1 Thorsten Gromes Vorlesung Ordnungen des Politischen 7. Mai 2010 Vergleichende Politikwissenschaft...

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Thorsten Gromes

VorlesungOrdnungen des Politischen

7. Mai 2010

Vergleichende Politikwissenschaft I:

Demokratie und ihre Messung, Demokratietypen

2

Meine Sprechzeiten

Donnerstag, 10h-12h

Donnerstag, 16h-18h

Freitag, 09h-12h

Lehrgebäude 1, Raum 243

3

Fallorientierte Studien

Fall

• Ausgangspunkt der Studie,

• interessiert als Ganzer,

• wird in großer Komplexität untersucht

4

Variablenorientierte Studien

• Ausgangspunkt Theorie,

• nur Teilaspekte eines Falls interessant,

• Ziel: möglichst knappe Generalisierungen

5

Rationale Wahl

1. Soziale Phänomene lassen sich auf individuelle

Handlungen zurückführen.

2. Individuelle Handlungen resultieren aus rationalen

Entscheidungen.

3. Bei den Entscheidungen wägt der Akteur Kosten und

Nutzen seiner Handlungsoptionen ab.

4. Er wählt die Option, die seinen Eigennutz maximiert.

6

Neo-Institutionalismus

Institutionen prägen,

• wer als Akteur auftreten kann,

• wie dessen Perspektiven und Präferenzen aussehen,

• worin dessen Handlungsoptionen bestehen.

Institutionen verknüpfen die Handlungen der Akteure.

7

Vergleichen in der Wissenschaft

• Wissenschaft heißt, die Wirklichkeit zu ordnen.

• Wir ordnen, indem wir vergleichen.

8

Vergleichen in der Wissenschaft

„Man darf Äpfel nicht mit Birnen vergleichen!“

9

Vergleichen in der Wissenschaft

Man muss Äpfel mit Birnen vergleichen!

• Denn was einen Apfel ausmacht, wissen wir erst, wenn

wir ihn mit anderen Früchten vergleichen.

• Ansonsten bleibt er nur ein Obst vom Baum.

• Die Farbe unterscheidet noch nicht zwischen Apfel und

Birne.

10

Vergleichen in der Wissenschaft

• Die Form unterscheidet zwar zwischen Apfel und Birne,

nicht aber zwischen Apfel und Kirsche.

• Apfel und Kirsche unterscheiden sich allerdings in Größe

und Farbe.

Erst mit Hilfe der Birne, Kirsche usw. können wir den

Apfel definieren.

11

Vergleichen in der Wissenschaft

„Wer den Holocaust

mit anderen Verbrechen vergleicht,

verharmlost diesen!“

Paradox:

Diese Aussage verbietet den Vergleich,

geht aber auf einen solchen zurück.

12

Vergleichen in der Wissenschaft

Die Singularität des Holocausts kann nur behaupten,

wer diesen mit anderen Makro-Verbrechen verglichen

und dadurch seine Einzigartigkeit festgestellt hat.

13

Vergleichen in der Politikwissenschaft

Man muss sorgfältig unterscheiden zwischen

a) vergleichen und

b) gleichsetzen.

Man darf daher Äpfel mit Birnen vergleichen,

nicht aber Vergleichen und Gleichsetzen gleichsetzen!

14

Vergleichende Politikwissenschaft

• Politische Theorien behaupten Zusammenhänge

zwischen politischen Phänomenen.

• Die Aussage „Demokratien führen gegeneinander keinen

Krieg“ resultiert aus einem Vergleich des Verhaltens aller

Demokratien gegenüber allen anderen Demokratien.

• Kausale Aussagen folgen einem zumindest impliziten

Vergleich einer Situation mit Präsenz eines bestimmten

Einflusses mit einer Situation ohne solche Präsenz.

15

Vergleichende Politikwissenschaft

• Da Politikwissenschaft stets vergleicht, unterscheidet

sich die Vergleichende Politikwissenschaft nicht durch

das Vergleichen.

• Die Vergleichende Politikwissenschaft vergleicht

Phänomene, die wirklich bestehen oder bestanden

haben.

• Theorien vergleichen auch das Bestehende mit dem

Möglichen oder Wünschbaren.

16

Vergleichende Politikwissenschaft

• Auch der staatsübergreifende Charakter grenzt die

Vergleichende Politikwissenschaft nicht vollständig ab,

etwa von den Internationalen Beziehungen.

Der Inhalt von „Vergleichender Politikwissenschaft“ hängt

vom Zuschnitt eines Instituts ab.

17

Vergleichende Politikwissenschaft

• Gibt es an einem Institut keine „Politische Soziologie“,

kann vergleichende Verbändeforschung zur

„Vergleichenden Politikwissenschaft“ zählen.

• In einem sehr ausdifferenzierten Institut meint

„Vergleichende Politikwissenschaft“ oft „Vergleichende

Regierungslehre“ oder „Vergleich politischer Systeme.“

18

Vergleichende Politikwissenschaft

In dieser Vorlesung beschäftigt sich die

„Vergleichende Politikwissenschaft“

mit der unterschiedlichen Verfasstheit

politischer Gemeinschaften

und dem Entstehen solcher

makropolitischen Ordnungen.

19

Vergleichende Politikwissenschaft

Themen der nächsten Sitzungen:

• Demokratie und Demokratietypen

• Systemwandel

• Autokratie / Totalitarismus

• Staat und Staatszerfall

20

Demokratie als instrumenteller Wert (1)

• Demokratien führen gegeneinander keinen Krieg.

• In Demokratien greifen ethnische Gruppen eher zum

Protest als zur bewaffneten Rebellion.

• In Demokratien gibt es keine größeren Hungersnöte.

21

Demokratie als instrumenteller Wert (2)

• Unter den 30 führenden Staaten in der Rangliste nach

dem Human Development Index (HDI) 2009 befinden

sich 27 Demokratien.

• Nur einer der letzten 20 Staaten gilt als demokratisch.

• Der HDI berücksichtigt

– Lebenserwartung,

– Bildung,

– wirtschaftlichen Wohlstand.

22

Demokratie als Wahl der Regierenden

„demokratische Methode […],

bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis

vermittels eines Konkurrenzkampfs

um die Stimmen des Volkes erwerben.“

Joseph Schumpeter

23

Demokratie als Regierung für das Volk

„Regierung des Volkes,

durch das Volk,

für das Volk.“

Abraham Lincoln

24

Demokratie als Machtbegrenzung

• Macht beschränken,

• Macht kontrollieren,

• Machthaber auswechseln,

• niemandem alle Macht geben.

25Demokratie als Herrschaft

der von Herrschaft Betroffenen

Alle von einer Entscheidung Betroffenen sollen eine

Chance besitzen, am Fällen dieser Entscheidung

teilzunehmen, entweder direkt oder durch gewählte

Repräsentanten.

Nach Arthur W. Lewis

26

Geltungsbereich der Demokratie

• Konsens der Demokraten: politische Entscheidungen!

• Aber welche Entscheidungen sind politisch?

• Konsens: ÜBER Streitkräfte, öffentliche

Bildungseinrichtungen, staatliche Unternehmen sollte

demokratisch entschieden werden!

• Dissens: soll IN diesen Institutionen demokratisch

entschieden werden?

27

Geltungsbereich der Demokratie

Breiter Konsens, dass in folgenden Bereichen nicht

demokratisch entschieden werden soll:

– in der Medizin,

– in der Wissenschaft,

– im Sport,

– in der Kunst,

– …

28

Geltungsbereich der Demokratie

Umstritten, ob in folgenden Bereichen demokratisch

entschieden werden soll:

– in der Wirtschaft,

– in der Erziehung,

– individuelle Lebensgestaltung

29Entscheidungsregeln

jenseits der Demokratie

• Autonomie: ein Mensch entscheidet über sich selbst

• Eigentum: der Eigentümer entscheidet

• Expertise: der größte Experte entscheidet

• Hierarchie: der Höchstrangige entscheidet

30

Liberale Demokratie

Schützt die Rechte und Freiheiten des Individuums –

auch vor „demokratischen“ Entscheidungen.

Es kann zum Beispiel keine liberal-demokratische

Entscheidung sein, Frau Muster zur Heirat mit Herrn

Mann zu zwingen.

31

Gängiges Verständnis von Demokratie

Alle folgenden Kriterien sind erfüllt:

1. Exekutive und Legislative gehen aus allgemeinen,

gleichen, geheimen, freien, regelmäßigen und

kompetitiven Wahlen hervor.

2. Exekutive und Legislativ entscheiden, ohne von nicht-

demokratisch legitimierten Akteuren und Strukturen

eingeschränkt zu sein.

32

Gängiges Verständnis von Demokratie

3. Meinungs-, Organisations- und andere Freiheiten,

4. Zugang zu pluralistischen, vom Staat unabhängigen

Medien,

5. Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit.

33

„Regime-Rating-Agenturen“

Polity IV: www.systemicpeace.org/polity/polity4.htm

Schaut auf:

1. Wettbewerbsgehalt der politischen Partizipation,

2. Offenheit und Wettbewerbsgehalt bei der Bestimmung

der Exekutive,

3. Einschränkungen der obersten Exekutive.

34

„Regime-Rating-Agenturen“

Polity IV

Indikator für Niveau der Demokratie (0 bis 10)

Indikator für Ausmaß der Autokratie (-10 bis 0)

Regimetyp = Demokratie-Gehalt minus Autokratie-Gehalt

(-10 bis 10)

35Wie demokratisch ist die Welt?

(Quelle: Polity IV, Global Report 2009)

36Wie demokratisch ist die Welt geworden?

(Quelle: Polity IV, Global Report 2009)

37

„Regime-Rating-Agenturen“

Bertelsmann Transformation Index (BTI):

www.bertelsmann-transformation-index.de/bti/

Erfasst:

1. Demokratie,

2. Marktwirtschaft,

3. Management

38

„Regime-Rating-Agenturen“

BTI Status-Index zur Demokratie berücksichtigt:

1. Staatlichkeit,

2. politische Partizipation,

3. Rechtsstaatlichkeit,

4. Stabilität demokratischer Institutionen,

5. politische und gesellschaftliche Integration.

39

„Regime-Rating-Agenturen“

Freedom House: www.freedomhouse.org

• Schaut auf zwei Dimensionen:

1. politische Rechte (der Partizipation)

2. Bürgerrechte

• Weist jeder Dimensionen einen Wert zwischen 7 (am

schlechtesten) bis 1 (am besten zu).

• Gesamturteil: frei, teilweise frei oder unfrei

40Abstimmung:

Politische Rechte in Deutschland

Das Plenum entscheidet mit einfacher Mehrheit,

in welchem Maß Deutschland die Kriterien

von Freedom House erfüllt.

Je Frage können 0-4 Punkte vergeben werden.

Gibt es keine Mehrheit dafür, 4 Punkte zu vergeben,

stellt sich die Frage einer Mehrheit für 3 Punkte usw.

41Messen der politischen Rechte

nach Freedom House (1)

Wahlen:

1. Is the head of government or other chief national

authority elected through free and fair elections?

2. Are the national legislative representatives elected

through free and fair elections?

3. Are the electoral laws and framework fair?

42Messen der politischen Rechte

nach Freedom House (2)

Pluralismus und Partizipation:

4. Do the people have the right to organize in different

political parties or other competitive political groupings

of their choice, and is the system open to the rise and

fall of these competing parties or groupings?

5. Is there a significant opposition vote and a realistic

possibility for the opposition to increase its support or

gain power through elections?

43Messen der politischen Rechte

nach Freedom House (3)

Pluralismus und Partizipation:

6. Are the people’s political choices free from domination by

the military, foreign powers, totalitarian parties, religious

hierarchies, economic oligarchies, or any other powerful

group?

7. Do cultural, ethnic, religious, or other minority groups

have full political rights and electoral opportunities?

44Messen der politischen Rechte

nach Freedom House (4)

Funktionieren der Regierung:

8. Do the freely elected head of government and national

legislative representatives determine the policies of the

government?

9. Is the government free from pervasive corruption?

45Messen der politischen Rechte

nach Freedom House (5)

Funktionieren der Regierung:

10. Is the government accountable to the electorate

between elections, and does it operate with openness

and transparency?

Kriterien:

• Politiker zugänglich für Bürger und Journalisten,

• Debatten im Parlament, Haushalt veröffentlicht,

• Informations- und Petitionsrecht

46Messen der politischen Rechte

nach Freedom House (6)

Punkte Note

36-40 1

30-35 2

24-29 3

18-23 4

12-17 5

6-11 6

0-5 7

47Demokratieformen –

Dimensionen der Unterscheidung

Geltungsbereich

Entscheidungsträger

a) demos (direkte Demokratie),

b) Repräsentanten (repräsentative Demokratie)

Entscheidungsregel

a) Mehrheitsprinzip

b) Konsensprinzip

48Demokratieformen –

Dimensionen der Unterscheidung (2)

Wahlsystem

a) Mehrheitswahl, z.B.

- einfache Mehrheitswahl (Wahlkreis mit einem Sitz)

- Präferenzwahl

b) Verhältniswahlrecht, z.B.

- Listenwahl (offene vs. geschlossene Listen)

- Wahlkreise mit mehreren Sitzen

c) Mischsystem

49Demokratieformen –

Dimensionen der Unterscheidung (3)

Charakteristika der Exekutive und Legislative:

• parlamentarische Systeme

• (Chef der) Regierung vom Parlament gewählt,

• Parlament kann Regierung stürzen

b) präsidentielle Systeme

• Regierungschef nicht vom Parlament gewählt,

• Parlament kann Chef der Exekutive in der Regel nicht

absetzen

c) semi-präsidentielle Systeme

50Demokratieformen –

Dimensionen der Unterscheidung (4)

Ebenen der Demokratie

Kommunen

föderale Einheiten („Länder“, „Kantone“, „Provinzen“…)

Gesamtstaat

51Mehrheits- vs. Konsensdemokratie

(nach Arend Lijphart 1999)

• Mehrheitswahl / andere

disproportionale Verfahren

• Zwei-Parteien-System

• Eine Partei regiert allein

• Verhältniswahlrecht

• Viel-Parteien-System

• Mehr-Parteien-Regierung

52

Mehrheits- vs. Konsensdemokratie (2)

• zentralistisch

• Ein-Kammer-Parlament

• Verfassung mit einfacher

Mehrheit zu verändern

• Legislative mit letztem

Wort zur Verfassungs-

mäßigkeit

• föderalistisch / dezentralisiert

• Zwei-Kammer-Parlament

• Verfassung nur mit über-

großer Mehrheit zu verändern

• Gericht mit letztem Wort zur

Verfassungsmäßigkeit

53Konkordanzdemokratie als Subtyp der

Konsensdemokratie

Vier Merkmale nach Arend Lijphart (1977):

1. Alle relevanten Gruppen an der Regierung beteiligt.

2. Alle relevanten Gruppen mit Veto-Recht.

3. Ämter und Ressourcen werden proportional oder

paritätisch verteilt.

4. Die Gruppen bestimmen über ihre eigenen

Angelegenheiten selbst. Diese Autonomie kann per

Föderalismus umgesetzt werden.

54

Arbeit in Nachbarschaftsgruppen

Linke Hälfte des Saals Rechte Hälfte des Saals

Erörtern Sie die Stärken und

Schwächen der

Mehrheitsdemokratie!

Diskutieren Sie die Stärken

und Schwächen der

Konkordanzdemokratie!

Merkmale:

• Regierung einer Partei

• Strikte Mehrheitsregel

• Zentralismus

Merkmale:

• Gemeinsame Exekutive

• Veto-Recht

• Proporz / Parität

• Autonomie / Föderalismus

55Stärken und Schwächen der Mehrheits-

und Konkordanzdemokratie

Mehrheitsdemokratie Konkordanzdemokratie

Anliegen Klare Verhältnisse Inklusion

Stärken Transparenz.

Entscheidungen nicht

blockiert.

Verhindert Exklusion.

Dämpft Gefahren aus

Wettbewerb.

Schwächen Ganze Bevölke-

rungsgruppen

ausgeschlossen.

Entscheidungs-

blockaden.

Komplex, intransparent

und teuer.

56

Rausschmeißer

Democracy is the

worst form of government –

except for all those other

forms, that have been tried

from time to time.

Winston Churchill

57

Aufgaben zur Nachbereitung

1. Schauen Sie in das Grundsatzprogramm einer im Bundestag vertretenen

Partei und bestimmen Sie, welches Demokratie-Verständnis es zeigt.

2. Wählen Sie einen beliebigen Staat aus (aber nicht die BRD!) und ermitteln

Sie, ob es sich um eine Demokratie nach dem gängigen Verständnis

handelt. Informieren Sie sich über den Staat in einem Länderbericht von

Freedom House oder des Bertelsmann Transformation Index.

3. Gehen Sie die jeweiligen Kriterien der Mehrheits- und der

Konsensdemokratie durch und überlegen Sie, welchem Typus die USA

angehören.

4. Informieren Sie sich über das politische System der Schweiz und

bestimmen Sie, inwieweit es sich um eine Konkordanzdemokratie handelt.