unglück überrascht und findet sich am Morgen des 4. Juli in einer entleerten
Welt wieder. Die hier beschriebene Isolationssituation ist jedoch um vieles drastischer
als jene, der Haushofers Heldin ausgesetzt ist, denn in DIE ARBEIT DER NACHT kommt dem
Protagonisten neben der Menschheit auch die Tierwelt über Nacht abhanden. Dies ver-
weigert ihm die Möglichkeit auf psychische Bindung und emotionalen Austausch, sowie
jegliche Aussichten auf den Fortbestand von Leben auf der Erde. Außerdem handelt es
sich hierbei nicht um eine insulare Beschränkung der Isolation auf einen abgesteckten
Bereich, da der Hauptfigur weiterhin völlige Mobilität gewährt ist und ihr keine Grenzen
gesetzt sind. Dies und die Tatsache, dass das Ereignis Einsamkeit über die Hauptfigur
hereinbricht, als diese sich in einer „Großstadt im Zentrum des zivilisatorischen Le-
bens“26 befindet, geben – zumindest dem Leser/der Leserin – schnell Gewissheit über
das geografische Ausmaß der Katastrophe. Für Jonas relativiert sich jedoch mit fort-
schreitender Romanhandlung auch die globale Ausdehnung, denn die Welt verliert für
ihn durch den freien Zugang zu Machtzentralen und dem nun unnützen Gebrauch mo-
derner Technologien an Einschränkungen. So hat auch „Geld zu gewinnen […] keinen
Reiz.“27
25 Arbeit, S.9 26 Stuhlfauth, Moderne Robinsonade, S.74 27 Arbeit, S.48
16
Obwohl die Ursache für die Entvölkerung der Erde im Roman eine Leerstelle bleibt, liegt
der Verdacht nahe, dass auch in diesem Fall der Protagonist nicht ganz zu entlasten ist.
Jonas selbst fühlt sich schuldig und so könnte man ihm seine teilweise vorhandene
Sehnsucht nach Einsamkeit zur Last legen, die das Auslöschen anderen menschlichen
Lebens begründen könnte. Zwar stellen seine verzweifelte Suche nach seiner Freundin
Marie und die immer wieder aufkommende Erinnerung an die Liebe zu ihr ein zentrales
Leitmotiv dar, doch hatte auch Jonas sich kurz vor Eintreten der Menschheitskatastro-
phe bewusst gegen eine Reise nach England zu Maries Verwandten entschieden und
dadurch – wenn auch unbewusst – die Einsamkeit der Gesellschaft vorgezogen. „Er hät-
te Marie begleiten sollen. Trotz seiner Abneigung gegen Verwandtschaftsbesuche.“28
Wien und die anderen durch die Romanfigur aufgesuchten Orte dienen lediglich als re-
präsentative Kulisse für den restlichen menschenleeren Raum. Einzelnen Schauplätzen
werden dabei unterschiedliche Wichtigkeiten zugemessen. So ist der erste Ort den Jo-
nas auf der Suche nach Sinn und Ursache aufsucht, die Wohnung seines Vaters: „`Papa,
bist du da?´ Bevor er einen Raum betrat, rief er. […] Vom Flur ging es in die Küche […]
Dann ins Schlafzimmer. […] Sein Vater […] war nicht mehr da.“29 Daraufhin beschließt er,
sich in seines Vaters Bett schlafen zu legen. Er schlief wie ein Kind, den Geruch und so
die Präsenz seines Vaters spürend.30
3.2. Überlebensstrategien
3.2.1. Die physischen Überlebensbestrebungen der Protagonistin/des Protagonisten
„So vieles gab es, was ich tun sollte, Holz hacken, Erdäpfel ernten, Acker umstechen, Heu
aus der Schlucht holen, die Straße richten und das Dach ausbessern“31
Beschreibungen wie diese bilden einen Großteil des Berichts der Protagonistin. Es sind
ihre täglichen Arbeiten im Wald und die damit verbundene schwere körperliche Arbeit,
die zum einen das physische Überleben der Frau symbolisieren und dieses gleichzeitig
sichern, zum anderen geben sie ein geregeltes Leben vor, worauf jegliche psychische
Stabilität in solch einer absurden Extremsituation beruht.
28 ebd. S.7 29 ebd. S. 14 30 vgl. ebd. S. 15 31 Wand. S. 97
17
Ihre Lebenszeit ist jedoch auch so begrenzt, denn die Vorräte, die in der Jagdhütte ange-
legt waren, reichen nicht ewig und sobald Streichhölzer und/oder Munition ausgehen,
nehmen auch ihre Überlebenschancen ab. Die Heldin erobert sich ein Stück Natur zu-
rück und versucht sich mit der Erkenntnis, „[d]afür bin ich in der Landwirtschaft und der
Tierpflege nicht ungeschickt“32, als Alleinversorgerin, um von denen in der Jagdhütte
gebunkerten Lebensmittel möglichst unabhängig agieren zu können. Ihre „Vorräte
schmolzen viel zu schnell, und [sie] mußte [sich] sehr einschränken“33 und auch „der Tag
des letzten Zündholzes [scheint] in greifbare Nähe [zu rücken].“34 So helfen der Prota-
gonistin ihre natürliche Begabung und die Weisheiten eines alten Bauernkalenders, ihr
Überleben zu sichern.35 Die Frau aus der Stadt wird zu einer Jägerin und Sammlerin,
wobei sie sich gerade mit ersterer Aufgabe niemals wirklich identifizieren kann. Sie
„[…]fühlte [sich] krank. [Und sie] wußte, es kam davon, daß [sie] immer wieder töten
mußte.“36 Durch das Domestizieren, der ihr zugelaufenen, trächtigen Kuh, Bella, wird sie
gleichermaßen zu einer Vieh- beziehungsweise Milchbäuerin. Die Kuh ist somit eine
wichtige Stütze im Kampf um das Überleben der Frau, fordert jener allerdings auch eini-
ges ab (vgl. Kapitel 3.2.2.1.).
Um einer akuten Bedrohung ihrer physischen Existenz vorzubeugen, nützt die Frau ihre
eingeschränkte Mobilität innerhalb ihres „Gefängnisses“ anfangs maximal aus, indem
sie sich weitere Gebiete wie etwa die Alm erschließt. Hierbei ist jedoch die enge Verwo-
benheit ihrer zwei ihr Überleben sichernden Stützen auffällig. Denn ihre psychische
Konstitution ist enorm gebunden an ihre Umgebung, die sie aufgrund besserer Versor-
gungsmöglichkeiten an dem jeweils anderen Ort – der Jahreszeit entsprechend - regel-
mäßig wechselt. Doch mit dem Tod Luchs´ und Stiers wird ihre Mobilität weiter einge-
schränkt, da es ihr ab dann unmöglich ist, die Alm nochmals zu betreten.
32 Wand, S. 137 33 ebd. S.54 34 ebd. S.76 35 Anm.: An dieser Stelle suggeriert Haushofer Bildungskritik an der zeitgenössischen Gesellschaft der ein primitives (Über-)Leben mit ihrer praxisfernen Bildung beinahe unmöglich ist. 36 Wand, S.140
18
„Mit dem Zangenarm schlug er die Scheibe ein. Die Alarmanlage stellte er […] nicht ab.
[…] Aus dem Kiosk holte er sich eine Tüte Chips und eine Limonade, dazu ein Päckchen
Taschentücher für seine laufende Nase. Im Zeitschriftenladen packte er einen Stoß Zei-
tungen […].“37
Durch die Verortung des Hauptschauplatzes der Menschheitskatstrophe in einer euro-
päischen Großstadt liegen die physischen Überlebensbemühungen Glavinic´ Hauptfigur
weit hinter denen der Ich-Erzählerin in DIE WAND. Jonas muss seinen Existenzkampf auf
anderer Ebene führen, denn seine Nahrungsbeschaffung ist unabhängig von Wetterbe-
dingungen und lediglich auf die Stromversorgung der Kühlregale angewiesen. Er hat
ungehindert Zugang zu Supermärkten, Restaurants und Wohnungen, was im ersten
Moment eine Lebensgefahr aus rein physischer Sicht ausschließt. Die dadurch entfallen-
de Sorge um die tägliche Ernährung eliminiert gleichzeitig die einzig existenzielle und
somit strukturgebende Tageskomponente einer Robinsonfigur, die sich nun zwangsläu-
fig intensiver mit ihrer psychischen Konstitution und Situation befassen muss.
Jonas ist überwältigt von der Globalität der Katastrophe und klammert sich beinahe
selbstquälerisch an seinen geregelten Tagesablauf. Durch die sich dem Mann erschlie-
ßende, grenzenlose Mobilität und die entfallende Dringlichkeit einer komplizierten Nah-
rungsbeschaffung besteht für Jonas kein von außen auferlegter Handlungsimperativ.
3.2.2. Die psychischen Überlebensbestrebungen der Protagonistin/des Protagonisten
3.2.2.1. Kontaktversuche: Ersatzfamilie bzw. (Verzweiflungs-)Taten
„Ich hatte ja nur noch die Tiere, und ich fing an, mich als Oberhaupt unserer merkwürdi-
gen Familie zu fühlen.“38
Man könnte sagen, dass mit dem Eintreten der Wand in das Leben der Protagonistin
automatisch ihr Dasein in emotionaler Isolation, das ihr zuvor in gewisser Weise möglich
war, ein rasches Ende findet. Denn von diesem Zeitpunkt an ist sie zu ihrem eigenen
Überleben unweigerlich dazu genötigt, Beziehungen aufzubauen und eine Art Symbiose
mit den zurückgebliebenen Lebewesen einzugehen.
37 Arbeit, S. 22 38 Wand, S.47
19
Mara Stuhlfauth stellt in ihrer Analyse fest, dass „die Eigenschaft der Vernunft […]nicht
dem Menschen, sondern einem Tier, dem Hund Luchs zugeordnet [wird].“39 Die Heldin
selbst begründet darin ihre enge Verbundenheit, die schließlich zu Gunsten beider ist.
Gemeinsam mit ihm formt sie allmählich eine sozial agierende Gruppe aus Gefährten in
Gestalt von (teils) durch sie selbst domestizierten sowie anthropomorphisierten Lebe-
wesen. Am zweiten Tag ihrer Abgeschiedenheit stößt eine trächtige Kuh zu Luchs und
ihr, bald darauf eine Katze. Und so „waren [sie] also zu viert, die Kuh, die Katze Luchs
und [sie]. Luchs stand [ihr immer] am nächsten, er war bald nicht nur [ihr] Hund, son-
dern [ihr] Freund.“40 Die Beziehung besonders zu Bella, der Kuh, ist – durch deren Hilfs-
bedürftigkeit - sehr gespalten: „Ich war der Besitzer und der Gefangene einer Kuh.“41
Hier schildert die Robinsonfigur den durch die übernommene Verantwortung entste-
henden Zwang zur Sesshaftigkeit und die damit verbundene, eingeschränkte Mobilität.
Gleichzeitig ersetzen diese Tiere für die Erzählerin Kommunikations-, sowie Lebens-
partner.
Nur durch die gegenseitige Abhängigkeit kann die Frau Verantwortungsbewusstsein und
Lebenswillen schöpfen, die verhindern, dass sie in Apathie versinkt. Sie meint: „Ich lebe
immer noch gern, aber eines Tages werde ich genug gelebt haben und zufrieden sein,
daß es zu Ende geht.“42 Doch noch „gab [es] keinen Ausweg, denn solange es im Wald
ein Geschöpf gibt, das ich lieben könnte, werde ich es tun; und wenn es einmal wirklich
nichts mehr gibt, werde ich aufhören zu leben.“43 So hält sie die Empathie zu ihren Tie-
ren davon ab, Selbstmord zu begehen.
39 Stuhlfauth, Moderne Robinsonaden, S.52 40 Wand, S.51 41 ebd. S. 33 42 ebd. S.104 43 ebd. S.161
20
„Er stand da, den Kopf gesenkt, und horchte.
Nur Wind.
Die Tiere waren weg.“44
Glavinic macht seine Robinsonfigur nicht nur zum einzig überlebenden Menschen, son-
dern gleich zum letzten Lebewesen auf der Erde, das – anders als Haushofers Roman-
heldin – dazu genötigt ist auch in emotionaler Einsamkeit zu leben; nach Jonas´ Auffas-
sung ist nur noch sein eigenes Ich und kein anderes mehr existent. Überfordert von der
Einsamkeit und dem sich selbst Überlassensein, sucht der Protagonist anfänglich nach
elterlichem Schutz45 und sehnt sich nach seiner Liebe Marie. Er bezieht die Situation
zunächst auf sich und bemüht sich um eine rationale Aufklärung. Kognitiv versucht er
plausible Lösungsansätze für die Entvölkerung der Erde zu finden. Seine Bemühungen
scheitern letztlichen ebenfalls an der Unwahrscheinlichkeit. So muss er die Entführung
der Menschheit durch außerirdisches Leben, die Vernichtung durch atomare Waffen
oder die Zerstörung durch einen Asteroideneinschlag als rational denkender Mensch
ausschließen.46
Jonas selbst verkörpert von nun an das Oberste auf Erden, das heißt, er ist sowohl in
kultureller und politischer, als auch in wirtschaftlicher und religiöser Hinsicht die überle-
gene Instanz, wobei er sich jedoch nicht mit etwas Göttlichem vergleicht. Doch „[a]n
ihm war es nun, das Alte wiederherzustellen.“47
Durch den Entfall der altbekannten Relation von Kultur- und Naturraum, das durch das
Verschwinden der Menschheit in ein Ungleichgewicht kommt, ergibt sich für den letzten
überlebenden Menschen eine nichtgreifbare Bedrohlichkeit sonst so vertrauter Orte –
es steht ihm frei wohin er geht, doch allein ist er überall. Er sucht Schutz an ihm bekann-
ten Orten, die ihm diesen doch nicht bieten können:
44 Arbeit, S.28 45 vgl. ebd. S.15ff 46 vgl. ebd. S. 16 47 ebd. S. 111
21
„Woher es rührte, wußte er nicht. Doch beim Anblick der beiden einsamen Häuser be-
schlich ihn ein vages Gefühl von Furcht. Als sei etwas mit dem Platz nicht in Ordnung. Als
habe etwas nur auf ihn gewartet. Und hätte sich kurz vor seiner Ankunft versteckt.“48
„Ein Auserwählter hatte er sein wollen. Der war er jetzt.“49 Auch der fiktive Autor, der in
personaler Erzählform von Jonas Leben berichtet, lässt dieses als eine minuziös geplante
Versuchsanordnung erscheinen, indem er Jonas zum Objekt seines Gedankenexperi-
ments macht und vermittelt simultan den Eindruck einer, von dritter Hand geplanten,
Erscheinung und bewussten Täuschung der Robinsonfigur. Eben diesen lässt er mehr
und mehr an seiner Existenz und vor allem an seiner Wahrnehmungsfähigkeit zweifeln.
In seinen im Roman beschriebenen Verzweiflungstaten und seiner ernst gemeinten
Reue zeigt sich der eindeutige Wunsch, in die Herkunftsgesellschaft zurückzukehren.
Außerdem sträubt sich Jonas von Beginn an, das Erlebte als Tatsache hinzunehmen und
drückt stattdessen seine Zweifel der illusionären Realität gegenüber in einer, sich ver-
weigernden, Grundhaltung und Skepsis aus. Er wagt Versuche einer transzendentalen
Betrachtung der Situation, das heißt, er bemüht sich, sich selbst, aus der Situation zu
nehmen und diese möglichst objektiv zu betrachten, um die ihm gestellte Aufgabe zu
lösen und Antworten auf all die offenen Fragen zu finden. „Würde er Ende Oktober
noch immer durch diese verlassene Stadt laufen? Was geschah bis dahin? Was geschah
danach?“50 „Wonach suchen?“51 Für ihn hat diese Form der radikalen Isolation nichts
Friedvolles und so scheint der bloße Gedanke an die Absolutheit der Einsamkeit den
Protagonisten in nervösen Aktionismus und eine hektische Suche zu treiben.
Die Dimension der Katastrophe macht eine systematische und vernunftgeleitete Suche
eines einzelnen Überlebenden unmöglich und so treibt die daraus resultierende Erfolg-
losigkeit Jonas in Verzweiflung und hektischen Aktionismus. Seine Suche wird immer
willkürlicher und beschränkt sich nicht mehr nur auf die Klärung der existentiellen Frage.
Die Robinsonfigur beginnt nach kleinen Hinweisen auf den Verbleib der Menschheit zu
suchen. Doch eigentlich „wusste [Jonas] nicht einmal, was er wissen wollte. Sicher, er
48 Arbeit, S.251 49 ebd. S. 94 50 ebd. S. 162 51 ebd. S. 58
22
wollte erfahren, wohin die Menschen verschwunden waren. Aber wie sollte so ein Hin-
weis aussehen?“52 So zeigt er sich von der geregelten Ordnung in der doch so verkehr-
ten Welt irritiert und versucht alles, um diese zu zerstören. Er möchte Erinnerungen an
die frühere Welt neu gewinnen, um so handfeste Vergleiche ziehen zu können. Seine
Bestrebungen, sich durch das Tragen einer Waffe vor der dystopischen Realität und dem
unsichtbaren ‚Feind‘ zu schützen, scheitern kläglich und erinnern viel mehr an das Mus-
ter eines Amoklaufes. Es scheint, als ob es „der Aufstand eines einzelnen Menschen ge-
gen die schreiende Ungerechtigkeit, von allen verlassen worden zu sein, […]“53 ist. Zum
einen ist es die permanente Furcht vor dem Auftauchen des nicht zu definierenden Ge-
genübers, zum anderen die Ambition eine Reaktion zu provozieren.54 Jonas´ Schreien
um Hilfe drückt sich auch besonders in den verzweifelten Kontaktversuchen aus. Er hin-
terlässt die eigenen Kontaktdaten, hoffend, dass so jemand von seiner Existenz erfährt.
Dabei nutzt er die uneingeschränkte Handlungsfreiheit, die ihm der objektleere Raum
bietet: „Die Sezession umwickelte er so dicht mit schwarzem Klebeband, daß man es für
ein Werk von Christo halten konnte. Mit der Dose eines Grafittomalers sprayte er Tele-
fonnummer und Name in grellem Gelb auf das Band.“55
Trotz seiner umfangreichen Kommunikationsversuche und dem Hinterlassen von Nach-
richten in Form seiner Kontaktadresse, Hilfe-Botschaften an öffentlichen Orten wie dem
Heldenplatz oder dem Donauturm, Kontaktaufnahme via Radio, etc. bleibt er in den 47
Tagen seiner Isolation einsam.
3.2.2.2. Kontrollversuche der Ich-Auflösung bzw. des Ich Zerfalls
„In jenem Sommer vergaß ich ganz, daß Luchs ein Hund war und ich ein Mensch. Ich
wußte es, aber es hatte jede trennende Bedeutung verloren...“56
Der postapokalyptische Raum in all seiner Leere bietet den Rahmen, Werte wie Mensch-
lichkeit und Identität neu zu diskutieren. Der geistig-soziale Entwicklungsstand der
Menschheit ist in DIE WAND lediglich durch ein einzelnes Individuum konserviert, wobei
die kulturellen Erfahrungen der Protagonistin aus ihrem früheren Leben nur einen klei-
52 Arbeit, S. 58 53 Stuhlfauth, Moderne Robinsonaden, S.81 54 vgl. ebd. S. 81 55 Arbeit, S. 57 56 Wand, S.265
23
nen Teil der ethnischen Vielfalt der Welt vor dem Ereignis Wand widerspiegeln. Die Ver-
gangenheit wird von Haushofer als ein verlorengegangener Idealzustand beschrieben,
den es mit einigen Abstrichen wieder zu erreichen gilt. Die Sublimierung dessen bleibt
der Frau allein überlassen. Dabei ist die Konzentration auf Existentielles richtungswei-
send und die Solidarisierung mit den Tieren hinter der Wand notwendig, wobei sie ihre
menschliche Herkunft nicht vergessen darf:
„Ich bin […] immer noch ein Mensch, der denkt und fühlt, und ich werde mir beides
nicht abgewöhnen könne. Deshalb sitze ich hier und schreibe alles auf, was geschehen
ist, […] Es kommt nur darauf an zu schreiben, und da es keine anderen Gespräche mehr
gibt, muß ich das endlose Selbstgespräch in Gang halten.“57
Die Ich-Erzählerin verfasst den Bericht, um den Mord an ihren Tieren zu verarbeiten,
der, durch die nunmehr komplett fehlende Kommunikation, eine dramatische Ich-
Gefährdung der Protagonistin darstellt. Durch das Schreiben, das in dieser einer Schock-
starre ähnlichen Situation für die Frau das letzte Mittel zum Ausdruck darstellt, versucht
sie sich ihrer eigenen, noch bestehenden Existenz zu vergewissern. Es ist also das letzte,
rein menschliche, kulturelle Relikt, das durch das Eintreten der Wand in das Leben der
Frau, für diese nicht an Wert verloren, sondern gewonnen hat. Denn die Relevanz von
Zeit, gesellschaftlicher Identität oder Fortschritt sind in ihrem neuen Leben an nichts
mehr mess- beziehungsweise realisierbar und verlieren dadurch an Einfluss. Anfangs
„nahm [sie sich] auch fest vor, täglich die Uhren aufzuziehen und einen Tag vom Kalen-
der abzustreichen. Das schien [ihr] damals sehr wichtig, [sie] klammerte [sich] geradezu
an die spärlichen Reste menschlicher Ordnung, die [ihr] geblieben waren.“58 Doch ir-
gendwann, als die Uhren längst stehen geblieben sind, gelangt sie zu der Feststellung:
„Man müßte mir dafür dankbar sein, aber niemand wird nach meinem Tod wissen, daß
ich die Zeit ermordet habe.“59
57 Wand, S.211f 58 ebd. S.43f 59 ebd. S.237
24
So kann man folgern, dass sollten die in der Jagdhütte angelegten Papiervorräte zu Ende
gehen, auch ihr menschliches Dasein endet. Doch „[…] es kümmert [sie] nicht, ob die
Mäuse die Aufzeichnungen [nach ihrem Tod] fressen werden, oder nicht.“60
Die Robinsonfigur ist ab dem Momentum Wand dazu genötigt in „schreckliche[r] Stil-
le“61 zu leben, die sich ihr als Folge der Einsamkeit darstellt. Sie ist dazu gezwungen, den
Rhythmus der Natur zu adaptieren, da die Leere, die das Verschwinden der Menschheit
mit sich bringt, nur von Geräuschen des Waldes unterbrochen werden kann. Indem sich
die Ich-Erzählerin immer mehr an ihr neues Umfeld anpasst, lässt sie sich immer stärker
von diesem einverleiben, was ausschließlich durch die Überwindung der eigenen Indivi-
dualität möglich sein und der Akzeptanz des eigenen Seins inmitten gleichsam wie als
Teil eines naturhaften Prozesses basieren kann.62 Doch bedroht diese „Entgrenzung“ als
ein fortwährend schleichender Prozess die Entwicklung des einzelnen, unabhängigen
Lebewesens und begünstigt dessen Ich-Auflösung:
„Nicht daß ich fürchtete, ein Tier zu werden, das wäre nicht sehr schlimm, aber
ein Mensch kann niemals ein Tier werden, er stürzt am Tier vorüber in einen Ab-
grund. Ich will nicht, daß mir dies zustößt. […] diese Angst läßt mich meinen Be-
richt schreiben. […] Ich werde alles tun, um dieser Verwandlung zu entgehen,
[…]“63
Die Verwandlung, von der die Frau hier spricht, spiegelt den Grad ihrer Auflösung wider
und allmählich geschieht, was sie doch von Beginn an zu verhindern wollte:
Es war „[…] als fange der Wald an, in mir Wurzeln zu schlagen und mit meinem
Hirn seine alten, ewigen Gedanken zu denken. Und der will nicht, daß die Men-
schen zurückkommen. […] Es fällt mir schwer, beim Schreiben mein früheres und
mein neues Ich auseinanderzuhalten, mein neues Ich, von dem ich nicht sicher
60 Wand, S. 212 61 ebd. S. 89 62 vgl. Kaiser, „Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang“, S.229 63 Wand, S.44
25
bin, daß es nicht langsam von einem größeren Wir aufgesogen wird. Aber schon
damals bahnte die Verwandlung sich an.“64
Haushofer verleiht dem Identitätsschwund weiters durch die „Verweigerungshaltung
[der Protagonistin] gegenüber [...] kulturellen Konvention[en]“65 Ausdruck. So meint
diese in ihrem Bericht einmal: „Es fällt mir auf, daß ich meinen Namen nicht niederge-
schrieben habe. Ich hatte ihn schon fast vergessen, und dabei soll es auch bleiben.“ Na-
menlosigkeit fungiert hier also als Werkzeug zur Demontage einer Persönlichkeit und
begünstigt den Identitätsverlust, und somit unweigerlich auch die Ich-Auflösung eines
Menschen.
Dieser Verfall drückt sich bei der Heldin jedoch nicht nur psychisch sondern ebenso phy-
sisch mit der Veränderung ihrer Gesichtszüge und dem Verlust ihrer weiblichen Züge als
Folge der harten, körperlichen Arbeit aus. Sie verliert gleichzeitig ein stückweit ihre se-
xuelle Identität und entfremdet sich von ihrem eigenen Körper: „Die Fraulichkeit […] war
von mir abgefallen […]. Gleichzeitig kam mir das Bewußtsein abhanden, eine Frau zu
sein. […] Ich konnte ruhig vergessen, dass ich eine Frau war.“66 So wie sich die Erzählerin
hier bewusst von ihrer früheren Identität als Frau löst, so zieht sie auch bewusst eine
Grenze - zeitlich wie räumlich – zwischen sich als Teil ihrer alten Gesellschaft, und sich
als Robinson in der Utopie Niemandsland. Das Abstecken der „gläsernen“ Wand mit
Haselzweigen „verdeutlicht die äußere Projektion einer inneren Abkapselung in Bezug
auf das bisherige Leben der Ich-Erzählerin.“67
Mit sinkender Ich-Stabilität schwinden auch der Überlebenswillen und gleichzeitig die
Hoffnung auf Rettung. So „[…]spür[t sie], daß die Hoffnung in [ihr] abgestorben ist. Es
macht [ihr] Angst. [Sie] weiß nicht, ob [sie] es ertragen [wird], nur noch mit der Wirk-
lichkeit zu leben.“68 So überkommt sie bald „[ein] wilde[s] Verlangen [...], nachzugeben
64 Wand, S.185 65 Stuhlfauth, Moderne Robinsonaden, S.35 66 Wand, S. 82 67 Kaiser, „Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang“, S. 225f 68 Wand, S. 211
26
und den Dingen ihren Lauf zu lassen. [Sie] war müde geworden, immer weiterzufliehen,
und wollte [sich] stellen.“69
„Für den Bruchteil einer Sekunde war da ein scharfer Blick aus dem Auge des Schläfers.
Ohne ein Zeichen von Schlaftrunkenheit blickte er in die Kamera. Das Auge schloß sich
wieder.“70
Auch in DIE ARBEIT DER NACHT verursacht die Entmaterialisierung der Menschheit eine
unheimliche Leere auf der Welt, die es für den Protagonisten neu auszugestalten gilt.
Diese unendliche Weite des menschenleeren Raums muss durch die Robinsonfigur erst
neu erkundet und „verifiziert“ werden, um eine Erklärung für das Geschehene zu finden.
Die Erwägung, sein Leben sei ein (Alp-)Traum, ist die einzige Option, die das Phänomen
der Entvölkerung realisierbar erscheinen lässt.
Die Isolationssituation birgt für die Robinsonfigur gleich zwei Bedrohungen: das apoka-
lyptische Szenario der Isolation als externe Gefährdung ihrer Existenz (denn die Jonas
umgebende Bewegungslosigkeit steht in enger Verbindung mit seiner Vorstellung des
Todes) und die Spaltung des Ichs als interne. Dieses Spannungsfeld führt im weiteren
Verlauf zum Verlust vollständigen Urteilsvermögens. Durch den fortschreitenden Pro-
zess einer Identitätsbewusstlosigkeit sieht Jonas sich zum Handeln gezwungen und nutzt
das Filmen als Mittel, seine obskuren Sinneseindrücke festzuhalten und zur Kontrolle
über die Realität.
Um eben diesem Zustand zu entgehen, schafft sich Jonas unterbewusst ein Gegenüber,
das durch die Teilung seiner selbst entsteht. Es ist ein Gegenüber, das rein aus ihm ge-
kommen ist, nur in ihm aufgehen und allein durch ihn wieder vergehen kann. Diese Ich-
Abspaltung in ein Doppel-Ich des Protagonisten wird schon sehr früh im Roman ersicht-
lich und findet bei Jonas vornehmlich auf emotionaler Ebene Ausdruck: „Steif stand er
da. Unfähig, sich umzudrehen. Er hatte das Gefühl, es sei jemand da, zugleich wußte er,
daß niemand da war. Und ihn quälte der Gedanke, daß beides stimmte.“71 Dieses omni-
69 Wand, S.132 70 Arbeit, S.105 71 ebd. S. 45
27
präsente Alter-Ego des Romanhelden wird mit voranschreitender Romanhandlung als
„nachtaktiver Schläfer“ identifiziert. Hierbei bedient sich Glavinic eines alten Motivs der
Literatur, dem Doppelgängermotiv. Diese literarische Tradition entspringt der Vorstel-
lung, dass die Spaltung des individuellen Seins in Gestalt einer sich entzweienden Psyche
vollzogen wird. Die Ambivalenz von Tag und Nacht, von Traum und Wachzustand und
dem Schlafwandeln als Zwischenstadium begünstigen zusätzlich die Separierung der Ich-
Identität des Protagonisten. Den dadurch entstehenden seelischen Dualismus baut der
Autor dahingehend aus, dass er „sich auf die Korrelation und Kommunikationsform zwi-
schen den beiden Ichs seiner Hauptfigur Jonas konzentriert […]“,72 wie Mara Stuhlfauth
es in ihrer Arbeit konstatiert – das Filmen wird zum Medium der Kontaktaufnahme.
In den vom Schläfer angefertigten Filmaufnahmen stellt sich Jonas selbst als Objekt dar
und macht den handelnden Schläfer zum Impulsgeber. Dieser setzt Jonas´ visuelle
Träume in aktive Handlungen um und verzerrt so das Bild zwischen passivem Zustand
und aktiver Handlung. Er kann als Versinnbildlichung Jonas´ Alpträume gesehen werden
und steht dessen innigstem Wunsch – ein letztes Mal noch an den Ort zu gelangen, an
dem seine große Liebe Marie weilte, als die Menschheitskatastrophe hereinbrach –
konträr gegenüber. Der Schläfer möchte Jonas nachts davon abhalten, an sein Ziel zu
gelangen. Anfangs noch in Form harmloser Manipulationsversuche, wobei er etwa die
Reifen des Motorrads aufschlitzt, um den Protagonisten so an seinem Fortkommen zu
hindern. Je näher Jonas jedoch seiner Destination kommt, desto aggressiver scheinen
die Taten des Schläfers zu werden, bis allmählich das Leben des Romanhelden ernsthaft
bedroht ist. So stellt sich seine Reise als ein perfekt inszenierter Kampf zwischen Tag-
und Nacht-Ich dar, bei dem die Grenze zwischen den beiden zu verschwimmen droht.
Jonas dokumentiert also durch das Filmen im Grunde nichts anderes als das Resultat
seines eigenen Ich-Zerfalls:
„Er mußte daran denken, daß die Kamera in diesem Moment ihn filmte. Ihn, und nicht
den Schläfer. Würde er beim Ansehen den Unterschied bemerken? Würde er sich erin-
nern? […] `Ich bin es, nicht der Schläfer!´“73
72 Stuhlfauth, Moderne Robinsonaden, S.93 73 Arbeit, S. 260
28
Auch Jonas´ Angst bekommt einen Namen: das Wolfsvieh, das hinter jeder Ecke, hinter
jedem Baum und in jedem Raum auf ihn wartet. Es bestimmt auf unangenehme Art und
Weise seinen Tagesinhalt und schränkt seinen Handlungsraum gewaltig ein, indem es
omnipräsent über allem zu schweben scheint. „Seine Gedanken gehorchten [Jonas] seit
Stunden nicht mehr […] Das Wolfsvieh erschien in ihnen, und er konnte es nicht verja-
gen.“74 Dieses Mischwesen aus Wolf und Bär75 taucht in insgesamt elf Träumen des Pro-
tagonisten auf und repräsentiert auf mehreren Ebenen dessen Isolation. Es ist das Sinn-
bild eines Monsters kindlicher Träume. Dieses „Vieh“76 verfolgt Jonas jedoch nicht nur
nachts in seine Träumen, sondern auch auf seiner Reise durch Österreich, durch Europa
und England. Es wirkt, als sei es ein Diener des Schläfers, der den Protagonisten so auch
tagsüber beeinflusst und zu unterdrücken versucht; es wirkt, als hätte es sich in die Psy-
che der Robinsonfigur eingenistet: „In diesem Moment wußte er, daß an diesem Tag das
Wolfsvieh kommen würde. […] Groß, unaufhaltsam, unpersönlich. Unüberwindlich.“77
Am Ende verliert Jonas jedoch den erbitterten Wettstreit, denn gegen die Leere und das
Nichts ist auch er wehrlos und kommt schließlich zu dem Fazit, dass „er […] es nicht [er-
trug], der Nacht bei ihrer Arbeit zuzusehen.“78
3.2.2.3. Die Zementierung der Isolation – Das Ende des utopischen Spiels
„Ich werde alles so genau aufschreiben, wie es mir möglich ist. Aber ich weiß nicht ein-
mal, ob heute wirklich der fünfte November ist […], und ich fürchte, daß sich in meiner
Erinnerung vieles anders ausnimmt, als ich es wirklich erlebte.“79
DIE WAND stellt ein Lebenskonzept in einem utopisch anmutendem Raum dar, in dem es
keine (menschliche) geschlechtliche Spannung zu geben scheint, da bis zu dem Eindrin-
gen des Menschenmannes eine doch „heile Welt“ beschrieben wird. Durch das Eindrin-
gen wird das neue, durch die Frau aufgebaute Wertesystem gänzlich erschüttert und es
kommt zu einer traumatischen Desillusionierung. Man könnte sagen, der Mann entlarvt
das Gedanken- und Sozialisationsexperiment Wand als solches und enttarnt diese Uto-
74 Arbeit, S. 271 75 vgl. ebd. S.191 76 vgl. ebd. S.282 77 ebd. S. 269 78 ebd. S. 256 79 Wand, S. 7
29
pie als naiven Lebensentwurf und die angestrebte Verschmelzung von Mensch und Na-
tur als eine rein fiktive Bestrebung der Robinsonfigur.
Der Menschenmann repräsentiert alles Schlechte der Menschheit und dient Haushofer,
Gesellschaftskritik zu üben. Es ist die fehlende Lieblosigkeit und Liebenswürdigkeit, die
die Erzählerin immer wieder aufbringt und von der sie sich durch die Abgrenzung vom
Mann zu erholen versucht. Die Tiere werden dem Mann als eindeutiges Pendant entge-
gengestellt.
Ein weiteres wichtiges Motiv des Utopischen Spiels ist die Zeitenthobenheit, in der sich
die Frau in jenem Raum befindet. Es ist die sukzessive „Demontage der Messbarkeit der
Zeit“, wie Mara Stuhlfauth es in ihrer Arbeit betitelt, die den Kosmos hinter der Wand
als fiktiven Kunststaat ohne gebräuchliche Konventionen darstellt; denn Zeit ist – unab-
hängig von einem Tag-Nacht-Rhythmus – eine rein durch den Menschen fingierte, geis-
tige Konstruktion. Dem zu Folge entwickelt die Protagonistin die These, dass „[w]enn die
Zeit […] nur in [ihrem] Kopf existiert und [sie] der letzte Mensch [ist], wird sie mit [ih-
rem] Tod enden. […] [Sie hat] es vielleicht in der Hand, die Zeit zu ermorden.“80 Auch mit
dem Mord an dem Menschenmann, raubt die Protagonistin der Zeit an Bedeutung.
Denn ohne ein Gegenüber verliert diese auch für die Erzählerin an Notwendigkeit und
somit an Einfluss.
Um das Verhältnis zwischen Realität und Fiktion nachvollziehbar zu machen, muss ent-
schieden werden, wer in dem Fall von DIE WAND die Utopistin ist: Die Romanfigur selbst,
die sich ihres Einflusses bewusst ist, oder die Autorin, Marlen Haushofer, die dieses Spiel
im Zuge ihrer Arbeit als Schriftstellerin kreiert. Gina Kaiser fasst dies unter dem Begriff
„dualistische Konzeption“ zusammen, die nur in einem utopischen Raum überhaupt erst
möglich ist.
80 Wand, S. 237
30
„Schon immer hatte er sich vorgestellt, man könne durch Langsamkeit sterben. Indem
man die Ausführung einer […] Handlung zeitlich dehnte – ins `Unendliche´ oder eben
doch Endliche: weil man in diesem Dehnen und Ausdehnen diese Welt verließ.“81
„Verschiedene Konstanten der Wahrnehmung, wie Raum, Materie, Luft, Zeit, schienen
sich miteinander zu verbinden. Alles floß ineinander. Wurde zäh.“82
Während des gesamten Romans bemüht sich der Protagonist um eine objektive Be-
trachtung der Situation auf der Metaebene83. Es ist dabei so, dass Jonas sich selbst sein
Sein anhand seiner Existenz erklären möchte. Durch die hier – wie später ersichtlich
wird - vorliegende Aporie84 stößt er jedoch an die Grenzen menschlicher Vernunft und
damit an die Grenzen des Vorstellbaren. Mara Stuhlfauth stellt fest, dass „Jonas´ Ge-
schichte am Ende des Romans DIE ARBEIT DER NACHT als Gedankenexperiment eines Au-
tors entlarvt [wird].“85 Auch Jonas selbst erschließt sich dieses mit ihm getriebene Uto-
pische Spiel, an dessen Spitze ein Utopist als göttliche Figur86 steht, der er selbst nicht
sein kann, gegen Ende der Erzählung:
Da die von Jonas erhoffte Erlösung auch mit dem Auffinden Maries Habseligkeiten nicht
eintritt, sieht er den eigenen Freitod als einzig verbleibenden Ausweg aus der Utopie. So
ist er in den letzten Kapiteln seines Lebens mit der Inszenierung seines Abschieds be-
schäftigt und zelebriert diesen in Form einer Gedenkfeier auf dem Heldenplatz. Wie
schon zu Beginn, stößt der Protagonist auch bei den Vorbereitung auf seinen Selbst-
mord auf die fundamentalen Fragen seiner Existenz und hinterfragt sein Handeln: „[…]
war es gar nicht sein freier Wille? […] wurden seine Handlungen von jemand anderem
bestimmt?“87 So ist es im Grunde genommen für den Leser/die Leserin auch nicht über-
raschend, weshalb es den Romanhelden auf seiner Abschiedsrundfahrt durch Wien aus-
gerechnet in die Wohnung eines Schriftstellers treibt. An dieser Stelle wird klar, dass
81 Arbeit, S. 49 82 ebd. S. 90f 83 Anm.: Metaebene [vgl. Metaphilosophie]: übergeordnete Ebene oder Perspektive; in dem hier ange- führten Zusammenhang bezieht sie sich auf die Sichtweise, die der Protagonist versucht einzunehmen. Indem er selbst von sich als Maß ausgeht, sich also als Referenz nimmt, übt er Selbstreferentialität. 84 Anm.: Aporie [griech.]: logische Schwierigkeit, Unerreichbarkeit; Unmöglichkeit etwas zu klären auf- grund der Widersprüchen der Sache selbst 85 Stuhlfauth, Moderne Robinsonaden, S.111 86 Anm.: Der Begriff „göttliche Figur“ wird keinem spezifischen religiösen Kontext zugeordnet, als viel mehr als Bezeichnung etwas Überirdischen verstanden. 87 Arbeit, S. 64
31
sich der Autor des Romans, Thomas Glavinic, in der Rolle des Beobachters und Erzählers
dieser Robinsongeschichte befindet, da eindeutige Parallelen gezogen und Andeutungen
auf die reale Person Glavinic gemacht werden.88 Hierbei eröffnet sich dem Leser/der
Leserin eine Perspektive, in der Jonas auch innerhalb der Romanwelt eine Romanfigur
ist und das dichterische Vorgehen selbst das eigentliche Thema des Buches ist. So erge-
ben sich zwei unterschiedliche Lesearten: die Robinsonade als erdachte Erzählung oder
ein Gedankenexperiment eines fiktiven Autors/ Glavinic´.89
Nachdem Jonas diese eine letzte Frage für sich zufriedenstellend geklärt und begriffen
hatte, nachdem er sich in England noch ein einziges Mal Marie nahe gefühlt und nach-
dem er die Zusammenhänge seines Doppelgängers verstanden hatte, ist er bereit zu
sterben. Zurück auf dem Heldenplatz gleicht seine Inszenierung einer Kinovorführung.
Wichtig hierbei sind die zwei Filmaufnahmen, die er am selben Tag noch aufgezeichnet
hatte. Mithilfe derer versucht er, die Fiktionalität seiner Realität ein letztes Mal zu ver-
anschaulichen:
In dem einen Video vereint er durch Filmen des Schlafzimmerspiegels seinen eigenen
Wahrnehmungsbereich, also den Bereich hinter der Kamera mit dem Wirkungsbereich
des Schläfers, dem Bett. Beide Seiten – Realität und Traum – werden somit zeitgleich
eingefangen und die Spiegelfechterei der „Ichs“ als Sinnestäuschung entlarvt. „[D]ie
Blicke [des Schläfers und Jonas´] trafen“90 sich im Spiegel; genauso im Video. Durch das
zweite Videoband, auf dem eine Kommode durch ein Schlüsselloch gefilmt wird, wird
der Robinsonfigur Einblick in einen verschlossenen Raum gewehrt. Die Tür stellt sich ihr
als Grenze zwischen Fiktion und Realität dar, denn obwohl „für das Zimmer […] niemand
da“ war, existierte es und so war es für Jonas, als sähe er, „was in einem Buch geschah,
wenn es zugeschlagen war.“91
Durch diese Aufnahmen, aber besonders durch den eben zitierten letzten Satz, erklärt
der Romanheld um ein weiteres Stück seine Daseinsfrage. Der letzte Weg seiner Reise
ist jener zum Stephansdom. In vollem Bewusstsein seiner eigenen Fiktionalität begibt er
88 vgl. Arbeit, S. 375 89 vgl. Stuhlfauth, Moderne Robinsonaden, S.111 90 Arbeit, S. 279 91 ebd. S. 112
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sich auf die Spitze des Glockenturms und blickt ein letztes Mal über die Stadt, in der er
Zeit seines Lebens gewohnt hatte.
„Er klemmte sich den Koffer [gefüllt mit all den materiellen Dinge, die von seiner Exis-
tenz und seiner Geschichte zeugen sollten] zwischen die Beine. […] Er dachte an Marie.
Er kippte. Nach vorne. Langsam. Immer langsamer. Kippte er. […] Er sah ein Buch vor
sich, es kam auf ihn zu. Drang in ihn ein. Er nahm es auf. Ein Buch. Wurde geschrieben,
wurde gedruckt. […] Da war es. Ein Buch. Ein Leben im Regal, Leben in sich bergend.“92
Mit dem Sturz vom Stephansdom ist Jonas Schicksal als Held eines Romans besiegelt,
denn „[e]r fiel. Und schien sich doch nicht zu bewegen.“93 Die letzten Zeilen seines Le-
bens sind geschrieben, Raum und Zeit fließen ineinander über; werden eines. Der Erzäh-
ler distanziert sich hier mehr und mehr von der Figur Jonas, bis die Schilderung der eines
Autors gleicht, der über sein Schaffen berichtet. Es ist der Übergang Jonas´ in die Unend-
lichkeit eines Buches.
92 Arbeit, S. 391ff 93 ebd. S. 393
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4. Abschließender Vergleich
Die inhaltliche Analyse der beiden Robinsonaden DIE WAND und DIE ARBEIT DER NACHT
hat gezeigt, dass ein isolierter Bereich sowohl als Zufluchtsort als auch als Raum zur in-
dividuellen Entfaltung und Verwirklichung dienen kann. Er bietet quasi innere Freiheit,
indem er die äußere einschränkt; er zeigt dem Menschen Grenzen auf und kann doch
durch endlose Weite überfordern. Die Katastropheninitiation bleibt meist ungeklärt und
die Robinsonfigur wird vor eine vollendete Tatsache gestellt. Da jeglicher Bezug zu einer
noch intakten Außenwelt fehlt, ist die eingetretene Situation ein allgemeingültiges, glo-
bales Ereignis.
Im Zentrum einer Robinsonade steht die individuelle Ich-Entwicklung der Robinsonfigur
in jener Extremsituation. Sie ist mit der Entwicklung des verbleibenden (Natur-) Raumes
und der darin durch ein einzelnes Individuum repräsentierten Gesellschaft gleichzuset-
zen. Die subjektive Realität der Hauptfigur ist die einzig erhaltene und somit existente
Lebenswahrheit.
Der Kampf um die eigene Existenz in solch einer Situation beruht auf der Stabilität zwei-
er Säulen – den psychischen sowie den physischen Überlebensbemühungen der Robin-
sonfigur. Diese korrelieren eng miteinander und übernehmen eine stark sinnstiftende
sowie strukturierende Rolle in einer Welt, die frei von Einfluss jeglicher äußerer Werte
ist; einer Welt, in der die Protagonistin in DIE WAND, die Verantwortung über einen Mik-
rokosmos, der Protagonist in DIE ARBEIT DER NACHT jene über die menschenleere Welt
übernehmen muss, ohne dass sich ihr/ihm zeitlich abgegrenzte beziehunsgsweise zu
erreichende Ziele oder Perspektiven bieten. Wird ihnen auch nur eine dieser zwei Stüt-
zen entzogen und ist es somit nicht mehr möglich, in jenem Spannungsfeld zu existieren,
bedroht dies ihr Überleben.
Bei der Betrachtung des physischen Überlebenskampfes ist vor allem der Mobilitätsfak-
tor ein wesentlicher: Haushofers Ich-Erzählerin ist gefangen in der Enge des von der
Wand abgegrenzten Bergabschnitts und so ist auch die Versorgung mit Lebensmitteln
auf die Erträge dieses Ortes und die Erzeugnisse seiner Bewohner beschränkt. Im Ge-
gensatz dazu steht die Isolation Glavinic´ Protagonisten in einem großstädtischen Be-
reich, der sich später als global herausstellt. Er wiederum genießt durch die Weite freien
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Zugang zu jeglicher Versorgungsmöglichkeit und bleibt damit von Umweltfaktoren un-
abhängig. Dadurch verliert er jedoch gleichzeitig ein wichtiges strukturgebendes Merk-
mal, was wiederum eine intensivere Auseinandersetzung mit der psychischen Situation
mit sich bringt. Die enge Verwobenheit der körperlichen mit der mentalen Konstitution
zeigt sich auch darin, dass die Topografie und die mit dem jeweiligen Ort verbundenen
Erinnerungen maßgeblich an der emotionalen Stimmung der Robinsonfigur partizipie-
ren: So war es Haushofers Romanfigur nach dem Tod ihrer Tiere auf der Alm beispiels-
weise nicht mehr möglich, dorthin zurückzukehren, was ihre Mobilität und somit ihre
physische Freiheit weiter einschränkt.
Das Bestehen als Robinsonfigur in einem Kunststaat ist eine Gradwanderung zwischen
Leben im Wahn und Tod aus Verzweiflung. Der utopische Raum bietet den Figuren wei-
testgehenden Handlungsspielraum, um theoretisch Werte neu zu diskutieren und die
Fehler ihrer Herkunftsgesellschaft zu vermeiden. So konzentriert sich Haushofers Heldin
vor allem auf ihr physisches Überleben, nimmt die Situation ohne gröbere Versuche
auszubrechen hin und passt sich dem Rhythmus ihres neuen Umfelds an. Dementspre-
chend gestaltet sich auch der Ausgang in Form eines offenen Endes, wobei der Bericht-
verfasserin nach dem Mord an dem scheinbar letzten Mann das Weiterleben durchaus
zuzutrauen, es aber nicht sonderlich wahrscheinlich ist. Glavinic hingegen macht seine
Hauptfigur zu einem hektischen Einzelkämpfer und erfindet eine mögliche Auflösung
der unrealistischen Isolationssituation einer Robinsonade in Form eines fiktiven Erzäh-
lers, gegen den sich der Held durch seinen eigenen Selbstmord wendet und das Utopi-
sche Spiel beendet.
Durch die Analyse der zwei in dieser Arbeit behandelten Romane wird ersichtlich, dass
der Robinsonstoff eine unglaublich große Variationsmöglichkeit des literarischen Motivs
Isolation zulässt und es doch in einen bestimmten strukturellen Rahmen eingebettet
bleibt. Nimmt man nun die Erfüllung des Motivs Aussterben des Menschengeschlechts
als alleiniges Merkmal der modernen Robinsonade an, so kann man konstatieren, dass
es sich sowohl bei DIE WAND als auch bei DIE ARBEIT DER NACHT tatsächlich um eben diese
sich von der klassischen Robinsonade unterscheidende literarische Gattung handelt.
Glavinic knüpft in DIE ARBEIT DER NACHT mit einem Mann als Robinsonfigur an das histo-
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rische Vorbild der klassischen Robinsonade an. Indem jedoch Marlen Haushofer eine
Frau zur letzten Überlebenden macht (ihr Werk wird deshalb oftmals als weibliche Uto-
pie gehandelt), zeigt sich, dass das Robinson-Motiv nicht rein männlich auszugestalten
ist.
Eine Schwierigkeit, die sich beim Schreiben dieser Arbeit aufgetan hat, ist die enge Ver-
wobenheit des literarischen Stoffs mit dem philosophischen Konzept (Anti-)Utopie. Be-
sonders spannend, aber kompliziert hat sich somit die Entscheidung gestaltet, wer in
einer Robinsonade der (Anti-) Utopist/die (Anti-)Utopistin sei. Da die Nicht-Existenz ei-
nes Ortes Voraussetzung diese Konzepts ist, ist es schwer eine Aussage darüber zu tref-
fen, ob in den behandelten Romanen der Protagonist/die Protagonistin die Realität neu
entwirft, oder ob es die reine Fiktion eines fiktiven Schriftstellers, oder die des Au-
tors/der Autorin ist. Wirklich entschieden kann dieses Problemfeld jedoch niemals wer-
den, da es der literarischen/philosophischen (Anti-)Utopie unrecht täte, diese anhand
der Fiktionalität von Literatur zu messen.
Interessant wären also eine philosophische Erörterung dieser Thematik sowie die Erar-
beitung möglicher Unterscheidungskriterien von passiver Isolation zu aktiver Isolierung
im Kontext einer Robinsonade.
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Literaturverzeichnis
Primärliteratur:
Glavinic, Thomas: Die Arbeit der Nacht. 3.Auflage. München: Deutscher Taschenbuch
Verlag GmbH & Co. KG, 2011
Haushofer, Marlen: Die Wand. 17.Auflage. Berlin: List Verlag der Ullstein Buchverlage
GmbH,2012
Sekundärliteratur:
Stuhlfauth, Mara: Moderne Robinsonaden. Eine gattungstypologische Untersuchung
am Beispiel von Marlen Haushofers Die Wand und Thomas Glavinic Die Arbeit
der Nacht. 1.Auflage. Würzburg: Ergon-Verlag GmbH, 2011
Kohler, Monika: Das Symbol „Wand“ in Werken Marlen Haushofers/ Monika Kohler. –
2002
Strigl, Daniela: „Wahrscheinlich bin ich verrückt…“. Marlen Haushofer – die Biographie.
4.Auflage. Berlin: List Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH,2012
Kaiser, Gina: „Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang“: Arno Schmidts „Schwarze
Spiegel“, Marlen Haushofers „Die Wand“, Herbert Rosendorfers „Großes Solo für
Anton“ und ein Konzept der postapokalyptischen Robinsonade im 20. Jahrhun-
dert. München: September 2011. Als Download: http://d-
nb.info/1025821998/34 (Zugriff:28.06.2014)
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Selbstständigkeitserklärung
Name: Laura Widerhofer
Selbstständigkeitserklärung
Ich erkläre, dass ich diese vorwissenschaftliche Arbeit eigenständig angefertigt und nur
die im Literaturverzeichnis angeführten Quellen und Hilfsmittel benutzt habe.
__________________ ___________________
Ort, Datum Unterschrift
Zustimmung zur Aufstellung in der Schulbibliothek
Ich gebe mein Einverständnis, dass ein Exemplar meiner vorwissenschaftlichen Arbeit in
der
Schulbibliothek meiner Schule aufgestellt wird.
__________________ ___________________
Ort, Datum Unterschrift
Stockerau, am 10.02.2015
Stockerau, am 10.02.2015
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Ich fürchte mich auch heute noch, weil ich weiß, dass ich nur leben kann, wenn ich ge-
wisse Dinge nicht begreife.94
94 Wand, S.109